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locke
18.05.2005, 07:57
Ich habe vor einiger Zeit einen sehr interessanten Text zugeschickt bekommen, der die Herkunft der Probleme zwischen den westlichen Industreinationen und der islamischen Welt thematisiert.


Die antiwestliche Militanz der islamischen Welt ist unübersehbar; sie läßt sich auch durch noch so gutwilliges Bemühen um „Dialog“ nicht aus der Welt schaffen. Wahrend die meisten islamischen Regierungen mit dem Westen immerhin einigermaßen korrekte Beziehungen unterhalten, ist die politische Melodie, auf die ihre Bevölkerungen hören, ein eindeutig gegen den Westen gerichteter Islamismus. So würden freie Wahlen in den arabischen Staaten in den meisten Fällen von den Islamisten gewonnen. Wir müssen uns klarmachen, daß für mehr als eine Milliarde unserer Zeitgenossen Osama Bin Laden ein Held ist, und wir müssen mir äußerst unerfreulichen Vorkommnissen fertig werden wie dem, daß an dem bewussten 11. September nicht nur die Bewohner der Westbank, sondern auch muslimsche Kinder auf Münchner Schulhöfen Freudentanze aufgeführt haben.
Diese antiwestliche Militanz wird bei uns manchmal als Reaktion auf die politischen und militärischen Aktionen des Westens erklärt oder als Folge des Palästinakonflikts. Es ist natürlich nicht zu bestreiten, daß zum Beispiel die amerikanische Unterstützung für das korrupte Regime in Saudi-Arabien bei vielen Arabern Erbitterung hervorruft, und was Ariel Scharon veranstaltet, ist sicher kein gutes Beispiel für zeitgemäße Konfliktbewältigung. Aber der spektakulärste Anschlag zeigt, worum es eigentlich geht: Das World Trade Center war das weithin sichtbare Symbol der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Macht des Westens - und damit der islamischen Machtlosigkeit.
Der Islam ist, anders als das Christentum, als siegreiche weltliche Macht in die Geschichte eingetreten und hat sich selbst immer in erster Linie als solche definiert; die heutige Machtverteilung ist also ein Sakrileg, ein Werk des Teufels. Es ist die immer und überall zutage tretende westliche Überlegenheit, die die eigene Schwäche quälend bewußt macht und ohnmächtigen Haß erzeugt. Rußland, Indien und China unterdrücken die von ihnen beherrschten millionenstarken muslimischen Bevölkerungen erheblich härter, umfassender und blutiger als etwa Israel die Palästinenser - das aber ist der Hauptkonflikt zwischen Okzident und Islam. Wenn die Empörung sich trotzdem in erster Linie gegen uns richtet, dann gilt sie nicht dem, was wir tun, sondern dem, was wir sind.
In der Geschichte der Menschheit konnte Macht auf sehr verschiedenen Grundlagen beruhen: auf religiösen Ressourcen (oder quasireligiösen wie in der Sowjetunion), auf überlegener Mobilität (so bei allen Reiternomaden) oder einfach auf höherer Kampfmoral. Charakteristisch für unsere Zeit ist, daß ein Element zum alles entscheidenden Schlüsselfaktor geworden ist: Macht, militärische Macht, ist heute das Ergebnis erfolgreicher Industrialisierung. Ein nicht industrialisiertes Land muß, um mächtig zu werden, den Prozeß der Industrialisierung nachholen.
Tatsachlich läßt sich die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch des Ostblocks als ein weltweiter Kursus in nachholender industrieller Entwicklung betrachten. Natürlich wird kein realistischer Beobachter die Motive übersehen, von denen die kapitalistischen und kommunistischen Schulmeister angetrieben wurden, und auch ihre Lehrbefähigung war sicher nicht über jeden Zweifel erhaben. Aber immerhin: Der Kursus hat stattgefunden; das Umfeld war günstig: relativ offene Kommunikation, eine entwicklungsorientierte Strukturierung des Systems der Vereinten Nationen und schließlich die Konkurrenz zwischen den beiden obersten Schulmeistern USA und Sowjetunion, die zwar der jeweils anderen Seite alles erdenklich Schlechte an den Hals wünschten, am Erfolg ihrer eigenen Schützlinge aber ehrlich interessiert waren. An diesem Kursus haben so gut wie alle unterentwickelten Staaten teilgenommen.
