Katan
08.11.2005, 14:35
Ein Wort der Einleitung
Folgende Wörter wurden bei dem Workshop vorgegeben, bei welchem diese Geschichte entstanden ist: Aliens, Kindergarten, Karl-Heinz, Sternschnuppe, Männergesangverein, Friedhof.
Diese Geschichte hat keinen tieferen Sinn und auch keinen besonderen Zweck. Sie ist einfach nur so da.
Kommentare bitte direkt in diesen Thread posten! Danke.
Zwei Tage im Leben der Maria Koch
28. Juni 1998
Blutrot erhob sich die Sonne am Horizont. Ich öffnete leise die Tür zum Zimmer meiner kleinen Tochter und schlich zu ihrem Bett. Glücklicherweise hatte sie einen festen Schlaf, ansonsten wären meine Schleichversuche an den auf den Boden verstreuten Spielsachen, Stiften und anderem fehlgeschlagen. Neben das Bett gekniet betrachtete ich sie. Ich beobachtete sie gern beim Schlafen und stellte mir dabei vor, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie erst einmal sechzehn oder achtzehn Jahre alt war. Natürlich würde sie eine hübsche junge Frau werden, immerhin hatte sie die ebenmäßigen Gesichtszüge und die hohen Wangenknochen von mir und die lebhaft braunen Augen von ihrem Vater geerbt. Wie immer musste ich lächeln, während ich so vor ihr hockte und das einzige Geräusch das leise und gleichmäßige Atmen des Kindes darstellte. Aber nun war keine Zeit mehr. Mit der rechten Hand streichelte ich über ihre nussbraunen Locken und küsste sie auf die Stirn.
„Aufwachen“, sagte ich sanft, als Christina sich murrend auf die andere Seite wälzte, „wir müssen bald los.“
Müde Augen blinzelten mich verschlafen im Halbdunkel des Raumes an.
Mein Mann Jonathan und ich brachten Christina immer zusammen zum Kindergarten, von welchem aus sie dann zu gegebener Zeit zur Schule geschickt wurde. Wir nahmen uns die Zeit für unser Kind und mussten ohnehin erst später bei der Arbeit sein als sie im Kindergarten. Außerdem hatte es den Vorteil, dass Jonathan und ich uns nicht mehr darum stritten, wer das Mädchen nun an welchem Tag hierher bringen durfte. Schließlich hatten wir sogar einen Plan dafür erstellt. Keiner hatte auf sein Vorrecht dem Kind gegenüber verzichten wollen. Als uns endlich klar geworden war, dass wir uns selbst wie Kinder aufgeführt hatten, hatten wir uns darauf einigen können sie einfach gemeinsam zum Kindergarten zu bringen. Und siehe da - das Streitmaß in unserem Haus war rapide abgesunken.
Eine kurze steinerne Treppe führte zu einer eisernen Pforte hinauf. Diese wurde gerade erst aufgezogen. Ich für meinen Teil hatte angenommen, dass wir etwas zu spät herkommen würden, aber wie immer waren wir zu früh. Und ich musste mir von meinem Mann die Scherze über meinen Pünktlichkeitswahn anhören, der so gut wie immer damit endete, dass ich eine halbe Stunde früher vor Ort war als geplant. Er stellte gerne Übertreibungen an. Aber natürlich meinte er es nicht böse.
Als Christina mit zwei ihrer Freundinnen diese Steintreppe hinauf rannte, erinnerten Jonathan und ich uns an das erste Mal, als wir unser kleines Mädchen zum Kindergarten gebracht hatten. Sie hatte geweint, ich hatte geweint, Jonathan hatte sich mühevoll zurückgehalten. Wieso war es eigentlich so schwer, einfach loszulassen? Es war ja nun nicht so, dass das Kind nach Amerika zog oder einen Job in Japan annahm. Es war wohl schlicht die Tatsache, dass der Kindergarten den ersten Schritt zum Erwachsenwerden und Loslassen bedeutete - und besonders Mütter wie ich scheinen sehr gerne zu vergessen, dass die Nabelschnur bereits bei der Geburt getrennt wird. Inzwischen aber hatte ich mich an das hohe Backsteingebäude mit den hohen von Kinderhänden bemalten Fenstern und dem Spielplatz auf dem Hinterhof gewöhnt. Es tat nicht mehr so weh, das eigen Fleisch und Blut in die Hände anderer zu geben.
