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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Harbinger's Requiem



Harbinger
05.04.2005, 12:04
Vorneweg: Diese Story wird eine größere Sache werden. Ich habe schon etwas mehr geschrieben, als ich hier posten werde und befinde mich gerade im zweiten Kapitel. Aber im Augenblick habe ich noch ein wenig mit Plot-Schwierigkeiten zu kämpfen, weswegen die vollständige Vollendung dieser Story noch eine Weile auf sich warten wird. Ich schreibe sie auch nur nebenbei, während ich mich weiterhin um den Shadegrown-Zyklus kümmere. So viel dazu. Jetzt erstmal der erste Teil des ersten Kapitels.
(P.S.: Ich werde jedes Kapitel nach einem dazu passenden Song benennen. Kapitel 1 eben "With Satan and victorious Weapons" von Marduk.)

Nachtrag: Ich habe mich jetzt entschlossen, die Geschichte in Teile einzuteilen. Teil 1 habe ich Gestern abend beendet. Er umfasst zirka 25 Din-A4 Seiten und ist in vier Kapitel, zwei Intermezzos und einen Epilog eingeteilt. Wenn alles gut geht werde ich nächste Woche mit Teil 2 beginnen. Allerdings hätte ich dazu gerne vorher noch einige Kritiken. Zögert nicht mich für gewisse Nachteile der Geschichte niederzumachen. Ich kann das vertragen. Wie auch immer, kommen wir zu:

Teil 1 - Deadnight Warrior (Children Of Bodom)

Don't wake it up, call my name, it's death!
Set them all on a trip of pain,
I can't wait!

Harbinger
05.04.2005, 12:05
Kapitel 1 - With Satan and victorious Weapons (Marduk)

Come ghostfaced hungry shadows of shadows
By Satan I drink the darkness they drewl
With victorious weapons
I will melt every angels wings

Kurz nach Mitternacht am 20. Dezember lag noch lange keine Ruhe über New York. Die Weihnachtstage standen vor der Tür. Die Straßen waren hell erleuchtet von den farbigen Lichterketten, die zwischen den Wolkenkratzern gespannt waren. Auf den Straßen zwischen den hohen Gebäuden standen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Das dichte Schneetreiben über der Stadt brachte den Verkehr zum Erliegen. Autofahrer, die die lange Wartezeit nicht ertragen konnten, schlugen mit den Fäusten auf ihre Hupen ein und brüllten den anderen Verkehrsteilnehmern Beschimpfungen zu. Der Lärm, der über den Straßen lag, war ohrenbetäubend.
In einer kleinen Seitengasse hingegen herrschte vollkommene Ruhe. In der Dunkelheit lag eine große Gestalt im aufgewühlten Pulverschnee. Rund um den jungen Mann, der bewußtlos in der Gasse lag, war der Schnee rot verfärbt von geflossenem Blut.
Unweit von dem Bewußtlosen standen zwei weitere Männer an einer unbeleuchteten Ecke. Einer der Männer war merklich angespannt, der andere lehnte locker an einer Hausecke.
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»Sicher, dass er nicht erfriert oder verblutet?« fragte der angespannte Mann mit einem auffälligen mexikanischen Akzent leise.
»Keine Sorge« antwortete der andere, ebenfalls mit einem Akzent »Er wird bald aufwachen.«
Die angespannte Gestalt kratzte sich zweifelnd am Kinn. »Woher weißt du das?«
»Intuition.«
Die ruhige Gestalt entblößte ihre makellosen weißen Zahnreihen, als sie sich eine Zigarette anzündete. Die beiden warteten einige Minuten, bis ein Schauer durch den Körper des am Boden liegenden Mannes ging und er leise aufstöhnte.
Der Mann, der entspannt an der Wand lehnte zog an seiner Zigarette, schnippte sie fort und zischte: »Zeit zu gehen.«
Leise gingen die beiden Gestalten aus der dunklen Ecke, während der verletzte Mann sich unter Schmerzen auf den Rücken drehte. Er blickte in den Himmel, als die Wolkendecke, die über der ganzen Stadt lag, für einen kurzen Augenblick aufriss und der Vollmond sichtbar wurde. Mit dem Licht des Mondes kam ein Gesicht vor sein inneres Auge, das Gesicht einer schönen, großen Frau, die der junge Mann mehr als alles Andere vermisste. Er streckte die Hand nach diesem Gesicht aus, blickte in die großen Augen, während ihm Tränen über die Wangen liefen.
Die Wolkendecke schloss sich und gemeinsam mit dem Licht des vollen Mondes verschwand das Gesicht. Der junge Mann sah nurnoch seine Hand, die blutüberströmt zum Himmel gestreckt war. In der Handfläche befand sich ein großes Loch, auf dem Handrücken die Austrittswunde, die von einem Messer verursacht worden war. Schmerz zuckte durch den ganzen Körper.
Der junge Mann ließ seine Hand sinken und blieb reglos liegen. Eine weitere Träne lief aus seinem rechten Auge in die tiefe Schnittwunde darunter. Er wünschte sich nur eine Sache mehr, als auf der Stelle zu sterben: Rache.
Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen setzte er sich auf. Sein langes, lockiges Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, war von Blut verklebt. Sein kurzer Kinnbart verdeckte eine stark blutende Wunde am Kinn. Langsam und unter Schmerzen stand er auf, klopfte sich den Schnee von seinem langen, schwarzen Mantel und schaute an seinem linken Arm herunter.
Die Desert Eagle Mark XI war blutverschmiert. Der junge Mann wusste, dass das Magazin darin leer war. Er ließ es aus der Waffe fallen und warf die leere Pistole weg. Mit schweren Schritten taumelte er die Gasse entlang auf die hell erleuchtete Straße zu. Das erste Gebäude rechts von ihm war eine kleine Bar. Er bahnte sich seinen Weg zur Vordertür und trat ein.
Zwei Gäste saßen in der verräucherten Kneipe, unscheinbare Typen, die man sofort wieder vergaß, wenn man den Blick von ihnen abwendete. Der Barkeeper war groß und muskulös, hatte einen kurzen Bürstenhaarschnitt und eine Augenklappe auf dem rechten Auge. Der junge Mann ging geradewegs auf die Bar zu und setzte sich dem Barkeeper gegenüber.
»Kriegsverletzung oder beim Essen mal mit der Gabel daneben getroffen?« fragte der junge Mann mit einem Blick auf die Augenklappe.
»Weder noch« antwortete der Barkeeper mürrisch, während er die Augenklappe hochzog und ein gesundes rechtes Auge entblößte »Nur um gefährlich zu wirken.«
Der junge Mann hob den Blick und sah sich ein Schild an, auf dem >Nimm die Rechnung oder nimm ‘ne Ladung Schrot!< stand.
»Das auch?« fragte der junge Mann weiter.
»Das ist ernst gemeint.« Mit einem bösen Lächeln tätschelte der Barkeeper den Griff seiner Shotgun unter der Tresen.
Seufzend zog der junge Mann eine Brieftasche und warf sie auf die Holzplatte, die die Bar bildete. Die Augen des Barkeepers glitzerten.
»Was darf’s sein, Sir?« fragte er gierig »Abgesehen von dem Ratschlag, dass Sie sich vielleicht einen Arzt suchen sollten.« Sein Blick wanderte zu dem großen blutenden Loch in der rechten Hand des jungen Mannes.
»Ich hätte gerne eine Flasche Whiskey, ein Glas...« Der junge Mann hielt inne. »...und ich wüßte gerne, wo ich hier eigentlich bin.«
Der Barkeeper starrte ihn misstrauisch an.
»Sie haben mich richtig verstanden.« Der junge Mann deutete ein Lächeln an. »Wissen Sie, ich bin gerade so, wie Sie mich jetzt sehen, neben Ihrer Bar aufgewacht.«
»Ist nicht meine Bar« brummte der Barkeeper, während er sich umdrehte und nach einer Flasche Whiskey griff »Lassen Sie mich raten, Sie haben ihr Gedächtnis verloren, wissen weder wer noch wo Sie sind und wollen herausfinden, wer Sie so zugerichtet hat, damit Sie’s dem Dreckskerl heimzahlen können.« Er stellte den Whiskey und ein Glas vor den blutverschmierten Mann. »Richtig?«
»Falsch.« Der junge Mann schenkte sich ein Glas Whiskey ein. »Mein Name ist Alexander Harbinger, ich bin 24 Jahre alt, arbeite als Angestellter einer namhaften Bank auf der Jersey-Seite und spielte bis vor kurzem hobbiemäßig in eine Melodic-Death-Metal-Band mit einigen Freunden. Meine Eltern kommen aus Irland, ich wurde in Dublin gezeugt und auch dort geboren und ich kam vor zwölf Jahren nach Amerika. Ich weiß nur nicht wo ich bin, weil ich vor nicht allzu langer Zeit kopflos durch die Hinterhöfe von New York gerannt bin, während mich ein Killer-Kommando gejagt hat. Also, Sir, wo bin ich?«
Der Barkeeper starrte den jungen Mann an, während seine Kinnlade herunterklappte. »Äh... Sie... Warten Sie, Jersey-Seite... Dublin?... Äh, ich...«
Harbinger hob die Hand um den Barkeeper zum Schweigen zu bringen, während er den Whiskey herunter kippte. »Lassen Sie die Einzelheiten bei Seite. Ich möchte Sie nicht mit meiner Lebensgeschichte belasten. Sagen Sie mir einfach, wo ich bin.« Er schenkte sich noch einen Whiskey ein.
»Gegenüber ist ein Bahnterminal, da ist ein Lageplan« begann der Barkeeper, der noch immer sichtlich verwirrt war »Aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie-«
Weiter kam der Barkeeper nichtmehr. Eine Kugel durchschlug seine Stirn und riss sein Gehirn in Stücke. Harbinger wurde von einem Blutstrahl getroffen. Instinktiv warf er sich hinter die Bar, noch bevor der tote Barkeeper auf dem Boden aufschlug.
»Der Boss sagte, keine Zeugen!« hörte Harbinger eine männliche Stimme mit auffälligem mexikanischen Akzent von der Tür her.
Eine Folge von Schussgeräuschen zerriss die Luft, während Harbinger nach dem Griff der Spass 12 unter dem Tresen griff. Er hob die Schrotflinte und legte den Schaft auf die Theke.
In der Bar war es still geworden. Anscheinend hatten die Killer die anderen Gäste schnell erledigt. Harbinger kauerte hinter dem Tresen, den Finger am Abzug der Waffe, die darauf lag, und lauschte nach Schritten oder anderen Geräuschen, die seine Feinde verursachten. Er hörte einen vorsichtigen Schritt zu seiner Rechten. Blitzschnell drehte er die Shotgun und zog den Abzug. Die Schrotladung traf auf ein Hindernis. Ein Aufschrei war zu hören, genau wie das Klatschen von Blut, das auf dem Fußboden auftraf. Jetzt war der richtige Augenblick gekommen. Harbinger sprang auf und riss die Waffe mit sich hoch.
Ein weiterer Killer befand sich im Raum. Er starrte auf die Leiche seines Partners, die blutüberströmt zwischen zwei Tischen lag. Die beiden Gäste, die Harbinger beim Reinkommen bemerkt hatte, lagen mit Kopfschüssen in Blutlachen auf dem Boden. Harbinger fackelte nicht lange. Er richtete die Schrotflinte auf den zweiten Killer und drückte ab.
Die Schrotladung traf den Kopf des Mannes aus geringer Entfernung. Die kleinen Kugeln rissen seinen Schädel auseinander und verteilten sein Gehirn auf einer grünen Tischdecke in der Nähe. Die kopflose Leiche fiel wie ein gefällter Baum zu Boden.
Harbinger schwang sich über den Tresen und riss die Pistole des Killers aus der verkrampften Hand seiner Leiche. Es war eine gewöhnliche Beretta 92F. Harbinger steckte sie unter seinen Mantel, ging zu der anderen Leiche und nahm auch ihre Beretta an sich. Nachdem er auch die Schrotflinte unter seinem Mantel verstaut hatte, wirbelte er herum, rannte durch die Toilettentür und erbrach sich in eines der Wachbecken. Die Anzahl der Menschen, die er in seinem Leben getötet hatte, war gerade auf drei gestiegen. Er hatte immer in Notwehr gehandelt, doch es war jedes einzelne mal furchtbar gewesen.
Langsam beruhigte sich Harbingers Magen. Er hob schwach den Kopf und blickte in den dreckigen Spiegel, der über dem Waschbecken an der Wand hing. Seine komplette rechte Gesichtshälfte war blutverkrustet. Die Schnittwunde unter seinem Auge blutete noch immer. Weiteres frisches Blut, das aus dem Schädel des Barkeepers gespritzt war, rann sein Gesicht und seinen Hals hinunter. Allerdings fühlte er sich nicht ganz so schlecht, wie er aussah. Seine Gefühle waren zwar ein einziges Chaos, doch die Schmerzen hatte nachgelassen.
Harbinger senkte den Kopf und rieb sich müde die Augen. Als er den Blick wieder hob, hatte er die gefließte Wand neben dem Spiegel direkt vor Augen. Auf nahezu jede Fließe war ein Satz geschrieben oder sie war voll gemalt mit merkwürdigen Symbolen. Viele der Sätze waren Vulgäritäten oder anonyme Liebesbekenntnisse, doch eine ganz besondere Botschaft gewann seine Aufmerksamkeit, als er sie mit einem Blick streifte.
Auf eine der schmutzig-weißen Fließen war fein säuberlich das Wort >Racheengel< geschrieben. Darunter standen >Rache für meine Geliebte, A.D.< und daneben die Zahl 759. Diese Botschaft löste etwas in Harbingers Herz aus. Er fühlte, wie eine gewisse Schwermütigkeit von ihm abfiel. Ihm wurde bewußt, dass er nicht der einzige Mensch mit Rachegelüsten in dieser Stadt war. Obwohl er diesen anderen Racheengel nicht kannte, war er erleichtert, denn er war nicht alleine.
Harbingers Blick schweifte weiter. Sein Augen blieben an einem einzigen Wort hängen, das auf einer einzelnen Fließe stand. >Dante< war darauf geschrieben. Eine Träne rann über Harbingers Wange. Erinnerungen kamen aus seinem Gedächtnis hoch. Er erinnerte sich daran, wie er selbst immer Dante genannt worden war, von seinen engsten Freunden, da Dante sein Künstlername innerhalb der Band gewesen war. Doch plötzlich hielt er inne. Noch etwas anderes war mit diesem Namen verbunden. Konzentriert legte er eine Handfläche an seine Stirn, doch so sehr er auch versuchte, sich an die Bedeutung des Wortes >Dante<, er konnte es nicht.
Resignierend drehte Harbinger den Kopf wieder zum Spiegel. Hinter sich sah er einen verängstigten alten Mann, der versuchte, sich durch die Klotür hinaus zu schleichen. Blitzschnell wirbelte Harbinger herum, zog eine Beretta und richtete die Waffe auf den Mann.
»Sofort stehenbleiben« brüllte Harbinger ihn an »Wer sind Sie und was tun Sie hier?«
»Bitte, töten Sie mich nicht« antwortete der Mann mit zitternder Stimme, während er angsterfüllt die Hände hob »Ich bin nur der Besitzer dieser Bar und ich war hier hinten auf dem Klo, als Sie reingekommen sind. Ich schwöre, ich werde niemandem etwas sagen, wenn Sie mich laufen lassen.« Plötzlich verschwand der verängstigte Ausdruck aus seinem Gesicht und er schaute Harbinger direkt ins Gesicht. »Kennen wir uns, Mister? Ich habe das Gefühl, dass sie schonmal hier waren.«
»Unmöglich« antwortete Harbinger und senkte die Pistole »Ich weiß ja nichtmal genau, wo ich bin. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht hier, Glauben Sie mir.« Langsam drehte er sich um und schaute wieder in den Spiegel.
»Wenn Sie meinen.« Der Besitzer der Bar zuckte die Schultern, wendete den Blick jedoch noch nicht von Harbinger ab. Als er jedoch bemerkte, dass der junge Mann ihn nichtmehr beachtete, drehte er sich um, verließ die Toilette und schaute sich das Chaos in seiner Bar an.
Harbinger sank auf die Knie. Jetzt, wo er zur Ruhe kam, brach all das Unheil wieder über ihn herein. Er stützte sich mit den Händen auf dem dreckigen, gefließten Boden auf und ließ den Kopf hängen.
»Was soll ich nur tun?« flüsterte er, während sich seine Hände in die Fugen zwischen den Bodenfließen krallten »Was soll ich tun?«
»Du solltest aufstehen und jemanden suchen, der deine Wunden behandelt, Alex.«
Harbinger zuckte erschrocken zusammen, stürzte zur Seite und blieb halb auf dem Boden liegen, den Blick nach oben gerichtet.
Vor ihm stand eine Frau, ungefähr 1,80m groß mit langen, roten Haaren in einem schwarzen Seidenkleid. Sie blickte abschätzend auf ihn herab. Hinter ihr stand ein noch größerer Mann mit kurzen Haaren und einem Vollbart.
»Miranda... Jack...« Harbingers Stimme versagte, während eine weitere Träne über sein Gesicht lief »Aber... Miranda, ich habe doch gesehen, wie...« Er brach ab, als seine Stimme wieder brach.
»Du hast meinen Körper gesehen« ergänzte sie ihn »Du hast die Austrittswunde der Kugel gesehen, die mein Herz durchschlagen hatte. Du hast meine Leiche gesehen, in der Tat. Es wäre auch nicht gerade gut gewesen, wenn du sie nicht gesehen hättest. Denn dann würdest du jetzt vielleicht an meinen Worten zweifeln.« Sie kniete sich nieder und blickte ihm direkt in die Augen. »Wir sind tot, Alex. Jack, ich und all die anderen wurden von den Killern ermordet, die du vorhin umgebracht hast.«
»Aber...« stotterte er »Aber wie kann das sein? Wie kann ich mit euch reden? Ihr seid tot.«
Er wich zurück und kämpfte sich auf die Beine. Er stieß mit dem Rücken gegen die gefließte Wand, doch er wandte den Blick nicht von den beiden, die vor ihm standen, ab.
»Es ist möglich, Alex« erwiderte Miranda »Unterschätze nie die Macht, die der Verstand eines Menschen über ihn hat.«
»Du meinst, ich bin verrückt?« fragte er leise.
»Das ist keine leichte Frage« antwortete Jack an ihrer Stelle »Dein Verstand konnte nur die Tatsache nicht verkraften, dass wir nicht mehr bei dir sind.«
»Warum ihr?« rief er »Warum nicht alle? Was ist mit Veronica oder Pete? Oder den Anderen?«
»Diese Frage kann dir nur dein Herz beantworten, Alex.« Jack schaute ihn direkt an. »Frage dich selbst.«
Harbinger blickte wehmütig auf Miranda.
»Wir haben uns geliebt« flüsterte er, während sein Blick zu Jack wanderte »Und du bist mein bester Freund. Ihr wart die wichtigsten für mich. Deswegen sehe ich euch jetzt.« Er senkte den Blick. »Bin ich verrückt?«
»Deine Persönlichkeit hat sich gespalten und uns erschaffen.« Miranda berührte Harbingers Wange. »Wir sind deine Einbildungen. Wir sind nicht wirklich wir, sondern teile deines eigenen Geistes. Aber wir sind dennoch hier, um dir zu helfen.«
»Vielleicht sind wir nicht die einzigen Dinge, die du dir einbildest, Alex« gab Jack zu bedenken »Du könntest Dinge sehen, die nicht da sind, andere Dinge könnten dir unbekannt vorkommen oder gar merkwürdig. Das sind alles Dinge, die dein Verstand dir einredet. Wir sind hier um dich zu unterstützen.«
»Mich unterstützen?« Harbinger lachte leise. »Ich bin verrückt und ihr seid nur Geister, die von meinem gestörten Geist erschaffen wurden. Wie wollt ihr mich unterstützen?«
»Wir beraten dich« antwortete Miranda mit erstarrten Gesichtszügen »Wir helfen dir rational zu denken. Wir sagen dir, was du zu tun hast.« Sie strich ihm eine blutige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du darfst nichts und niemandem trauen, Alex. Niemandem außer mir und Jack, denn wir sind du. Und wenn du Rache nehmen willst, dann kannst du nur dir selbst vertrauen.«
Harbinger starrte Miranda und Jack an. Alle Kraft wich aus seinem Körper und er fiel wieder auf die Knie.
»Ich weiß, es ist schwer für dich, das zu verstehen.« Miranda beugte sich zu ihm herunter und schloss ihn in die Arme.
Er wich zurück und blickte sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen an.
»Wie kannst du mich berühren« fragte er mit schwacher Stimme »Du bist nicht hier. Dich gibt es nicht.«
»Ich bin du, Alex« antwortete sie »So lange du hier bist, bin auch ich hier, genau wie Jack. Und wenn du glaubst, dass ich dich berühre, dann berührst du dich in Wirklichkeit selbst. Ich bin nur ein unbewußter Teil deines Geistes.«
»Ich bin total übergeschnappt...« murmelte Harbinger.
Sein Blick war genau gerade aus auf eine weiße Fließe an der Wand gerichtet. Er blickte sie an, doch er sah sie nicht. Er sah nichts.
»Du bist nicht direkt „übergeschnappt“, Alex.« Jack verschränkte die Arme und blickte Harbinger an. »Bedenke was die passiert ist. Unter diesen Umständen wäre kein Mensch ohne psychische Schäden davongekommen. Erinnere dich daran, Alex...«

Der Raum war verhältnismäßig klein. In der Mitte des Proberaums stand ein Tisch, auf dem diverse leere Flaschen standen, die vor einigen Stunden noch alkoholische Getränke enthalten hatten.
Auf den Sofas rundherum saß die Besetzung von >Deathwish<. Die Band bestand aus sieben Personen. Alexander ‚Dante‘ Harbinger übernahm die Rolle des Lead-Gitarristen. Er hatte die Arme um die Hüften seiner Freundin Miranda Lewis - die growlende weibliche Stimme von >Deathwish< - geschlungen. Ihm gegenüber saß Jack Willis, Bassist, der seine Geliebte Veronica Bowers, Violine, auf ähnliche Weise in den Armen hielt, wie Harbinger Miranda. Auf dem dritten und vierten Sofa, die rund um den Tisch aufgestellt waren, lagen Pete Masters, Keyboard und Gesang, Craig Denton, Schlagzeug, und zu guter Letzt Trey Cyrus, zweite Gitarre. Sie hielten ihre Bandprobe wie immer in Harbingers Wohnung ab. Dieser Abend hatte damit geendet, dass die Band die Musik zeitweilig an den Nagel hing und dem Alkohol fröhnte.
Sie unterhielten sich gut gelaunt über alles, was ihnen in den Sinn kam.
Bis die Eingangstür der Wohnung aufflog und drei Männer hereinstürmten. Zwei von ihnen hatten Berettas gezogen, der Dritte hielt eine Desert Eagle in der Hand.
»Ihr hattet eure Chance« brüllte der Mann mit der Desert Eagle »Das kommt davon, wenn man sich Mr. Curtis widersetzt.«
Die Killer hoben ihre Waffen und zielten auf die sieben Musiker. Geistesgegenwärtig zog Harbinger Miranda fester an sich und verlagerte sein Gewicht nach hinten. Das Sofa, auf dem sie lagen, stürzte um und bildete eine schützende Barriere vor den Beiden. Harbinger hörte Schüsse und die Schmerzensschreie seiner Freunde. Verzweifelt suchte er nach etwas, das er als Waffe benutzen könnte. Doch er fand nichts.
Nach ein paar Sekunden war alles ruhig. Harbinger und Miranda kauerten noch immer hinter dem Sofa auf der Suche nach einem Ausweg. Während Harbinger den Blick über die Umgebung schweifen ließ, hörte er ein Geräusch von seiner linken Seite.
Eine Hand, die gesenkt eine Desert Eagle hielt, tauchte neben dem Sofa auf. Blitzschnell griff Harbinger danach, drehte die Waffe um, wobei er dem Killer den Zeigefinger brach, und drückte ab. Die Kugel durchschlug das Knie des Mannes und der Griff um die Pistole lockerte sich. Harbinger hob den Lauf und zog den Abzug erneut durch.
Das Schussgeräusch wurde überlagert von den Geräuschen, die die Patronen der übrigen beiden Killer verursachten, als sie auf Harbingers und Mirandas Deckung feuerten. Während die Kugel aus der Desert Eagle den Brustkorb des Killers durchschlug, fand eine Beretta-Patrone ihren Weg durch das Ledersofa und traf direkt in Mirandas Herz. Sie fiel mit einem Aufschrei zur Seite und starb einen Atemzug später.
»Nein!« brüllte Harbinger, als er Mirandas Schrei hörte.
Er griff nach ihrem Handgelenk, doch er fand keinen Puls mehr. Eine Träne lief über sein Gesicht. Die Trauer schwand jedoch sofort und wich eisiger Wut.
Harbinger sprang auf und schoss mit der Desert Eagle auf die verbleibenden beiden Killer. Drei Kugeln gingen vorbei, eine streifte einen der Männer. Der Getroffene schrie auf, riss ein Messer aus seinem Gürtel und schleuderte es nach Harbinger. Die Klinge durchstieß Harbingers Hand. Er brüllte schmerzerfüllt und drückte ab.
Es klickte nur. Die Waffe war leer. Harbinger wirbelte herum und suchte einen Ausweg. Eine Kugel durchschlug seine Schulter doch sein Körper befand sich bereits in einem Schockzustand, so dass er die Wunde nichtmal bemerkte. Sein Blick fiel auf ein Fenster und er stürmte los. Mit einem Sprung traf er die Scheibe und zerbrach sie. Glassplitter bohrten sich in seine Haut, als er zwei Stockwerke tief in einen schneebedeckten Hinterhof fiel.
Das einzige, woran er sich danach erinnerte war, dass er losrannte.

»Du erinnerst dich an alles, Alex« sagte Miranda und ein leichtes, zufriedenes Lächeln spielte um ihre Lippen »Das ist gut. Dann weißt du, was du zu tun hast.«
Wortlos schüttelte Harbinger den Kopf. Sein Gesicht war tränenüberströmt, doch die Tränen wuschen auch das Blut ab.
»Wie soll ich das tun?« flüsterte er mit schwacher Stimme »Wie kann ich jemanden wie Tyler Curtis töten?«
Er erinnerte sich daran, wie der fette kleine Mexikaner mit einem Dutzend Bodyguards an seine Tür geklopft hatte und ihm ein Ultimatum gestellt hatte, seine Wohnung zu verlassen.
Jack schaute ihn aufmerksam an, als versuche er, Harbingers Gefühle von seinem Gesicht abzulesen.
»Das war der Grund« sagte er schließlich »Deswegen sind wir gestorben. Weil diese Kröte deine Wohnung wollte. Wofür auch immer.«
Harbinger blickte auf. Grimmige Entschlossenheit machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Was soll ich tun?« fragte er.
Mirandas Lächeln wurde nun offensichtlicher.
»Am Besten fängst du damit an, deine Wunden versorgen zu lassen« wies sie ihn nach kurzer Stille an »Du nützt niemandem, wenn du dich nicht auf den Beinen halten kannst. Tu das, dann sehen wir weiter.«
Nachdem Miranda diese Worte ausgesprochen hatte, begann ihr Körper durchscheinender zu werden. Gemeinsam mit Jack verblasste sie langsam, bis sie beide schließlich ganz verschwunden waren. Harbinger blieb noch einen Augenblick auf dem Boden sitzen, dann stand er auf und verließ mit entschlossenen Schritten die Toilette.
Der Barbesitzer war gerade dabei die Leiche seines Barkeepers in einen Nebenraum zu ziehen.
»Drei mal in einer Woche« murmelte er leise vor sich hin, als Harbinger von der Toilette zurückkehrte »Langsam frage ich mich, ob es das wert ist...«
Während der alte Mann vor sich hin fluchte, ging Harbinger an die Bar, schenkte sich einen Whiskey ein und kippte ihn runter. Er wartete einen Augenblick, bis der Besitzer noch immer fluchend an den Tresen zurückkehrte.
»Wo finde ich das nächste Krankenhaus?« fragte Harbinger ihn, während er nach seiner Brieftasche griff, die noch immer auf der Theke lag.
»Draußen sind Schilder« antwortete der alte Mann »Folgen Sie denen einfach, dann kommen Sie hin.«
Harbinger öffnete seine Brieftasche und warf einen Blick herein. Blinzelnd zog er die Geldscheine, die darin lagen heraus. Jeder einzelne davon erschien ihm völlig unbekannt. In seinem Geist sahen die Banknoten anders aus.
Mit einem Schulterzucken zählte er ein paar Scheine ab. Wahrscheinlich war diese Verwirrung ein Teil seines tiefgreifenden Traumas. Jack hatte erwähnt, dass ihm Dinge unbekannt vorkommen könnten, also entschloss Harbinger sich, diesen Geldscheinen keine weitere Beachtung zu schenken.
Gleichgültig warf er die abgezählten Scheine auf den Tresen, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Bar.