Heute nun zeigt sich, daß die Teilnehmer diesen Kursus mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen abgeschlossen haben. Einige wenige haben das Klassenziel erreicht: Sie betreiben heute Industrien, die den unseren in nichts nachstehen, und genießen einen Lebensstandard, der mit dem eines westlichen Industrielandes vergleichbar ist. Die erdrückende Mehrzahl der Teilnehmer aber schneidet mit ungenügenden, oft sogar katastrophalen Ergebnissen ab.
Welche Faktoren sind dafür ausschlaggebend? Ökonomen argumentieren mit der Größe des Binnenmarktes, mit dem Vorhandensein oder Fehlen von Rohstoffen, mit Boden und Klima, mit der geographischen Lage oder mit der jeweils verfolgten Wirtschaftspolitik; Gesellschaftswissenschaftler verweisen auf die Folgen der Kolonialherrschaft. Es ist nicht schwer zu zeigen, dass Faktoren dieser Art nur eine unzulängliche Erklärung bieten. So kann die physische Umwelt keine große Bedeutung haben, sonst wäre Finnland nicht reich und Marokko nicht arm. Auch die koloniale Abhängigkeit kann es nicht sein: Marokko war ähnlich lange fremdbeherrscht wie Korea, das heute Autos exportiert. Jeder Kenner der Verhältnisse weiß, daß die französische Herrschaft über Marokko ein relativ gemütliches Unternehmen war, wenn man sie mit dem Regime der Japaner in Korea vergleicht. Schließlich führt auch das gesellschaftlich-wirtschaftliche System nicht weiter, denn von den erfolglosen Ländern haben einige auf Plan, andere auf Markt gesetzt, und manche haben sogar beide Modelle ausprobiert; in der Ordnungspolitik der wenigen erfolgreichen verquicken sich Elemente aus beiden Bereichen.
Es muß also etwas anderes sein, und wir kommen der Sache näher, wenn wir die Frage stellen, welche Merkmale den Angehörigen der einzelnen Leistungsgruppen gemeinsam sind. Hier zeigt sich nämlich, daß die völlig erfolglos gebliebene Gruppe sich zum größten Teil aus schwarzafrikanischen Staaten zusammensetzt, daß die islamischen Staaten (ausgenommen einige südostasiatische mit größeren chinesischen Minoritäten - führend ist Malaysia) keine substantiellen Fortschritte gemacht haben und daß die erfolgreichste Absolventengruppe aus den konfuzianischen Staaten besteht. Ausschlaggebend für Erfolg oder Mißerfolg ist offenbar die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis. Anders gesagt: Nicht alle Kulturen qualifizieren ihre Angehörigen gleichermaßen dazu, die industrielle Revolution nachzuholen.
In welcher Weise wird aber der Faktor Kultur hier wirksam? Wie bestimmt das „kulturelle Erbe“ einer Gesellschaft ihre Entwicklungschancen? Im Fall des Islam scheint die Antwort einfach zu sein: Der Kulturkreis ist nach der Religion benannt, diese beruht auf einem geoffenbarten Buch, dem Koran, der seinem Anspruch nach alle jenseitigen und alle diesseitigen Angelegenheiten klar regelt. Das Problem besteht nun darin, dass es keinen Mechanismus gibt, der eine allgemein verbindliche Ableitung des realen politischen Handelns aus der heiligen Schrift gestatten würde.
Das gilt nicht nur für den Islam. Auch in der Geschichte des Christenrums finden wir das Phänomen, daß unterschiedlichste, zum Teil diametral entgegengesetzte Gesellschaftsentwürfe mit derselben Offenbarung legitimiert wurden: das preußische Dreiklassenwahlrecht, beide Positionen im deutschen Bauernkrieg und im südafrikanischen Apartheitssystem, General Franco und Norbert Blüm.
Auch im Islam geben die heiligen Schriften naturgemäß keine eindeutige Antwort auf Fragen, die sich in der Zeit ihrer Entstehung eben nicht gestellt haben: auf die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen, die ein heutiges Entwicklungsland zu beantworten hat - Markt oder Plan, Monarchie oder Republik, repräsentatives oder anderes System, binnen- oder außenorientierte Entwicklung?
Ein Beispiel: 1979 war für Ajatollah Chomeini die einzig wirklich islamische Staatsform die Republik, während in den zwanziger Jahren seine geistlichen Vorgänger auf der Monarchie bestanden. Natürlich war der Fundus an heiligen Texten in beiden Fallen der gleiche - aber Chomeini ging es um ein Gegenprogramm zum Schah, während in den zwanziger Jahren die säkularen Ideen Atatürks abgewehrt werden mußten.