Am oberen Absatz der Treppe angelangt, drehte Christina sich noch einmal und winkte uns zu. Lächelnd hob ich die Hand und erwiderte ihren Gruß.
„So, ich muss nun auch los“, sagte Jonathan und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Ja, viel Spaß“, entgegnete ich. Jede Woche das gleiche Theater, die gleichen Worte, wenn er endlich losfahren wollte; wenn seine Tochter auf dem Grundstück des Kindergartens bereits verschwunden und von uns nicht mehr zu sehen war. Er war immer ganz versessen darauf, zum Alten Rathaus zu fahren, wo der Männergesangverein zusammen kam. Und wie jede Woche unterließ ich jeglichen Kommentar über sein fehlendes musikalisches Talent.
Ich lächelte einfach nur. Wie immer.
08. November 2005
Rote Farbe mischte sich mit schwarzer Farbe; zusammen bildeten sie eine Einheit. Der Pinsel strich über das Papier, von einer Ecke zur anderen, und hinterließ ein schwarzrotes Gemisch, das an Blut erinnerte. Mir erschien es wie eine Ewigkeit, bis ich den Pinsel in das zum Wasserglas umfunktionierte Marmeladenglas sinken ließ und mein Werk betrachtete. Rot, schwarz, kein Sinn, keine Konturen. Nicht einmal die moderne Kunst hätte dieses Bild wirklich als das angesehen, was auch nur im Entferntesten als „Kunst“ bezeichnet werden konnte. Es war ein Alptraum.
Ich entschuldigte meine heutige Unkreativität mit der Kälte, die hier im Keller vorherrschte. Ich hatte hier unten nie eine Heizung installieren lassen. Der Regen, der schon vor zwei Stunden in langen Strähnen vom Himmel gefallen war, klopfte gleichmäßig gegen das kleine vergiebelte Fenster. Zwischen den beruhigenden Geräuschen des Himmels, dem stetigen Trommeln des Regens und der leisen Musik von Bach, die kaum hörbar aus den Boxen meines Radios drang, vernahm ich das Brummen eines Automotors. Das Brummen kam näher, zerriss die Stille unbarmherzig, endete abrupt. Das Geräusch einer zufallenden Autotür, eine lachende Mädchenstimme. Christina. Und ihr Freund Karl-Heinz. Unter normalen Umständen hätte ich mich wieder einmal gefragt, wie zwei erwachsene Menschen nur auf die Idee kommen konnten, ihren Sohn in dieser Zeit der Moderne noch Karl-Heinz zu nennen. Das grenzte wahrlich schon an Grausamkeit. Doch diesem Gedanken schenkte ich nur wenige Sekunden, ich hatte Anderes, Wichtigeres im Kopf.
Ich ließ mir die Zeit, meine eingefärbten Hände mit einem alten Handtuch abzuwischen, bevor ich die Kellertreppe hinauf stieg und in den Flur trat. Obwohl auch hier die Heizung nicht eingeschaltet war, wirkte es auf mich um Vieles wärmer als unten in meinem kleinen provisorischen Atelier.
Gerade noch durfte ich Zeuge davon werden, wie meine Tochter ihren Freund zum Abschied küsste und ihm dann dümmlich lächelnd die Tür vor der Nase zuschlug. Und ich hatte bereits gedacht, meine grässliche Malerei hätte den kreativen Tiefpunkt dieses Tages gebildet…
„Hey Mama“, sagte Christina freudig und ließ ihren Rucksack auf den gefliesten Boden des Flures sinken. „Bevor ich es vergesse: Ich gehe heute mit Karl aus. Er hat mich zum Essen eingeladen.“ Sie freute sich wie ein kleines Mädchen, dem man einen Lolly geschenkt hatte. Ich hingegen war darüber gar nicht glücklich.