Harbinger
07.04.2005, 09:47
Intermezzo 1 - The Devil’s Child (Naglfar)

I stared into the broken mirrors of the universe
Dragged further unto the grasp of obscurity
Called by voices, called towards sin

Zwei junge Krankenschwestern standen vor einem merkwürdigen Apparat, in den die Silhouette eines menschlichen Körpers eingeprägt war. Eine drehte an einigen Knöpfen, um das Gerät einzustellen, die andere notierte einige Dinge auf einem kleinen Block. Außer dieser Maschine befand sich noch ein Untersuchungstisch in dem Zimmer, der Rest des Raumes war leer. Die Tür öffnete sich und ein hochgewachsener Arzt in weißem Kittel trat ein.
»Ist alles bereit?« fragte er mit einem Blick auf die beiden Schwestern.
»Alles ist bereit, Doktor« antwortete die Frau, die Notizen gemacht hatte.
»Gut« fuhr der Arzt fort »Dann sollten wir jetzt unseren Patienten herein bitten.«
Die Krankenschwester legte ihren Notizblock bei Seite und verließ den kleinen Raum durch die einzige Tür. Unterdessen las der Arzt die Zeilen durch, die sie auf den Block geschrieben hatte. Er nahm jedes einzelne Wort auf, bevor er anerkennend nickte.
Es dauerte einige Minuten, bevor die Krankenschwester den Raum wieder betrat. Zwei Männer folgten ihr, zwei große, muskulöse Männer, die eine Trage zwischen sich hielten. Darauf lag ein weiterer Mann, offensichtlich ohne Bewußtsein.
»Das ist er?« fragte der Arzt mit einer hochgezogenen Braue.
»Ja, Herr Doktor« antwortete einer der Männer »Patient Nummer 759. Derjenige, der für ihre Behandlung abgestellt wurde.«
»Er sieht nicht gerade beeindruckend aus« bemerkte der Arzt mißbilligend »Aber die Leute von oben werden schon wissen, was sie tun. Gut, bringen Sie ihn hier herüber.«
Er deutete auf die seltsame Maschine und die beiden Männer trugen den Bewußtlosen dort hin.
»Würden Sie ihn nun bitte für den Eingriff vorbereiten, Schwester« wandte der große Mann in dem Kittel sich an die junge Frau, die die Maschine eingestellt hatte.
»Selbstverständlich« antwortete sie und begab sich an die Seite des Patienten.
Sie überprüfte seinen Puls und seine Atmung. Als sie sichergestellt hatte, dass alles in Ordnung war, ergriff sie seinen Körper und stemmte ihn hoch. Obwohl der Patient wesentlich größer war als die Krankenschwester, hob sie ihn mühelos in die menschenförmige Vertiefung, die die Frontseite des Gerätes zierte. Die andere Schwester kam ihr zu Hilfe und schnallte die Arme und Beine des Mannes mit Lederriemen fest.
»Der Patient ist bereit, Doktor« sagte eine der Krankenschwestern schließlich.
»Perfekt« antwortete der Arzt mit einem freudlosen Lächeln »Wenn mein Kollege eingetroffen ist, können wir mit dem Eingriff beginnen.«
Der Arzt lehnte sich an die Wand und blickte auf seine Armbanduhr, während die beiden Helfer die Trage ergriffen und den Raum verließen. Eine Krankenschwester überprüfte ein weiteres mal die Einstellungen der Maschine, während die andere an den Doktor heran trat.
»Wird es diesmal funktionieren, Herr Doktor?« fragte sie.
»Ich will es hoffen« antwortete er »Wir können uns nicht noch mehr von diesen Debakeln leisten, die die letzten Male als Ergebnisse heraus kamen. Der Letzte streift noch immer irgendwo da draußen herum...«

Harbinger
08.04.2005, 14:19
Kapitel 2 - A Question Of Heaven (Iced Earth)

The time is close now, the end is near
My walk through the valley, trails of fear
I feel empty, my penance overdue
I guess it's too late now
To be with you

Die Hauptstraße war hell erleuchtet, schneebedeckt und nahezu komplett verstopft mit Autos. Die Autofahrer brüllte einander noch immer an, als Harbinger an ihnen vorbei ging, immer den Schildern mit der Aufschrift „Krankenhaus“ nach. Er kam an geschlossenen Geschäften vorbei, an Obdachlosen, die im Schnee saßen und um Kleingeld bettelten und auch an dem Abschaum der Straßen New Yorks - Kleinkriminellen, Drogendealern, Betrügern. Mit gesenktem Blick kämpfte er sich unter Schmerzen voran, blieb nicht stehen, wich den Menschen aus, die sich in seinem Weg befanden.
Nichts um ihn herum kam ihm irgendwie bekannt vor. Er war sich sicher, dass er sehr weit weg von seiner Wohnung war. Abwesend bog er in eine kleine Seitengasse ein, um von der belebten Hauptstraße zu kommen, auf der trotz der Kälte und der späten Uhrzeit noch hunderte von Passanten unterwegs waren.
Während dem Fußmarsch von der Bar aus hatte sich die Trauer wieder Harbingers bemächtigt. Alles war so schnell gegangen. Er hatte keine Chance gehabt etwas dagegen zu tun. Dennoch machte er sich furchtbare Vorwürfe, da er der einzige war, der überlebt hatte. Was ihm allerdings noch mehr zu Schaffen machte war, dass sich die Tragödie in seiner Wohnung ereignet hatte. Mehr als alles Andere gab ihm diese Tatsache das Gefühl, schuldig zu sein.
Düsteren Gedanken nachhängend achtete Harbinger kaum auf den Weg, der vor ihm lag. Doch plötzlich spürte er ein Prickeln zwischen den Schulterblättern, so als ob er beobachtet werden würde. Schnell warf er einen Blick über die Schulter, doch er sah niemanden hinter sich. Er schaute umher, doch die Gasse war außer ihm leer. Unsicheren Schrittes ging er weiter.
Plötzlich machte eine dunkle Gestalt einen Schritt aus einem Hauseingang, der vor Harbinger lag. Es war ein Mann, etwas kleiner als er, mit kurzen Haaren abgesehen von einer geflochtenen Haarsträhne, die bis zu seiner Hüfte hinunter reichte. Der Mann hatte einen dünnen Oberlippenbart, der in einen kurzen Kinnbart überging. Er war in Hemd, Hose, Stiefel und einen mottenzerfressenen Umhang gekleidet, der locker über seine Schultern wallte. Doch was Harbinger am Meisten an dem Mann beunruhigte, war die Tatsache, das er ein langes Gewehr mit einem aufmontierten Zielfernrohr in der Hand hielt.
»Ein Glück, dass ich dich gefunden habe« rief der Mann ihm zu »Ich habe überall nach dir gesucht, nachdem sie dich so zugerichtet haben.«
»Was?« antwortete Harbinger verwirrt »Ich verstehe nicht ganz... Außerdem kenne ich Sie nicht. Wer sind Sie überhaupt?«
»Das ist für den Augenblick unwichtig« erklärte der andere Mann mit einem verschwörerischen Blick in alle Richtungen »Hör‘ mir genau zu. Du steckst in argen Schwierigkeiten. Sie sind alle gegen dich. Sie wollen dich benutzen und dich dann sterben sehen. Du darfst niemandem vertrauen. Ich kann dir im Augenblick nicht mehr sagen, denn sie könnten uns belauschen. Ich werde dich wieder treffen und dir mehr erklären. Aber bis dahin wirst du schon einiges selbst herausfinden.«
Plötzlich weiteten sich die Augen des Mannes. Er schaute über Harbingers Schulter und sog laut Luft ein.
»Sie sind bereits hier« keuchte er »Sie haben uns gefunden.«
Harbinger blickte hinter sich, konnte jedoch niemanden sehen. Als er den anderen Mann wieder anschaute, griff dieser unter seinen Umhang und zog einen großen Revolver hervor. Er zielte mit der Waffe über Harbingers Schulter und drückte zwei mal ab.
Wie Harbinger erwartet hatte, verhallten die Schussgeräusche in der leeren Gasse hinter ihm, doch sein Gegenüber schien noch erschrockener. Er wirbelte herum und rannte so schnell er konnte die Gasse herunter und verschwand in einer Abzweigung.
»Was zum...« murmelte Harbinger.
Verwirrt ging er ein paar Schritte weiter. Ihm fiel auf, dass das Gefühl beobachtet zu werden nicht verschwand. Erneut schaute Harbinger sich um, doch er sah niemanden. Beunruhigt durchquerte er die Seitengasse, die schließlich wieder in eine der Hauptstraßen mündete, auf denen weiterhin Stau herrschte. Unter all den Menschen, die unterwegs waren, fühlte Harbinger sich um einiges sicherer. Er schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und hielt Ausschau nach dem nächsten Schild, das ihn auf ein Krankenhaus hinweisen würde. Er fand es auch.
Das Problem war, dass der Pfosten, auf dem das Schild stand, umgeknickt war und Harbinger unmöglich herausfinden konnte, in welche Richtung das Zeichen ursprünglich gewiesen hatte. Fluchend blieb er stehen.
»Sir« rief er einem Passanten zu »Sir, warten Sie bitte einen Augenblick.«
Der Mann blieb stehen. Er war groß und in eine Kutte gehüllt und er hatte Harbinger den Rücken zugedreht. Harbinger ging auf ihn zu.
»Du bist doch keiner von denen, oder?« flüsterte der Mann, als Harbinger hinter ihm stand.
»Wie bitte?« fragte Harbinger verwirrt, während der Mann sich umdrehte.
Das Gesicht des Mannes war komplett zerstört. Narben zogen sich seine Wangen entlang und die Haut war geschwärzt, als ob der Mann verbrannt wäre. Ein Auge fehlte und sein Gebiss war alles andere als vollständig, ganz zu schweigen von seiner Nase, die quasi nichtmehr vorhanden war.
»Verdammt« stieß Harbinger hervor und taumelte einen Schritt zurück »Was... Geht es Ihnen gut? Was ist passiert?«
»Ich habe sie gesehen« antwortete der Mann mit krächzender Stimme »Sie haben das getan, weil ich ihnen zu nahe gekommen bin. Sie haben mich die ganze Zeit beobachtet und dann haben sie zugeschlagen.«
»Wer?« fragte Harbinger und trat wieder einen Schritt auf den Mann zu »Wer war das?«
»Sie« flüsterte der Mann nur und drehte Harbinger wieder den Rücken zu.
»Sir, ich war gerade selbst auf dem Weg zum nächsten Krankenhaus. Vielleicht können sie mir den Weg zeigen. Sie scheinen auch ärztliche Hilfe zu brau-«
»Nein!« brüllte der Mann und wirbelte herum »Ich kann nicht dort hin gehen. Sie sind hinter mir her. Sie wollen mir den Rest geben.« Der Mann schaute gehetzt hin und her. »Du gehörst auch zu ihnen. Bleib‘ mir fern. Bleib‘ mir fern!«
Der Mann sprang zurück, drehte sich um und rannte in die Menschenmenge, die sich auf den Straßen befand.
»Verdammt« murmelte Harbinger »Hey, Sie Madam, Madam.« Er tippte einer jungen Frau auf die Schulter.
»Für wen bist du?« zischte sie ihn an, als sie sich zu ihm umdrehte.
»Was? Ich verstehe nicht...«
»Auf wessen Seite bist du?«
»Ich bin auf keiner Seite. Ich möchte nur wissen, ob es hier in der Gegend ein Krankenhaus gibt.«
»Du bist auf keiner Seite?« Ihre Augen weiteten sich und sie griff unter ihre Bluse. »Du bist einer der verdammten Anarchisten? Dann bist du des Todes!«
Sie zog eine kleine Schusswaffe hervor und richtete sie auf Harbingers Stirn. Geistesgegenwärtig wich er zur Seite aus und griff nach der Waffe, während eine Kugel an seinem Kopf vorbei flog und sich in eine Hauswand bohrte. Sie riss heftig an der Pistole, doch schließlich entwand er sie ihr. Ängstlich wich sie zurück.
»Das wirst du bereuen, verfluchter Anarchist!« brüllte sie ihn an.
Er ließ die Waffe fallen und wollte die Frau gerade beruhigen, als sie ihn anrempelte und an ihm vorbei rennend zwischen den Passanten verschwand.
»Oh Gott« stieß Harbinger hervor »Was soll das alles?«
»Das hier ist New York, Alex« erklärte Jack, der hinter Harbingers Schulter stand »Hier wimmelt es nur so von Verrückten. Du bist nicht alleine, Alex.«
»Aber wie soll ich dieses verdammte Krankenhaus finden, wenn jeder bei meinem Anblick Angstzustände bekommt oder mich umbringen will?«
Jack setzte gerade zu einer Antwort an, als ein heiseres Fauchen zu hören war. Jack wirkte für einen kurzen Augenblick irritiert, während Harbinger erschrocken zusammenzuckte und herum wirbelte.
Die Passanten gingen weiter, so als hätten sie den Schrei nicht gehört. Und wenn Harbinger genau darüber nachdachte, dann hatten die Passanten den Schrei auch nicht gehört. Und sie sahen auch nicht, was er sah. Auf dem umgeknickten Pfosten, an dem das Hinweisschild hing, saß eine zusammengekauerte Kreatur. Sie war groß und schlank mit muskelbepackten Schultern und Klauenhänden. Doch am Meisten erschrak Harbinger vor dem Gesicht der Gestalt. Die Haut des Wesens war grün und das längliche Maul mit spitzen Zähnen bestückt. Etwas grausames lag in dem ganzen Erscheinungsbild. Und die roten Augen der Kreatur bohrten sich direkt in Harbingers.
Langsam hob die Kreatur die Hand und deutete die Hauptstraße herunter. Harbinger drehte sich zu Jack zu, dessen Gesichtsausdruck undefinierbar war.
Als Harbinger wieder zurück zu dem Pfosten schaute war die Kreatur verschwunden.
»Es will, dass ich in diese Richtung gehe« murmelte er.
»Du darfst ihm nicht trauen, Alex« entschied Jack nach kurzem Schweigen.
»Warum nicht? Es war doch nur eine Einbildung, oder? Also ist er ein Teil von mir und du selbst hast gesagt, dass ich nur mir vertrauen kann.«
»Ja, du magst Recht haben, Alex. Aber ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Ein ungutes Gefühl? Jack, du bist ein Teil von mir. Du fühlst nur das, was in mir vorgeht. Und ich habe heute bei allem, was mir passiert, ein ungutes Gefühl.«
»Wenn du meinst, Alex.«
Langsam verblasste Jacks Gestalt und Harbinger stand alleine innerhalb der Menschenmenge. Langsam ging er weiter, in die Richtung die das Wesen in seinem Kopf ihm gezeigt hatte. In dieser Richtung lichtete sich die Menschenmenge und der Verkehr begann wieder zu fließen. Harbinger spürte noch immer Schmerzen, während er durch die Schneewehen auf dem Bürgersteig stapfte, doch sie ließen langsam nach.
Er war noch keine zweihundert Meter gekommen, als sich ihm eine Gruppe von Männern und Frauen in den Weg stellte.
»Haben wir dich« zischte der Anführer der Gruppe »Bleib‘ stehen und bereite dich auf den Tod vor, verfluchter Anarchist.«
»Was?« Harbinger wich zurück. »Hört mal, wovon redet ihr überhaupt? Ich bin kein Anarchist.«
Doch er merkte sofort, dass die Gruppe vor ihm nicht mit sich reden lassen würde. Langsam zogen sie alle verschiedene Waffen, manche Baseballschläger, andere Revolver.
»Ich will nicht mit euch kämpfen« zischte Harbinger dem Anführer zu »Das alles ist ein Missverständnis, das ich selbst nicht ganz begreife.«
»In der Tat« murmelte der Anführer »Ein Missverständnis. Du musst auch nicht gegen uns kämpfen, Anarchisten-Bastard. Wir wollen dich nur töten.«
Die Gruppe, die sich vor Harbinger aufgebaut hatte, hob ihre Waffen. Harbinger seufzte und griff blitzschnell unter seinen Mantel und zog die beiden Berettas, die er sofort auf die Männer und Frauen vor sich richtete.
»Wollen wir?« fragte er ruhig.
Der Anführer zog eine Feuerwehraxt aus seinem Gürtel und ging auf Harbinger los. Harbinger hob eine Beretta, zielte und drückte ab. Die Kugel durchschlug die linke Schulter des Anführers. Er taumelte schreiend zurück und Blut spritzte in den Schnee vor seine Freunde. Zwei Frauen ließen angsterfüllt ihre Waffen fallen und rannten die Straße herunter. Der Anführer lag blutend auf dem Rücken und drei Männer standen vor dem jungen Mann, doch sie wirkten bei weitem nichtmehr so selbstsicher. Einer von ihnen hielt einen Revolver in der Hand, den er zögernd auf Harbinger richtete.
»Willst du das wirklich tun?« Harbinger wog ruhig die Berettas in seinen Händen. »Ich will euch nicht töten. Also zwingt mich nicht dazu.«
Die Männer wirkten noch weniger selbstsicher, der Anführer schrie weiterhin schmerzerfüllt.
»Geht« befahl Harbinger den drei Männern, die noch standen.
Sie ergriffen die Flucht.
»Und jetzt wirst du mir etwas erklären« wandte Harbinger sich an den blutenden Anführer »Wer seid ihr, wer sind diese Anarchisten und warum wolltet ihr mich umbringen?«
»Du bist für keinen von Beiden« presste der verletzte Mann hervor »Du bist ein neutraler, ein Anarchist.«
»Von beiden wem?«
»Von... von...« Er seufzte schmerzerfüllt und schloss die Augen.
Er öffnete sie auch nicht wieder.
»Nein« brüllte Harbinger »Nein, tu mir das nicht an. Du bist nicht tot. Steh‘ auf.«
Er befühlte das Handgelenk des Mannes, der im Schnee lag, doch er fand keinen Puls.
»Nein, das darf nicht sein. Ich... habe... getötet...«
Er setzte sich in den Schnee und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, während er seine Handflächen an seine Schläfen legte.
»Steh‘ auf, Alex« befahl eine weibliche Stimme.
»Warum?« antwortete er »Warum sollte ich das tun?«
»Alex, steh auf« wies sie ihn erneut an »Du musst aufstehen. Du wirst sonst hier erfrieren oder verbluten. Alex, tu‘ es für mich.«
Er hob den Kopf und schaute Miranda an. Tränen rannen über sein Gesicht.
»Ich bin ein Killer, Miranda« brachte er schluchzend hervor »Ich habe getötet.«
»Du hast Killer getötet, Alex. Du hast die Männer getötet, die mich ermordet haben.«
»Ich habe ihn getötet.« Harbinger deutete auf die Leiche des Anführers, der noch immer aus der Wunde an der Schulter blutete.
»Das war ein Versehen, Alex« versuchte sie ihn zu beschwichtigen »Du kannst mit Waffen nicht gut umgehen. Du hast schlecht geschossen. Es war nicht deine Absicht. Außerdem wollte auch er dich umbringen.«
»Aber deswegen muss ich es doch nicht ihm antun. Er hätte leben können.«
»Alex, es ist nunmal geschehen und du kannst nichtsmehr daran ändern. Also steh‘ auf und geh‘ weiter. Geh‘ zu diesem Krankenhaus und lass‘ dich da versorgen. Wir brauchen dich in einem Stück.«
Mit diesen Worten verschwand sie. Die Leiche lag neben ihm und Passanten gingen vorbei. Niemanden schien der Tote zu interessieren. Das war eben New York, sagte Harbinger sich. Keiner interessierte sich hier für jemand anderen.
Langsam stand er auf und klopfte sich den Schnee von seinem Mantel. Er warf noch einen letzten Blick auf die Leiche. Dann setzte er seinen Weg fort.
Er ging an immer an den Häuserfassaden entlang, bis er auf ein großes Gebäude mit einem kaputten weißen Leuchtschild und einem roten Kreuz darauf ankam.
»Sieht nicht gerade wie ein Krankenhaus aus« murmelte er seufzend »Aber es muss wohl reichen.«
Kritisch betrachtete er die Wunde in seiner Hand. Obwohl sie schon mehrere Stunden alt war, floss noch immer ein dünner Rinnsal Blut heraus. Er blickte zu Boden und sah, wie sich der Schnee vor ihm rot verfärbte. Offensichtlich waren durch die Kälte seine Wunden wieder aufgerissen. Er spürte wieder Schmerzen und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde schwächer, so als würden die letzten Tropfen Blut aus seinem Körper gesogen.
Schwerfällig und unter Schmerzen griff Harbinger nach der Türklinke des großen Gebäudes. Er drückte die Tür auf und trat ein. Eine schiefe Treppe führte in den ersten Stock und ein Schild mit der Aufschrift „Behandlungen - Erster Stock“ war daran angebracht. Mühsam schleppte Harbinger sich die Treppe hinauf. Er hatte gräßliche Schmerzen und konnte sich kaum noch bewegen. Am Rande fragte er sich, woher dieser plötzliche Kräfteverlust seinerseits kam, doch es interessierte ihn nichtmehr wirklich. Das einzige, was ihn noch interessierte war, die Ärzte in diesem Haus zu erreichen, damit sie ihn wieder zusammen flicken konnten.
Mit letzter Kraft schob er eine schwere Holztür im ersten Stock auf und taumelte in ein schäbiges Wartezimmer.
»Ich brauche einen Arzt« sagte er mit schwacher Stimme »Schnell, ich brauche ihn schnell.«
Dann verließen ihn seine Kräfte und er stürzte auf den Boden.

Der Lichtschein traf direkt auf Harbingers Augen. Ihm war, als könnte er innerhalb der Strahlen ein Gesicht erkennen, ein wunderschönes Gesicht, das Gesicht einer Frau, die er mehr als alles Andere vermisste. Er streckte seinen Arm danach aus.
»Seien Sie vorsichtig, sie sind noch nicht wieder ganz in Ordnung.«
Harbinger hob eine Hand um seine Augen von dem Licht in dem Raum abzuschirmen.
»Wie lange war ich weg?« fragte er.
Eine hübsche große Frau mit langen braunen Haaren trat in sein Blickfeld und lächelte ihn an.
»Sie waren eine Viertelstunde bewußtlos. Sie wurden in dieses Zimmer gebracht und haben eine Blutkonserve erhalten, damit Sie wieder auf die Beine kommen.«
Harbinger blickte sich in dem spärlich eingerichteten Krankenzimmer um. Er lag auf einer harten Matratze, die in einem durchgerosteten Bettgestell hing. Er trug noch immer sein schwarzes, blutverschmiertes T-Shirt, genau wie die blutige Hose und seine schweren Stiefel. An einer Wand stand ein Medizinschrank, an einer anderen war ein großes Fenster mit einer gesprungenen Glasscheibe und einem verrosteten Griff. Harbingers schwerer Ledermantel hing an einem kleinen Haken in einer anderen Ecke, direkt neben einem schmutzigen Waschbecken mit einem gesplitterten Spiegel darüber.
»Hören Sie« sagte er und drückte eine Hand gegen seinen Kopf, in dem sich grausame Schmerzen ausbreiteten »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Doktor...«
»Nennen Sie mich einfach Amanda« bot sie an.
»Vielen Dank, Amanda« sagte er lächelnd »Sie dürfen mich Dante nennen.«
Für einen kurzen Augenblick glaubte er einen Ausdruck tiefsten Schmerzes auf ihrem Gesicht zu sehen, doch er verschwand sofort wieder.
»Dante?« Sie lachte glockenhell.
»Das ist mein Künstlername« erklärte er etwas verlegen »Wenn Sie wollen, können Sie mich auch Alex oder Harbinger nennen.«
»Nein nein.« Sie lächelte noch immer. »Dante ist vollkommen in Ordnung.«
»Ich wollte Sie noch etwas fragen, Amanda« fuhr er ebenfalls lächelnd fort.
»Ich bin ganz Ohr, Dante.«
»Sie als Ärztin müssen sowas schließlich wissen. Ich bin schon den ganzen Abend mit diesen Wunden herumgelaufen und habe stark geblutet, doch größtenteils ging es mir gut. Nur als ich an Ihre Tür kam, da haben mich die Kräfte verlassen. Wie kam das?«
»Sie sind von einer Idee beseelt, Dante« erklärte sie mit schwermütiger Stimme »Sie haben noch etwas zu erledigen. Deswegen ist Ihr Körper nicht bereit sich dem Tod zu ergeben. Es grenzt zwar an ein Wunder, dass Sie es bis an unsere Tür geschafft haben, aber vielleicht liegt es auch einfach an Ihrem Willen. Sie werden nicht sterben, bevor Ihre Aufgabe nicht erfüllt ist, Dante.«
»Das erklärt einiges« murmelte er »Ja, ich habe wirklich noch einen weiten Weg vor mir, Amanda.«
»Weiter als Sie vielleicht glauben wollen, Dante.«
»Was meinen Sie?«
»Nichts... es ist nur... ach, garnichts.«
»Wenn Sie meinen« brummte Harbinger schließlich »Wie sieht’s aus, darf ich aufstehen?«
»Ich denke Sie dürften jetzt kräftig genug sein.«
Harbinger setzte sich auf und schwang die Beine von der harten Matratze. Er stellte sich auf die Füße und ging durch den Raum auf das Waschbecken zu. Resignierend warf er einen Blick in den Spiegel.
»Ein schöner Anblick ist das nichtmehr« sagte er leise zu sich selbst.
Er drehte das Wasser auf und wusch sich das Blut von seinen Händen und aus seinem Gesicht.
»Was gedenken Sie jetzt zu tun, Dante?« fragte Amanda von der anderen Seite des Raumes her »Sie hatten doch etwas vor, bevor Sie zu uns gekommen sind.«
»Ich weiß es noch nicht genau« antwortete er nach kurzem Überlegen »Wissen Sie, wo ich die mexikanische Gang finden kann?«
»Tut mir leid. Das weiß ich nicht.«
»Dann werde ich sie wohl selbst finden müssen.«
Harbinger ergriff ein Handtuch, das auf dem Rand des Waschbeckens lag und trocknete sich damit ab. Das meiste Blut war abgewaschen worden und er sah schon etwas passabler aus.
»Können Sie mir noch die Wunden verbinden?« wandte er sich wieder an Amanda »Ich denke, dass ich bald weiter ziehen sollte.«
»Natürlich, Dante« erwiderte sie »Kommen Sie her.«
Er durchquerte den Raum zu dem Medizinschrank. Sie nahm einige Pflaster und Verbände heraus und begann seine Schnittwunden und den Durchschuss in seiner Schulter zu verarzten. Es dauerte nicht lange, bis all die kleinen und großen Wunden verschlossen waren.
»Ich muss jetzt gehen, Amanda« sagte er schließlich »Ich habe noch viel zu tun.«
»Viel Glück, Dante« antwortete sie zum Abschied »Wenn Sie mich brauchen, dann werden Sie wissen, wo Sie mich finden.«
»Das werde ich« bestätigte er.
Ohne ein weiteres Wort wandte Harbinger sich ab, nahm seinen Mantel vom Haken und verließ den Raum. Er durchquerte erneut das Wartezimmer und verließ die Praxis. Unten auf der Straße blieb er einen Augenblick unentschlossen stehen, bevor er den Weg in die Richtung wählte, aus der er gekommen war.
Er fühlte sich wesentlich besser als zu dem Zeitpunkt, als er diese Straße auf dem Weg zum Krankenhaus hochgekommen war, doch er war noch weit davon entfernt, sich wieder gut zu fühlen. Vielleicht würde er sich nie wieder so fühlen. Doch es interessierte ihn nicht.

»Dann schauen wir uns den Knaben mal an« meinte der Arzt zu seinem Assistenten, als sie auf das kleine Krankenzimmer zugingen »Obwohl ich wenig Hoffnung habe, dass er überlebt.«
Sie öffneten die Tür und blickten in den leeren Raum.
»Wo ist er hin?« fragte der Arzt.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung« antwortete sein Assistent.