Priorität hat die Realpolitik; die religiösen Mittel zu ihrer Legitimierung haben sich noch immer gefunden. Religion ist im Gesellschaftsprozeß die abhängige Größe - die unabhängige ist das Streben nach Macht und Wohlstand. Auch die Grundlage des Dissenses zwischen Westen und islamischer Welt ist nicht religiöser, sondern politischer und wirtschaftlicher Art. Wenn nämlich nur Tiefe und Reinheit des Glaubens wichtig waren, wenn Armut und Ohnmacht keine Rolle spielen würden, dann gäbe es für die Konflikte, die uns heute zu schaffen machen, kein Motiv. Worum es eigentlich geht, zeigt in fast tragischer Weise die Tatsache, daß es für viele Millionen junger Muslime zu der inbrünstig ersehnten Vernichtung des Westens nur eine einzige Alternative gibt: Auswanderung in den Westen.
Wo finden wir die Erklärung dafür, daß die islamische Welt der okzidentalen Herausforderung so wenig Produktives entgegenzusetzen hat? Der Prozeß, der zu der heutigen Einteilung der Welt in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Regionen führte, begann für alle außerokzidentalen Gesellschaften in dem Augenblick, als ihnen bewußt wurde, dass sie ihre Unterlegenheit nicht mehr aus eigener Kraft beheben konnten. Das war in Rußland um 1700, im Osmanischen Reich gegen 1800 und in Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall. Das Motiv für die Öffnung dem Westen gegenüber war in allen Fällen dasselbe: Vergrößerung der eigenen Machtbasis. Sehr verschieden waren allerdings die Methoden, mit denen die einzelnen Gesellschaften das Machtgefälle überwinden wollten. Für den Weg, der zum heutigen Zustand führte, wurden damals die Weichen gestellt.
Die politische Klasse im Osmanischen Reich wollte moderne westliche Kriegstechnik übernehmen, ohne sich mit der Frage zu befassen, an welche politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Produktion dieser Dinge gebunden war. Es ging um den Besitz des fertigen Produkts - seine Herstellung war uninteressant, was darauf hinauslief, die eigene Bevölkerung einfach noch stärker auszupressen und die begehrten Güter vom westlichen Produzenten zu kaufen. Da diese Güter aber, wie man bald erkennen mußte, mehr kosteten, als man einer weiterhin archaisch wirtschaftenden Bevölkerung abpressen konnte, liefen im 19. Jahrhundert das Osmanische Reich und Ägypten in die Schuldenfalle.
Ganz anders die Japaner: Schon die spärlichen, durch Holländer vermittelten Kulturkontakte vor der berühmten Öffnung lenkten das Interesse der Japaner auf Wissenschaft und Technik des Westens, also auf das, was hinter den interessanten Produkten vermutet wurde. Die Japaner wollten diese Dinge selbst produzieren und haben es auch, schon vor der Öffnung, oft genug getan. Seit der Öffnung gibt es keinen wesentlichen Bestandteil der westlichen Kultur, mit dem sich Japaner nicht eingehend beschäftigt hatten: Musiker, Germanisten und Alpinisten zeigen das Bestreben der japanischen Gesellschaft, die okzidentale Kultur als Ganze zu erfassen. Die Machterhaltung einer bestimmten Elite war dabei nicht der oberste Gesichtspunkt. Besondere Aufmerksamkeit galt naturgemäß den Methoden der industriellen Technik; die Japaner lernten sie innerhalb weniger Jahre so gut zu handhaben, daß sie westlichen Industrien ernsthaft Konkurrenz machen konnten. Der Weg in die Schuldenfalle wurde vermieden.
Für Erfolg oder Mißerfolg der nachholenden Entwicklung ist- so meine Hypothese - das kulturelle Erbe in Form eines bestimmten Weltbildes ausschlaggebend, das die großen Kulturen der Welt aus der gesellschaftlichen Grundstruktur ihrer Entstehungszeit heraus entwickelt haben, eines Weltbildes, das die Individuen mit bestimmten Eigenschaften ausstattet, ihnen andere vorenthält, die Aufmerksamkeit der Menschen auf bestimmte Sachverhalte lenkt und von anderen abzieht, gewisse Handlungsweisen reflexartig hervorruft und andere verhindert. Das Weltbild selbst ist nicht hinterfragbar - es übt eine absolute Herrschaft aus.
Wenn wir diese Hypothese auf die konfuzianische und die islamische Welt anwenden, dann ergibt sich folgendes: Die historisch erste und wichtigste konfuzianische Kultur ist die chinesische, und für sie gilt in den Worten des Sinologen Wolfgang Bauer: „Am Anfang stehen die gleichmäßig über das Land verteilten Bauern, die nach und nach durch die Gründung der Fürstentümer im Netzwerk fürstlicher Städte eingebunden werden, bis mit dem Beginn der Kaiserzeit das Reich in der Metropole des Kaisers seinen alleinigen Bezugspunkt erhält.“