„Denkst du eigentlich immer nur an dich selbst?“, fragte ich so ruhig wie es mir möglich war, „anstatt dich mit diesem… diesem Menschen zu treffen“ - ich wies auf die geschlossene Haustür, hinter der der Motor von Karl-Heinz’ Golf III aufjaulte - „könntest du doch vielleicht mal so gut sein und mir etwas unter die Arme greifen. Wie zum Beispiel zum Friedhof zu gehen und dich nur ein einziges verdammtes Mal um das Grab deiner Großmutter zu kümmern. Oder meinst du etwa, ich kann alles allein machen, seit dein Vater uns verlassen hat?“
„Ach Mama…“, stöhnte Christina genervt. Ich konnte ihre Gedanken förmlich lesen: Du bist doch schuld daran, dass er gegangen ist, Mama; wenn du dich nicht so daneben benommen hättest, dann wäre er jetzt noch hier. Ich hörte auf, Spekulationen über ihre Gedankengänge anzustellen; ich war schon wütend genug.
„Weißt du was?“, knurrte ich, „mach doch was du willst.“ Mit diesen Worten ließ ich sie im Flur stehen und ging in die Küche. In meinem Leben hatte ich eine Erfahrung gemacht: Kochen und Backen hilft. Man kann es einfach zu Hause machen und es nimmt einen voll in Anspruch. Man ist nicht gezwungen, an andere Dinge zu denken wie vielleicht an den Ehemann, der einen nach vielen Jahren wegen einer Anderen, einer Jüngeren verlassen hatte. Heute hatte ich einen Schokoladenpudding in Angriff genommen. Eigentlich hatte ich meiner Tochter damit eine Freude machen wollen, doch momentan war ich drauf und dran den Pudding samt der Glasschüssel einfach in den Mülleimer zu schleudern. Aber nein… ich musste ruhig bleiben. Alles war in bester Ordnung. Wenn ich mir das nur lange genug einredete, würde ich vielleicht eines Tages selbst dran glauben. Den Pudding hatte ich zum Abkühlen auf die Ablage neben der Spüle gestellt.
Tief ein- und wieder ausatmend packte ich die Glasschüssel mit beiden Händen. In Gedanken versunken trottete ich in Richtung Kühlschrank und - strauchelte, stolperte über meine eigenen Füße. In letzter Sekunde konnte ich den Sturz abfangen und mich an der Spüle festhalten, doch der Pudding war verloren. Wie in Zeitlupe sah ich das Glas in winzige glitzernde Stücke zersplittern, die braune Masse sich auf dem gerade erst gewischten Linoleumboden verteilen. Die Röte, die mir heiß in den Kopf geschossen war, wurde just in dem Moment von einer tiefen Blässe abgelöst, als Christina sich an das Klavier in der Stube setzte und darauf zu klimpern begann. Sie hatte das nicht vorhandene musikalische Talent ihres Vaters geerbt. Doch eine andere Sache beschäftigte mich im Moment und wie gebannt starrte ich auf den Pudding, der sich immer weiter über den Boden verteilte und riesengroß zu werden schien, den Boden verschluckend fast wie ein schwarzes Loch. Mein Blick machte einen Schwenk hin zur Spüle. Wie soll ich diese Sauerei nur wieder sauber machen?, fragte ich mich und blickte panisch auf den blauen Lappen, der über dem blank polierten Metallwasserhahn hing. Dieser Lappen… er ist viel zu klein! Mit einem so kleinen Lappen kann ich das alles doch nicht sauber machen!
Gerade entlockte meine Tochter dem Klavier einen weiteren schiefen Ton, als mir eine Idee kam. Ohne weitere Zeit zu verlieren rannte ich in das obere Stockwerk, öffnete die kleine Klappe zum Dachboden und zog die ausfahrbare Holztreppe hinaus. Ich kletterte nach oben, sah mich in der Dunkelheit um und erkannte in zwei schemenhaften Gegenständen die beiden alten Reisekoffer, die ich von meiner Kur auf Borkum mit nach Hause gebracht hatte. Ich packte sie, kletterte wieder nach unten und rannte in das Zimmer meiner Tochter. Hastig warf ich einen der beiden Koffer auf das Bett, öffnete ihn, riss die Türen ihres Kleiderschranks auf und räumte so viel ein wie nur ging. Dann kam mein Zimmer dran: Rein, Koffer auf, Schränke auf, Sachen in den Koffer stopfen, fertig. Nun ging ich wieder nach unten, stellte das Gepäck vor der Haustür ab und machte mich auf den Weg in die Stube. Für einen winzigen Moment hielt ich inne, als ich meine Tochter sah. Ich hatte nicht bemerkt, dass das ohrenbetäubende Geklimper des Klaviers geendet hatte. Stattdessen saß sie vor dem Fernseher und sah sich irgendeinen komischen Film mit Aliens an, die auf Sternschnuppen ritten. Nein, keine Zeit. Ich packte Christina am Arm und sie war so verwirrt, dass sie sich einfach aus dem Zimmer zerren und neben den Koffern postieren ließ.