Harbinger
15.04.2005, 11:57
Kapitel 3 - Countdown to Extinction (Megadeth)

All are gone, all but one
No contest, nowhere to run
No more left, only one
This is it, this is the Countdown to Extinction

Nichts hatte sich für Harbinger verändert. Nichts, abgesehen von der Tatsache, dass er nicht sterben würde. Zumindest nicht, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Er ging die schneebedeckte Straße zurück, vorbei an den hell erleuchteten Autos, in denen die Menschen saßen, auf dem Weg nach Hause. Harbinger hatte kein Zuhause mehr. Er hatte nurnoch was er am Körper trug und seinen Rachedurst.
»Jetzt, da das erledigt ist, was nun?« fragte er die leere Luft, ohne im Schritt einzuhalten.
»Du könntest damit anfangen diesen Mistkerl ausfindig zu machen« antwortete Miranda, die erschien und neben ihm entlang ging »Er ist der Boss der mexikanischen Gang, also solltest du dir einen von denen schnappen.«
»Mir einen von ihnen schnappen?« er warf ihr einen Seitenblick zu.
»Dir einen von ihnen schnappen und ihn dazu bringen, dich zu seinem Boss zu führen, Alex« bestätigte sie.
»Ich will nicht noch mehr Gewalt anwenden« rief er aufgebracht »Ich will nur einen Menschen töten und das ist Curtis.«
»Wie willst du sonst bis zu ihm vordringen?«
»Du bist ein Teil von mir. Du solltest wissen, was ich vorhabe.«
Sie blickte ihn für einen Augenblick an.
»Na gut« meinte sie schließlich »Dann tu es eben so. Mir ist es gleich.«
Sie verblasste und verschwand, während Harbinger weiterging.
Er ging zwischen den Passanten hindurch und bog in eine Seitengasse ein. Dort lehnte er sich für einen Augenblick an die Wand und überlegte.
»Du suchst Curtis« flüsterte plötzlich eine undefinierbare Stimme neben ihm.
»Was zum...« schrie er auf und sprang zur Seite, als er die große Gestalt bemerkte, die im Schatten neben ihm stand.
»Ich habe doch recht« fuhr die Gestalt im Schatten fort »Du suchst nach Curtis. Ich habe dich gehört, da auf der Straße.«
»Wer sind sie« flüsterte Harbinger zurück, der sich beruhigt hatte.
»Das ist nicht wichtig. Wir werden uns später noch kennenlernen. Wenn du Curtis finden willst, dann geh‘ zu dieser Adresse.« Eine Hand mit langen Fingern in einem schwarzen Lederhandschuh tauchte aus dem Schatten auf und hielt Harbinger einen Zettel hin, den er ergriff. »Aber ich kann dir nicht versprechen, dass du ihn auch wirklich finden wirst. Niemand findet ihn.«
Mit diesen Worten drehte die Gestalt sich um und ging die Gasse herunter.
»Folge ihm« befahl Jack, der hinter ihm erschien.
»Was?« entfuhr es Harbinger leise.
»Du darfst diesem Typen nicht trauen, Alex« drängte Jack »Folge ihm, dann weißt du, was er vorhatte und wer er ist. Geh‘ schon.«
Jack verblasste, während Harbinger der Gestalt nachschaute, die das andere Ende der Gasse erreicht hatte. Er lief so schnell er kannte los. Seine Wunden schmerzten und es fiel ihm schwer zu atmen, doch er versuchte es zu ignorieren. Er musste diesen Kerl erwischen.
Die Gestalt, die in einen langen Mantel gehüllt war und eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte, erreichte das Ende der Gasse und bog nach links ab. Harbinger konnte erkennen, dass sich keine Hauptstraße anschloss. Er mobilisierte seine letzten Kräfte und folgte der Gestalt um die Ecke.
Die Straße vor ihm war vollständig leer. Keine Person war zu sehen. Nur eine einzelne Straßenlaterne stand dort.
»Verdammt« murmelte Harbinger.
Er drehte um und stapfte verärgert die Gasse zurück.
»Ich habe ihn verloren, Jack« rief er laut, so dass das Echo seiner Worte an den Hauswänden widerhallte.
Er bekam keine Antwort.
»Jack?« brüllte er erneut.
Wieder nichts.
Vor sich hin fluchend kehrte Harbinger zur Hauptstraße zurück. Während dessen zog er den Zettel heraus, den er zwischendurch in die Tasche seines Mantels gesteckt hatte. Er blickte darauf.
»Saint Jackson Street?« las er laut »Hausnummer 38... Nie davon gehört.«
Er steckte den Zettel zurück und stapfte weiter. Durch die Menschenmenge vor sich sah er ein Terminal für öffentliche Verkehrsmittel. Harbinger hatte sicher nicht vor in einen Bus oder eine Bahn oder was auch immer zu steigen und in dem Verkehrschaos stecken zu bleiben. Aber an diesen Terminals befanden sich Straßenkarten der Gegend.
Harbinger trat heran und warf einen Blick auf die Karte. Er suchte einen Augenblick, bevor er die Saint Jackson Street fand. Es waren nur zwei Blocks von dem Terminal aus.
Erleichtert ging Harbinger an dem Terminal vorbei die Straße entlang. Wenigstens hatte er keinen langen Weg vor sich. Während er weiter stapfte, versank er wieder in Gedanken. Gedanken an die Zeit, als er noch in dieser Stadt glücklich und zufrieden gelebt hatte. Gedanken an die Zeit, als er noch gelebt hatte und sich nicht wie ein lebender Toter auf den Straßen herum trieb.

Auf dem Schild stand „Saint Jackson Street“. Harbinger bog in die Straße ein und blickte hinunter. Die Saint Jackson Street war nicht so breit, wie die Hauptstraße. Auf ihr floss der Verkehr in gewisser Hinsicht. Allerdings war auch so gut wie nichts darauf los. Kaum Autos, kaum Passanten, nur spärlich beleuchtet. Schulterzuckend ging er weiter.
»Warte, Alex« sagte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Er drehte sich um und sah Miranda und Jack.
»Du willst wirklich zu diesem Ort gehen, Alex?« fragte sie mit einem leicht besorgten Gesichtsausdruck.
»Ich muss« antwortete er »Es ist mein einziger Anhaltspunkt.«
Er drehte sich um und ging weiter. Es dauerte einige Sekunden, bis Jack und Miranda direkt vor ihm auftauchten.
»Alex, es ist gefährlich dort hin zu gehen« erklärte Jack »Was wenn es eine Falle ist?«
»Was habe ich zu verlieren?« fragte er mit einem schwachen Lächeln »Alles was ich noch habe ist meine Rache.«
Er ging weiter an ihnen vorbei.
»Sei vorsichtig, Alex« rief Miranda ihm nach.
Er drehte sich um und blickte sie kurz an, bevor er weiter ging.
Die Hände hatte Harbinger in den Taschen seines Mantels versenkt, in denen seine Pistolen steckten. Er war nervös, weil er nicht wusste, was ihn erwartete, doch die Tatsache, dass er bewaffnet war, beruhigte ihn ein wenig.
An einem dreckigen Gebäude mit zerbrochenen Fensterscheiben hing ein Schild, auf dem die 38 geschrieben stand. Vor dem Haus stand eine Limousine. Ein Mann in einem teuren Smoking verließ das Gebäude durch die schwere Holztür an der Frontseite. Er zündete sich eine Zigarette an und stieg in den Wagen, der sofort los fuhr. Harbinger trat an die Tür und nahm eine seiner Pistolen aus der Tasche. Mit der linken Hand griff er nach der Türklinke und trat ein.
Der Raum war dunkel. Es gab keine Lampen darin und von draußen fiel ebenfalls kein Licht ein. Harbinger konnte keine Personen ausmachen. Mit gesenkter Waffe durchschritt er den Raum, bis er an eine weitere Tür kam, die offensichtlich verschlossen war. Er rüttelte kurz daran, bevor er einen Schritt zurück ging und mit einem Fuß gegen die verschlossene Tür trat. Der erste Tritt ließ den Rahmen ein Stück aufbrechen. Der zweite Tritt sprengte das Holz der Tür rund um den Riegel und sie glitt auf.
Eine Treppe führte nach oben, die Harbinger mit der Pistole in der Hand hinauf stieg.
»Ganz vorsichtig...« ermahnte er sich selbst.
Er war nervös und der Klang seiner Stimme beruhigte ihn.
»Wollen wir doch mal sehen« flüsterte er, als er das obere Ende der Treppe erreicht hatte.
Der Gang machte einen Knick und Harbinger hörte ein leises Schluchzen. Offensichtlich war jemand in dem Raum hinter der Ecke. Schnell hob er die Pistole und drückte sich mit dem Rücken an die Wand.
Das Schluchzen war noch immer hörbar. Harbinger atmete tief durch und trat um die Ecke und zielte mit seiner Beretta in den dunklen Raum.
»Wer auch immer da ist, flach auf den Boden legen!« befahl Harbinger mit lauter Stimme.
»Schieß doch« erwiderte die schluchzende Stimme, eindeutig weiblich, leise »Du würdest viele meiner Probleme lösen.«
»Auf den Boden« wiederholte Harbinger, diesmal mit unsichererer Stimme.
»Wieso?« fragte die Frau »Ich krieche nicht vor dir, du Bastard. Sag mir was du willst, erschieß‘ mich oder geh‘.«
Harbinger war mittlerweile vollkommen verunsichert. Er wusste nicht, was er tun sollte.
»Entscheide dich« sagte die Frau mit eindeutig härterer Stimme.
Langsam senkte er seine Pistole und steckte sie wieder in die Tasche.
»Was ist das hier für ein Ort?« fragte er schließlich.
»Was das für ein Ort ist?« Er hörte, wie sie sich in der Dunkelheit bewegte. »Du brichst in mein Zuhause ein und fragst mich, was das hier für ein Ort ist? Du hast echt einen Schaden.«
»Da liegst du garnicht mal so daneben« murmelte er leise, bevor er die Stimme wieder hob »Ich wurde hier her geschickt. Jemand hat mir deine Adresse gegeben.«
»Ach« höhnte sie »Nimmst du bei sowas immer deine Waffe mit und trittst die Tür ein?«
»Ich verstehe nicht ganz« antwortete Harbinger verwirrt.
»Vergiss‘ es. Ist auch egal, so lange du ordentlich bezahlst. Ach ja, erst das Geld, dann der Spaß.«
»Was? Wovon redest du eigentlich?«
»Was zum Teufel erwartest du, wenn du dir eine Nutte suchst, du Idiot? Bei mir gibt es nichts umsonst.«
Harbinger schaute einen Augenblick verwirrt drein, bevor er lauthals zu Lachen begann.
»Was ist los?« fragte sie ihn unfreundlich »Warum lachst du?«
Er versuchte zu antworten, doch er konnte das Lachen nicht unterdrücken. Es dauerte einige Sekunden, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte.
»Du bist...« Er grinste noch immer, während er in die Dunkelheit schaute. »Du bist eine Prostituierte?«
»Was dachtest du denn?« schnappte sie »Vielleicht eine beschissene Hebamme oder eine Aushilfskellnerin? Wenn du Liebe und vielleicht auch ein bischen mehr suchst, dann gehst du halt zu einer Nutte.«
»Ich suche keine Liebe« antwortete er »Ich suche Tyler Curtis.«
Er sah sie nicht, aber er spürte, wie sie ihn anstarrte.
»Wer schickt dich?« fragte sie mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.
»Ich weiß es nicht« erwiderte er gereizt, da ihre Art ihm langsam auf die Nerven ging »Er sagte, es wäre nicht wichtig, dass ich weiß, wer er ist. Er hat mir nur deine Adresse gegeben und gesagt, dass du mir helfen kannst, Tyler Curtis zu finden.«
»Morrec« flüsterte sie »Nur er würde so eine Show abziehen. Na gut, wenn Morrec dich geschickt hat, dann kann ich dich auch zu Curtis führen.« Sie überlegte kurz. »Aber du musst dafür etwas für mich tun.«
»Wenn du mich zu Curtis bringen kannst, dann tue ich alles für dich« gelobte Harbinger »Wirklich alles.«
Sie trat vor, so dass der Lichtschein einer Straßenlaterne von der Straße auf ihren Körper fiel.
Sie war sehr jung, vielleicht zwanzig, und kleiner als Harbinger, ungefähr einen Meter siebzig groß und sie hatte lange schwarze Haare. Sie trug eine Armyhose und Stiefel sowie einen schwarzen BH. Auf ihre Schultern waren zerrissene Engelsflügel tätowiert.
Sie hatte ein hübsches Gesicht, dass jedoch durch Blut, das aus ihrer Nase lief, und einigen blauen Flecken entstellt wurde, genau wie ihr restlicher Körper.
»Du hast den Kerl gesehen, der vorhin das Haus verlassen hat?« fragte sie mit hasserfüllter Stimme.
Er nickte wortlos.
»Hilf mir in sein Haus zu kommen« knurrte sie »Hilf mir, damit ich ihn umbringen kann.«
Harbinger schaute sie ungläubig an.
»Du willst, dass ich dir bei einem Mord helfe?« fragte er mit weit aufgerissenen Augen »Wofür hältst du mich, für einen kaltblütigen Killer?«
»Wer ist denn hier mit gezogener Waffe reingestürmt und hat angefangen Befehle zu erteilen?« schnappte sie zornig.
»Ich habe das nur aus Gründen meiner eigenen Sicherheit getan« verteidigte Harbinger sich schnell »Heute nacht haben schon genug Leute versucht mich umzubringen.«
»Mir ist es gleich.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Du willst Curtis finden und ich glaube nicht, dass du das ohne meine Hilfe schaffst.«
Er senkte den Blick und dachte einen Augenblick nach. Es gefiel ihm ganz und garnicht, aber wahrscheinlich hatte sie recht.
»Warum willst du den Kerl umbringen?« fragte er schließlich leise.
»Sieh mich an« antwortete sie mit einem freudlosen Lächeln »Denkst du diese Prellungen und Abschürfungen sind von alleine gekommen? Dieser Bastard war Heute das erste Mal bei mir. Er ist irgend ein reicher Kerl hier aus der Gegend, der unter der Fuchtel seiner Frau steht und daheim nichts zu sagen hat. Er kam zu mir und bezahlte mich gut. Der Deal schloss Sex ein und er durfte mich mit Handschellen ans Bett ketten. Aber als ich dann gefesselt war ist der Typ total ausgetickt, hat geschrien wie sehr er seine Frau doch hasst und das alle Frauen dämliche Schlampen sind. Das übliche Zeug von sexuell frustrierten Kerlen eben. Und dann hat er angefangen mich zu verprügeln. Und damit hat er dann auch ‘ne ganze Weile nicht aufgehört, obwohl ich ihn angefleht habe, mich in Ruhe zu lassen. Als er schließlich damit fertig war hat er mich vergewaltigt und ist abgehauen. Ich habe einen Ersatzschlüssel zu den Handschellen aus meinem Stiefel geholt und mich befreit. Tja, und dann bist du durch meine Tür gestürmt.«
Harbinger schluckte schwer.
»Mieses Arschloch« murmelte er mehr zu sich als zu seiner Gegenüber »Okay, ich helfe dir. Aber du musst mich zu dem Haus von diesem Schwein führen. Und das Töten musst du auch selbst übernehmen. Ich habe in meinem Leben schon fast genug Blut vergossen. Und ich werde nicht wieder töten, wenn es nicht absolut nötig ist, denn alleine schon der Gedanke daran macht mich krank.«
»Du hilfst mir?« Sie schaute ihn mit großen Augen an und wirkte in diesem Augenblick sehr verletzlich. »Danke, Fremder. Sowas tun nicht viele für mich. Abgesehen von Morrec bist du der erste Kerl seit einer ganzen Weile, der freundlich zu mir ist. Das bedeutet mir eine ganze Menge.«
»Nicht der Rede wert« wehrte er bescheiden ab »Ich brauche immerhin auch deine Hilfe. Und dieser Kerl scheint ein richtiges Arschloch zu sein. Ohne ihn ist die Welt wahrscheinlich besser dran.« Er schaute ihr in die Augen, in denen noch immer aufrichtige Dankbarkeit glänzte. »Wie heißt du?«
»Die Leute nennen mich Desdemona, aber früher, als ich noch glücklich mit meinem Leben war, hieß ich Laurel« antwortete sie »Aber es ist schon lange her, dass mich irgend jemand außer Morrec so genannt hat. Wer bist du, Fremder?«
»Alexander Harbinger« stellte er sich vor »Ein wandelnder Toter in einer Stadt voller Verrückter. Wer ist dieser Morrec, von dem du ständig redest?«
»Morrec war ein Freund von meinem Verlobten« erklärte sie »Sie verstanden sich gut und ich mochte ihn ebenfalls. Bis mein Verlobter dann vor ungefähr einem Jahr spurlos verschwunden ist. Morrec und ich haben nach ihm gesucht... überall. Aber er war wie vom Erdboden verschluckt.« Sie seufzte. »Ich habe die Hoffnung längst aufgegeben, ihn lebend wiederzusehen. Manchmal vermisse ich ihn sehr. Aber das Schlimmste ist, dass ich seit seinem Verschwinden hier als Nutte arbeiten muss, um mich über Wasser zu halten. Morrec ist der einzige Freund, der mir noch geblieben ist, aber er ist auch nicht besonders wohlhabend. Er greift mir gelegentlich unter die Arme und beschützt mich gewöhnlich vor den besonders üblen Typen, die hier rumlaufen. Aber dafür bist du ja in diesem Fall da, Harbinger.«
»Natürlich« antwortete er.
In diesem Augenblick drang ein lautes Knarren aus dem Erdgeschoss an Harbingers Ohr.
»Erwartest du noch jemanden?« fragte er leise.
»Nein.« Sie wirkte verwirrt. »Wieso?«
»Ich hab‘ was gehört. Da Unten ist jemand.«
Schnell zog Harbinger die Berettas aus seinen Taschen und warf Laurel eine der Waffen zu.
»Geh‘ sparsam mit der Munition um« warnte er sie »Ich habe keine Ersatzmagazine.«
»Was?« fuhr sie ihn an »Du läufst ohne Munition in der Stadt herum? Bist du lebensmüde?«
Er ging nicht darauf ein sondern drückte sich an die Wand, die im Schatten neben der Tür lag. Laurel tat es ihm auf der anderen Seite gleich.
»Warum zum Teufel will mich Heute jeder umbringen?« fragte Harbinger stumm, bevor er sich leise wieder an Laurel wandte »Egal was passiert, ich werde niemanden töten. Das musst du schon übernehmen.«
»Du willst niemanden töten?« zischte sie ihn an »Wie hast du nur bislang überlebt?«
»Ich habe schon getötet. Und ich werde es nurnoch ein einziges mal tun.«
Sie schwieg. Die Stille war fast greifbar, als Harbinger und Laurel an die Wand neben der Tür gepresst warteten. Das Knarren aus dem Erdgeschoss wurde lauter, als der Eindringling die Treppe hoch stieg.
»Ich hätte ihm nicht sagen sollen, dass ich ihn umbringen werde« warf Laurel sich leise vor.
Harbinger blickte sie verwirrt an.
»Der Kerl, von dem ich dir erzählt habe« erklärte sie flüsternd »Als er mich vergewaltigt hat, habe ich ihn angeschrien, dass ich ihn umbringen werde. Er ist reich und ein Leben bedeutet ihm nicht viel. Schon garnicht das einer Nutte. Deswegen wird der Kerl, der mich umbringen soll auch kein Profi sein.«
Harbinger fluchte lautlos. Wo war er da nur wieder herein geraten.
Noch während er in den Tiefen seines Geistes Verwünschungen aufsagte, trat eine Gestalt durch die Tür, blieb stehen und sah sich verwirrt um. Ein einzelner Lichtstrahl reflektierte sich auf einer verchromten Colt 1911 im Gürtel des Mannes. Harbinger reagierte schnell, senkte seine Waffe und schoss dem Killer eine Kugel durchs Knie. Ein Blutstrahl spritzte auf den Holzboden, während der Eindringling schreiend zu Boden fiel. Sofort stand Laurel über ihm. Doch während sie die Waffe auf sein Gesicht richtete und abdrückte war ein leises Klicken zu hören. Harbinger beugte sich über die Leiche und griff nach der Hand des Toten.
»Scheisse« rief er, sprang auf und ergriff Laurels Hand »Er hat eine Handgranate gezündet.«
Sie wollten durch die Tür hinunter laufen, als die Granate aus der Hand des Mannes fiel und vor ihren Füßen die Treppe hinunter rollte. Harbinger sprang zurück und zog Laurel mit sich.
»Das Fenster« drängte er »Wie tief?«
»Drei Meter« antwortete sie verstört.
»Das geht« bemerkte er und rannte los, wobei er sie hinter sich her zog.
Sie erreichten das Fenster, als die Granate am Fuß der Treppe explodierte. Der Boden erzitterte und einige Holzplanken stürzten nach unten. Ihre Zahl nahm schnell zu, während Harbinger Laurel durch das schmale Fenster hob und fallen ließ. Die Explosion forderte mittlerweile auch ihren Tribut von den Dachschindeln des Hauses. Während Harbinger durch das Fenster kletterte stürzten Ziegeln hinab. Im letzten Augenblick stieß er sich ab und flog durch die Luft. Ein paar Meter weiter schlug er auf der Erde auf und stürzte der Länge nach zu Boden.
Etwas dichter am Haus lag Laurel. Sie stöhnte leise auf. Harbinger kämpfte sich schmerzerfüllt auf die Füße und rannte zu ihr herüber. Sie war bei Bewußtsein, konnte sich jedoch offensichtlich nicht rühren. Ohne lange zu überlegen hob er sie auf die Arme und trug sie schnell weiter vom Haus weg, während die Reste des ersten Stockwerks hinabstürzten und rund um die Beiden einschlugen. Eine riesige Staubwolke drang aus den Grundmauern des zerstörten Hauses.
Schwer atmend legte Harbinger die junge Frau auf den Boden und fiel auf die Knie.
»Eine Handgranate« murmelte er »Warum hatte er eine Handgranate dabei?«
»Der Bastard der ihn angeheuert hat, dachte nicht, dass ich mich so schnell hätte befreien können« antwortete Laurel mit geschlossenen Augen »Vielleicht wollte er, dass ich qualvoll sterbe. Mich vielleicht die Granate schlucken lassen oder den Stift ziehen und sie zwischen meine Knie klemmen, damit ich noch stundenlang den Bügel drücke und versuche mein Leben zu retten, bevor das Ding unweigerlich direkt an meinem Körper explodiert. Wer weiß, was dieses kranke Schwein vorhatte.«
Sie schlug schwach die Augen auf.
»Weißt du, dass du mir nur Unglück bringst, Harbinger?« flüsterte sie »Seitdem du in meiner Nähe bist, wurde ich verprügelt, vergewaltigt, sollte umgebracht werden, bin aus einem Fenster gefallen und wurde fast von den Trümmern meines Hauses erschlagen. Und wir kennen uns erst seit einer Viertelstunde.«
»Hey« verteidigte er sich mit einem Lächeln »Für das meiste davon kann ich nichts. Außer die Sache mit dem aus dem Fenster fallen.«
»Du hast mir das Leben gerettet, Alexander« hauchte sie lächelnd »Danke. Dafür darfst du es einmal kostenlos mit mir treiben.«
Er schaute sie tadelnd an.
»War nur ein Scherz.« Sie stand langsam auf und hielt ihm die Beretta hin. »Hier ist deine Waffe. Lass uns gehen, Harbinger.«
»Gehen?« keuchte er schwach »Sollten wir uns nicht erstmal ausruhen, Desdemona?«
Sie schaute ihn tadelnd an.
»War nur ein Scherz.«
Er erhob sich, steckte seine Waffen weg und folgte ihr fort von dem Trümmerhaufen, der vor kurzem noch ihr Haus gewesen war.

Harbinger
15.04.2005, 12:01
Intermezzo 2 - Destroyed (Hypocrisy)

I lost my dignity.
I lost who I am.
My biggest problem is, I've become sick little eyes.
Take what be done.
Known by no one.
My clock is ticking.

Einer der muskulösen Männer öffnete die schwere Eisentür mit dem vergitterten Blickfenster und der Aufschrift 759. Der andere Helfer schubste den Patienten, dessen Hände mit Handschellen aneinandergekettet waren, vor sich her. Hinter ihnen ging der Arzt.
»Rein da« brummte der Helfer, der den Patienten in die Zelle trieb.
Der Patient drehte sich um, als die schwere Eisentür zufiel und abgeschlossen wurde. Hasserfüllt starrte der Mann in der Zelle zwischen den Gitterstäben hindurch.
»Es gefällt Ihnen hier nicht, oder?« fragte der Arzt, der sich in das Blickfeld des Patienten stellte.
»Ihnen ist doch klar, dass ich Sie umbringen werde, wenn ich hier heraus komme, oder?« antwortete der Patient mit einem scharfen Unterton in der Stimme.
»Nun, wenn es das ist, was Sie denken wollen.« Der Mann in dem weißen Kittel zuckte mit den Schultern. »Aber eigentlich müssen Sie sich darüber garnicht den Kopf zerbrechen, denn Sie werden hier nicht rauskommen.«
»Nun, wenn es das ist, was Sie denken wollen.«
Der Arzt schaute den Patienten noch einmal interessiert an, bevor er sich umdrehte und davon ging.
»Sie werden damit nicht durchkommen« brüllte Patient Nummer 759 ihm nach.
Der hasserfüllte Blick des Mannes schwand aus seinen Augen und sein Gesichtsausdruck wurde resignierend. Er lehnte sich an die Wand, so als wäre alle Kraft aus ihm gewichen. Langsam rutschte er tiefer, bis er auf dem Boden der Zelle saß.
Der Arzt und die Krankenschwestern hatten diese furchtbare Maschine an ihn angepasst um den Eingriff vorzubereiten, der an ihm vorgenommen werden sollte. So viel er verstanden hatte, war er nicht der erste, der für diese Experimente vorgesehen war. Und anscheinend waren die Meisten seiner Vorgänger jetzt tot. Er wünschte sich, dass auch er sterben würde und diesem Arzt von keinerlei Nutzen sein würde. Sein Leben hatte jeglichen Sinn verloren.
Durch ein kleines vergittertes Fenster konnte Patient Nummer 759 den Vollmond sehen, der in dieser Nacht schien. Dieses Fenster war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Dadurch konnte er wenigstens die Tageszeit einschätzen.
Stundenlang betrachtete er die Sterne, die am Firmament standen, rund um den hellen vollen Mond herum, bis er ein leises Klicken von der Tür her vernahm. Er drehte sich um und blickte auf die schwere Eisentür, durch die schummrige Lichtstrahlen einfielen. Langsam schwang sie auf und der Patient konnte die Gestalt sehen, die in der Tür stand. Sie war weder groß noch klein, weiblich, trug eine Schwesterntracht und ihr Gesicht war dem Mann nicht unbekannt. Sie ging auf ihn zu und kniete sich neben ihn, um seine Handschellen aufzuschließen.
»Schnell« zischte sie ihn an »Ich musste bereits drei Wächter und eine Krankenschwester umbringen, um bis zu dir zu kommen. Wenn wir nicht schnell von hier verschwinden, werden es in nicht all zu langer Zeit wesentlich mehr sein.«
Die Handschellen sprangen auf und der Patient warf sie fort. Mit neu erwachten Kräften erhob er sich und blickte der falschen Krankenschwester fest in die Augen.
»Bring‘ mich hier raus« knurrte er.

Harbinger
15.04.2005, 12:03
Kapitel 4 - Your Shameful Heaven (My Dying Bride)

Burning pain scars through your skin
But it's 'more' you cry, for you are a sinner
We suffer in love, but you love to suffer
Your misery is your majesty