Das Prinzip „Integration von unten“ ist so stark, daß fremde Herrscher sehr bald assimiliert werden und daß epochemachende politische Bewegungen von Bauern getragen werden: so 1368 die Vertreibung der Mongolen und in unserer Zeit die Einführung des Kommunismus, der sich zum Entsetzen der Russen auf die bäuerliche Bevölkerung stützte. Das grundlegende chinesische Gesellschaftsmodell, das alle historischen Umschwünge überdauert hat, ist das einer produktiven, nach außen von legitimen Herrschern geschützten, kulturell homogenen riesigen Gesellschaft, die in ein harmonisches, von vernünftigen Gesetzen bestimmtes Universum eingebettet ist. In der Gesellschaft herrscht ein Klima des Vertrauens (untereinander und der Herrschaft gegenüber).
Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen dieser Weltsicht und der islamischen? Herrschaft im Islam ist nicht, wie in China, aus der eigenen Gesellschaft erwachsen, aus der eigenen Kultur; sie ist das Ergebnis der Überschichtung einer primär bäuerlichen Majorität durch eine von außen kommende Herrscherkaste. Das (religiös fundierte) Endziel dieser Herrscherkaste ist die Eroberung der Welt, also aller denkbaren Kulturen; der islamische Herrschaftsverband ist, sobald er über die arabische Halbinsel hinausgreift, ein Konglomerat kulturell heterogener Elemente, das von der herrschenden Minorität mit Gewalt zusammengehalten wird und nicht durch kulturell fundierten Konsens wie bei den Chinesen.
Die Frage, in welcher Weise durch das kulturelle Erbe der Erfolg der nachholenden wirtschaftlichen Entwicklung geprägt wird, kann auch so gestellt werden: Welchen Stimulus stellt die jeweilige Gesellschaft, die jeweilige Kultur, das jeweilige „Weltbild“ überhaupt für die wirtschaftliche Betätigung bereit? Welcher Weg zum Reichtum ist vorgezeichnet? Die Chinesen sind zufrieden, wenn Ruhe und Ordnung herrschen und sie ihren Geschäften nachgehen können; das tun sie mit großem Eifer und in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit anderen Chinesen. Von der Obrigkeit wollen sie in erster Linie in Ruhe gelassen werden. Reich wird der erfolgreiche Produzent.
Bei den Muslimen liegt der Fall komplizierter. Die traditionelle islamische Art des Erwerbs ist durch die Grundstruktur der frühen islamischen Gesellschaft vorgegeben: Sie läuft über die Konkurrenz innerhalb der herrschenden Minorität um die Erträge der Herrschaft, also um das der Mehrheit abgepresste „Mehrprodukt“. Reich wird nicht der Produktive, sondern derjenige, der innerhalb der herrschenden Minorität eine gute Position hat. Die Rolle des Produzenten ist der unterworfenen ungläubigen Mehrheit zugewiesen; der Wohlstand des Gläubigen hänge von seinen Beziehungen zum Herrscher ab. Gesucht wird daher nicht die Möglichkeit ungestörter wirtschaftlicher Betätigung, sondern die Nähe zur Herrschaft- als Beamter, Politiker, Militär oder Gottesmann.
Diese Konstellation sicherte in der islamischen Frühzeit den Muslimen, die nur wenige Prozent der Bevölkerung ausmachten, ein sehr auskömmliches Leben. Im Gegensatz zu China aber, wo sozusagen die Herrscher von den Beherrschten kulturell eingemeindet wurden, nehmen in der islamischen Welt die Unterworfenen im Laufe der Zeit die Kultur - das heißt die Religion, und westlich von Persien auch die Sprache - der Eroberer an. Also „Integration von oben“. Das führte dazu, daß schließlich die Masse der beherrschten Ungläubigen fast völlig verschwand und das ursprüngliche islamische Projekt „Abschöpfung und Verteilung von Mehrprodukt“ immer aussichtsloser wurde.
Die damit naturgemäß immer schärfer werdende Konkurrenz um einen immer kleineren Kuchen führt zu allgemeinem Mißtrauen unter den Konkurrenten und gegenüber dem Herrscher, der nicht mehr als legitim betrachtet wird, da er offenbar nicht in der Lage ist, die „richtige“ Welt aufrechtzuerhalten. Die Realität hat sich also grundlegend geändert. Eisern beibehalten wurde aber das ursprüngliche, imponierend geschlossene Gebäude aus Werten, Normen und Verhaltensweisen, das schon wenige Jahrhunderte nach der Eroberung nicht mehr die zeitgenössischen Zustände, sondern die Realität der heroischen Frühzeit abbildete.