Jetzt kam der letzte Teil meines Planes an die Reihe. Benzin… schnellen Schrittes machte ich mich auf zur Garage, öffnete sie und zog zwischen allerlei Gartengegenständen einen vollen Kanister Benzin heraus. Nie wieder, dachte ich, als ich wieder in Richtung Haus spazierte und meine Tochter mich nur ungläubig anstarrte. Noch immer sagte sie kein Wort. Verwunderlich, aber sie hätte mich auch nur abgelenkt.
In der Stube vor dem Klavier stehend konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich ließ mir die Zeit, es langsam und an allen Ecken und Kanten mit Benzin zu übergießen und freute mich umso mehr, als ich eine Packung Streichhölzer aus dem Stubenschrank holte. Ich zündete es an und warf es auf das Klavier, welches nach wenigen Sekunden lichterloh in Flammen stand. Das Problem mit dem Pudding hatte sich schon fast gelöst. Wie auch das Klavier und alles andere in diesem Haus würde er bald nur noch graue Asche sein.
Wieder vor dem Haus angelangt nahm ich den fassungslosen Blick Christinas gar nicht wahr. Mit Genugtuung sah ich den grauen Rauchschwaden aus dem Wohnzimmer zu, wie sie in Richtung Himmel immer unscheinbarer wurden und schließlich vollends verschwanden. Christina zückte ihr Handy und wählte eine Nummer ein, dann hielt sie es sich ans Ohr.
„Papa?“, sagte sie in diese Miniaturversion eines kabellosen Telefons. „Kannst du mich heute früher abholen? Mama muss wieder in die Klapse.“
Gut möglich, dachte ich mir. Macht aber nichts. Ich brauch’ eh ’ne neue Wohnung.
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Folgende Wörter wurden bei dem Workshop vorgegeben, bei welchem diese Geschichte entstanden ist: Aliens, Kindergarten, Karl-Heinz, Sternschnuppe, Männergesangverein, Friedhof.
Diese Geschichte hat keinen tieferen Sinn und auch keinen besonderen Zweck. Sie ist einfach nur so da.
Kommentare bitte direkt in diesen Thread posten! Danke.
Zwei Tage im Leben der Maria Koch
28. Juni 1998
Blutrot erhob sich die Sonne am Horizont. Ich öffnete leise die Tür zum Zimmer meiner kleinen Tochter und schlich zu ihrem Bett. Glücklicherweise hatte sie einen festen Schlaf, ansonsten wären meine Schleichversuche an den auf den Boden verstreuten Spielsachen, Stiften und anderem fehlgeschlagen. Neben das Bett gekniet betrachtete ich sie. Ich beobachtete sie gern beim Schlafen und stellte mir dabei vor, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie erst einmal sechzehn oder achtzehn Jahre alt war. Natürlich würde sie eine hübsche junge Frau werden, immerhin hatte sie die ebenmäßigen Gesichtszüge und die hohen Wangenknochen von mir und die lebhaft braunen Augen von ihrem Vater geerbt. Wie immer musste ich lächeln, während ich so vor ihr hockte und das einzige Geräusch das leise und gleichmäßige Atmen des Kindes darstellte. Aber nun war keine Zeit mehr. Mit der rechten Hand streichelte ich über ihre nussbraunen Locken und küsste sie auf die Stirn.
„Aufwachen“, sagte ich sanft, als Christina sich murrend auf die andere Seite wälzte, „wir müssen bald los.“
Müde Augen blinzelten mich verschlafen im Halbdunkel des Raumes an.