»Woher kennst du Curtis eigentlich, Laurel?«
»Ich kenne ihn nicht persönlich« antwortete die junge Prostituierte »Ich kenne einen seiner Vertrauten.«
Harbinger und Laurel gingen nebeneinander eine der weniger befahrenen Straßen entlang. Er hatte seinen langen Mantel ausgezogen und Laurel trug ihn jetzt, da sie nur in Hose und BH auf den schneebedeckten Straßen gefroren hatte. Zusammen mit dem Mantel hatte Harbinger ihr auch die Waffen, die darunter verborgen gewesen waren, gegeben. Er hatte zwar vor dem verhängnisvollen Abend, der erst ein paar Stunden zurück lag, noch nie mit Waffen zu tun gehabt, doch irgendwie fühlte er sich nervöser und unsicherer, seitdem er der jungen Frau die Berettas und die Schrotflinte anvertraut hatte. Er versuchte diesen Eindruck loszuwerden, doch es gelang ihm nicht.
Seit zwanzig Minuten waren sie unterwegs und in der Zwischenzeit hatte Harbinger Laurel die Geschichte des Mordes an seinen Freunden erzählt. Er hatte wohlweislich verschwiegen, dass Jack und Miranda ihm von Zeit zu Zeit erschienen, da sie ihn dann wahrscheinlich für komplett verrückt erklärt hätte. So wußte sie nur, dass er sich auf einem Rachefeldzug befand.
Sie hatte auf seine Seelenpein wenig betroffen reagiert. Sie hatte erklärt, dass es ihr für ihn leid tat, doch sie hatte hinzugefügt, dass so etwas Tag für Tag geschah, dass die Gangs, vor allem Curtis‘ Bande, zu mächtig waren, als dass je etwas davon bekannt werden würde.
Diese Information spendete Harbinger allerdings wenig Trost.
»Woher kennst du diesen Vertrauten von Curtis?« fragte Harbinger als sie in eine weitere Straße einbogen.
»Was denkst du, Alex?« Sie schlug die Augen auf, was anscheinen verführerisch wirken sollte, Harbinger durch all die Prellungen in ihrem Gesicht jedoch eher zum Lachen reizte.
»Du hast mit ihm Geschäfte gemacht« schloss er »Lass mich raten, auch Gangster brauchen Liebe.«
»Du hast es erfasst, mein Lieber« gratulierte Laurel »Und wenn sie gut zahlen kann ich es mir nicht leisten, irgendwelche Fragen zu stellen.«
»Und du kannst mir zeigen, wo Curtis sich versteckt und mich hinein bringen?«
Sie nickte.
»Aber du wirst es nie schaffen, ihn umzubringen und lebend davon zu kommen« bemerkte sie.
»Was wenn ich dir jetzt sage, dass ich es garnicht vorhabe?« Er schaute sie von der Seite an, während sie weitergingen. »Was wenn ich dir sage, dass ich in dem Moment, in dem ich mein Ziel erreiche, sterben will?«
Sie schaute in seine Richtung und blickte tief in seine Augen.
»Was würdest du tun, wenn du tatsächlich Curtis töten könntest und den Anschlag überleben würdest?«
»Ich weiß es nicht« antwortete er seufzend »Ich würde auf jeden Fall fort gehen.«
»Fort aus New York?« fragte sie neugierig.
»Wahrscheinlich sogar fort aus Amerika« erklärte er »Vielleicht zurück nach Irland, da wo ich geboren bin. Vielleicht sogar noch weiter, nach Skandinavien. Finnland, Norwegen... irgendwo hin, wo ich alleine sein kann.«
»Irland?« fragte sie weiter »Was ist das? Ich habe nie von so einem Ort gehört.«
»Du weißt nicht, wo Irland liegt?« Er lachte. »Oh Gott, du scheinst dich nicht so besonders mit Geographie auszukennen.«
Schweigend schüttelte Laurel den Kopf.
»Irland liegt weit im Westen« begann Harbinger »Über die Grenzen von New York hinaus, nach Westen immer über das Meer. Dort liegt Europa, die alte Welt. Von dort kam ich vor zwölf Jahren. Und falls ich die Ziellinie meines Feldzuges lebendig überschreite, dann wird es nichtsmehr geben, was mich hier hält. Dann werde ich in meine alte Heimat zurückkehren.«
»Es gibt noch etwas über die Grenzen von New York hinaus?« Laurel wirkte ehrlich erstaunt.
»Warst du jemals in einer Schule?« fragte Harbinger misstrauisch »Hat dir jemals jemand etwas über Geschichte beigebracht?«
»Ich war nie in einer Schule« erklärte sie ein wenig wehmütig »Morrec hat mir lesen und schreiben beigebracht, aber sonst nichts.«
»Ich hatte ja keine Ahnung, wie schlimm die Zustände in manchen Teilen unserer Stadt doch sind« bemerkte er »New York ist winzig. Die Welt ist tausend mal größer, als das was du kennst. Sie besteht nicht nur aus dieser grauen, tristen, erbarmungslosen Stadt. Es gibt Wüsten und Wälder, Berge, Täler... Es gibt nichts, was es nicht gibt.«
»Wenn du überleben solltest...« begann sie etwas schüchtern »Wenn du Curtis getötet hast und tatsächlich noch am Leben bist, kannst du mir diese Orte dann zeigen, Alex?«
Er blickte sie eingehend an und sah das Leuchte in ihren Augen.
»Wir werden sehen, Laurel« antwortete er leise »Wir werden sehen.«
Sie gingen weiter und Harbinger sah Jack und Miranda unter einer Straßenlaterne stehen.
»Du solltest die Nutte so schnell wie möglich loswerden« sagte Jack, als Harbinger und Laurel an dem Paar in dem Lichtkegel vorbei kamen »Sie könnte sich als lästig erweisen. Und du darfst nie den Fehler begehen und ihr trauen.«
Sie hatten die Straßenlaterne passiert und Jack und Miranda lagen zurück. Harbinger ließ sich nicht anmerken, dass er Jacks Worte gehört hatte. Die Endgültigkeit, die darin mitgeschwungen hatte, erschreckte ihn jedoch zutiefst.
Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, bis Harbinger seine imaginären Freunde wieder unter einer Straßenlaterne stehen sah.
»Sie kann gefährlich für dich werden, Alex« sagte diesmal Miranda »Lass‘ dich von ihr zu Curtis bringen und dann töte ihn. Gehe keine Risiken ein.«
Als Harbinger und Laurel auf Höhe der Straßenlaterne waren, streckte Miranda ihre Hand aus und berührte ihn an der Schulter.
»Wir vertrauen auf dich, Geliebter« flüsterte sie.
»Ist etwas mit deiner Schulter nicht in Ordnung?« fragte Laurel, als sie zu Harbinger hinüber schaute und sah, das seine linke Hand auf seiner rechten Schulter ruhte.
»Sie schmerzt ein wenig« log er schnell, als er bemerkte, dass seine Hand auf seiner Schulter lag und nicht Mirandas‘ »Ich habe eine Kugel hinein bekommen.«
»Ah« machte Laurel »Ist es schlimm?«
»Es ist mehr seelischer Schmerz da« antwortete Harbinger, diesmal die Wahrheit sprechend »Der Körper heilt bereits wieder.«
Sie schwiegen wieder, als sie das Ende der Straße erreichten. Direkt vor ihnen befand sich ein hoher Metallzaun mit einem verschlossenen Tor. Auf einem schneebedeckten Hügel stand eine große Villa, die im Gegensatz zu den anderen Häusern in dieser Gegend gut erhalten schien.
»Dort wohnt der Mistkerl« sagte Laurel schließlich »Dort müssen wir rein.«
»Sieht nicht gerade gut bewacht aus« bemerkte Harbinger »Das Tor dürfte kein Problem sein. Wenn wir das Schloss an der richtigen Stelle mit einer Schrotladung treffen, dürfte es aufspringen.«
»Sicher?« fragte sie mit einem Blick auf ihn.
»Ziemlich« antwortete er schulterzuckend.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich habe ich das irgendwann mal im Fernsehen gesehen.«
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu, sagte jedoch nichts. Wortlos griff sie unter den schwarzen Mantel und holte die Shotgun hervor, die sie ihm reichte. Zögernd griff Harbinger danach. Er nahm die Waffe in die Hand und richtete die Mündung auf das Schloss. Langsam drückte er den Abzug.
Der Schuss zerriss die Stille, die in der Straße herrschte. Die Schrotladung traf das Metall des Schlosses und sprengte es auseinander. Quietschend schwang das Tor auf.
»Nicht gerade subtil« bemerkte Laurel.
»Manchmal sind die einfachsten Methoden die besten« antwortete Harbinger, gab die Schrotflinte zurück und trat durch das Tor.
Geduckt eilte er über die schneebedeckte Grasfläche, die vor dem Haus lag. Die Prostituierte folgte ihm ebenfalls gebückt. Gemeinsam erreichten sie die Front des Hauses und drückten sich an die Wand.
»Wie kommen wir rein?« flüsterte Laurel Harbinger zu.
»Ich weiß es noch nicht« antwortete er ebenso leise »Ein Fenster zu zerschlagen können wir vergessen. Sogar wenn es keinen Alarm gibt, wacht das ganze Haus auf. Also bleibt nur eine Tür.«
»Wir sollten am Besten gleich im ersten Stock rein gehen« merkte Laurel an »Dort liegen wahrscheinlich die Schlafzimmer und wenn es zu irgendwelchen Problemen beim Einsteigen kommt, kann ich diesen Schweinehund wenigstens schnell umlegen, bevor wir wieder hinaus gehen. Ich will dich ja nicht beunruhigen, aber ich bin ziemlich sicher, dass der Kerl Wachpersonal hier hat, das uns Ärger machen könnte.«
Harbinger dachte kurz über die Situation nach.
»Okay« begann er schließlich »Lass‘ uns hintenrum gehen.«
Er lief gebückt an der Hauswand entlang, dicht gefolgt von Laurel. Sie umrundeten die Flanke der Villa, bis sie an der Rückseite angekommen waren. Hinter einer gepflasterten Terrasse befand sich ein leerer Swimmingpool. Ein Stockwerk höher ragte ein Balkon hervor.
»Wir sollten auf diesen Balkon klettern« zischte Harbinger »Von da aus können wir weiter sehen.«
Laurel nickte wortlos.
Sie schauten nach oben. Der Balkon war etwa vier Meter über ihren Köpfen, relativ klein und hatte ein niedriges Holzgeländer. Harbinger suchte die Gegend rund um den Swimmingpool ab.
»Laurel« zischte er und zeigte auf eine Stelle neben der Metallleiter, die in das Becken führte.
Sie folgte seiner Geste und sah einen aufgerollten Schlauch, durch den höchstwahrscheinlich Wasser in den Pool gepumpt wurde.
»Vielleicht können wir damit hoch gelangen« flüsterte Harbinger ihr zu.
Gemeinsam ergriffen sie den Schlauch und hoben ihn an, um ihn unter den Balkon zu tragen. Er war schwer, doch gemeinsam gelang es ihnen. Schnell rollte Harbinger ein Stück des Schlauchs ab und warf einen Blick darauf. Er war lang und würde wahrscheinlich seines und Laurels Gewicht aushalten. Ihn zu werfen dürfte sich jedoch etwas schwierig gestalten.
»Gehen wir’s an« flüsterte er Laurel zu »Lass‘ uns zusehen, dass wir den Schlauch über den Balkon bekommen, so dass er auf der anderen Seite herunter hängt.«
Mit vereinten Kräften hoben sie ein Ende des Schlauches an und warfen es gemeinsam hoch in die Luft. Der Schlauch flog über den Balkon und hing auf der anderen Seite drei Meter hinunter.
Lautlos beglückwünschte Harbinger sich selbst. Alles lief genau wie geplant.
»Geh‘ hinüber und knote den Schlauch irgendwo fest« wies er Laurel leise an.
Während sie sich daran machte, seinen Anweisungen Folge zu leisten, zog er den Schlauch auf seiner Seite straff und band ihn an einen in den Erdboden eingelassenen Blumentopf.
»Ist der Schlauch gut festgebunden?« flüsterte er ihr zu, als sie zurück kam.
»So fest, wie ich konnte« antwortete sie leise.
»Gut, dann sollten wir hinauf gehen.«
Probehalber zog Harbinger zwei mal an dem Schlauch, bevor er sich daran hochzog und zu klettern begann. Er benötigte ungefähr eine halbe Minute, bevor er sich über das Geländer des Balkons schwang und Laurel, die direkt hinter ihm war, nach oben zog.
»So weit so gut« flüsterte sie sichtlich zufrieden »Du machst dich ganzschön bezahlt, Alex.«
»Man tut was man kann, Laurel« antwortete er lächelnd »Schauen wir, dass wir hinein kommen. Wir haben noch viel zu tun.«
Vom Balkon aus konnten die Beiden durch eine Glastür in ein nobel eingerichtetes Schlafzimmer schauen. Harbinger griff nach dem Griff und versuchte die Tür zu öffnen.
»Verschlossen« murmelte er »Denkst du, das ist sein Schlafzimmer?«
Sie spähte hinein.
»Ich sehe jemanden im Bett liegen« flüsterte sie »Vielleicht ist er es. Dann könnte ich ihn von hier aus erschießen.«
»Und was, wenn er es nicht ist?« Er schaute sie ernst an. »Was wenn das nicht sein Schlafzimmer ist und du einen unschuldigen tötest? Könntest du das?«
Sie senkte den Blick.
»Keine Ahnung« antwortete sie leise »Ich glaube nicht.«
»Wir sollten lieber sicher gehen. Ich habe eine Idee, aber es ist mit einem ziemlichen Risiko verbunden.«
»Schieß los.«
Harbinger erklärte ihr kurz seinen Plan.
»Klingt gefährlich« bemerkte sie.
»Was hattest du erwartet?« antwortete er mit einem tadelnden Blick »Du willst jemanden ermorden, Laurel.«
»Du hast recht« sagte sie resignierend »Machen wir’s so.«
Sie reichte ihm eine Beretta und zog die Schrotflinte unter dem Mantel hervor. Harbinger nahm die Spass 12 in die Hand und machte sich bereit.
Die Glastür explodierte in einen einzigen Schauer aus Glassplittern. Der Mann und seine Frau wurden durch das Klirren des berstenden Fensters aufgeweckt. Während sie noch verwirrt in ihrem Bett lagen, traten zwei Gestalten durch die Öffnung in das Zimmer, beide bewaffnet.
Harbinger schob so schnell er konnte einen Schrank vor die Tür, um diese von Innen zu blockieren. Laurel trat derweil mit der Schrotflinte in der Hand an das Bett.
»Du erinnerst dich an mich« schrie sie den verängstigten Mann an, der kreidebleich aufrecht in seinem Bett saß »Du erinnerst dich an das, was du mir vor einer Stunde angetan hast?«
Er begann heftig zu zittern.
»Wovon redet diese Frau?« fragte die Ehefrau des Mannes mit sich überschlagender Stimme.
»Keine Ahnung, Liebling« stammelte er »Ich weiß nicht, was das soll.«
»Versuch‘ nicht dich rauszureden, du sadistischer Bastard« brüllte Laurel »Gestehe deiner Frau, was du getan hast, damit du reinen Gewissens sterben kannst.«
»Aber...« stotterte der Mann.
Harbinger stemmte den Rücken gegen den Schrank, den er vor die Tür geschoben hatte. Er spürte, wie gegen die blockierte Tür gehämmert wurde und er hörte die Rufe, die von außen hier herein drangen.
»Beeil‘ dich, Laurel« rief er der Prostituierten zu »Irgend jemand will hier rein kommen und ich weiß nicht, wie lange ich das verhindern kann.«
»Ich mache so schnell, wie ich kann und so langsam wie nötig ist« rief Laurel zurück, während sie den Kopf zu Harbinger umdrehte.
In diesem Augenblick griff der Mann blitzschnell unter sein Kopfkissen und holte einen sechsschüssigen Revolver hervor, den er auf Laurel richtete.
»Pass‘ auf« rief Harbinger ihr zu und hob die Beretta, die er in der Hand hielt.
Schnell warf Laurel sich zur Seite und eine Kugel aus der Waffe des Mannes pfiff durch die leere Luft, genau an der Stelle, an der die junge Frau gerade noch gestanden hatte. Harbinger zielte schnell mit seiner Pistole und drückte ab. Die Kugel riss einen Finger des Mannes ab, den er um den Revolver geschlungen hatte. Er schrie schmerzerfüllt auf und ließ seine Waffe fallen. Laurel kämpfte sich auf die Beine und richtete den Lauf der Schrotflinte auf den blutenden Mann. Ohne ein weiteres Wort drückte sie ab.
Die Schrotladung zerriss die Bauchdecke des Mannes und ließ seine Eingeweide zu Boden fallen. Er lebte jedoch noch und versuchte verzweifelt seine Innereien wieder in seinen Körper zu befördern.
»Viel Spaß beim Aufwischen« bemerkte Laurel.
Sie richtete ihren Blick auf die Ehefrau des Mannes, die verstört auf dem Bett saß.
»Und du...« Die junge Frau senkte die Schrotflinte. »Du bist mitschuldig.«
»Mitschuldig woran?« stammelte die Frau, die beobachtete, wie ihr Mann mit bloßen Händen in seinen blutigen Eingeweiden wühlte.
»Mitschuldig an dem, was dein Mann mir angetan hat« zischte Laurel »Mitschuldig daran, dass er mich zusammengeschlagen und missbraucht hat. Du hast ihn zu dem gemacht, der er ist.«
Ein verzweifelter Gesichtsausdruck machte sich auf dem Gesicht der Frau breit. Harbingers Herz verkrampfte sich. Er bekam Mitleid mit dieser Frau. Sie wußte nicht, was sie für eine Wirkung auf ihren Mann gehabt hatte. Doch das interessierte Laurel nicht.
Die junge Prostituierte zog die zweite Beretta unter ihrem Mantel hervor und schoss eine Kugel in die Stirn der älteren Frau. Sie brach tot neben ihrem Mann zusammen, der noch immer mit seinen Gedärmen beschäftigt war. Harbinger wandte den Blick ab.
»Das hast du davon, du Arschloch« zischte Laurel dem blutenden Mann auf dem Bett zu.
Gleichmütig richtete sie die Beretta auf ihn und drückte ab. Die Kugel durchschlug seine Eingeweide und er sank tot neben die Leiche seiner Frau.
»Gehen wir« wandte Laurel sich mit unbewegtem Gesicht an Harbinger.
Er hob den Blick. Seine Züge waren verzerrt.
»War das nötig?« schrie er anklagend, während er das Hämmern und Rufen in seinem Rücken ignorierte.
»Ich hielt es für nötig« antwortete Laurel, die versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
Wortlos stieß Harbinger sich von dem Schrank, der vor der Tür stand, ab und trat zu Laurel. Wortlos schaute er ihr tief in die Augen. Sie hielt seinem Blick kurz stand, bevor sie sich weinend an ihn klammerte.
»Du hattest recht« schluchzte sie, während Tränen über ihr Gesicht liefen »Es ist furchtbar, einen Menschen zu töten. Vor allem, einen Menschen, der nicht sterben muss.«
Er wußte nicht genau, was er tun sollte, also entschied er sich für das erste, das ihm durch den Kopf schoss. Er legte die Arme um Laurel und versuchte sie zu trösten.
»Es ist gut, dass du das einsiehst, Laurel« flüsterte er ihr zu »Aber ich glaube nicht, dass das der richtige Ort oder die richtige Zeit ist, um darüber zu sprechen. Wir müssen hier raus, Laurel.«
Sie wischte sich mit einer Hand über die feuchten Augen, während sie sich mit der anderen noch immer an ihn krallte.
»Du hast Recht, Alex« gab sie zu, während sie geräuschvoll die Nase hochzog »Wir sollten gehen.«
Sie trat einen Schritt zurück und ging zum Bett hinüber. Dort hob sie den Revolver auf, der neben dem abgetrennten Finger des Mannes lag.
»Das können wir vielleicht noch gebrauchen« erklärte sie.
Sie steckte die Waffe ein und verstaute auch die Schrotflinte und die Pistole wieder unter dem Mantel. Harbinger ging durch die zersplitterte Glastür auf den Balkon und kletterte an dem breiten Schlauch hinunter auf die Terrasse. Mit seiner Beretta in der Hand wartete er, bis Laurel neben ihm auf dem gefließten Boden landete.
»Lass‘ uns verschwinden, Laurel« flüsterte er.
Gemeinsam entfernten sie sich von der Villa. Sie liefen gebückt durch den Garten, bis sie wieder den Zaun erreicht hatten, an einer anderen Stelle als dort, wo sie hereingekommen waren. Wortlos half Harbinger der jungen Prostituierten über den Metallzaun, bevor er selbst hinüberkletterte.
Sie verließen den Ort und liefen zurück in die Stadt, in deren Straßen Menschen umherwanderten, die wie sie waren, die nichts zu verlieren hatten, die bereits alles verloren hatten.

Seit zwanzig Minuten hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Harbinger war vorangegangen, obwohl er sich nicht im Geringsten in diesem Teil der Stadt auskannte.
»Du hast erledigt, worum sie dich gebeten hatte, Alex« sagte Miranda, die neben ihm ging »Lass dich von ihr zu Curtis bringen, dann kannst du diese traurige Geschichte endlich zu einem Ende bringen.«
Er schüttelte den Kopf und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Laurel, die mit gesenktem Kopf in seiner Nähe durch den Schnee stapfte.
»Du fühlst dich für sie verantwortlich?« Miranda seufzte. »Sie ist nur eine Nutte, Alex. Sie ist wertlos. Warum belastest du dich mit ihr?«
Er blickte mit einem bedauernden Blick in Mirandas Richtung.
»Wegen mir?« Diesmal lachte sie. »Du denkst, du hast dabei versagt, mich zu beschützen? Du willst die Sache an diesem Mädchen wiedergutmachen? Alex, du bist verrückt.«
Er nickte schwermütig.
»Alex, dein Wahnsinn ist schwerwiegender, als du denkst. Schau dich doch nur um...«
Harbinger blickte in eine Seitengasse, an der sie vorbeikamen. Er sah einen jungen Mann, der mit einer Spritze in der Hand und einem leeren Blick in den Augen im Schnee saß. Neben ihm stand eine Gestalt, die gut und gerne drei Meter maß, vier Arme hatte und Harbinger mit einem bösartigen Blick aus zwei Augenpaaren musterte.
»Schau nicht hin, Alex« wies Miranda ihn an »Nimm es nicht ernst. Wenn du durch die Gegend läufst und all diese Einbildungen in deinem Hirn ernst nimmst, dann wirst du am Ende total durchdrehen und wenn du keines klaren Gedankens mehr fähig bist, wem sollst du dann nützen?«
Er wandte den Blick schnell von der riesigen Gestalt in der Seitengasse ab und blinzelte ein paar mal. Als er wieder hinsah, war sie verschwunden.
»Sie gehen weg« murmelte er »Sie verschwinden, wenn ich es will.«
»Was hast du gesagt, Alex?« fragte Laurel mit dumpfer Stimme.
»Nichts« antwortete er schnell »Ich habe nur laut gedacht.«
Sie gingen weiter und Harbinger heftete seine Augen auf den Boden, damit er sichergehen konnte, dass er keine schrecklichen Einbildungen mehr wahrnehmen konnte.
»Sie sind trotzdem da, Alex« flüsterte Miranda ihm zu »Du kannst sie nicht einfach so verbannen.«
Harbinger verschloss seine Ohren vor allem um ihn herum. Er hörte auch nichtmehr, was Miranda sagte. Er wollte, dass alles um ihn herum verschwand.
»Wo gehen wir hin?« drang schließlich Laurels Stimme zu ihm hindurch.
»Ein Ort, an dem wir uns ausruhen können« antwortete er, obwohl er selbst nicht genau wusste, wo dieser Ort sein sollte »Du brauchst jetzt Ruhe, Laurel.«
Sie kamen an einem heruntergekommenen Hotel vorbei und Harbinger fasste einen Entschluss.
»Nehmen wir uns hier ein Zimmer, Laurel« entschied er.
»Wofür?« fragte sie uninteressiert.
»Nur zum Ausruhen« antwortete er entschlossen.
Er ergriff ihre Hand und zog sie hinter sich her in das Gebäude. Dort wandte er sich an den schmierigen Kerl, der hinter der Theke stand.
»Wir brauchen ein Zimmer« sagte er ohne Umschweife »Keine Fragen, keine Namen, nur ein Zimmer.«
Harbinger holte seine Brieftasche hervor und warf einige von den Geldscheinen, die ihm vollkommen unbekannt vorkamen, vor dem Rezeptionisten auf den Tisch.
»Geht das klar?« fragte er.
Der Mann hinter der Theke knurrte etwas unverständliches und warf Harbinger einen Schlüssel zu.
Mit dem Schlüssel in der Hand zog Harbinger Laurel durch die Eingangshalle, die Treppe hinauf und bis zu einer schmutzigen Tür, auf der die selbe Nummer wie auf dem Schlüssel stand. Er schloss auf und sie gingen hinein.
Der Raum war klein und nur mit einem Tisch und einem Doppelbett möbliert. Laurel ließ sich auf das Bett fallen und Harbinger setzte sich neben sie.
»Ist es noch immer so schlimm?« fragte er sie schließlich.
»Noch schlimmer« antwortete sie leise.
Er sah, wie eine Träne aus ihrem Auge rollte und über ihre Wange floss.
»Ich habe diese Frau mit voller Absicht getötet« schluchzte sie »Und ich hatte keinen wirklichen Grund dafür. Außer dem Hass auf ihren Mann, der sie hasste und das an mir ausließ.«
»Ich verstehe, Laurel« flüsterte Harbinger »Du machst dir Vorwürfe.« Er schwieg für einen Augenblick. »Ich mache mir auch Vorwürfe.«
»Wieso?« fragte sie und hob den Kopf.
Tränen glänzten in ihren Augen und ihr Blick wirkte stumpf, doch sie schien ehrlich interessiert an Harbingers Worten zu sein.
»Ich habe einen unschuldigen Mann getötet« sagte er leise »Ich wollte es nicht, aber es ist geschehen. Und ich frage mich die ganze Zeit, ob es meine Schuld oder ob das alles nur ein dummer Zufall war.«
Sie blickte ihn an und frische Tränen liefen über ihr Gesicht. Er hatte seinen Blick gesenkt.
»Wer sind wir, Alex?« fragte sie »Wer sind wir, dass wir über Leben und Tod bestimmen können?«
»Wir sind lebende Tote« flüsterte er »Lebende Tote in einer Stadt voller Verrückter.«

Harbinger
15.04.2005, 12:05
Epilog 1 - Behind The Smile (Arch Enemy)

This reflection in the mirror
Can it really be me?
I see no connection
With who I wanted to be

Zwei düstere Gestalten standen in einer kleinen Gasse, die zwischen zwei verfallenen Gebäuden verlief. Rings um sie lag Schnee, der ein wenig Licht reflektierte, doch abgesehen davon waren sie in vollkommene Dunkelheit gehüllt. Vor ihnen gingen Passanten vorbei, Menschen die sie nicht beachteten, die sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischten.
»Du hast ihn getroffen, Tom« sagte die größere der beiden Gestalten, die in einen langen Ledermantel gehüllt war und eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte.
»Das habe ich, Morrec« antwortete Tom.
»Könnte er der sein, auf den wir gewartet haben?« fragte Morrec leise.
»Er hat großes Potential.« Tom zuckte mit den Schultern, wobei sein Umhang flatterte. »Doch viele seiner Fähigkeiten haben gelitten, in all der Zeit, in der sie ihn zu dem Wrack gemacht haben, das er jetzt ist.«
»Kann er uns trotzdem noch nützlich sein, Tom?«
»Das kann er auf jeden fall. Er ist ein guter Kämpfer. Er legt sein Herz in die Waagschale, wenn er es mit jemandem aufnimmt. Wir bräuchten mehr Männer wie ihn.«
Morrec schaute auf das heruntergekommene Hotel auf der anderen Straßenseite.
»Behältst du ihn für mich im Auge?« fragte er schließlich.
»Von mir aus, Morrec« brummte Tom.
»Schön. Ich habe noch einiges zu tun. Ich komme bald zurück, Tom.«
Die beiden Männer schüttelten einander die Hände, bevor Morrec sich umdrehte und mit wehendem Mantel in der Gasse verschwand. Tom blieb noch einen Augenblick stehen und schaute die schneebedeckte Straße entlang.
»Joseph« murmelte er schließlich »Wollen doch mal sehen, ob wir dich finden, Joseph.«
Er trat hinaus auf die Straße und mischte sich unter die Passanten.

Harbinger
29.04.2005, 12:14
So, endlich bin ich dazu gekommen, den nächsten Teil der Geschichte zu beginnen. Ich sitze momentant an Kapitel 7 und hab eigentlich schon die ganze Story von Vorne bis Hinten durchdacht. Also dürfte ich nicht in irgendwelche Kreativlöcher stürzen. Im Augenblick haben wir ungefähr 38 Din-A4 Seiten zusammen, was definitiv noch eine ganze Menge mehr wird. Dankeschön auch an fighting_faith, die die einzige Person bislang war, die mir überhaupt ein Feedback zu der Story gegeben hat. Ich hoffe, dass sie weiter liest und auch den Rest kommentiert, ebenso wie ich hoffe, dass mal ein paar andere Leute das Machwerk hier (§ugly) besprechen.
P.S.: Ich habe aus Spaß in der Schule angefangen Szenen aus der Geschichte mit Kuli zu skizzieren. Eine der Zeichnungen werde ich im Anschluss an diesen Post verewigen (Dummerweise war's auf der Rückseite eines Arbeitsblattes, deswegen kann man die Fragestellungen noch durchlesen... und die Pentagramme, die ich auf die Vorderseite gekritzelt habe. Aber egal...)
So, nu aber weiter im Text, mit:

Teil 2 - The Glow Of The Flames (Poisonblack)

I breathe and I drown in the circle of fire
The glow of the flames
And I embrace the demon-desire
The glow of the flames in my eyes

Harbinger
29.04.2005, 12:21
Kapitel 5 - The Quiet Place (In Flames)

Drown the monster
Make all bad dreams go away
Whatever it takes to keep running free