Nur ein Beispiel: Natürlich sind heute Muslime Bauern – aber nicht, weil die Muslime Bauern, sondern weil die Bauern Muslime geworden sind. Während in China die Bauern hohes, die Krieger aber wenig Prestige genießen, ist es in der islamischen Welt genau umgekehrt: Die Tatsache, daß es keine ungläubigen Bauernmassen mehr zu beherrschen gibt, ist vom Weltbild nicht verarbeitet worden. Es ist so wie bei dem Phänomen, das der Mediziner als „Phantomschmerz“ bezeichnet: Der Beinamputierte spürt deutlich lokalisierbare Schmerzen in dem Fuß, den er längst nicht mehr hat. Das islamische Weltbild ist das Weltbild einer Herrscherkaste, die über niemanden mehr herrscht.
Wenn es sich darum handelt, das Personal für die industrielle Produktion zu rekrutieren, dann ergeben sich aus diesem von Frustration, Mißtrauen und Realitätsverfall gekennzeichneten Weltbild Effekte, die der Erreichung des Ziels massiv im Wege stehen. Denn die Kapitalisten werden ihr Geld lieber ins Ausland schaffen, auf traditionelle Weise in Immobilien anlegen oder in „Beziehungen“ investieren; mit Blick auf die Willkür des Herrschers werden sie eine Anlage in langlebigen Produktionsstätten im Inland vermeiden. Und die Ingenieure (die überall in großer Zahl ausgebildet werden) sehen sich als Amtspersonen, die hinter imposanten Schreibtischen residieren; der prestigegefährdende Kontakt mit den Maschinen wird so weit wie irgend möglich vermieden (keine schmutzigen Hände!). Jeder, der praktische Erfahrungen in der Entwicklungshilfe hat, kennt dieses Phänomen. Die Manager schließlich haben es in einem Klima des allgemeinen Mißtrauens nicht mit Geschäftspartnern, sondern mit Komplizen zu tun, nicht mit Konkurrenten, sondern mit Feinden. Die einzigen, die funktionieren, sind die Arbeiter, die keine andere Wahl haben - aber das ist eben nicht genug.
In den islamischen Gesellschaften von heute wird die Entwicklung von Produktivität also nicht von Individuen abgelehnt, vielmehr ist die Gesellschaft, die von Anfang an Produktivität nicht als ihre Sache betrachtet hatte, heute aufgrund ihres ererbten und kulturell verfestigten Weltbildes nicht in der Lage, die Grundlagen der modernen Produktivität zu erfassen. Man spricht heute allgemein vom Scheitern der Industrialisierung in der islamischen Welt: Man hat sich Technik, Industrie und Wohlstand so glühend gewünscht, aber es ist leider nichts geworden.
Die ganze Wahrheit ist jedoch noch unerfreulicher: Man hat es nirgends wirklich versucht. Vor den schmerzlichen Veränderungen in allen Lebensbereichen, ohne die der Schritt zur Industriegesellschaft nicht getan werden kann, vor der Zumutung jahrzehntelangen Konsumverzichts und den scharfen Eingriffen in die soziokulturelle Substanz sind die islamischen Regierungen bisher immer zurückgeschreckt. Der Grund ist klar: Die Regierenden wissen, daß ihre sowieso schon brüchige Legitimität diese Belastungsprobe nicht bestehen würde.
Natürlich gibt es in den Statistiken der islamischen Länder überall auch die Rubrik „Industrie“, aber dahinter verbergen sich die anspruchslosen Produkte, die es dort auch vor fünfzig Jahren schon gab: Konserven, Textilien und Baumaterialien aus einheimischen Rohstoffen, jedenfalls kaum anspruchsvolle Produkte, die auf dem Weltmarkt abgesetzt werden könnten. Dagegen zum Beispiel die rasante Zunahme der industriellen Kompetenz in Taiwan, wo auch mit Nahrungsmitteln und Textilien begonnen, aber sehr schnell zu technisch immer anspruchsvolleren Produkten übergegangen wurde: In den sechziger Jahren trat man mit dauerhaften Konsumgütern in den Weltmarkt ein, und um 1980 hatte man mit kapital- und technologieintensiven Schwerindustrien das Niveau der führenden Industrienationen erreicht. Taiwan hat damit den Status eines unterentwickelten Landes hinter sich gelassen - wie Korea und Singapur, wie früher schon Japan und wie es für China zu erwarten ist.