Mein Mann Jonathan und ich brachten Christina immer zusammen zum Kindergarten, von welchem aus sie dann zu gegebener Zeit zur Schule geschickt wurde. Wir nahmen uns die Zeit für unser Kind und mussten ohnehin erst später bei der Arbeit sein als sie im Kindergarten. Außerdem hatte es den Vorteil, dass Jonathan und ich uns nicht mehr darum stritten, wer das Mädchen nun an welchem Tag hierher bringen durfte. Schließlich hatten wir sogar einen Plan dafür erstellt. Keiner hatte auf sein Vorrecht dem Kind gegenüber verzichten wollen. Als uns endlich klar geworden war, dass wir uns selbst wie Kinder aufgeführt hatten, hatten wir uns darauf einigen können sie einfach gemeinsam zum Kindergarten zu bringen. Und siehe da - das Streitmaß in unserem Haus war rapide abgesunken.
Eine kurze steinerne Treppe führte zu einer eisernen Pforte hinauf. Diese wurde gerade erst aufgezogen. Ich für meinen Teil hatte angenommen, dass wir etwas zu spät herkommen würden, aber wie immer waren wir zu früh. Und ich musste mir von meinem Mann die Scherze über meinen Pünktlichkeitswahn anhören, der so gut wie immer damit endete, dass ich eine halbe Stunde früher vor Ort war als geplant. Er stellte gerne Übertreibungen an. Aber natürlich meinte er es nicht böse.
Als Christina mit zwei ihrer Freundinnen diese Steintreppe hinauf rannte, erinnerten Jonathan und ich uns an das erste Mal, als wir unser kleines Mädchen zum Kindergarten gebracht hatten. Sie hatte geweint, ich hatte geweint, Jonathan hatte sich mühevoll zurückgehalten. Wieso war es eigentlich so schwer, einfach loszulassen? Es war ja nun nicht so, dass das Kind nach Amerika zog oder einen Job in Japan annahm. Es war wohl schlicht die Tatsache, dass der Kindergarten den ersten Schritt zum Erwachsenwerden und Loslassen bedeutete - und besonders Mütter wie ich scheinen sehr gerne zu vergessen, dass die Nabelschnur bereits bei der Geburt getrennt wird. Inzwischen aber hatte ich mich an das hohe Backsteingebäude mit den hohen von Kinderhänden bemalten Fenstern und dem Spielplatz auf dem Hinterhof gewöhnt. Es tat nicht mehr so weh, das eigen Fleisch und Blut in die Hände anderer zu geben.
Am oberen Absatz der Treppe angelangt, drehte Christina sich noch einmal und winkte uns zu. Lächelnd hob ich die Hand und erwiderte ihren Gruß.
„So, ich muss nun auch los“, sagte Jonathan und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Ja, viel Spaß“, entgegnete ich. Jede Woche das gleiche Theater, die gleichen Worte, wenn er endlich losfahren wollte; wenn seine Tochter auf dem Grundstück des Kindergartens bereits verschwunden und von uns nicht mehr zu sehen war. Er war immer ganz versessen darauf, zum Alten Rathaus zu fahren, wo der Männergesangverein zusammen kam. Und wie jede Woche unterließ ich jeglichen Kommentar über sein fehlendes musikalisches Talent.
Ich lächelte einfach nur. Wie immer.
08. November 2005
Rote Farbe mischte sich mit schwarzer Farbe; zusammen bildeten sie eine Einheit. Der Pinsel strich über das Papier, von einer Ecke zur anderen, und hinterließ ein schwarzrotes Gemisch, das an Blut erinnerte. Mir erschien es wie eine Ewigkeit, bis ich den Pinsel in das zum Wasserglas umfunktionierte Marmeladenglas sinken ließ und mein Werk betrachtete. Rot, schwarz, kein Sinn, keine Konturen. Nicht einmal die moderne Kunst hätte dieses Bild wirklich als das angesehen, was auch nur im Entferntesten als „Kunst“ bezeichnet werden konnte. Es war ein Alptraum.