Laurels regelmäßiger Atem ließ Müdigkeit in Harbinger aufsteigen, doch er schüttelte sie gleichgültig ab. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz nach acht war, ein Blick durch das Fenster hingegen, dass die Sonne sich noch nicht über die Stadt erhob. Seit vier Stunden wachte Harbinger nun über die schlafende Prostituierte. Die Geschehnisse des Abends hatten sie vollkommen entkräftet. Um Harbingers eigene Verfassung war kaum besser, doch er zwang sich dazu wach zu bleiben.
Nachdem er sich nochmal vergewissert hatte, was die Uhrzeit betraf, stand Harbinger von dem Tisch auf, auf dem er gesessen hatte. Mit einem Blick auf die schlafende Frau griff er nach seinem Mantel und zog ihn über. Eine Beretta zog er hervor und legte sie auf den Stapel von Laurels Klamotten, der neben dem Bett lag. Die andere Pistole und die Schrotflinte ließ er an Ort und Stelle. Leise und vorsichtig ging er aus dem Raum und schloss von außen die Tür ab, bevor er die Treppe herunter stieg und auf die Straße trat.
Die Situation hatte sich nicht gebessert. Die Straße war eingeschneit. Aller Arten von Menschen waren unterwegs und beachteten einander kaum. Diese Gleichgültigkeit war beruhigend für Harbinger. Keiner sprach ihn an auf seine Verwundungen, auf seinen unsteten Blick, der von einer Einbildung zur nächsten Huschte, auf garnichts. Seufzend mischte er sich unter die Leute.
Als er einige Meter gegangen war tauchte Jack neben ihm auf.
»Kein schönes Wetter, Alex« bemerkte er mit einem Blick in den Himmel, aus dem weitere Schneeflocken rieselten »Warum gehst du um diese Zeit vor die Tür?«
»Ich besorge was zum Anziehen für Laurel« antwortete er abwesend »Wir konnten schließlich nichts aus ihrer Wohnung mitnehmen.«
»Ah... natürlich« murmelte Jack »Das ist doch verschwendetes Geld, Alex. Du lässt dich nachher von der Nutte zu Curtis bringen und dann wirst du ihn töten. Wenn du überleben solltest, dann brauchst du dich danach nichtmehr um sie zu kümmern.«
»Ich verlange eine Menge von ihr, Jack.« Er schaute seinen eingebildeten Freund an. »Ich kann wenigstens dafür sorgen, dass sie auf der Straße nicht friert.«
Sie schwiegen beide für einen Augenblick.
»Woher kommen diese Einbildungen, Jack?« fragte Harbinger schließlich »Ich habe diesen grünen Kerl gesehen, der mir die Richtung wies und dann dieses riesige Monster. Ich meine, ich kann mich nicht daran erinnern, sowas je gesehen zu haben. Wie kann ich mir etwas einbilden, was nicht existiert?«
»Sie entstammen deinem Unterbewußtsein, Alex« erklärte Jack »Wir holen ständig Dinge aus unserem Unterbewußtsein, von denen wir keine Ahnung mehr haben. Irgend etwas, das du längst vergessen hast. Zusammengesetzt aus Erinnerungen.«
»Du meinst, ich kreiere meine eigenen Schreckgespenster?«
»Das tut jeder für sich alleine in seinem Inneren. Jeder weiß für sich wie ein Dämon oder ein Monster aussieht. Aber dein Geist ist geschädigt. Irgendwie sind deine Monster aus deinem Verstand ausgebrochen und jetzt kannst du sie vor dir sehen.« Er hielt kurz inne. »Miranda hat es dir erklärt. Sie können dir nichts tun aber wenn du sie ernst nimmst, dann können sie dir ernsthaften geistigen Schaden zufügen. Denke einfach nicht weiter darüber nach.«
Harbinger blieb abrupt stehen.
»Wie soll ich nicht darüber nachdenken, wenn soetwas passiert« stieß er hervor.
Etwa fünf Meter voraus sprang eine vierbeinige Kreatur auf die Straße. Sie sah aus wie ein riesiger Hund mit dem Kopf einer Spinne. Die Gestalt rannte über die Straße und verschwand zwischen den Passanten. Niemand beachtete die Kreatur.
»Es hat dir nichts getan, Alex, oder?« fragte Jack ruhig.
Harbinger schüttelte wortlos den Kopf.
»Dann gibt es nicht den geringsten Grund, sich darüber Gedanken zu machen« fuhr Jack fort »Ignoriere es. Das ist besser für dich.«
Mit diesen Worten verblasste Jack.
»Du sagst das so, als ob das einfach wäre« flüsterte Harbinger noch, als sein Freund bereits verschwunden war.
Er schüttelte den Kopf, um ihn klar zu kriegen, bevor er vorsichtig weiter ging. Vor ihm befand sich nun eine Hauptstraße, auf der noch immer Autos dicht an dicht standen. Während er auf diese Straße abbog, erhoben sich die ersten Sonnenstrahlen am Horizont.
Im Sonnenlicht erschien ihm New York noch unwirklicher, als es die ganze Nacht der Fall gewesen war. Alle Gebäude waren groß, doch sie wirkten alt und verfallen. Sogar die Geschäfte. Es mochte sein, dass es schon immer so gewesen war und, dass Harbingers verwirrter Geist ihm einen Streich spielte, doch alles war unvertraut.
In Gedanken versunken betrat er einen kleinen Laden, in dessen Schaufenster Kleidungsstücke ausgestellt waren. Er achtete nicht großartig auf seine Umgebung, bis er den Blick hob, um die Verkäuferin anzuschauen.
»Irgendwas nicht in Ordnung?« fragte sie, als Harbinger sie einen Augenblick angestarrt hatte.
Harbinger schwieg, während er die Augen noch immer auf ihr Gesicht geheftet hatte. Die Verkäuferin sah aus wie eine normale junge Frau, abgesehen davon, dass ihre Nase merkwürdig deformiert wirkte und merkwürdige Flecken ihr Gesicht übersähten. Als sie die Hände auf die Theke stützte, sah er, dass auch ihre Finger gefleckt waren, abgesehen davon, dass ihre Hände in spitzen Krallen endeten.
»Sie...« stotterte Harbinger »Ihre Hände... und Ihr Gesicht...«
»Was ist damit?« fragte sie erschrocken und sah schnell in einen Spiegel, der in der Nähe stand »Ist doch alles in Ordnung« entrüstete sie sich einen Augenblick später.
»Schon gut« murmelte Harbinger und versuchte nicht in ihr Gesicht zu schauen, während er sich wieder einredete, dass diese Einbildungen verschwinden würden, wenn er es nur wollte »Ich suche nach einem Hemd oder einer Bluse.«
»Welche Größe?« Die Verkäuferin schaute ihn unfreundlich an. »Los, sagen Sie schon. Ich habe Heute noch mehr zu tun.«
»Keine Ahnung« antwortete Harbinger und heftete seine Augen an den Boden »Ungefähr einen Meter siebzig groß und relativ schlank. Was würden Sie da sagen?«
Sie brummte etwas unverständliches und ging zu einem Regal in der Nähe, wobei sie sich von Harbinger abwandte. Er atmete erleichtert aus. Ihr Anblick ließ ihn an den Resten seines Verstandes zweifeln.
»Das dürfte passen« sagte sie schließlich zu sich selbst und ergriff eine weiße Bluse.
Die Verkäuferin drehte sich wieder um und legte die Bluse auf die Theke. Harbinger blickte sofort wieder auf den Boden.
»Macht zwanzig Dollar« meinte die Verkäuferin gelangweilt, während sie Harbinger mit einem Blick, der Abscheu ausdrückte anschaute.
Wortlos griff er in seine Brieftasche und zog einige Scheine heraus, die er schnell auf den Tresen warf, während er das Kleidungsstück ergriff und herumwirbelte. Ohne zurück zu blicken oder noch ein einziges Wort zu sagen ging er.
»Perverses Arschloch« hörte er die Verkäuferin ihm hinterher rufen.
Er hielt nicht an, ging ein Stück die Straße entlang, bevor er in eine Seitengasse einbog und sich in eine Schneewehe erbrach.
»Jack« rief er schwach »Miranda.«
Nichts tat sich.
»Wunderbar« murmelte er, während er einen weiteren Übelkeitsanfall niederkämpfte »Kein Trost und umgeben von eingebildeten Monstrositäten.«
Er blieb einen Augenblick nach vorne gebeugt an eine Wand gelehnt stehen, bevor er sich zusammenriss und weiter ging. Sein Weg führte ihn zurück in die Straße, in der das Hotel lag. Er drängte sich zwischen den Menschenmassen hindurch, während er versuchte seinen Magen zu beruhigen.
Als er an einer kleinen Gasse, die neben dem Hotel lag, vorbei kam, sah er ein halbes Dutzend Männer mit Sturmgewehren, die durch die Eingangstür traten.
»Laut Informationen ist sie jetzt alleine« sagte einer der Bewaffneten zu den anderen, während sie in dem Gebäude verschwanden.
Fluchend wich er in die Seitenstraße zurück und überlegte kurz. Schnell ging er um das Haus herum zu einer Feuerleiter auf der Rückseite.

»Okay, Leute« wies der Anführer seine Männer an »Die Nutte ist alleine da drinnen. Unser besonderer Freund ist vor einer Viertelstunde gegangen. Wir sollten sie schnell erledigen und nach Möglichkeit hier weg sein, bevor er zurückkommt.«
»Ja Sir« antworteten die bewaffneten Männer einstimmig.
»Gut. Bereit machen.«
Der Anführer trat an die Tür des Zimmers, das Harbinger und Laurel gemietet hatten. Wortlos zählte er mit den Fingern von fünf herunter. Seine Männer richteten ihre Sturmgewehre auf die Tür.
Alles ging sehr schnell. Der Anführer rammte seine Schulter gegen die Holztür, woraufhin der morsche Türrahmen aufbrach und die Tür aufschwang. Drei der sechs Männer stürmten den Raum.
»Sie ist weg« brüllte eine Stimme aus dem Raum.
»Was?« fragte der Anführer laut »Das ist unmöglich. Sie muss hier irgendwo sein. Durchwühlt das ganze Zimmer.«
»Hier gibt es nichts zum durchwühlen, Sir« antwortete der Bewaffnete.
»Alle Mann raus hier« befahl er schließlich »Ich seh‘ mir das selbst an.«
Die drei Männer zogen sich aus dem Raum zurück und blieben mit ihren beiden Kollegen vor der Tür stehen, während der Anführer hindurch trat. Der Mann mit dem Sturmgewehr hob die Decke vom zerwühlten Bett und blickte darunter. Er fand nichts. In dem Raum befanden sich keine anderen Verstecke. Resignierend trat er ans Fenster. Sein Auftrag schien gescheitert und sein Auftraggeber war niemand, der Versagen tolerierte.
In diesem Augenblick sah der Anführer, dass das Fenster nicht richtig geschlossen, sondern nur angelehnt war. Er stieß es auf und streckte den Kopf hinaus.
Harbinger reagierte sofort. Mit einer Hand hielt er sich an der Feuerleiter fest, an die er und Laurel sich geklammert hatten. Mit der anderen Hand drückte er eine Beretta gegen die Schläfe des Mannes, der aus dem Fenster schaute. Er betätigte den Abzug und ein Blutstrahl spritzte in den fünf Meter tieferen Hinterhof.
»Sir?« brüllte eine Stimme von drinnen.
Harbinger ließ die Beretta aus der Hand zu Boden fallen und ergriff die Leiche des Mannes mit dem Sturmgewehr. Unter Aufbringung all seiner Kräfte konnte er den Körper aus dem Fenster ziehen. Während der Tote auf den Hof stürzte griff Harbinger nach dem Sturmgewehr und riss es aus den verkrampften Fingern der Leiche.
Keine Sekunde zu spät. Zwei Männer stürmten in den Raum und richteten ihre Waffen auf das Fenster, vor dem Harbinger sich an der Leiter festhielt. Sie drückten ab, trafen jedoch nur die leere Luft, als der Mann vor dem Fenster sich wieder dichter an die Hauswand zog.
»Was jetzt?« rief Laurel ihm zu, die ihre Arme um seine Hüften geschlungen hatte.
»Ich überlege« antwortete Harbinger.
Er zielte mit dem Lauf des Sturmgewehrs, das er in einer Hand hielt, in den Raum und drückte ab. Eine Kugelsalve zerriss die Luft, doch der Rückstoß war gewaltig. Harbinger konnte sich nicht an der Leiter festhalten und er und Laurel schwebten einen Augenblick später fünf Meter über dem schneebedeckten Boden, bevor sie fielen.
Harbinger schlug hart auf, wobei der Schnee ihn jedoch vor schlimmerem bewahrte. Das Sturmgewehr entglitt jedoch seiner Hand und landete einige Meter von ihm entfernt in einer Schneewehe. Laurel lag in seiner Nähe und auch ihr schien nichts geschehen zu sein, abgesehen davon, dass sie heftig atmete, um ihre Lungen wieder mit Luft zu füllen. Sie hatte die Bluse angezogen, die Harbinger gekauft hatte, doch trotz allem schien sie zu frieren, was ihn nicht wunderte, da sie auf dem Rücken im Schnee lag. Sein Blick richtete sich wieder auf das Fenster. Blitzschnell zog Harbinger die Schrotflinte unter seinem Mantel hervor und richtete sie auf das Fenster.
Der Lauf eines Sturmgewehrs kam in Harbingers Blickfeld. Er drückte ab und lud erneut durch, bevor er wieder schoss. In schneller Folge schlugen fünf Schrotpatronen im Fensterrahmen ein, bevor die Waffe leer war. Harbinger schleuderte sie fort, sprang auf und ergriff Laurels Hand. Ohne ein Wort zerrte er sie auf die Beine und rannte los. Kugeln schlugen in der Nähe der Beiden ein, während sie versuchten sich in Sicherheit zu bringen. Im Vorbeirennen ergriff Harbinger das Sturmgewehr, das ihm aus der Hand gefallen war, bevor sie eine Hausecke erreicht hatten, hinter der sie außerhalb des Schussfeldes waren.
»Du hast ihn umgebracht?« keuchte Laurel »Einfach so?«
»Es wird leichter« brummte Harbinger »Es ist nicht schön, aber was hätte ich sonst tun sollen?«
Sie wusste keine Antwort darauf.
»Wer sind diese Kerle?« fuhr Harbinger fort »Warum wollen sie dich umbringen, Laurel?«
»Woher soll ich das wissen?« schnappte sie »Ich dachte du hättest etwas damit zu tun. Schließlich will dich anscheinend jeder aus der Welt schaffen, Harbinger.«
»Ich habe sie vor dem Hotel gehört. Sie wurden angewiesen dich umzubringen, Laurel. Das hat nichts mit mir zu tun. Aber darüber können wir später noch sprechen.«
Ihre Hand noch immer fest ergriffen rannte Harbinger los in Richtung Hotelfront. Das Sturmgewehr hielt er locker in der anderen Hand. Ohne im Schritt einzuhalten bogen sie auf die Straße ab und rannten sie entlang, in die Richtung, die Harbinger an diesem Morgen eingeschlagen hatte. Erst als sie die Hauptstraße erreicht hatten, blieben sie für einen Augenblick stehen.
»Was tun wir jetzt, Alex?« fragte Laurel, als sie um Atem rang.
»Keine Ahnung« antwortete er »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich hatte zu viel damit zu tun, unsere Leben zu retten.«
»Auf deinen Sarkasmus kann ich verzichten« fuhr sie ihn übellaunig an »Denk lieber nach.«
Er wollte antworten, doch in diesem Augenblick pfiff eine Kugel dicht an seinem Kopf vorbei und schreiende Passanten rannten aufgeschreckt umher. Harbinger wirbelte herum und hob sein Sturmgewehr. Zwei der Männer, die Laurel töten wollten, kamen auf sie zu, die Waffen erhoben. Harbinger nahm sich nicht die Zeit zu zielen. Er drückte einfach ab.
Eine Kugel bohrte sich in den Arm eines Angreifers, der laut aufschrie, die restlichen Geschosse verfehlten ihr Ziel. Harbinger warf sich gegen Laurel und riss die junge Prostituierte zu Boden und beschirmte sie mit seinem Körper. Kugeln zischten an ihnen vorbei und prallten wirkungslos an Gebäuden ab. Es dauerte nicht lange, bis die Schussgeräusche verstummten und die Angreifer ihre Waffen neu luden.
Harbinger nutzte den Augenblick, sprang auf und stürmte mit Laurel davon. Sie bogen in eine Seitengasse ein und ließen sich schwer atmend hinter einem Müllcontainer nieder.
»Danke, Alex« murmelte Laurel »Das war das dritte mal, dass du mir das Leben gerettet hast.«
»Nichts zu danken« antwortete er abwesend »Wir sollten lieber zusehen, dass wir diese Typen loswerden.«
Harbinger hielt den Atem an. Schritte erklungen von der Hauptstraße her. Zwei Männer hatten die Gasse betreten. Stumm fluchend hob Harbinger das Sturmgewehr und machte sich bereit aufzuspringen.
Plötzlich hörte er überraschte Aufschreie und Schüsse. Die Überraschung in den Stimmen der Männer wandelte sich schnell in Schmerz und er nahm das Klatschen von Blut, das auf den Boden spritzte, wahr. Dann war alles still.
»Bleib‘ unten« weiß Harbinger Laurel an, während er aufstand.
Die Leichen der beiden Angreifer lagen blutverschmiert in der Gasse. Zwei weitere Gestalten standen über den Toten, wobei Harbinger wusste, dass in Wirklichkeit nur einer der beiden diese Männer getötet hatte.
Harbinger hatte beide schonmal gesehen. Der kleinere der beiden Männer hatte kurze Haare, abgesehen von einer langen geflochtenen Haarsträhne. Der andere war über zwei Meter groß und hatte grüne Haut und ein grausames langes Gesicht. Es war das Monster, das Harbinger den Weg gewiesen hatte, als er ein Krankenhaus gesucht hatte. Das große Monster starrte Harbinger einen Augenblick an, bevor es wortlos in die Luft sprang und blitzschnell an einer Hauswand emporkletterte, um weit oben zu verschwinden. Müde fuhr Harbinger sich mit der Hand über die Augen.
»Du hast verdammtes Glück gehabt, Junge« zischte der Mann mit der langen Haarsträhne Harbinger zu »Wenn Morrec mich nicht angewiesen hätte, euch im Auge zu behalten, dann wärt ihr jetzt schon tot.«
»Was?« stieß Harbinger hervor »Ich verstehe nicht...«
»Erinnerst du dich an das, was ich dir bei unserem letzten Treffen gesagt habe, Dante?« fuhr der Mann fort.
»Woher kennen Sie diesen Namen?« verlangte Harbinger zu wissen.
»Unwichtig. Sie sind gegen dich. Lauf, Junge. Lauf und finde Curtis. Das ist das einzig Wichtige.«
»Wer sind Sie?«
»Tom Wittmore. Ich bin ein Freund von Morrec. In seinem Auftrag habe ich diese Killer ausgeschaltet. Diese beiden und den Rest des Teams. Und jetzt geh‘, Dante. Deine Zeit verrinnt.«
Eine Kugel pfiff direkt an Harbingers Ohr vorbei und durchschlug Wittmores Brust. Mit einem Aufschrei taumelte der Mann zurück. Als er die Gasse entlang blickte, weiteten sich seine Augen. Blitzschnell drehte er sich um und rannte davon.
Harbinger wirbelte mit schussbereiter Waffe herum, doch die Gasse hinter ihm war leer. Er und Laurel waren alleine, abgesehen von Miranda, die neben Harbinger erschien.
»Geh‘ Alex« zischte sie ihm zu »Schnell, bevor er zurückkommt.«
»Wieso?« murmelte Harbinger so leise er konnte.
»Vielleicht bringt dieser Wittmore mehr Killer mit, um euch auszuschalten« erklärte sie drängend.
»Aber er hat uns doch gerade gerettet.«
»Er wollte nur dein Vertrauen gewinnen. Du musst gehen Alex, bevor es zu spät ist. Nimm‘ die Nutte und geh‘.«
»Wir müssen gehen« sagte Harbinger ausdruckslos und half Laurel auf die Beine.
»Warum?« fragte sie besorgt »Was ist hier passiert?«
»Wir hatten Glück und ich möchte mein Glück nicht überstrapazieren. Los.«
Sie eilten zurück zur Hauptstraße und folgten ihrem Verlauf.

Harbinger zerschlug die Scheibe mit seinem Ellenbogen, griff hindurch und öffnete das Fenster von innen. Geschickt schwang er sich hindurch und landete in dem dunklen Raum dahinter, bevor er Laurel hindurch half.
»Sieht verlassen aus« bemerkte er »Hier können wir eine Weile bleiben.«
»Schön« antwortete Laurel »Ich habe Ruhe dringend nötig.«
Sie durchquerten den Raum, durch den sie in das verlassene Haus eingebrochen waren und traten durch eine Tür auf den komplett eingerichteten Hausflur, der mit einer dicken Staubschicht bedeckt war.
»Überall Möbel« murmelte Harbinger »So als wären die Besitzer überhastet aufgebrochen. Was ist hier wohl passiert?«
»Es könnte Dutzende von Gründen geben« antwortete Laurel mit einem Schulterzucken »Ein unbeachteter Mord, Entführung, vielleicht wurde der Besitzer auf der Straße überfahren. Es wundert mich nur, dass nicht schon längst jemand wie wir hier eingebrochen ist.«
»Herrschen in diesem Teil der Stadt wirklich so grauenhafte Zustände?« stieß Harbinger hervor.
»Sogar noch schlimmer« bestätigte Laurel »Niemand interessiert sich für den Anderen. Hier existieren keine Freundschaften. Das einzige das zählt, ist besser dazustehen als die Anderen.«
Sie stiegen eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock und betraten ein kleines Zimmer mit Teppichboden, in dem ein staubbedecktes Sofa stand. Daneben an der Wand lehnte eine Gitarre, die an einen Verstärker angeschlossen war. Erschöpft ließen sie sich auf das Sofa fallen.
»Mit wem hast du vorhin in der Gasse gesprochen, Alex?« fragte Laurel leise.
»Tom Wittmore« antwortete er »Er behauptete ein Freund von Morrec zu sein. Hast du je von ihm gehört?«
»Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Aber Morrec spricht selten über seine Freunde.« Sie hielt inne. »Ich meinte aber eher, mit wem du danach gesprochen hast.«
»Danach?« Er tat verwirrt und versuchte abzulenken. »Mit wem soll ich danach gesprochen haben?«
»Das frage ich dich ja gerade« rief Laurel »Stell‘ dich nicht dumm, Alex. Du hast mit jemandem gesprochen, nachdem dieser Wittmore verschwunden ist. War da noch jemand?«
Er überlegte einen Augenblick, bevor er schließlich seufzte.
»Nein Laurel« begann er »Da war niemand. Niemand außer dir, mir und meinen inneren Dämonen.«
»Deine inneren Dämonen?« wiederholte sie.
»Ich habe dir erzählt, dass meine Freunde ermordet wurden und ich es mit ansehen musste. Aber ich habe dir nicht erzählt, was das in meinem Geist ausgelöst hat. Laurel, ich sehe Dinge, die nicht da sind.«
»Dinge die nicht da sind?«
»Alles was ich sehe kommt mir seltsam vor, weil mein Geist geschädigt ist. Ich erkenne nichts wieder. Und außerdem sehe ich unvorstellbare Monster, scheinbar entstellte Menschen... und meine toten Freunde.«
»Wie meinst du das, Alex?«
»Sie erscheinen mir von Zeit zu Zeit. Sie haben mir erklärt, dass sie nur Teile meines Gehirns darstellen, dass sie da sind, um mich zu unterstützen. Sie helfen mir, Laurel. Sie spenden mir Trost und sie helfen mir mich zurecht zu finden. Deswegen wirke ich manchmal abwesend oder wunderlich oder spreche scheinbar mit mir selbst.«
Laurel schaute ihn wortlos an. Tränen glitzerten in ihren Augen. Vorsichtig streckte sie einen Arm aus und berührte mit der Hand Harbingers Gesicht. So saßen sie eine Weile da.
»Danke, Laurel« flüsterte er schließlich »Jetzt hast du mir das Leben gerettet.«
»Das Leben?« fragte sie leise.
»Vielleicht nicht ganz das Leben« antwortete er »Aber es hat mir geholfen darüber sprechen zu können. Mein seelisches Leben ist komplett zerrüttet.«
»Du solltest auf andere Gedanken kommen, Alex.« Sie warf einen Blick auf die verstaubte Gitarre. »Du warst doch Gitarrist. Spiel‘ mir doch etwas vor.«
»Glaubst du wirklich, dass das Ding noch Strom hat?« fragte er mit einem angedeuteten Lächeln.
»Selbst wenn nicht, es wird dich auf andere Gedanken bringen.«
Resignierend griff Harbinger nach der Gitarre. Er setzte die Finger auf das Griffbrett und bereitete sich auf das Anschlagen der Saiten vor. Schnell forschte er in seinem Kopf nach einer Melodie, die er spielen könnte.
Er kam auf keine einzige.
Innerlich verzweifelt versuchte er aufs Geratewohl loszuspielen, doch so sehr er sich auch anstrengte, seine Finger kamen nicht hinterher.
»Nichtmal das ist mir geblieben« flüsterte er mehr zu sich, als zu Laurel »Jetzt bin ich wahrlich ein lebender Toter... ein Mensch ohne Sinn, ohne irgendwelche Fähigkeiten.«
Kraftlos ließ er die Gitarre sinken.
»Was ist los, Alex?« fragte Laurel behutsam.
Als Antwort präsentierte er Laurel seine Hand mit dem blutigen Loch in der Handfläche.
»Ich kann es nicht« sagte er leise »Diese Wunde hat mir auch das geraubt. Ich kann nichtmehr Gitarre spielen, wegen diesem Loch in meiner Hand.«
Sie starrte bestürzt auf seine Hand, dann in sein Gesicht, über das vereinzelte Tränen rannen. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Doch dann legte sie impulsiv ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich. Sie hauchte ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Ihr war klar, dass ihre Berührung ein schwacher Trost war, doch das war das einzige, was sie für ihn tun konnte.

Harbinger
29.04.2005, 12:30
Kapitel 6 - Perpetual Desolation (The Sins Of Thy Beloved)

Decayed thou lay enlaced with sin
The serpents embraces thine pale body
As thine extinction slowly emerges
Thou yell thy cry of agony

»Drei Kugeln« schnaubte Harbinger und warf das Sturmgewehr ärgerlich zu Boden »Wie steht’s bei dir?«
»Elf« antwortete Laurel und schob das Magazin zurück in die Beretta »Nicht gerade berauschend aber das einzige, das wir haben.«
»Tyler Curtis hat eine Armee« gab Harbinger zu Bedenken »Wie soll ich mit elf Kugeln bis zu ihm vordringen und ihn dann auch noch damit umbringen, geschweige denn fliehen? Das ist Wahnsinn. Ganz davon abgesehen, wie viele Verrückte mit Waffen in der Stadt rumlaufen.« Er schlug mit der Faust gegen die Wand. »Es hilft nichts. Wir brauchen mehr Waffen.«
»Woher wollen wir die nehmen, Alex?«
Er warf einen Blick durch das Fenster auf die Nachmittagssonne, die über den belebten Straßen stand.
»Zur Not stehlen wir sie. Wir brauchen einfach mehr Feuerkraft. Die Straßen sind gefährlich.«
»Bist du dir darüber im Klaren, was du da sagst?« fuhr Laurel ihn an »Du willst einen Waffenladen ausrauben? Anscheinend bist du mittlerweile total geisteskrank. Abgesehen davon, dass die Dinger bestens gesichert sind, was willst du tun, wenn etwas schief geht? Dir mit elf Kugeln einen Weg raus ballern?«
»Ich habe nichts von ‚ausrauben‘ gesagt, Laurel. Ich sagte ‚stehlen‘. Und ‚stehlen‘ sehe ich im Zusammenhang mit ‚einbrechen‘.«
»Du willst in einen Waffenladen EINBRECHEN?« Sie starrte ihn ungläubig an. »Du hast ja einen totalen Schaden.«
»In der Tat. Sag‘ mir Bescheid, wenn du einen besseren Vorschlag hast. Aber bei Sonnenuntergang breche ich auf und besorge mir Waffen. Viele Waffen. Große Waffen, damit von Anfang an keiner auf die Idee kommt, mich zu belästigen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Todernst, Laurel.«
Sie blickte ihn mit großen Augen an während sie nach den richtigen Worten suchte. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel nichts ein, das sie darauf erwidern konnte.
»Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, Laurel« sagte Harbinger schließlich »Ich habe einen harten Abend vor mir, also würde ich jetzt gerne ein wenig schlafen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten streckte er sich auf dem Fußboden aus und schlief fast sofort ein.
»Ich habe einen Plan« waren die Worte, die ihn wieder weckten.
Laurel saß neben ihm auf dem Fußboden und sah ihm in die Augen.
»Einen Plan?« fragte Harbinger, als er sich aufrichtete und müde mit der Hand über die Augen fuhr »Einen Plan wofür?«
»Einen Plan, wie wir uns für die Schlacht rüsten können, Alex.«
»Wir, Laurel?«
»Du dachtest doch nicht, dass ich dich alleine gehen lasse, oder? Hast du dein Versprechen schon vergessen? Ich werde dafür sorgen, dass du es einlöst.«
Harbinger kämpfte sich auf die Beine und blickte auf Laurel hinab.
»Wie gehen wir’s an?« fragte er schließlich.
»In der Nähe gibt es eine illegale Waffenfabrik« antwortete sie »Sie ist nicht halb so gut gesichert wie der unordentlichste Waffenladen in der Gegend.«
»Woher weißt du das?«
»Von einem meiner Kunden. Wie auch immer, wir können dort hinein gehen und behaupten, dass wir eine Lieferung abholen sollen. Einen Abholzettel können wir leicht fälschen. Dazu brauchen wir an sich nichts weiteres, als ein Stück Papier und einen Stift.«
»Und dann, Laurel?«
»Diese Typen benutzen alle möglichen Leute als Kuriere. Sie werden mir eine Kiste voll mit Waffen geben. Dummerweise packen sie keine Munition dazu. Die Gefahr wäre zu groß. Also müssen wir uns die wo anders besorgen.«
»Und wo, Laurel? Hast du da auch schon einen Plan?«
»Munition ist nicht teuer. Die Kugeln können wir zur Not auch kaufen.« Sie blickte zu Harbinger auf. »Was sagst du, Alex?«
Er überlegte einen Augenblick.
»Schön« antwortete er schließlich »Dann sollten wir’s angehen.«
Er streckte seinen Arm aus und zog sie auf die Beine. Für einen kurzen Augenblick befand sich ihr Gesicht direkt vor seinem. Dann verließ sie den Raum und er sah ihr nach.