Die islamische Welt ist weiterhin unproduktiv, arm, machtlos und auf weite Strecken chaotisch. Was die Sache noch schlimmer macht: Sie unternimmt auch keine ernsthaften Versuche, diesen Zustand zu verändern. Und das Allerschlimmste: Sie weiß, daß das so ist. Die dramatische Zunahme der Asylbewerberzahlen 1989/90 ist ja nicht durch plötzliche Verschärfung der politischen Unterdrückung zu erklären, sondern durch den Zusammenbruch der von den Regierungen aufrechterhaltenen, meist sozialistisch unterfütterten Wohlstandsillusionen: Die Menschen sahen plötzlich, daß es nur einen Weg zum Wohlstand gibt und daß ihre Gesellschaften diesen Weg nicht beschreiten werden. Es herrscht völlige Hoffnungslosigkeit: Die Herrschenden klammern sich nur noch an die Macht, die Beherrschten, soweit sie nicht resigniert haben, wollen auswandern.
Eine eigenständige Lösung des Problems hat sich nur die Türkei einfallen lassen: Sie will der EU beitreten. Das Land, das nie Kolonie war, ist mit Kapital und menschlichen Ressourcen gut ausgestattet; es hat nach dem Zweiten Weltkrieg Marshallplan-Gelder bekommen und für ihre Verwendung immer freie Hand gehabt. Es hat trotzdem nur wenig zustande gebracht, was heute den Namen Industrie verdient. Ebenso wie Griechenland, das erste nichtokzidentale Mitglied der Europäischen Union, erwartet die Türkei, daß ihr der Beitritt die Industrialisierung nicht erleichtert, sondern erspart.
In der Geschichte der Menschheit gibt es zwei grundlegende Umschwünge: Der erste ist, wie ein einprägsamer Buchtitel heißt, der Übergang zu „Pflug, Schwert und Buch“, also zu einer technisch höheren Art der Landnutzung, zu komplexeren Institutionen und zur Schriftkultur (der Übergang zur „Agrargesellschaft“). Die schwarzafrikanischen Gesellschaften, die diese „neolithische Revolution“ nicht mitgemacht haben, sind heute die Parias der Weltgesellschaft; eine Lösung ihres Problems ist nicht in Sicht.
In der islamischen Welt, die aus voll ausgebildeten Agrargesellschaften besteht, stünde heute die zweite Revolution, die industrielle, auf dem Programm. Hier bahnt sich möglicherweise wieder eine Tragödie an: Es ist nicht ausgeschlossen, daß die islamische Welt auf Dauer an der Industrialisierung scheitert. Denn es handelt sich um nicht weniger als um die Aufgabe eines Weltbildes. Es ist zwar von großer Integrationskraft und Geschlossenheit – es vermittelt den Muslimen Sicherheit -, es ist aber auch ein Gehäuse, das nur sehr schwer verlassen werden kann.
Um es zu wiederholen: Ein Muslim ist bis heute der festen Überzeugung, daß er - und nur er - den wahren Glauben hat und daß ihm deshalb die Herrschaft gebührt. Hat er die Herrschaft nicht, so liegt das daran, daß er vom rechten Pfad abgewichen ist. Es gibt also für alle Mißerfolge eine „islamische“ Erklärung, die eine produktive Auseinandersetzung mit der Außenwelt erspart.
Die Politiker der islamischen Länder werden sich, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, die Zustimmung ihrer Völker verstärkt dadurch sichern, daß sie die Schuld für ihre wirtschaftliche Misere dem Westen zuschieben und die Konfrontation weiter verschärfen. Eine Reaktion, die nicht anders zu erwarten ist: Wer sich in einem System auf Dauer „unten“ sieht, der wird das System angreifen, und die Exponenten dieses Systems sind wir. Damit wird aber auch klar, warum die von Samuel P. Huntington in die Diskussion gebrachte Furcht vor einer antiwestlichen Allianz der Chinesen mit den Muslimen unbegründet ist: Einer solchen Allianz fehlt das Fundament der gemeinsamen Interessen. Während die Muslime nicht anders können, als uns in die tiefste Hölle zu wünschen, wird China das Spiel (unser Spiel!), in dem es a la longue zu gewinnen hofft, gerne weiterspielen: Es braucht uns als Abnehmer seiner Erzeugnisse und als Lieferanten von Kapital und Technologie. China ist sicher, unserem Club in absehbarer Zeit beitreten zu können.
Die Bedrohung aus der islamischen Welt wird nicht die Form des Krieges im klassischen Sinn annehmen, eben weil militärische Schlagkraft heute an erfolgreiche Industrialisierung gebunden ist. Wohl aber ist mit weiteren Aktionen unterhalb der militärischen Schwelle zu rechnen, die zwar nicht die Aussicht eröffnen, den westlichen Satan zu beseitigen oder zu erobern, aber deshalb attraktiv sind, weil sie dem allgegenwärtigen ohnmächtigen Haß in der islamischen Welt immerhin ein Ventil bieten.