Ich entschuldigte meine heutige Unkreativität mit der Kälte, die hier im Keller vorherrschte. Ich hatte hier unten nie eine Heizung installieren lassen. Der Regen, der schon vor zwei Stunden in langen Strähnen vom Himmel gefallen war, klopfte gleichmäßig gegen das kleine vergiebelte Fenster. Zwischen den beruhigenden Geräuschen des Himmels, dem stetigen Trommeln des Regens und der leisen Musik von Bach, die kaum hörbar aus den Boxen meines Radios drang, vernahm ich das Brummen eines Automotors. Das Brummen kam näher, zerriss die Stille unbarmherzig, endete abrupt. Das Geräusch einer zufallenden Autotür, eine lachende Mädchenstimme. Christina. Und ihr Freund Karl-Heinz. Unter normalen Umständen hätte ich mich wieder einmal gefragt, wie zwei erwachsene Menschen nur auf die Idee kommen konnten, ihren Sohn in dieser Zeit der Moderne noch Karl-Heinz zu nennen. Das grenzte wahrlich schon an Grausamkeit. Doch diesem Gedanken schenkte ich nur wenige Sekunden, ich hatte Anderes, Wichtigeres im Kopf.
Ich ließ mir die Zeit, meine eingefärbten Hände mit einem alten Handtuch abzuwischen, bevor ich die Kellertreppe hinauf stieg und in den Flur trat. Obwohl auch hier die Heizung nicht eingeschaltet war, wirkte es auf mich um Vieles wärmer als unten in meinem kleinen provisorischen Atelier.
Gerade noch durfte ich Zeuge davon werden, wie meine Tochter ihren Freund zum Abschied küsste und ihm dann dümmlich lächelnd die Tür vor der Nase zuschlug. Und ich hatte bereits gedacht, meine grässliche Malerei hätte den kreativen Tiefpunkt dieses Tages gebildet…
„Hey Mama“, sagte Christina freudig und ließ ihren Rucksack auf den gefliesten Boden des Flures sinken. „Bevor ich es vergesse: Ich gehe heute mit Karl aus. Er hat mich zum Essen eingeladen.“ Sie freute sich wie ein kleines Mädchen, dem man einen Lolly geschenkt hatte. Ich hingegen war darüber gar nicht glücklich.
„Denkst du eigentlich immer nur an dich selbst?“, fragte ich so ruhig wie es mir möglich war, „anstatt dich mit diesem… diesem Menschen zu treffen“ - ich wies auf die geschlossene Haustür, hinter der der Motor von Karl-Heinz’ Golf III aufjaulte - „könntest du doch vielleicht mal so gut sein und mir etwas unter die Arme greifen. Wie zum Beispiel zum Friedhof zu gehen und dich nur ein einziges verdammtes Mal um das Grab deiner Großmutter zu kümmern. Oder meinst du etwa, ich kann alles allein machen, seit dein Vater uns verlassen hat?“
„Ach Mama…“, stöhnte Christina genervt. Ich konnte ihre Gedanken förmlich lesen: Du bist doch schuld daran, dass er gegangen ist, Mama; wenn du dich nicht so daneben benommen hättest, dann wäre er jetzt noch hier. Ich hörte auf, Spekulationen über ihre Gedankengänge anzustellen; ich war schon wütend genug.
„Weißt du was?“, knurrte ich, „mach doch was du willst.“ Mit diesen Worten ließ ich sie im Flur stehen und ging in die Küche. In meinem Leben hatte ich eine Erfahrung gemacht: Kochen und Backen hilft. Man kann es einfach zu Hause machen und es nimmt einen voll in Anspruch. Man ist nicht gezwungen, an andere Dinge zu denken wie vielleicht an den Ehemann, der einen nach vielen Jahren wegen einer Anderen, einer Jüngeren verlassen hatte. Heute hatte ich einen Schokoladenpudding in Angriff genommen. Eigentlich hatte ich meiner Tochter damit eine Freude machen wollen, doch momentan war ich drauf und dran den Pudding samt der Glasschüssel einfach in den Mülleimer zu schleudern. Aber nein… ich musste ruhig bleiben. Alles war in bester Ordnung. Wenn ich mir das nur lange genug einredete, würde ich vielleicht eines Tages selbst dran glauben. Den Pudding hatte ich zum Abkühlen auf die Ablage neben der Spüle gestellt.