Die Sonne ging bereits wieder unter, als Harbinger und Laurel vor der geheimen Waffenfabrik standen. Das Gebäude sah aus wie jedes andere der jämmerlichen Häuser in diesem Stadtteil. Es lag direkt an einer der Hauptstraßen, die im Gegensatz zu allen anderen, die Harbinger in den letzten Stunden gesehen hatte, nicht mit stehenden Autos vollgestopft war. Der Verkehr floss, wenn auch langsam.
Schnee bedeckte den Bürgersteig, auf dem die Beiden standen.
»Das ist es, Alex« sagte Laurel »Ich werde rein gehen und eine Lieferung abholen. Ich dürfte in fünf Minuten wieder da sein.«
»Okay« antwortete er »Wenn du länger als zehn Minuten brauchst, dann komme ich rein und hol‘ dich raus.«
»Keine Sorge.« Sie ging auf den Eingang zu und warf einen Blick über die Schulter. »Ich bin gleich wieder da.«
Sie trat an die Tür und klopfte an. Ein großer Mann öffnete und ließ sie ein.
»Warum beobachtest du sie die ganze Zeit, Alex« fragte Jack, der neben ihm stand.
Harbinger antwortete nicht. Statt dessen senkte er den Blick und lehnte sich an eine ausgeschaltete Straßenlaterne in der Nähe.
»Was willst du mit ihr machen, wenn sie dich erst zu Curtis gebracht hat?« fuhr Harbingers Einbildung fort »Willst du sie wirklich mit dir nehmen, wenn du diesen Mann tötest?«
»Ich glaube nicht« erwiderte Harbinger mit einem Schulterzucken »Ich werde diese Sache sowieso nicht überleben, Jack.«
»Das ist ziemlich wahrscheinlich.« Jack seufzte. »Es wird nichtmehr lange dauern, Alex. Du hast schon bald die Ausrüstung, die du brauchst, um bis zu diesem Bastard vorzudringen. Dann kannst du uns rächen.«
»Das werde ich.«
Ohne ein weiteres Wort verblasste Jack. An seiner Statt erschien Miranda auf der anderen Seite von Harbinger. Ihr Blick war genau wie der von Harbinger auf das Gebäude gerichtet, in dem Laurel verschwunden war.
»Du hattest viel Glück, Alex« bemerkte sie »Vor allem, dass du die Kleine vor diesen Killern retten konntest.«
Harbinger nickte wortlos.
»Sag‘ mir, Alex« fuhr Miranda fort »Was hättest du getan, wenn Laurel gestorben wäre?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich versucht diesen Typen zu folgen. Dann hätte ich immerhin herausgefunden, wer sie auf Laurel angesetzt hat.«
»Du weißt bereits, wer das war« beschwor Miranda ihn »Es war dieser Wittmore. Wer sonst sollte es gewesen sein. Erinnerst du dich daran, wie ihr das Zimmer in dem Hotel gemietet habt? Wie du die ganze Nacht über Laurel gewacht hast? Wie du von Zeit zu Zeit aus dem Fenster auf die belebten Straßen geschaut hast?«
Er dachte nach und erinnerte sich schließlich an die vielen Blicke, die er in der Nacht auf die belebte Straße vor dem Gebäude geworfen hatte.
»Du erinnerst dich daran, Alex. Erinnerst du dich auch an irgend welche Personen, die nicht die Straße entlang gingen?«
Er wühlte noch etwas tiefer in seinen Erinnerungen, bis es ihm auffiel.
»Er war dort« flüsterte er »Wittmore stand die ganze Zeit auf der anderen Straßenseite und hat das Hotel beobachtet.«
Vor seinem inneren Auge tauchte die Gestalt in dem mottenzerfressenen Umhang auf, die in dem dichten Schneetreiben kaum auszumachen gewesen war.
»Das war er« bestätigte Miranda.
»Ich werde ihn umbringen« schwor Harbinger sich.
»Das wirst du nicht, Alex« widersprach Miranda »Du wirst Curtis töten. Du hast keine Zeit dich um diesen Wittmore zu kümmern.«
»Wahrscheinlich hast du recht, Miranda.«
Er heftete seinen Blick auf den schneebedeckten Boden, während er ihre Hand auf seiner Wange spürte.
»Du bist mein Racheengel, Alex« flüsterte sie in sein Ohr, während ihre Hand von seiner Wange verschwand »Räche mich.«
Mit diesen Worten verblasste ihr Körper, bis sie gänzlich verschwunden war. Harbinger starrte zu Boden. Er ignorierte die Gefühle, die in ihm wüteten und gab sich ganz seinen Gedanken hin. So stand er eine ganze Weile da.
Es waren mindestens zehn Minuten vergangen, als Harbinger den Blick wieder hob. Laurel war nirgends zu sehen. Fluchend stapfte Harbinger auf das heruntergekommene Gebäude zu. Er trat an die Tür und klopfte an.
Nach kurzer Zeit wurde die Tür von demselben großen Kerl geöffnet, der Laurel hereingelassen hatte.
»Was wollen Sie?« fragte er unfreundlich.
»Eine Freundin von mir ist vor zehn Minuten hier reingekommen« erklärte Harbinger »Ich habe ihr zwar versprochen zu warten, aber das dauert mir doch entschieden zu lange.«
»Hier ist niemand reingekommen« antwortete der Mann von oben herab.
»Was?« entfuhr es Harbinger »Natürlich ist sie gerade hier hereingekommen. Ungefähr eins siebzig groß, schwarze Haare, weiße Bluse-«
»Hier ist keine Frau drinnen.« Die Stimme des Mannes wurde lauter und drohender. »Gehen Sie.«
Harbinger wollte etwas erwidern, doch der Mann langte bereits nach dem Griff einer Pistole, die in seinem Hosenbund steckte. Blitzschnell zog Harbinger seine eigene Waffe hervor, drückte sie gegen den Handrücken des Türstehers und drückte ab. Der Getroffene schrie schmerzerfüllt auf, als Blut aus seiner Hand ronn, während Harbinger die Waffe des Türstehers an sich riss.
»Noch einmal« brüllte er »Wo ist sie?«
»Sie... ist drin« antwortete der Türsteher keuchend.
»Vielen Dank« fügte Harbinger hinzu, bevor er dem Mann einen Pistolengriff gegen die Schläfe schlug.
Wie ein gefällter Baum stürzte der Getroffene zur Seite und blieb liegen. Harbinger stieg über seinen Körper und betrat die Fabrik.
Dämmerlicht fiel durch schmutzige Fenster, während er zwischen riesigen Pappkartons hindurch schlich. Ein paar Männer liefen umher und bewachten den Raum, doch Harbinger konnte ihnen problemlos aus dem Weg gehen. Er bahnte sich seinen Weg durch die Gassen, die von den Kisten begrenzt wurden, bis er an eine Tür gelangte, neben der ein kleiner Tisch stand. Auf der Tischplatte lag eine Auswahl verschiedener Anbauten für Pistolen.
»Nicht schlecht« murmelte Harbinger und ergriff zwei Schalldämpfer, die er auf seine Waffen schraubte.
Mit den modifizierten Waffen in den Händen trat er wieder an die Tür und warf einen Blick durch das kleine Fenster, das in das Holz eingelassen war.
Laurel kniete auf dem Boden des kleinen Raumes, der dahinter lag. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt und frische Prellungen zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. Vor ihr stand ein mittelgroßer Mann, der sie ärgerlich anfunkelte.
»Okay, noch einmal, du Nutte« rief er »Wer hat dich geschickt?«
»Niemand hat mich geschickt« antwortete sie in einem Tonfall, der Harbinger das Gefühl gab, dass sie diese Antwort schon mehrere Male gegeben hatte »Ich bin nur gekommen, um eine Lieferung abzuholen.«
»Lügnerin« schrie der Mann und schlug Laurel ins Gesicht.
Zornig steckte Harbinger die nunmehr schallgedämpfte Beretta in eine seiner Manteltaschen. In eisiger Wut ergriff er die Türklinke und stieß sie auf. Die andere Waffe hob er langsam und richtete sie auf den Mann, der Laurel geschlagen hatte.
»Lass‘ sie in Ruhe, du Arschloch« presste er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
Blitzschnell zog sein Gegenüber einen Revolver und drückte ihn gegen Laurels Stirn.
»Lass‘ die Waffe fallen, oder die Schlampe ist tot« erwiderte er.
Harbinger zauderte. Er hatte die Waffe noch immer auf den anderen Mann gerichtet.
»Ich sage es nicht nochmal« fuhr dieser fort.
Seufzend ließ Harbinger die Pistole zu Boden fallen, woraufhin der andere Mann mit einem bösartigen Grinsen seinen Revolver von Laurels Stirn wegzog.
»Gut so« sagte er lachend »Und jetzt-«
Weiter kam er nicht. Harbinger hatte die Beretta gezogen und sofort geschossen. Die Kugel durchschlug die Stirn des Mannes und verteilte sein Gehirn an der Wand. Die Leiche sank zu Boden, während ein Rinnsal aus Blut über ihr Gesicht lief.
»Du schaffst es wirklich dich in Schwierigkeiten zu bringen, Laurel« bemerkte Harbinger.
»Sie wurden gewarnt« brachte Laurel hervor, während er auf sie zukam und ihre Hände losband »Irgend jemand hat ihnen gesagt, dass ich kommen würde. Der Mistkerl, den du gerade erschossen hast, hat mich verprügelt, weil er wissen wollte, wer mich hier her geschickt hat.« Sie warf einen Blick auf den Mann, der sie geschlagen hatte. »Noch einer. Du entwickelst dich langsam aber sicher zum Massenmörder, Alex.«
»Massenmörder töten nur Unschuldige.« Er half ihr auf die Füße. »Jeder, den ich umbrachte, war selbst daran schuld. Es gefällt mir nicht, zu töten. Aber bislang hatte ich fast nie eine Wahl.«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir sollten schleunigst verschwinden. Ich habe dem Türsteher die Hand durchschossen und ihn niedergeschlagen. Aber er ist ein kräftiger Kerl und wird nicht lange schlafen. Wir schnappen uns ein paar Waffen und gehen.«
»Gut« antwortete Laurel.
Sie kniete sich neben die Leiche des Mannes und entwand ihr den Revolver. Gemeinsam verließen sie den kleinen Raum und kehrten in die Gänge zurück, die zwischen den großen Pappkartons verliefen.
Sie gingen den Wächtern aus dem Weg, was sich als nicht besonders schwierig erwies. An einem Stapel kleiner Kisten hielt Harbinger an. Wortlos öffnete er den Karton und warf einen Blick hinein. Laurel warf ihm einen fragenden Blick zu, als er den Kopf wieder hob. Er nickte und hob den Karton auf die Schulter. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er ihr, weiter zu gehen.
Der Türsteher lag noch immer in der offenen Tür. Harbinger und Laurel stiegen über seinen Körper und traten hinauf auf die Straße, an der zu beiden Seiten gerade die Straßenlaternen eingeschaltet wurden.
»Wohin gehen wir?« fragte Laurel, als sie den Bürgersteig entlang an den langsam fahrenden Autos vorbei gingen.
»Wir haben Waffen« antwortete er »Nach dem, was ich gesehen habe sogar ziemlich viele. Aber wir brauchen Munition. Aber erst sollten wir die Ausrüstung besser verstauen und diesen Karton loswerden.«
»Ich kenne ein Waffengeschäft in der Nähe« sagte Laurel »Da können wir Munition bekommen. Unterwegs finden wir bestimmt eine Möglichkeit uns dieses Pappding vom Hals zu schaffen.«
»Gehen wir dort hinüber.« Harbinger deutete auf eine Sackgasse, die von der Hauptstraße abzweigte. »Dort dürfte uns niemand stören.«
Sie bogen in die Gasse ein. Auf dem schneebedeckten Asphalt standen mehrere Müllcontainer, neben denen sich Unrat stapelte. Harbinger warf den Karton auf den Boden und öffnete ihn. Wortlos griff er hinein.
»Das dürfte was für dich sein« murmelte er und reichte Laurel eine Ingram Maschinenpistole.
Wortlos förderte er eine Desert Eagle und zwei Colt 1911s hervor, die er unter seinem Mantel verstaute, gemeinsam mit einer Mossberg Shotgun. Eine weitere Desert Eagle übergab er an Laurel, bevor er ein letztes mal in den Karton griff.
»Wozu sollten wir sowas brauchen?« fragte Laurel, als Harbinger einen Enterhaken, an den ein langes Seil gebunden war, heraus holte.
»Ich habe keine Ahnung« gestand Harbinger »Aber vielleicht wird es noch nützlich.«
Mit einem Schulterzucken schob er auch den Haken unter seinen Mantel und warf den leeren Karton in die Richtung eines der Müllcontainer. Er drehte sich um und ging mit Laurel zusammen zurück auf die Straße. Ob der Karton tatsächlich den Container erreichte interessierte ihn nicht.
Es gab wichtigeres, worüber er nachdenken musste.

Harbinger
29.04.2005, 12:32
Intermezzo 3 - Solitude (Candlemass)

Earth to earth
Ashes to ashes
And dust to dust
And please let me die in solitude

Die falsche Krankenschwester führte Patient Nummer 759 durch die ruhigen dunklen Gänge seines Gefängnisses. In ihrer Hand ruhte eine kleine Pistole, die sie gesenkt hielt, so dass sie nicht direkt zu sehen war. Der Patient war jetzt in einen unauffälligen grauen Pullover und Jeans gekleidet.
»Es war nicht leicht, dich zu finden« sagte sie leise »Ich habe mich gleich daran gemacht, nachdem ich meine Schwester an eurem speziellen Ort begraben hatte. Aber es hat eine ganze Weile gedauert.«
»Wie lange bin ich schon hier?« fragte er.
Sie schwieg einen Augenblick.
»Eine Woche« wisperte sie schließlich.
»Eine Woche?« Er fluchte leise. »Sie haben mich mit Drogen vollgepumpt, so dass ich mein komplettes Zeitgefühl verloren habe.«
»Keine Sorge. Jetzt habe ich dich ja gefunden und ich bringe dich hier raus, damit du meine Schwester rächen kannst.«
»Das werde ich, so bald wir hier raus sind« schwor er.
Sie erreichten den Ausgang des Gebäudes, in dem Patient Nummer 759 gefangen gewesen war. Die Wachmänner warfen einen kurzen Blick auf die falsche Krankenschwester, bevor sie die Tür öffneten. Das Paar ging hindurch, den Weg davor entlang.
Als der Patient sich noch einmal umdrehte sah er, dass einer der Wachmänner einen Telefonhörer in der Hand hielt und mit seinem Kollegen sprach, während er hastig auf die Krankenschwester und den Patienten zeigte.
»Wir sind aufgeflogen« bemerkte der Patient und ergriff die Hand der falschen Krankenschwester.
Er hörte, wie die Tür aufgestoßen wurde und rannte los. Fluchend zerrte er die Frau mit sich, während die ersten Kugeln rund um die beiden einschlugen.
Sie erreichten die Sicherheit der Hauptstraße. Ein Hochhaus bot ihnen Schutz. Der Patient riss die Tür auf und stürzte in die Eingangshalle.
»Geschafft« keuchte er.
Ihre Antwort war ein schmerzerfülltes Stöhnen.
»Was ist los?« fragte er beunruhigt.
Sie drückte eine Hand kurz auf den Bauch und zeigte sie dem Patienten. An der zitternden Handfläche klebte frisches Blut.
»Verdammt« rief er »Wie ist das passiert?«
»Eine Kugel...« flüsterte sie schwach »Ich wurde getroffen...«
Sie begann am ganzen Körper zu zittern und keuchte schwach.
»Jetzt bist du auf dich alleine gestellt« wisperte sie »Viel Glück.«
Mit einem letzten Seufzen schloss sie die Augen und starb. Fluchend hob der Patient sie auf die Arme und trug ihre Leiche schnell aus der Eingangshalle fort. Die tote Frau auf den Armen schritt er die Hauptstraße entlang. Die Menschen gingen ihm aus dem Weg, kümmerten sich jedoch nicht um ihn. Schweigend trug er sie hinaus in die Dunkelheit der Stadt.

Harbinger
07.05.2005, 15:03
Kapitel 7 - Sadness And Hate (Wintersun)

My thoughts are captured by the magical chants
Of the spirits, but i cannot see them with these dead eyes
Lost I am in these dismal streams
Lost I am forever in my life

»Wie weit ist es von hier aus bis zu dem Ort, an dem Curtis sich befindet?« fragte Harbinger mit einem Blick auf das schäbige Schild, auf das eine Schrotflinte gezeichnet war.
»Ungefähr zwei Meilen« antwortete Laurel, die neben ihm ging »Wir brauchen nicht viel mehr als zwanzig Minuten. In einer halben Stunde wirst du deine Rache haben, Alex.«
»Hoffentlich« brummte er.
Sie erreichten die dreckige Holztür, die in das innere des Waffenladens führte. Harbinger öffnete sie und hielt sie für Laurel offen. Wortlos traten sie nacheinander ein.
»Bin sofort für Sie da« rief ein fetter Mann, der hinter einer Theke saß, ihnen zu.
Sie traten an ihn heran und warteten, während er eine Beretta auf Hochglanz polierte.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er schließlich, als er den Blick hob.
»Wir benötigen Munition« antwortete Harbinger knapp.
»Welche Kaliber?« fuhr der Verkäufer abschätzend fort.
»Schrotpatronen, Munition für Desert Eagle, Colt 1911 und Ingram.«
»Müssten wir da haben« brummte der Verkäufer »Aber erst brauche ich Ihren Ausweis, Sir.«
Harbinger zog seine Brieftasche hervor und warf einen Blick hinein. Er fand seinen Ausweis zwischen den Geldscheinen und zog ihn heraus. Ohne etwas zu sagen reichte er ihn dem Verkäufer, der die Plastikkarte ergriff und eine kleine Zahl ablas. Schnell tippte er sie in einen Computer ein und starrte kurz auf den Bildschirm.
»Ungültig« murmelte er schließlich mit einem Blick auf Harbinger »Ihr Ausweis ist nicht eingetragen. Ich kann Ihnen nichts verkaufen.«
»Wie meinen Sie das, nicht eingetragen?« fragte Harbinger heftig »Das ist unmöglich.«
»Ich habe nachgeschaut« erklärte der Verkäufer »Sie sind nicht registriert. Ihr Ausweis zumindest nicht. Entweder hat jemand bei der Eintragung Mist gebaut... oder Ihr Ausweis ist gefälscht, was ich allerdings nicht glauben möchte.« Er grinste Harbinger an. »Tut mir leid, aber so oder so kann ich ihnen nichts verkaufen.«
»Und jetzt?« wandte Harbinger sich an Laurel.
»Ich habe meinen Ausweis auch dabei« antwortete sie und reichte ihn dem Verkäufer.
Der Fette ergriff Laurels Plastikkarte und tippte auch hier die Nummer in den Computer ein.
»Gültig« bemerkte er schließlich »Verkaufen kann ich Ihnen trotzdem nichts.«
»Wieso nicht?« fuhr Harbinger ihn gereizt an.
»Weil Ihre Freundin dort nicht ganz clean ist« antwortete der Verkäufer ruhig »Sie hat eine Drogenvergangenheit.«
Harbinger wirbelte herum und starrte Laurel an.
»Ich bin clean« fauchte sie »Ich habe Drogen genommen, nachdem mein Verlobter verschwunden war. Du denkst doch nicht, dass ich einfach so von einer Sekunde auf die andere eine Nutte werden konnte, oder?«
Er setzte zu einer Antwort an, wusste jedoch nicht, was er sagen sollte.
»Wenn ich total zugedröhnt war konnte ich es ertragen« fuhr sie mit ernstem Gesichtsausdruck fort »Das war die einzige Möglichkeit für mich, diese Zeit durchzustehen. Ich konnte mit diesen Leuten nur schlafen, wenn ich nichts gespürt habe. Es widerte mich an, aber ich war machtlos.«
»Leuten?« fragte Harbinger, der sie noch immer anstarrte.
»Leuten« antwortete sie »Männer, Frauen, jeder, der mir genug Geld geboten hat. Denkst du nicht, dass das hier der falsche Ort ist, das zu diskutieren, Alex?«
Er brauchte einen Augenblick, bevor er sich wieder zusammengerissen hatte, dann wandte er sich wieder dem Verkäufer zu.
»Sehr interessant« murmelte der Fette »Aber ich kann Ihnen noch immer nichts verkaufen. Tut mir leid, Regeln sind Regeln.«
»Sie bestehen also darauf« antwortete Harbinger bedrohlich leise.
»Ich muss wohl.« Der Verkäufer zuckte mit den Schultern. »So sind die Vorschriften. Nicht, dass irgend jemand so etwas regelmäßig kontrollieren würde, aber wenn ich Ihnen jetzt Munition verkaufen würde und das rauskäme, dann könnte ich meine Lizenz an den Nagel hängen.«
Harbinger seufzte und griff in seine Manteltasche.
»Wenn Sie es so wollen« murmelte er und zog die schallgedämpfte Beretta, die er auf den Verkäufer richtete.

»Du Idiot« brüllte Laurel Harbinger an, während sie den Bürgersteig entlang rannten »Warum musstest du den Typen überfallen?«
»Es war der einzige Weg« rechtfertigte er sich.
»Es hätte Dutzende von Wegen gegeben« brauste Laurel auf »Wir hätten ihm zum Beispiel nur etwas mehr Geld anbieten müssen. Er wäre darauf eingegangen.«
Sie hasteten weiter, bogen in eine andere Hauptstraße ein und direkt wieder in eine Seitenstraße, wo sie sich keuchend an eine Wand lehnten. Harbinger hatte die Beretta wieder eingesteckt und trug einen Sack gefüllt mit Munition bei sich. Er holte einige male tief Luft, bevor er in sich zusammen sank und zu lachen begann.
»Du findest das auch noch lustig?« Laurel sah auf ihn herunter und schüttelte den Kopf. »Männer!«
»Gib doch zu, dass es Spaß gemacht hat« antwortete Harbinger noch immer lachend.
»Spaß gemacht? Einen Waffenverkäufer zu überfallen?« Sie sah ihn einen Augenblick an, bevor auch sie plötzlich in Gelächter ausbrach und an ihn sank. »Ja, es hat Spaß gemacht.«
Lachend klammerte sie sich an Harbinger, der auf dem schneebedeckten Boden saß. Es dauerte eine geraume Weile, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatten.
»Aber wir wollen das bloß nicht zur Gewohnheit werden lassen« mahnte Harbinger schließlich grinsend »Es war immerhin hochgradig illegal.«
»Natürlich nicht« bestätigte Laurel ebenfalls grinsend.
»Was tun wir jetzt, Laurel?« fragte Harbinger plötzlich todernst »Wirst du mich jetzt zu Curtis bringen, damit ich ihn umbringen kann?«
»Das war der Plan« antwortete Laurel ebenso ernst »Wir gehen dort hin und du bekommst deine Rache.«
»Schön« murmelte Harbinger.
Er stand auf und klopfte sich den Schnee vom Mantel. Mit erstarrten Gesichtszügen half er Laurel auf. Schweigend gingen sie die Straße entlang weiter. Die Stille um sie herum wurde beinahe greifbar, als ihnen klar wurde, dass sie die einzigen auf dieser Straße waren.
»Warum sind keine Menschen auf der Straße?« platzte Harbinger schließlich heraus.
»Ich weiß nicht« antwortete Laurel »Obwohl...«
In diesem Augenblick trat eine Kolonne von bewaffneten Männern und Frauen vor ihnen auf die Straße. Harbinger wich zurück und blickte über die Schulter. Eine weitere Gruppe betrat hinter ihnen den Schauplatz.
»Krieg« rief Laurel erschrocken aus »Ich hätte es merken sollen. Es muss angekündigt worden sein. Deswegen ist niemand auf der Straße.«
»Was ist hier los, Laurel?« stieß Harbinger hervor »Ich verstehe nicht...«
»Zwei Gangs, die Krieg gegeneinander führen. Und mir scheint, wir sind direkt in eine ihrer Schlachten hineingeraten.«
Schnell ergriff sie Harbingers Unterarm und rannte von der Straße. Dabei zog sie Harbinger mit sich. In diesem Augenblick wurden die Pistolen und Gewehre gehoben, während andere Straßenkrieger Schwerter, Knüppel und Äxte zogen.
»Wir müssen aus ihrer Schusslinie« rief Laurel atemlos »Mit ein bißchen Glück achten sie nicht auf uns.«
Die junge Prostituierte zog sich in einen Hauseingang zurück und zog Harbinger mit sich.
In diesem Augenblick brach die Hölle los.
Ein Kugelhagel senkte sich über den Asphalt der Straße, während die Nahkämpfer losstürmten.
»Wieso tun sie sowas?« brüllte Harbinger über den Kampflärm.
»Sie wollen die Macht in diesem Stadteil an sich reißen« erklärte sie, während sie sich dicht an die Wand drückte »Es gibt hier drei Gruppierungen. Curtis‘ Bande, eine Gang unter der Leitung eines Mannes, der sich Kalayo nennt und die Anarchisten.«
»Ich sehe keine Mexikaner da draußen« rief Harbinger »Sind das die Anarchisten und Kalayos Männer?«
Laurel warf einen vorsichtigen Blick auf die Straße, bevor sie langsam nickte.
»Was tun wir jetzt?« Harbinger schaute auf das Schlachtgetümmel. »Warten wir und hoffen, dass sie uns ignorieren?«
Eine Kugel schlug an der Wand des Hauses ein, in dessen Eingang die Beiden Schutz gesucht hatten. Dann eine weitere, die funkensprühend an der Fassade abprallte.
»Ich glaube, das können wir uns nicht leisten, Alex« antwortete Laurel, während sie ihre Desert Eagle zog »Wir müssen uns wohl verteidigen.«
Mit einem nicken zog Harbinger seine Colt 1911s, bückte sich nach dem Munitionssack und holte zwei Magazine hervor. Er lud die Waffen und drückte sich an die Wand, während weitere Kugeln gegen ihre Deckung hagelten.
»Bereit?« fragte er, als Laurel ihre Desert Eagle geladen hatte.
»Bereit« bestätigte sie.
Vorsichtig wagten sie sich aus dem Hauseingang und sahen über die Schlacht, die auf der Schneebedeckten Straße tobte. Der aufgewühlte Schnee war blutig rot unter den Füßen der kämpfenden Männer und Frauen. Sterbende wälzten sich auf dem Boden zwischen den Leichen derer, die bereits gefallen waren. Überall standen Schützen mit den verschiedensten Waffen. Sie hielten sich weiter entfernt vom Zentrum der Schlacht, in dem Stahlklingen in einem Funkenregen aufeinander trafen.
Harbinger sah zwei Männer, die mit ihren Revolvern auf ihn zielten. Blitzschnell hob er seine Waffen und drückte beinahe gleichzeitig ab. Eine Kugel durchschlug den Unterleib eines der Männer, der andere erhielt eine blutenden Schusswunde an der Schulter. Mit einer gewissen Befriedigung steckte er eine der Pistolen unter seinen Mantel.
»Schnell« zischte Harbinger Laurel zu.
Gemeinsam verließen sie die Deckung und liefen an der Häuserfassade entlang, die Waffen erhoben und den Blick wachsam umherschweifend. Eine Frau, die ein langes Schwert mit breiter Klinge schwang, sprang in ihren Weg und schlug nach Harbinger, der vor den Hieben zurückwich. Laurel reagierte sofort, stieß Harbinger beiseite und rammte den Griff ihrer Desert Eagle in das Gesicht der Angreiferin. Die Frau taumelte zurück und Laurel senkte die Pistole. Sie zog den Abzug und jagte eine Patrone durch das Knie der Frau, die schmerzerfüllt das Schwert zu Boden fallen lief.
»Alex« rief Laurel, während sie der Frau ins Gesicht trat »Nimm das Schwert.«
Er überlegte nicht lange sondern bückte sich nach der primitiven Waffe, die neben dem bewußtlosen Körper der Angreiferin lag. Mit dem Schwert in der Hand eilte er weiter.
»Wozu das Schwert?« fragte er Laurel über den Lärm hinweg.
»Hast du unbegrenzte Munition?« war ihre Antwort »Du brauchst vielleicht jede einzelne Kugel, wenn du Curtis begegnest.«
Sie liefen weiter an den kämpfenden Gangmitgliedern vorbei und versuchten nicht auf die Schreie, die von Schmerz und Angst kündeten, zu ignorieren. Zwei Krieger gerieten in ihren Weg. Harbinger schlitzte den Arm eines Gegners mit dem Schwert auf, während Laurel dem anderen die Pistole in den Bauch drückte und schoss. Beide fielen zu Boden und der Weg war frei.
Harbinger ließ auch die zweite Pistole verschwinden und ergriff, das Schwert noch gezogen, Laurels Hand.
»Gehen wir?« schlug Harbinger vor, während er die junge Frau hinter sich her zog.
»Klar« antwortete sie und schloss zu ihm auf »Lass uns verschwinden.«
Sie rannten los, auf die Hauptstraße zu, aus der sie gekommen waren.
»Zwei wollen fliehen!« hörte Harbinger einen Ruf weit hinter sich »Holt sie euch!«
Er warf im Rennen einen Blick über die Schulter. Eine der Gangs war offensichtlich siegreich gewesen. Ihre Feinde lagen im blutigen Schnee und Männer und Frauen mit Schwertern gingen durch die Reihen und töteten die Verwundeten. Auf den Ruf hin wandten sie sich den Fliehenden zu und nahmen waffenschwingend und brüllend die Verfolgung auf.
»Beeilen wir uns, Laurel« wies Harbinger sie an und mobilisierte seine Kräfte.
Sie rannten auf die Hauptstraße, schlängelten sich zwischen den wartenden Autos hindurch und verschwanden in einer anderen Straße auf der anderen Seite. Die Straßenkämpfer folgten ihnen, kletterten über Motorhauben und betraten dieselbe Straße hinter ihnen.
»Wir werden sie nicht los« rief Laurel Harbinger zu.
»Dann suchen wir einen Ort, den wir verteidigen können« bestimmte er.
Er zog Laurel in eine enge Seitengasse. Sie mussten hintereinander laufen, da nicht genug Platz war, nebeneinander zu gehen.
»Dieser Ort ist gut« entschied Harbinger und ließ Laurel vorbei »Bleib‘ hinter mir und erschieß‘ alles, was zu nahe ran kommt.«
Sie nickte zustimmend und ging etwas weiter die Gasse entlang.
Die ersten Kämpfer kamen mit erhobenen Waffen in die Gasse. Harbinger begab sich in Verteidigungsposition und hob das Schwert. Mit der anderen Hand griff er unter seinen Mantel und holte eine Colt 1911 hervor. Ein Schuss war verbraucht, das gab ihm noch sechs weitere. Er würde mindestens sechs von den Angreifern mitnehmen.
Der Erste stürmte auf Harbinger ein. Der Verteidigende ließ die Klinge des Kämpfers harmlos an seinem eigenen Schwert abgleiten und hob die Pistole. Eine Kugel durchschlug die Brust des Angreifers und tötete ihn auf der Stelle. Ein weiterer Schwertschwinger griff Harbinger an, doch dessen Klinge durchstieß schon mit dem ersten Stich seinen Körper.
Und dann tauchte unerwartete Hilfe für Harbinger auf. Von einem der schäbigen Häuser, die zu beiden Seiten der Gasse standen, ließen sich zwei dunkle Gestalten fallen, einer in einem langen Mantel, dessen Kapuze tief ins Gesicht gezogen war, der andere in einem mottenzerfressenen Umhang. Es waren Tom Wittmore und Morrec, die mit gezogenen Schwertern auf die Angreifer stürzten. Mit den blanken Waffen hieben sie auf die Feinde ein, rissen tiefe Wunden in ihre Körper und vertrieben sie aus der engen Gasse. Blut spritzte in den Schnee am Boden und an die Wände der heruntergekommenen Häuser, als die restlichen Angreifer blutend zurück zu ihren Freunden flohen.
»Alles in Ordnung, Dante?« fragte Wittmore, als er sein blutiges Schwert an der Kleidung eines der Toten abwischte.
Der Mann in dem schäbigen Umhang hatte einen Verband um die Brust gewickelt, der an der Stelle, an der die Kugel ihn getroffen hatte, blutgetränkt war.
»Ja« antwortete Harbinger misstrauisch »Das ist Morrec?«
»Ich bin in der Tat Morrec« erwiderte der Mann in dem langen Mantel mit angenehmer tiefer Stimme »Und du bist Alexander Harbinger, manchmal auch Dante genannt. Die Zeit ist knapp, mein Freund. Du musst zu Curtis gehen. Tom und ich werden Kalayos Männer aufhalten, damit du und Laurel fliehen können. Glaub‘ mir, sie werden wiederkommen.« Er blickte an Harbinger vorbei, direkt in Laurels Augen. »Hallo Laurel.«
»Hallo Morrec« antwortete sie »Warum die Maskerade?«
»Es ist nötig, Laurel« antwortete Morrec und seine Stimme klang fast traurig »Ich werde es dir irgendwann erklären. Vielleicht schon bald. Aber jetzt müsst ihr gehen.«
Mit diesen Worten wirbelte Morrec herum und schritt gefolgt von Wittmore davon.
»Warum helfen sie mir?« fragte Harbinger mehr an sich als an Laurel gewandt.
»Das wissen auch wir nicht, Alex« antwortete Miranda, die gemeinsam mit Jack an Harbingers Seite erschien »Aber mit einer Sache hatte dieser Morrec Recht. Du musst gehen, bevor diese Straßenkämpfer zurückkommen.«
»Also soll ich jetzt zu Curtis gehen, Miranda?«
»Ja. Die Zeit ist gekommen, Geliebter. Lass dich von der Nutte zu ihm führen und dann töte ihn.«
»Töte ihn für uns, Alex« fuhr Jack fort »Es wird nichtmehr lange dauern. Schon bald wird deine Rache erfüllt sein.«
»Gut« entschied Harbinger mit einem entschlossenen Nicken, während er sich zu Laurel wandte »Gehen wir los.«
Sie starrte ihn an, während Jack und Miranda wieder verblassten.
»Waren das wieder deine Einbildungen?« fragte sie leise.
»Das waren zwei von ihnen« erwiderte Harbinger »Das waren die beiden angenehmsten Erscheinungen. Die anderen sind eher...« Er hielt für einen Augenblick inne. »Ich würde sagen, sie sind gewöhnungsbedürftig.«
»Alex...« sagte Laurel nach einer kurzen Pause »Du hast es wieder getan.«
»Was meinst du, Laurel?« fragte er leise.
»Du hast noch zwei Männer getötet. Alex, wie fühlst du dich, wenn du daran denkst?«
»Ich fühle nichts« antwortete er mit einer tiefen Trauer in der Stimme »Ich wünschte, ich könnte mich schlecht deswegen fühlen. Aber das tue ich nicht. Ich habe die Grenze des Schuldgefühls überschritten. Das Töten ist nichtmehr so schlimm, wie am Anfang.« Er hielt kurz inne, als sie ihn erschrocken anstarrte. »Aber es ist beileibe nichts, was mir gefallen würde.«
Erleichtert seufzte sie.
»Okay, Alex. Gehen wir.«
Sie wandte sich um und ging los, dicht gefolgt von Harbinger.