Was haltet ihr davon?
Ich denke der Autor (Uwe Simson) hat das Thema gut erfasst und hat meiner Meinung nach auch den Kern getroffen. ich war früher auch Anhänger dieser "Alles ist auf Kolonien usw zurückzuführen"-Argumentation, jedoch hat dieser Text meine Meinung gehörig umgekrempelt.
Vielleicht eure auch? :)

Sowilo
18.05.2005, 12:49
Die islamische Welt ist weiterhin unproduktiv, arm, machtlos und auf weite Strecken chaotisch. Was die Sache noch schlimmer macht: Sie unternimmt auch keine ernsthaften Versuche, diesen Zustand zu verändern.
Ich würde sagen der Autor hat den Artikel aus einer westlichen und damit überholten Sichtweise geschrieben.

Wir Europäer neigen oft dazu uns selbst als Krönung der Schöpfung und unsere Entwicklung als die einzig richtige anzusehen.

Wenn wir uns heute mal umsehen sehen wir aber, dass nicht die anderen sondern wir diejenigen sind, die die eigentliche Fehlentwicklung hinter sich haben.

Warum sollte es schlimm sein unproduktiv zu sein, wenn man seinen Bedarf an Gütern trotzdem deckt? Was ist arm, wenn keiner hungert? Was ist so schlimm daran, wenn man keine Macht über andere hat?