Tief ein- und wieder ausatmend packte ich die Glasschüssel mit beiden Händen. In Gedanken versunken trottete ich in Richtung Kühlschrank und - strauchelte, stolperte über meine eigenen Füße. In letzter Sekunde konnte ich den Sturz abfangen und mich an der Spüle festhalten, doch der Pudding war verloren. Wie in Zeitlupe sah ich das Glas in winzige glitzernde Stücke zersplittern, die braune Masse sich auf dem gerade erst gewischten Linoleumboden verteilen. Die Röte, die mir heiß in den Kopf geschossen war, wurde just in dem Moment von einer tiefen Blässe abgelöst, als Christina sich an das Klavier in der Stube setzte und darauf zu klimpern begann. Sie hatte das nicht vorhandene musikalische Talent ihres Vaters geerbt. Doch eine andere Sache beschäftigte mich im Moment und wie gebannt starrte ich auf den Pudding, der sich immer weiter über den Boden verteilte und riesengroß zu werden schien, den Boden verschluckend fast wie ein schwarzes Loch. Mein Blick machte einen Schwenk hin zur Spüle. Wie soll ich diese Sauerei nur wieder sauber machen?, fragte ich mich und blickte panisch auf den blauen Lappen, der über dem blank polierten Metallwasserhahn hing. Dieser Lappen… er ist viel zu klein! Mit einem so kleinen Lappen kann ich das alles doch nicht sauber machen!
Gerade entlockte meine Tochter dem Klavier einen weiteren schiefen Ton, als mir eine Idee kam. Ohne weitere Zeit zu verlieren rannte ich in das obere Stockwerk, öffnete die kleine Klappe zum Dachboden und zog die ausfahrbare Holztreppe hinaus. Ich kletterte nach oben, sah mich in der Dunkelheit um und erkannte in zwei schemenhaften Gegenständen die beiden alten Reisekoffer, die ich von meiner Kur auf Borkum mit nach Hause gebracht hatte. Ich packte sie, kletterte wieder nach unten und rannte in das Zimmer meiner Tochter. Hastig warf ich einen der beiden Koffer auf das Bett, öffnete ihn, riss die Türen ihres Kleiderschranks auf und räumte so viel ein wie nur ging. Dann kam mein Zimmer dran: Rein, Koffer auf, Schränke auf, Sachen in den Koffer stopfen, fertig. Nun ging ich wieder nach unten, stellte das Gepäck vor der Haustür ab und machte mich auf den Weg in die Stube. Für einen winzigen Moment hielt ich inne, als ich meine Tochter sah. Ich hatte nicht bemerkt, dass das ohrenbetäubende Geklimper des Klaviers geendet hatte. Stattdessen saß sie vor dem Fernseher und sah sich irgendeinen komischen Film mit Aliens an, die auf Sternschnuppen ritten. Nein, keine Zeit. Ich packte Christina am Arm und sie war so verwirrt, dass sie sich einfach aus dem Zimmer zerren und neben den Koffern postieren ließ.
Jetzt kam der letzte Teil meines Planes an die Reihe. Benzin… schnellen Schrittes machte ich mich auf zur Garage, öffnete sie und zog zwischen allerlei Gartengegenständen einen vollen Kanister Benzin heraus. Nie wieder, dachte ich, als ich wieder in Richtung Haus spazierte und meine Tochter mich nur ungläubig anstarrte. Noch immer sagte sie kein Wort. Verwunderlich, aber sie hätte mich auch nur abgelenkt.
In der Stube vor dem Klavier stehend konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich ließ mir die Zeit, es langsam und an allen Ecken und Kanten mit Benzin zu übergießen und freute mich umso mehr, als ich eine Packung Streichhölzer aus dem Stubenschrank holte. Ich zündete es an und warf es auf das Klavier, welches nach wenigen Sekunden lichterloh in Flammen stand. Das Problem mit dem Pudding hatte sich schon fast gelöst. Wie auch das Klavier und alles andere in diesem Haus würde er bald nur noch graue Asche sein.
Wieder vor dem Haus angelangt nahm ich den fassungslosen Blick Christinas gar nicht wahr. Mit Genugtuung sah ich den grauen Rauchschwaden aus dem Wohnzimmer zu, wie sie in Richtung Himmel immer unscheinbarer wurden und schließlich vollends verschwanden. Christina zückte ihr Handy und wählte eine Nummer ein, dann hielt sie es sich ans Ohr.
„Papa?“, sagte sie in diese Miniaturversion eines kabellosen Telefons. „Kannst du mich heute früher abholen? Mama muss wieder in die Klapse.“
Gut möglich, dachte ich mir. Macht aber nichts. Ich brauch’ eh ’ne neue Wohnung.
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