Die Straße war verstopft von Autos, die Stoßstange an Stoßstange standen. Passanten eilten die Bürgersteige entlang und achteten so wenig wie möglich aufeinander. Harbinger und Laurel standen zwischen den Menschen, die unterwegs waren und nichts von dem Rachefeldzug ahnten, der an dieser Stelle sein Ende finden sollte.
»Das ist also Tyler Curtis‘ Hauptquartier?« fragte Harbinger leise an Laurel gewandt.
»Hier habe ich seinen Vertrauten immer getroffen« antwortete sie »Ich habe Curtis nie selbst getroffen. Aber hier wickelt er seine Geschäfte ab.«
»Schön« bemerkte Harbinger »Dann endet es also hier.«
Er blickte das Hochhaus empor, das an der Straßenseite stand. Das Gebäude ragte mehr als hundert Meter in den Himmel. Die Wände des Hochhauses bestanden vollkommen aus Fenstern. Vor dem Eingang standen mehrere bewaffnete Männer, die einige Metallrahmen bewachten.
»Metalldetektoren« murmelte Harbinger.
Er fluchte leise, während er sich die Sicherheitsvorkehrungen anschaute.
»Okay, das dürfte die Sache ein wenig verkomplizieren« bemerkte er »Ich werde keine Waffen mitnehmen können.«
»Und wie willst du Curtis dann töten?« fragte Laurel leise.
»Ich werde einfach einem der Bodyguards eine Pistole entreißen und Curtis erschießen. Fertig.«
»Du wirst sterben.«
»Ich weiß.« Er seufzte. »Eines Tages würde mir das eh bevorstehen. Du wirst meine Waffen nehmen müssen.«
Wortlos reichte er Laurel das Schwert, die Colt 1911s, die Schrotflinte und die Desert Eagle.
»Und diesen Haken werde ich auch nicht mitnehmen können« fügte er hinzu.
Er holte das Seil mit dem Haken am Ende unter dem Mantel hervor und trennte beides voneinander. Das Seil steckte er wieder ein, bevor er Laurel den Haken aushändigte.
»Vielleicht brauche ich das noch« murmelte er »Dann sollte ich wohl. Lebe Wohl, Laurel.«
»Was?« rief sie aufgebracht »Das soll es gewesen sein? „Lebe Wohl, Laurel“? Nach allem, was ich für dich getan habe, Alexander Harbinger?«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte wütend zu ihm hinauf. Einige Sekunden konnte sie die harte Fassade aufrecht erhalten, bevor sie in Tränen ausbrach und sich an seine Brust klammerte.
»Viel Glück, Alex« schluchzte sie »Tu, was du tun musst.«
»Das werde ich« antwortete er mit unbewegter Stimme »Viel Glück noch, Laurel.«
Schluchzend hob sie den Kopf und küsste ihn auf die Lippen. Dann stieß sie ihn von sich.
»Auf nimmer wiedersehen, Alexander Harbinger« sagte sie, bevor sie sich umdrehte und zwischen den Passanten verschwand.
Einen Augenblick blieb er noch unbewegt stehen, bevor er die Schultern straffte und auf den Haupteingang des Hochhauses zuging.
»Sie wollen hier rein?« fragte einer der Wächter mißmutig.
»Ich will mit Tyler Curtis sprechen« entgegnete Harbinger, der sich einen Plan zurechtgelegt hatte.
»Das kümmert mich nicht« antwortete der Wächter »Gehen Sie rein. Wenn der Metalldetektor piept haben sie drei Sekunden, um wieder rauszukommen, bevor ich Ihnen eine Kugel durch den Schädel jage.«
Unbeeindruckt schritt Harbinger durch den Metallrahmen, der keinen Ton von sich gab, als er hindurchging. Er betrat die Eingangshalle und blieb vor dem Empfang stehen.
»Ich will zu Curtis« sagte Harbinger barsch zu dem kleinen Mann, der hinter der Theke saß.
»Gehen Sie in den Aufzug, zwölfter Stock« entgegnete sein Gegenüber uninteressiert.
Innerlich angespannt durchquerte Harbinger die Eingangshalle bis zu den Aufzügen. Eine Tür ging auf und Harbinger trat ein. Er drückte auf den Knopf für den zwölften Stock und lehnte sich an die Wand.
Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Harbinger
08.05.2005, 15:32
Kapitel 8 - Angels Don't Kill (Children Of Bodom)

When you appear, as an angel
Looking me down, looking my way
Could you ever kill the pain in my heart?
Even though they say angels don't kill

Unruhig trat Harbinger von einem Fuß auf den anderen. Er spürte die Bewegung des Aufzuges in seinem ganzen Körper und dieses Gefühl vermischte sich mit seiner Nervosität. Er war nervös. Er war es nicht gewesen, als er das Hochhaus betreten hatte, doch jetzt griff die kalte Hand der Angst nach seinem Herzen. Obwohl er seinen Entschluss bereits gefasst hatte, spürte er etwas, das er seit einem Tag nicht gefühlt hatte: Angst vor dem Tod.
Er würde sterben, das war der einzige Gedanke, der in seinem Kopf kreiste. Er war sich dessen gewiss. Und er fürchtete sich davor.
Der Fahrstuhl hielt an und ein Piepton war zu hören. Harbinger spannte alle seine Muskeln an. Er durfte sich keine Nervosität anmerken lassen. Er wusste nicht, ob Tyler Curtis ihn erkennen würde, wenn sie einander gegenüberstehen würden. Doch wenn das der fall wäre, müsste er schnell handeln.
Die Türen des Aufzuges schwangen auf und Harbinger trat hinaus in einen kurzen Gang. Von den Wänden rieselte der Putz und mehrere große Schmutzflecken bedeckten den Boden. Vor einer morschen Holztür mit verrostetem Griff und Türangeln standen zwei breitschultrige Mexikaner mit versteinerten Minen. Harbinger ging auf sie zu.
»Ich möchte mit Mister Curtis sprechen, meine Herren« begann er ohne weitere Umschweife »Ist er hier?«
»Er ist nicht hier in seinem Büro« antwortete einer der Türsteher »Aber wir können ihn herholen, wenn Sie mit ihm sprechen müssen.«
»Das muss ich« erklärte Harbinger nach kurzem Zögern »Es ist äußerst dringend.«
»Wer sollen wir sagen möchte ihn sprechen, Sir?«
»Tom Wittmore« log Harbinger ruhig, den ersten Namen aussprechend, der ihm in den Sinn kam »Sagen Sie ihm, dass Thomas Wittmore mit ihm sprechen muss.«
Ohne ein weiteres Wort ging der Türsteher an Harbinger vorbei und trat in den Fahrstuhl. Sein Kollege öffnete die morsche Tür.
»Sie können dort warten« sagte er zu Harbinger »Das ist Mister Curtis‘ Büro.«
»Danke« murmelte Harbinger und betrat den Raum.
Das Büro war ähnlich heruntergekommen wie der Gang, der ihn dorthin geführt hatte. Der Raum war eng und die Wände untapeziert. Ein schwerer Holzschreibtisch und ein rostiger Drehstuhl waren die einzigen Einrichtungsgegenstände, die Harbinger in dem Halbdunkel des unbeleuchteten Raums ausmachen konnte. Durch die Fensterwand auf der gegenüberliegenden Seite, durch die bleiches Mondlicht in den Raum fiel, konnte Harbinger die Lichter der Stadt und den Hafen in der Nähe sehen. Von hier aus wirkten die Straßen friedlich, doch Harbinger hatte gesehen, wie sie wirklich waren. Er ging auf die Fensterwand zu und schaute hinaus.
Das Büro befand sich im zwölften Stockwerk und lag damit höher als einige der kleineren Hochhäuser in der Gegend. Harbinger konnte die Dächer der Gebäude sehen, den Schnee, der darauf lag. Er ließ den Blick schweifen und haftete die Augen schließlich auf ein nahes Dach. Ihm war, als würde er eine Bewegung darauf sehen. Er kniff die Augen zusammen, um mehr sehen zu können.
»Wunderbarer Ausblick, nicht wahr?«
Leicht erschrocken wirbelte Harbinger herum. In einem schwarzen Ledersessel neben der Tür saß ein großer Mexikaner mit langen schwarzen Haaren und einem sauber gestutzten Bart. Er hatte breite Schultern und muskulöse Oberarme. So wie es aussah, hatte Harbinger ihn übersehen, als er hereingekommen war.
»Sie wollen mit Tyler Curtis sprechen?« fragte der Mexikaner mit akzentfreier Stimme.
»Das hatte ich vor« antwortete Harbinger vorsichtig »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist unwichtig. Ich bin Mister Curtis‘ engster Vertrauter und ich wickle die weniger wichtigen Geschäfte für ihn ab. Ich begutachte zum Beispiel die Leute, die ihn sprechen wollen. Sie sollten vorsichtig sein, wenn sie mit unserem Boss sprechen. Wenn seine Bodyguards, zu denen ich mich übrigens auch zähle, auch nur den Verdacht haben, dass sie Mister Curtis gefährlich werden könnten, dann werden sie nicht lange zögern, sondern Sie direkt erschießen.«
»Das Büro ist nicht sonderlich beeindruckend« bemerkte Harbinger, ohne auf die verschleierte Drohung des Mexikaners zu achten »Warum residiert Mister Curtis in so bescheidenen Umständen, wenn er so mächtig ist?«
»Das Geschäft läuft schlecht.« Der Mexikaner zuckte mit den Schultern. »Die Anarchisten gewinnen an Macht und Kalayo setzt uns heftig zu. Er hat sich mit einem der Großindustriellen verbündet, heißt es auf der Straße. Ich weiß nicht, was an den Geschichten dran ist, aber möglich ist alles. Aber genug von mir, wer sind Sie?«
»Ich bin Thomas Wittmore« antwortete Harbinger, der an seiner Geschichte festhielt »Ich habe zufällig eine Schlacht zwischen Kalayos Straßenkriegern und einer Abordnung der Anarchisten beobachtet. Ich dachte, die Sache könnte interessant für Mister Curtis sein.«
»Wer hat Sie hier her geführt, Sir?« fragte der große Mexikaner weiter »Wenn Ihnen die Frage genehm ist.«
»Sagt Ihnen der Name „Desdemona“ etwas?«
»Ah, Laurel. Ich kenne sie. Ich habe schon Geschäfte mit ihr gemacht.«
»Laurel hat mir davon erzählt, als sie mich herbrachte. Aber lassen wird doch dieses Geschwätz. Kommen wir zur Sache. Wann wird Mister Curtis hier sein?«
»Ich weiß es nicht. Er kann jeden Augenblick hier auftauchen, aber wenn er mal wieder kopfüber in ein Bierfass gestürzt ist, kann es eine Weile dauern, bis seine Jungs ihn präsentabel bekommen. Setzen Sie sich ruhig, Mister Wittmore.«
»Ich stehe lieber, danke.«
Schweigend warteten sie. Harbinger ging ungeduldig auf und ab und blickte ab und zu durch das große Fenster hinaus in die Nacht. Er versuchte die Uhrzeit einzuschätzen. Es war wohl kurz vor Mitternacht. Nichtmehr lange und der 22. Dezember würde anbrechen. Einen Augenblick überlegte Harbinger, ob er zwei oder drei Tage vor Weihnachten sterben würde, doch er verdrängte diese düsteren Gedanken.
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Der Wächter, mit dem Harbinger sich vor der Tür unterhalten hatte, trat ein, dicht gefolgt von zwei weiteren Bodyguards. Hinter ihnen schwankte ein kleiner fetter Mexikaner mit Halbglatze in einem fleckigen weißen Anzug.
Harbinger starrte seinem Erzfeind direkt ins Auge. Tyler Curtis war in seiner Reichweite.
Die drei Bodyguards stellten sich links und rechts entlang der Tür auf. Curtis schwankte an ihnen vorbei und setzte sich an den Schreibtisch. Harbinger bemerkte, dass er stark nach Bier roch.
»Worum geht es?« fragte er mit schwerer Zunge.
Der große Mexikaner, der in dem Ledersessel gesessen hatte, stand auf und ging auf den Schreibtisch zu. Harbinger schloss sich ihm an.
»Das ist Thomas Wittmore, Mister Curtis« stellte er Harbinger vor »Er hat Informationen für Sie, über eine Schlacht zwischen den Anarchisten und Kalayos Männern.«
»Sie vernichten sich also gegenseitig?« Tyler Curtis lachte, ein unangenehmes Geräusch, das von gelegentlichem Grunzen durchzogen wurde. »Schön, dann muss ich das nichtmehr tun. Also, Wittmore, erzählen Sie.«
Harbinger warf einen Seitenblick auf den schwarzhaarigen Mexikaner, der neben ihm stand. Im Gürtel des Mannes steckte eine Beretta, an der Harbingers Blick haften blieb. Er sah seine Chance.
»Sie sind auf einer der Hauptstraßen aufeinander getroffen« berichtete Harbinger, als er den Blick wieder auf den kleinen Mann hinter dem Schreibtisch richtete »Dort haben sie die Schlacht begonnen.«
»Wer hat gewonnen?« fragte Curtis mit glasigem Blick.
»Kalayos Männer haben die Anarchisten restlos abgeschlachtet.«
»Haben sie viele Soldaten verloren?«
»Ich weiß es nicht genau. Es waren ziemlich viele Leichen. Sie sind nicht ungeschoren davongekommen.«
Als Harbinger diese Worte aussprach bemerkte er, dass der Augenblick gekommen war, auf den er gewartet hatte. Seine Worte hallten in seinem Kopf wieder, als er unauffällig die Hand zur Seite gleiten ließ.
»Und das wirst du auch nicht« presste er durch zusammengebissene Zähne, als sein Zorn ihn überwältigte.
Seine Hand schloss sich um den Griff der Beretta im Gürtel des Mexikaners neben ihm. Keiner der Bodyguards reagierte schnell genug. Harbinger riss die Pistole an sich, griff mit der anderen Hand über den Schreibtisch und packte Curtis am Kragen. Er drückte den Lauf gegen die Stirn des kleinen fetten Mannes, während er ihn über den Schreibtisch zog.
Erst als Tyler Curtis vor ihm auf dem Fußboden kniete und die Beretta auf seine Stirn gerichtet war, spürte Harbinger, wie Waffen auf ihn gerichtet wurden. Der langhaarige Mexikaner wich einen Schritt zurück und beobachtete die Szene aus einer gewissen Entfernung.
»Waffe fallen lassen« brüllte einer der Bodyguards an Harbinger gewandt.
»Ich denke ja garnicht daran« entgegnete dieser mit harter Stimme »Ich werde diesen Bastard töten.«
»Dann werden Sie auch sterben, Wittmore« gab der Mexikaner mit den langen Haaren zu bedenken.
»Das interessiert mich nicht« schrie Harbinger, bevor er ruhig fortfuhr »Und außerdem ist mein Name nicht Thomas Wittmore.« Er schaute Curtis an, der verängstigt und nunmehr vollkommen nüchtern vor ihm auf dem Boden kniete. »Du sollst wissen, wer dich tötet und warum er das tut.«
»Bitte« flehte Curtis mit quiekender Stimme »Töten Sie mich nicht.«
»Das kann ich nicht tun« war Harbingers unbarmherzige Antwort »Ich habe geschworen nicht eher zu ruhen, bis ich dich nicht umgebracht habe, Curtis.«
»Warum?« fragte Curtis ängstlich.
»Deine Killer haben mein Leben zerstört, Curtis« quetschte Harbinger zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor »Du hast sie zu meiner Wohnung geschickt. Und dort haben sie versucht mich und meine Freunde umzubringen. Das hätten sie auch fast geschafft, doch ich habe überlebt, Curtis. Ich habe überlebt und geschworen, dich zu töten. Erinnerst du dich jetzt an mich?«
»Ich erinnere mich nicht« antwortete Tyler Curtis mit schwacher Stimme »Ich kann mich nicht daran erinnern, Ihnen jemals begegnet zu sein.«
»Das sind wir, Curtis. Du bist an meine Tür gekommen und hast mir ein Ultimatum gestellt, meine Wohnung zu räumen.«
»Was?« Der kleine fette Mann fuhr auf und starrte Harbinger an. Die Angst in seinem Gesicht war Empörung gewichen. »Das ist unmöglich. Ich habe das Hauptquartier seit Wochen nicht verlassen.«
»Lügner« brüllte Harbinger und legte den Finger auf den Abzug.
Das Klicken von Waffenhähnen war zu hören, als die Bodyguards sich bereit machten, Harbinger zu erschießen.
»Zurück« wies dieser sie an »Das geht nur ihn und mich etwas an.«
Die Bodyguards wirkten unentschlossen. Sie hielten ihre Waffen noch immer auf ihn gerichtet.
»Deine Killer haben meine Freund getötet, Curtis« zischte Harbinger »Leugne das nicht.«
»Das ist möglich« gab der kleine Mexikaner zu und ein ängstlicher Ausdruck stahl sich wieder in seine Gesichtszüge »Aber dann war es keine geplante Aktion. Das muss ein Unfall gewesen sein. Aber das ist doch kein Grund, mich umzubringen.«
»Das war kein Unfall. Deine Killer haben die Wohnung gestürmt und meine Freunde erschossen. Aber sie konnten ihren Auftrag nicht beenden.« Harbinger lächelte bösartig. »Ich habe einem seine Desert Eagle weggenommen. Und ich habe ihn damit getötet. Und auch die beiden anderen sind tot, Curtis.«
»Warte« rief Curtis überrascht »Eine Desert Eagle? Meine Männer tragen keine Desert Eagles. Die Dinger sind viel zu teuer, als dass ich sie damit ausstatten könnte.«
»Was?« stieß Harbinger hervor.
»Meine Soldaten benutzen Berettas, keine Desert Eagles.«
Harbinger stutzte. Diese Erklärung verwirrte ihn ein wenig und er wußte nicht, was er jetzt tun sollte.
»Das ist eine Lüge« sagte er schließlich »Du lügst, um dein Leben zu retten, Curtis.«
»Ich lüge nicht« antwortete der kleine Mexikaner »Ich sage die Wahrheit.«
»Das glaube ich nicht« brüllte Harbinger »Ich höre mir deine Lügen nichtmehr an. Empfange deine Gerechte Strafe durch den Racheengel Alexander Harbinger.«
Er zog den Hahn nach hinten und machte sich bereit zu schießen.
»Harbinger?« rief der langhaarige Bodyguard überrascht »Du bist der, den man Harbinger nennt?«
Harbinger achtete nicht auf ihn. Er schloss die Augen und zog den Abzug ein Stück zurück.
»Warte« sagte der Bodyguard schnell »Tu das nicht. Du machst einen Fehler. Das ist nicht Tyler Curtis.«
Harbinger hielt inne.
»Was hast du gesagt?« fragte er leise.
»Der Mann dort ist nicht Tyler Curtis.«
»Aber ich kann mich daran erinnern, dass ich ihn getroffen habe. Ich erinnere mich daran, wie ich mit Tyler Curtis sprach.«
»Wenn du mir nicht glaubst, dann schau dir seinen Ausweiß an, Harbinger« fuhr der Langhaarige geduldig fort »Das ist nicht Curtis.«
»Gib mir deinen Ausweiß« befahl Harbinger dem Mann, der vor ihm kniete.
Zitternd holte der fette Mexikaner seine Brieftasche hervor und zog eine kleine Plastikkarte heraus, die er Harbinger reichte. Mit finsterer Mine warf Harbinger einen Blick darauf.
»Ricardo Claya« laß er laut.
»Das stimmt« bestätigte der Fette »Das ist mein Name. Ich bin nicht Tyler Curtis.«
»Aber wer ist dann Tyler Curtis?«
Niemand antwortete ihm.
»Was soll diese Täuschung?« fragte Harbinger, während er die Beretta wieder gegen Ricardo Clayas Stirn drückte.
»Tyler Curtis will nicht, dass die Öffentlichkeit sein Gesicht kennt« antwortete der Fette »Ich spiele seine Rolle in der Öffentlichkeit und er bleibt unbehelligt. Natürlich ist damit ein gewisses Risiko verbunden... wie man sieht.« Er lächelte nervös. »Aber Sie werden mich doch nicht töten, Mister Harbinger, oder?«
»Aber wer ist dann für das alles verantwortlich?« Harbingers Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Wer hat dann meine Freunde getötet? Wer die Killer geschickt, die mich umbringen sollten? Und von wem kamen die Söldner?«
»Wovon auch immer Sie sprechen, ich bin nicht Schuld daran« versicherte Claya schnell.
Langsam ließ Harbinger seine Waffe ein Stück sinken. Er wußte nicht, was er jetzt tun sollte. Es war wohl eher eine glückliche Fügung, dass er die leise Stimme hörte.
»Erschießt ihn erst, wenn er die Waffe nichtmehr auf Claya gerichtet hat« flüsterte einer der Bodyguards seinen Kollegen zu.
Blitzschnell hob Harbinger die Pistole wieder und ging langsam um den fetten Mexikaner herum.
»Ihr wollt mich erschießen?« fragte er erbittert »Daraus wird nichts.«
Mit der freien Hand zog er Claya auf die Füße und richtete die Pistole auf seinen Hinterkopf.
»Was tust du, Harbinger?« rief der langhaarige Bodyguard.
»Ich sichere mich ab« antwortete Harbinger.
Claya stand zwischen ihm und den Bodyguards, die ihn nicht lebend davonkommen lassen wollten. Doch sie standen auch vor der einzigen Tür, die aus dem Raum führte und schnitten ihm so den Fluchtweg ab. Nervös blickte Harbinger sich um, doch er fand keine andere Möglichkeit zu entkommen. Er saß in der Falle.
In diesem Augenblick sah er eine schnelle Bewegung und ein leichtes Leuchten aus dem Augenwinkel. Der Bewegung folgte ein furchtbarer Aufschlag an der Fensterwand des Hochhauses, der den Boden erzittern ließ. Ein riesiges Loch wurde in die Hauswand gerissen. Funken sprühten aus offenliegenden Stromkabeln, die durch den Boden verlaufen waren und kleine Feuer breiteten sich aus.
Die Bodyguards waren von der Explosion überrascht worden und zu Boden gefallen. Harbinger hatte sich im letzten Augenblick, in dem er das Geschoss, das die Wand aufgerissen hatte, sah, auf die Detonation vorbereitet. Er hatte fast das Gleichgewicht verloren, doch es war ihm gelungen, sich auf den Beinen zu halten. Geistesgegenwärtig riss er das Seil, das er noch bei sich trug, unter seinem Mantel hervor und knotete ein Ende um Ricardo Clayas Handgelenk. Das andere Ende ergriff er und hielt sich mit einer Hand daran Fest, während seine andere Hand, in der die Beretta lag, am Handgelenk in das Seilende eingewickelt war.
Mit vier Schritten hatte Harbinger das Loch in der Hauswand erreicht und er stürzte sich hindurch in die Nacht, noch bevor die Bodyguards wieder auf den Beinen waren.
Harbinger fiel zwei Stockwerke nach unten, bevor das Seil sich straffte und sein Sturz endete. Schmerzen durchzuckten seine Oberarme, als er abrupt an der Stelle hängen blieb. Plötzlich sackte er noch ein Stück nach unten, als sein Gewicht Ricardo Clayas Körper herunterzog. Dann noch ein Stück, bevor seine Position sich stabilisierte.
Die Straße lag ungefähr vierzig Meter unter Harbingers Füßen, als er sich an dem Seil hängend hin und her drehte. Auf dem Dach eines Hauses in der Nähe nahm er erneut eine Bewegung wahr. Auf dem schneebedeckten Flachdach standen zwei dunkle Gestalten, eine mehr als zwei Meter groß und in einen langen Mantel gewandt, die andere kleiner in einem mottenzerfressenen Umhang.
Grinsend bemerkte Harbinger, dass Morrec einen Raketenwerfer in seine Hand hielt und ihm damit zuwinkte.
Ein schmerzerfüllter Schrei aus dem Büro, aus dem er gerade geflohen war, machte ihn wieder auf seine Lage aufmerksam. Harbinger drehte sich an dem Seil in die Richtung der Fensterwand und stemmte die Füße gegen das Glas. Er löste die Hand, in der die Beretta lag, von dem Strick und schoss zwei Kugeln in die Fensterscheibe, bevor er sich wiederholt mit den Füßen abstieß und auf das Glas eintrat.
Die Scheibe splitterte und ein gezacktes Loch öffnete sich. Harbinger schwang ein weiteres mal zurück, bevor er das Seil losließ. Er flog ein kurzes Stück durch die Luft, bevor er in einem kleinen Raum hinter der Glasscheibe landete. Geschickt rollte er sich auf dem Boden ab und war sofort wieder auf den Beinen, die Beretta schussbereit in der Hand.
Er wusste, dass er versagt hatte. Er hätte aus den Männern den Aufenthaltsort von Tyler Curtis herausquetschen müssen, doch diese Chance hatte er vertan. Wenn er überhaupt lebend aus diesem Hochhaus herauskommen würde, so hatte er doch keinen Anhaltspunkt, wo er die Mörder seiner Freunde suchen sollte. Fluchend sah er sich in dem Raum um.
Er war in einem weiteren kleinen Büroraum gelandet, aus dem nur eine einzige Tür führte. Die Bodyguards waren sicherlich auf der Suche nach ihm. Und er wusste nicht, in welche Richtung er fliehen könnte.
»Harbinger« drang ein lauter Ruf an sein Ohr, der durch das kaputte Fenster zu sein schien.
Er erkannte die Stimme als die, des langhaarigen Bodyguards. Harbinger wirbelte herum und rannte ans Fenster.
»Was ist los?« brüllte er zurück.
»Du musst das Gebäude verlassen. Ich kann die Bodyguards nicht aufhalten, deswegen musst du sehr vorsichtig sein. Geh‘ in den Keller. Dort führt ein Weg in die Kanalisation, von wo aus dau auf die Straße kommst.«
»Warum hilfst du mir?«
Doch die Stimme war verschwunden. Harbinger wandte sich wieder von dem Fenster ab und ging auf die Bürotür zu. Die Beretta im Anschlag stieß er sie auf und trat auf den Flur davor. Niemand war zu sehen, doch eines der Lichter über der Aufzugtür, die auf den Flur führte, leuchtete auf. Schnell lief Harbinger auf die Tür zu und drückte sich daneben dicht an die Wand. Die Beretta hielt er fest in der Hand.
Ein Piepton erklang und die Aufzugtür öffnete sich langsam. Heraus stürmten drei Männer, die Berettas in den Händen hielten.
»Er muss in dem Büro sein« sagte einer der Bodyguards zu den anderen.
Keiner von ihnen bemerkte Harbinger, der hinter ihnen an der Wand stand. Langsam bewegte er sich auf die offenen Aufzugtüren zu, darauf bedacht kein Geräusch von sich zu geben, während die Bodyguards langsam auf die Bürotür zugingen.
»Seid vorsichtig« mahnte einer die anderen »Der Typ ist gefährlich.«
Harbinger erreichte den Aufzug und trat hinein. Vorsichtig drückte er auf den Knopf für das Kellergeschoss.
Der Aufzug gab einen weiteren Piepton von sich.
Die Bodyguards wirbelten herum und starrten mit aufgerissenen Augen auf den Mann, der sich fluchend an die Fahrstuhlwand gelehnt hatte und eine Beretta auf sie richtete.
»Keine Bewegung« rief er ihnen zu »Ich bin gleich weg.«
Die Männer wagten es nicht, ihre Waffen zu erheben. Sie sahen tatenlos zu, wie die Tür sich schloss und der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte.
Harbinger atmete erleichtert aus. Das Piepen des Fahrstuhls hatte ihn ganzschön in Bedrängnis gebracht. Doch er hatte überlebt, war wohlauf und auf dem Weg in den Keller und damit in die Freiheit.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor die Tür sich surrend wieder öffnete und Harbinger das Kellergeschoss betrat. Offensichtlich befand sich hier die Heizanlage des gesamten Hochhauses. Vorsichtig ging Harbinger zwischen den Heißwasserboilern hindurch. Hinter sich hörte er, wie die Aufzugtür sich wieder schloss und der Fahrstuhl nach oben fuhr. Offensichtlich waren die Bodyguards ihm noch immer auf den Fersen. Zum Glück wussten sie nicht, in welches Stockwerk er gefahren war.
Mit einem erleichterten Lächeln ließ Harbinger seinen Blick umherschweifen. Ein runder Kanaldeckel, der in den Fußboden eingelassen war, fiel ihm ins Auge. Er warf seinen Mantel zurück und steckte die Beretta, die noch immer in seiner Hand lag, darunter. Schnell ging er zu dem Deckel hinüber und bückte sich danach. Er griff danach und stemmte den schweren Stahldeckel ein Stück hoch. Unter Aufbringung all seine Kräfte gelang es ihm, den Eingang zur Kanalisation zu öffnen.
Eine rostige Leiter führte hinab in die Dunkelheit, die vor Harbinger lag. Er warf einen einzigen Blick zurück zum Aufzug, bevor er sich hinkniete und langsam nach unten in die Kanalisation kletterte. Sprosse um Sprosse stieg Harbinger hinab, bis er festen Boden unter seinen Füßen fühlte. Erleichtert atmete er aus, wartete einen Augenblick und drehte sich dann um in die Dunkelheit der Kanalisation.
Eine große Hand griff nach seinem Hals, packte zu und stemmte ihn ungefähr dreißig Zentimeter in die Höhe. Bösartig dreinblickende rote Augen starrten Harbinger an und ein leises Knurren ertönte.
»Du hast versagt, Alexander Harbinger« erklang eine tiefe Stimme schwerfällig »Du hast Curtis nicht getötet.«
Derjenige, der Harbinger ergriffen hatte, trat einen Schritt vor, so dass Licht durch den offenen Kanaldeckel auf sein Gesicht fiel.
Harbinger keuchte, zum Einen, weil ihm die kräftige Hand die Luft abdrückte, zum Anderen, weil er dem Mann direkt ins Gesicht sah.
Er war ungefähr zwei Meter groß und seine Schultern maßen einen Meter. Abgesehen von zwei braunen Haarsträhnen und einer polierten Metallplatte war sein Kopf kahl. Seine muskulösen Arme waren nackt. Sein Torso wurde von einer grünen Weste bedeckt und er trug Armeehose und Stiefel. So weit hatte er zwar eine imposante Gestalt, doch das, was Harbinger tatsächlich aufstöhnen lies, waren sein Gesicht und seine Hände.
Die Augen des Riesen waren stark gerötet und die gesamte Augenpartie bestand aus Metall, genau wie einige Platten, die seinen Körper an sichtbaren Stellen bedeckten. Über das Gesicht verteilt waren einige tiefe Narben, die seine Züge stark zerfurchten.
Die Handfläche seiner rechten Hand bestand ebenfalls aus Metall, während die Finger noch intakt zu sein schienen. Doch in diesem Augenblick hob der Mann seine linke Hand und hielt sie vor Harbingers Gesicht.
Es war keine Hand im eigentlichen Sinne. Auf dem Armstumpf steckte eine lange Metallklinge, die an seinen Körper genietet war. Die Klinge war auf beiden Seiten scharf, wie Harbinger bemerkte, als der Mann, der ihn festhielt, sie leicht gegen seine Kehle drückte. Ein Bluttropfen rann seinen Hals hinunter.
»Mein Herr sagt, für dein Versagen musst du sterben« knurrte der Riese stumpf »Also stirb, Harbinger.«
In diesem Augenblick sprang eine Gestalt aus den Schatten hinter dem Riesen. Sie hielt ein Schwert in der Hand, dessen Klinge sie ihm in den Rücken stieß und schnell wieder hinaus zerrte.
Schreiend wirbelte der Riese herum, ließ Harbinger zu Boden fallen und warf einen Blick auf den kleineren Mann, der ihn verletzt hatte.
»Tom« brachte er hervor.
»Verschwinde, Bill« antwortete Thomas Wittmore, der das Schwert gesenkt hielt »Ich will dich nicht töten.«
»Mich töten?« Der Riese lachte kehlig. »Warum denkst du, du könntest mich töten?«
»Ich denke es nicht, ich weiß es.«
Schnell hob Wittmore sein Schwert und schlug damit nach dem Riesen, den er Bill genannt hatte. Die Klinge traf funkensprühend auf die, die an Bills Arm befestigt war.
»Du kannst ihn nicht retten, Tom« rief Bill knurrend.
»Verschwinde, Bill« war die Antwort, zusammen mit einem Schwertstreich, der das Bein des Riesen durchbohrte.
Mit einem schmerzerfüllten Schrei sprang der Riese zurück. Blut schoss aus der Wunde in seinem Bein, genau wie aus der in seinem Rücken.
»Ich könnte dich töten, Bill« sagte Wittmore, während er einen Schritt zurück machte »Oder du kannst dich umdrehen und fliehen.«
Der Riese setzte für einen Augenblick an etwas zu sagen, dann wirbelte er herum und rannte in die Dunkelheit der Kanalisation. Harbinger saß auf dem Boden, den Rücken an die Leiter, die in das Hochhaus führte, gelehnt und er atmete Schwer. Thomas Wittmore stand vor ihm, den Blick gesenkt und das Schwert noch immer in der Hand.
»Danke« sagte Harbinger schließlich leise.
»Nichts zu danken, Dante« antwortete Wittmore schlicht »Ich konnte nicht zulassen, dass er dich umbringt. Wir brauchen dich.«
»Wer war der Kerl?« fragte Harbinger.
»Sein Name ist William Tank. Er ist der Waffenarm von Richard LaCroy. Ich weiß, der Name sagt dir nichts, aber du wirst ihn noch früh genug kennenlernen. Jedenfalls hat er eine Lebensschuld bei LaCroy, da dieser ihm das Leben gerettet hat. Und jetzt gehorcht er ihm bedingungslos. Er ist ein guter Mann, deswegen wollte ich ihn nicht töten.«
»Er scheint das nicht von dir zu denken, Thomas. Er schien keine Hemmungen zu haben, dich zu töten.«
»Er kann nicht anders.« Wittmore seufzte. »Sein Herr hat es ihm befohlen.«
»Er sagte auch, dass sein Herr mich tot sehen will. Dieser LaCroy ist sein Herr, oder? Wieso will er meinen Tod?«
»Weil du Tyler Curtis nicht umbringen konntest, Dante.«
»Aber die Sache war doch mein privater Rachefeldzug. Warum mischt LaCroy sich darin ein?«
Wittmore warf einen abschätzenden Blick auf Harbinger.
»Das kann ich dir nicht sagen« meinte er schließlich »Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Das kann ich dir auch noch nicht sagen. Akzeptiere es einfach, damit machst du es uns beiden einfacher. Auf jeden Fall hat Morrec mich hier her geschickt, damit ich dich sicher hier raus bringe.«
»Morrec hat die Hauswand gesprengt, oder?«
»Das hat er. Wir mussten dich aus diesem Büro rauskriegen, nachdem klar war, dass die Bodyguards dich töten wollen.«
»Woher weißt du davon?« Harbinger schaute ihn irritiert an. »Woher weißt du, was in dem Büro passiert ist?«
»Laurel hat eine Wanze in deinem Mantel untergebracht, Dante. Wir konnten alles mithören. Du denkst doch nicht, dass wir aus purem Glück den richtigen Augenblick abgepasst haben, das Büro mit einem Raketenwerfer zu beschießen.« Wittmore lachte humorlos. »Du hast zwar eine ganze Menge Glück, Alexander Harbinger, wenn du denn so genannt werden willst, aber so viel Glück auch wieder nicht.«
»Was jetzt? Ihr habt mir das Leben gerettet, aber wofür?«
»Es gibt einige Dinge, die du wissen musst, Dante. Ich soll dich zu Morrec bringen, damit er dir alles erzählen kann.«
»Hör mal, Wittmore, ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll. Ich brauche erstmal eine Weile, um meinen Kopf wieder klar zu kriegen.«
»Gut. Dann werde ich gehen und Morrec Bescheid sagen. Er wird sich dann um alles kümmern.«
Wittmore schob sein Schwert unter den Gürtel.
»Viel Glück, Dante« sagte er schließlich »Du kannst Laurel, Morrec und mich jederzeit in York treffen.«
»York?« fragte Harbinger lächelnd »Ihr wollt, dass ich euch in England treffe?«
Wittmore warf ihm einen seltsamen Blick zu, bevor er zu lachen anfing.
»Du weißt tatsächlich noch weniger, als ich dachte, Dante« bemerkte er lachend »Du wirst es schon noch herausfinden.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt aus dem Lichtkegel, der durch den offenen Kanaldeckel fiel, in die Dunkelheit. Seine Schritte verhallten langsam, als er sich weiter und weiter entfernte. Harbinger blieb noch einen Augenblick sitzen, bevor er sich wieder kräftig genug fühlte, um aufzustehen.
Mühsam plagte er sich auf die Füße und schritt weiter, die Kanalisation entlang.