Grade die Produktivität für den Export um andere Länder indirekt von sich abhängig zu machen, die damit verbundene Möglichkeit Macht über andere Staaten auszuüben und das dadurch entstehende "Ausbluten" des Landes ist doch der Grund für Terrorismus.

Kuck dir doch mal an, wohin uns diese "Kultur" geführt hat. Wir haben die Umwelt, unsere Gesellschaft und die Beziehung zu anderen Kulturen ruiniert.

Kuba hat einen höheren Lebensstandart als die Türkei oder Russland, ohen Ressourcen auszubeuten. Die Kindersterblichkeit bei denen ist geringer als in den USA, ohne den Planeten zu vergiften und andere Länder auszubeuten.

Also wer sind die tatsächlichen Länder, die eine Entwicklung vor sich haben?

Nutz
18.05.2005, 18:17
Das einzig wirkliche Problem der islamischen Welt ist die Verbindung von Religion und Staat, vor allem im Rechtssystem dem seit es seit ca 800 Jahren an Veränderungsmöglichkeiten mangelt.

Dadurch ist es nicht möglich passend auf die Gegebenheiten der der globalisierten Gesellschaft einzugehen.

meditate
19.05.2005, 07:36
die aussage des beitrages ist auf besonders intelligente weise darauf gerichtet, die kluft zwischen religionen und weltanschauungen zu vertiefen. das problem ist aber nicht wirklich die religion, sie ist, wie immer nur ein mittel in den machtspielen. eigentlich läßt sich das wunderbar mit bandenbildung von unterpriveligierten schichten vergleichen. der mensch sucht sich etwas verbindendes und das ist bei allen ländern des okzident der islam. unter diesem mantel können sehr unterschiedliche weltanschauungen auf den kleinsten gemeinsamen nenner gebracht werden.


tatsache ist, die konflikte entstehen in den flüchtlingslagern und aus der gewissheit heraus, dass menschen ausgegrenzt und unterpriveligiert sind. von daher trägt die palästina/israel-auseinandersetzung wesentlich zur militarisierung des islam bei.

eine lösung wird man auf dem gebiet der religionen nicht finden. die wird an den tischen der parlamentäre gefunden werden müssen.

Sowilo
19.05.2005, 08:25
Das einzig wirkliche Problem der islamischen Welt ist die Verbindung von Religion und Staat, vor allem im Rechtssystem dem seit es seit ca 800 Jahren an Veränderungsmöglichkeiten mangelt.

Dadurch ist es nicht möglich passend auf die Gegebenheiten der der globalisierten Gesellschaft einzugehen.
Da muss ich dir leider zustimmen und viele Gläubige sind der Meinung, dass das auch gut so ist und sehen keinen grund das zu ändern. Für sie ist es sogar das, was den Islam positiv vom Christentum unterscheidet.