Harbinger
08.05.2005, 15:59
Epilog 2 - Against The Tide (Immortal)

On these ridges
Where the sun
Forever vanished
Once a world were
Ever splendid
That took my soul

Thomas Wittmore ging den Bürgersteig entlang zwischen den Passanten hindurch, die auch jetzt noch, kurz vor Mitternacht, auf der Straße unterwegs waren. Noch immer standen Autos dicht an dicht auf der verstopften Hauptstraße. In fünf Minuten würde der neue Tag anbrechen, der 22. Dezember, noch zwei Tage bis Weihnachten.
Durch das Licht der Straßenlaternen wurde der aufgewühlte Schnee, der überall lag, erhellt, genau wie die Menschen, die darin standen. So fiel es Wittmore nicht schwer Morrec und Laurel auszumachen, die an einer Straßenecke lehnten. Als er nahe heran kam, stieß Morrec, noch immer in den langen Mantel gewandt, sich von der Wand ab und trat auf ihn zu.
»Du hast Dante nicht mitgebracht, Tom?« fragte er mit seiner tiefen Stimme.
»Er hat gesagt, er müsse den Kopf frei bekommen, bevor er sich uns anschließen kann« antwortete Wittmore.
»Das ist alles andere als gut« bemerkte Morrec »Er befindet sich in großer Gefahr. Am Besten mache ich mich gleich auf den Weg, um ihm zu helfen.«
»Dann werde ich mit Laurel nach York gehen und auf euch warten.«
»Tu das, mein Freund. Ich werde bald zu euch stoßen.«
Morrec schlug seinen Mantel zurück und zog ein langes, kunstvoll geschmiedetes Schwert aus der Scheide, die er am Gürtel trug. Mit der Waffe in der Hand ging er an Wittmore vorbei die Straße entlang, in die Richtung, aus der Thomas gekommen war.
»Wie geht es Alex?« fragte Laurel leise.
»Er hat gelacht, als wir uns unterhielten« antwortete Wittmore »Er würde es wahrscheinlich nicht zugeben, aber ich glaube, dass er wieder Lebenswillen in sich trägt.«
»Das ist gut« murmelte sie »Er scheint etwas zu haben, an das er sich hält.«
»Ich glaube, dass er immernoch seine Rachegelüste verfolgt. Im Augenblick ist er äußerst unberechenbar.«
»Vielleicht.«
Sie schwiegen einen Augenblick.
»Du hast viel Zeit mit ihm verbracht, Laurel« bemerkte Wittmore.
»Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet« antwortete sie mit gesenktem Blick.
»Empfindest du etwas für ihn?«
»Wenn ich das wüsste. Er hat viel für mich getan.« Sie hob den Blick und lächelte leicht. »Aber manchmal hat er mich auch zur Weißglut gebracht.«
Wittmore lachte leise.
»Lass‘ uns gehen, Laurel« sagte er schließlich »Wir werden ihn in York wieder treffen.«
Sie nickte und stieß sich von der Wand ab, an der sie lehnte.
Gemeinsam gingen sie den Bürgersteig entlang und verschwanden schließlich zwischen den Passanten.

Harbinger
08.05.2005, 16:05
Tja, und schon wieder ein Teil zu Ende. Mittlerweile habe ich die ersten fünfzig Seiten hinter mich gebracht und schreibe zur Zeit an Kapitel 9. Die Geschichte ist allerdings noch nichtmal zur Hälfte fertig. Wie auch immer, Teil 3 wird (vielleicht) ein wenig kürzer ausfallen, als die vorangegangenen, da er größtenteils aus Dialogen besteht (Lichtblick: Harbinger und Morrec kämpfen das erste mal Seite an Seite...). Aber das wird sich erst noch herausstellen. Fahren wir also fort, mit:

Teil 3 - The Revelation (Theatres Des Vampires)

The storm will come and the sky will become dark
to show that the fate has been accomplished

Harbinger
08.05.2005, 16:10
Intermezzo 4 - One With Misery (Sentenced)

He's gazing through all that is there
And sees the world left for him to despise
Blissfully feeling so dead, no glimmer in his eyes
So no more joy or forgiving, he's one with misery

Schweigend warf Patient Nummer 759 die Schaufel zur Seite und hob die Leiche auf die Arme. Die Schwester seiner Frau, die hier begraben lag, hatte ihr Leben für ihn gegeben. Sie hatte ein Begräbnis verdient und genau das war es, was der Patient tat.
»Ich schwöre, dass dein Opfer nicht umsonst war« murmelte er, während er die Leiche der jungen Frau in die Grube legte, die er ausgehoben hatte.
Seufzend nahm er die Schaufel wieder zur Hand und schloss das Grab sorgfältig. Erinnerungen an diesen Ort brachen über ihn herein. Seine Retterin hatte es „ihren speziellen Ort“ genannt, der Ort, an dem er und seine Frau sich kennengelernt hatten, zu dem sie wieder und wieder gegangen waren, wahrscheinlich der einzige Ort in dieser verdammten Stadt, an dem sie glücklich sein konnten. Es war an diesem Ort gewesen, an den die Männer gekommen waren. Sie hatten seine Frau erschossen und ihn mitgenommen. Ihn mitgenommen und aus ihm den Patienten Nummer 759 gemacht.
Er warf die letzte Schaufel Erde auf das frische Grab, legte das Werkzeug aus der Hand und trat dann einen Schritt zurück. Die beiden letzten Ruhestätten seiner Frau und ihrer Schwester lagen nebeneinander unter einer blattlosen Eiche. Der Winter war schon vor langer Zeit hereingebrochen, doch in diesem Augenblick fiel der erste Schnee des Jahres hernieder, begann den Boden weiß zu färben.
Der Patient wandte sich ab von den Gräbern und durchschritt den kleinen Park, in den er die Leiche früher an diesem Abend getragen hatte. Seine Schritte führten ihn zurück auf die Hauptstraße, auf der Passanten dicht gedrängt unterwegs waren, ohne sich in die Belange der anderen einzumischen. Er ging den Bürgersteig entlang, bis er eine kleine Bar erreicht hatte. Einen Augenblick überlegte er, doch schließlich öffnete er die Tür und trat ein.
»Was darf‘s sein?« fragte der Barkeeper, ein großer muskulöser Mann mit kurzem Bürstenhaarschnitt und einer Augenklappe.
»Nichts soweit« antwortete Patient 759 »Ich will nur Ihre Toilette benutzen.«
Mit einem Knurren nickte der Barkeeper zu einer kleinen Tür in der Nähe, die offenstand. Der Patient durchquerte den Raum und trat durch die Tür.
Vor ihm befand sich eine Reihe von Waschbecken. Auf die Fließen rundherum waren verschiedene Sätze geschrieben worden, Vulgäritäten und anonyme Liebesbekundungen. Der Mann laß einige davon, bevor er einen schwarzen Stift aus der Hosentasche holte und nach einer leeren Fließe Ausschau hielt. Er fand eine und machte sich daran, das Wort >Racheengel< darauf zu schreiben. Er überlegte einen Augenblick, bevor er >Rache für meine Geliebte, A.D.< hinzufügte und zuletzt die Zahl 759.
»Rache« murmelte er leise, während er seine Worte wieder und wieder las.
Zufrieden drehte er sich um und ging zurück in die Bar.

Harbinger
29.05.2005, 10:21
Kapitel 9 – Trust & Betrayal (Evergrey)

You hurt me forever
How could I ever have thought that you would
The only two that I trusted
Why the hell should I forgive
You left me to winter
And god damn this loneliness

Seit zehn Minuten ging Harbinger durch die Dunkelheit der Kanalisation. Die Beretta ruhte wieder in seiner Hand. Sie gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, während er nach einem geeigneten Ort suchte, an dem er die Kanäle der Stadt verlassen und wieder auf die Straßen gelangen konnte.
Seine Gefühle und Gedanken waren ein einziges Chaos. Er wusste, dass er versagt hatte, dass es ihm nicht gelungen war den Tod seiner Freunde zu rächen. Er verdammte sich selbst dafür. Aber er war nicht daran Schuld gewesen. Wie hätte er wissen sollen, dass der kleine fette Mexikaner nicht Tyler Curtis war? Und was hatte es mit der Desert Eagle auf sich, die er dem Killer abgenommen hatte? Vielleicht hatte Claya ihn angelogen, was die Waffen betraf. Aber irgendwie glaubte Harbinger das nicht. Mit einem wilden Aufschrei sank Harbinger gegen die Wand des Kanals und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wem sollte er noch vertrauen, wenn ihn jetzt schon sein eigenes Gedächtnis verließ?
Er erinnerte sich daran, wie er die Tür seiner Wohnung geöffnet hatte und der Mann, der sich als Ricardo Claya erwiesen hatte, ihn mit dem falschen Lächeln aufgefordert hatte, die Wohnung zu räumen.
Er erinnerte sich daran, wie er neben Miranda gekniet hatte, als sie ihren letzten Atemzug getan hatte, bevor der Tod sie übermannte.
Er erinnerte sich an einfach alles, alles was geschehen war, bevor er in der Gasse neben der Bar aufgewacht war. Doch all diese Erinnerungen erschienen ihm plötzlich so unwirklich, so weit entfernt. Das Verhalten, das Ricardo Claya an den Tag gelegt hatte, unterschied sich absolut von der kühlen überlegenen Arroganz, die er als Tyler Curtis getragen hatte. Alles, was er in den letzten beiden Tagen erlebt hatte unterschied sich so sehr von dem, was davor geschehen war. Der Stadtteil, in den es ihn verschlagen hatte, war eine vollkommen andere Welt als seine Heimat auf der Jersey Seite. Hier auf den Straßen herrschten Ignoranz und Brutalität, ganz anders als dort, wo er herkam. Er wünschte sich, dass Laurel jetzt bei ihm wäre. Sie war in dieser Gegend Zuhause. Sie hätte es ihm wahrscheinlich erklären können.
Seufzend stand Harbinger wieder auf. Laurel war nicht bei ihm, um ihn zu unterstützen oder gar ihn zu trösten. Er war ganz alleine. Nichtmal Miranda und Jack waren noch bei ihm. Er wünschte sich zumindest den Trost, der ihm durch seine eingebildeten Freunde zuteil wurde. Vielleicht würden sie ja zu ihm zurückkehren. Jetzt musste er zuerst aus der Kanalisation heraus. Mit einer Hand tastete er sich an der Wand entlang, während er, einen Fuß vor den anderen setzend, durch die Dunkelheit schritt.
Es mochte eine Stunde gedauert haben, vielleicht auch nur wenige Minuten, bis er schmale Lichtstrahlen vor sich sah, die die Dunkelheit in dem Kanal durchbrachen. Er hatte einen Ausgang aus der Dunkelheit gefunden. Er hörte sein Herz schlagen, als er seine Schritte beschleunigte und schließlich spürte er rostige Eisenstangen unter seiner Hand, mit der er die Wand abgetastet hatte. Schnell griff er danach und kletterte einige Sprossen der Leiter nach oben, bis er gegen die Decke stieß. Vorsichtig zog er den Kopf ein und schob die Schultern nach oben, bis sie den Kanaldeckel über ihm berührten.
Harbinger setzte die letzten Kräfte ein, die ihm noch verblieben waren, als er den Kanaldeckel ein Stück hochstemmte und zur Seite schob. Zwielicht breitete sich oberhalb der Kanalisation aus und kalte Schneeflocken rieselten auf den müden Mann nieder, als er sich die Leiter hoch zog und aus dem Loch hinaus kletterte.
Er war am Ende seiner Kräfte angekommen, als er im Schnee der Seitengasse lag, zu der die Kanalisation ihn geführt hatte. Der Mond brach durch die Wolkendecke und das blasse Licht brachte Erinnerungen mit sich. Tränen rollten über Harbingers Wangen Mit dem Licht des Mondes kam ein Gesicht vor sein inneres Auge, das Gesicht einer schönen, großen Frau, die der junge Mann mehr als alles Andere vermisste. Er schluchzte leise und murmelte leise ihren Namen, während er eine Hand nach seiner Einbildung ausstreckte.
Unbarmherzig schloss die Wolkendecke sich wieder und das Mondlicht schwand. Das Gesicht war weggewischt, sowohl vor Harbingers innerem Auge, wie auch aus seinem Gedächtnis. Als wäre dieses Gesicht das einzige, an das er sich noch geklammert hatte, brach nun wieder eine ungeheure Müdigkeit über ihn herein. Seine Kräfte schwanden und er verlor das Bewußtsein.
Es war nach Mitternacht, als Harbinger die Augen wieder aufschlug. Er lag auf dem Rücken im Schnee in einer kleinen Seitengasse und links und rechts von ihm standen Miranda und Jack und schauten auf ihn herunter.
»Ich dachte schon, dass ihr mich verlassen hätte« flüsterte Harbinger schwach.
Jack kniete nieder und zog ihn unsanft an der Schulter nach oben. Gerade als Harbinger sich bedanken wurde, wirbelte sein eingebildeter Freund herum und warf ihn gegen eine Hauswand.
»Du hast versagt, Alex« sagte er anklagend.
»Es ist dir nicht gelungen uns zu Rächen« fügte Miranda hinzu.
»Ich habe es versucht« verteidigte Harbinger sich mit schwacher Stimme »Ich hätte Tyler Curtis getötet, wenn er in dem Raum gewesen wäre. Aber da war kein Tyler Curtis. Der einzige, den ich vor meiner Waffe hatte, war Ricardo Claya, ein Unschuldiger.«
»Du hattest ihn in deiner Gewalt, Alex« schrie Jack ihn an »Du hättest Curtis‘ Aufenthaltsort aus ihm herauspressen können.«
»Ich hatte keine Wahl, Jack. Wenn ich länger in diesem Raum geblieben wäre, dann wäre ich jetzt tot. Ich musste den Augenblick nutzen, der sich mir bot.«
»Du bist geflohen« bemerkte Miranda »Du hast es tatsächlich bislang überlebt.« Sie ging näher an ihn heran und blickte ihm direkt in die Augen. »Bislang magst du noch leben. Aber du hast versagt und du hast keinen Anhaltspunkt, wo Tyler Curtis sich befindet.« Unbewegt schlug sie Harbinger ins Gesicht. »Du bist absolut nutzlos für uns, Alex.«
»Ich verstehe nicht...« stotterte Harbinger verwirrt, während er eine Hand auf seine schmerzende Wange drückte, an der Miranda ihn getroffen hatte.
»Du hättest nur in dieses Büro marschieren müssen, Alex« fuhr Jack ihn unwirsch an »Du hättest nur Tyler Curtis töten müssen, um dann im Kugelhagel dein Leben zu lassen. Aber es ist dir nicht gelungen Curtis umzubringen.«
»Aber ich konnte doch nicht wissen, dass dieser Mann nicht Curtis ist« protestierte Harbinger.
»Das ist jetzt auch egal, Alex« sagte Miranda mit einem traurigen Kopfschütteln »Dein Leben ist verwirkt. Du bist für uns nutzlos und absolut austauschbar.«
»Austauschbar?« Harbinger starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Wie kann ich für euch austauschbar sein? Ihr seid Geschöpfe meines gestörten Verstandes. Wenn ich sterbe, dann verschwindet ihr mit mir.«
»Nimm dich in Acht« drohte Jack ohne auf Harbingers Worte einzugehen »Dein Tod ist bereits beschlossene Sache.«
Mit diesen Worten begannen Harbingers eingebildete Freunde langsam zu verblassen, bis er alleine in der Gasse zurückblieb. Kraftlos sank er an der Wand zusammen, gegen die Jack ihn gedrückt hatte. Wie konnten seine eigenen Hirngespinste sich gegen ihn wenden? Jetzt war er ganz alleine. Resignierend schloss er die Augen. Er konnte ebensogut hier sitzenbleiben und warten, bis er erfroren war. Der Tod erschien ihm wie ein Versprechen, wie eine Belohnung für sein Streben in den letzten Tagen, nicht länger wie das Scheitern seiner Pläne. Seine Pläne waren bereits gescheitert. Es gab nichtsmehr, wofür es sich zu leben lohnte.
Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie jemand auf ihn zukam. Zwei Beine in einer dreckigen Hose blieben direkt vor ihm stehen.
»Da bist du wieder« hörte Harbinger eine krächzende Stimme »Aber du hast dich verändert.«
Harbinger hob den Kopf und blickte in das verbrannte, einäugige Gesicht, dass er auf der Suche nach einem Krankenhaus bereits gesehen hatte. Der Mann lächelte, doch da er keine Lippen mehr besaß, wirkte es so, als würde er das Gesicht schmerzerfüllt verziehen.
»Wir haben uns schon getroffen« sagte Harbinger »Doch Sie wollten nicht mit mir sprechen. Sie sind vor mir geflohen. Wie kommen Sie hier her.«
»Jemand hat mich angewiesen dich zu suchen« antwortete der Verbrannte »Er sagte, dass du nichtmehr zu denen gehörst. Und er hat recht gehabt. Du hast dich verändert.«
»Verändert? Wie meinen Sie... meinst du das?«
»Als wir uns das letzte mal trafen warst du besessen. Du gehörtest zu denen. Aber jetzt bist du anders. Du scheinst wieder so zu werden wie damals, als ich dich zum ersten mal traf. Aber da hatte ich auch keine Gelegenheit mit dir zu sprechen.«
»Du hast mich schonmal getroffen? Das ist unmöglich. Ich müsste mich daran erinnern.«
»Du hast mich nicht gesehen, aber ich habe dich gesehen. Dich und sie. Und du warst übel zugerichtet, als sie dich fortschleiften.«
»Mich fortschleiften?« Harbinger blickte den verbrannten Mann misstrauisch an. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Zwei von denen, die aussahen wie Tyler Curtis Leute. Aber sie waren’s nicht. Sie haben dich fortgeschleift. Das war in der Nähe einer Bar.«
»Vor wie vielen Tagen war das?« fragte Harbinger nun angespannt.
»Ich weiß nicht.« Der Verbrannte zuckte mit den Schultern. »Ich habe kein gutes Zeitgefühl. Aber es ist nicht lange her. Sie haben mich entdeckt, als ich dich beobachtet habe. Da haben sie mich geschnappt und mir das angetan.« Er lachte traurig. »Haben mich mit Benzin überschüttet und angezündet. Aber ich habe das überlebt. Ich lebe noch.«
»Zu der Bar geschleift?« Harbinger war verwirrt. »Warum haben sie mich dort hin geschleift? Sie hätten mich doch einfach umbringen können.«
Er dachte angestrengt nach, doch er konnte sich nicht daran erinnern, wo er auf seiner wilden Flucht durch die Hinterhöfe New Yorks das Bewußtsein verloren hatte. Das was der Verbrannte angedeutet hatte erklärte, warum er in diesem fremden Stadtteil gelandet war. Doch er konnte sich nicht erklären, warum die Killer das mit ihm gemacht hatten.
»Du hast gesagt, dass dich jemand angewiesen hat, mich zu suchen« sagte Harbinger schließlich »Wer war das?«
»Großer Mann« antwortete der Verbrannte krächzend »Hat seinen Namen nicht genannt und ich hab sein Gesicht nicht gesehen. Er hatte einen Mantel an, war vermummt. Und er hatte ein hübsches Schwert.«
»Morrec« murmelte Harbinger »Er scheint immer da zu sein, wenn ich mich umdrehe. Was will er nur von mir?«
»Der Kerl hat mich gebeten dich zu einer Bar zu bringen, wo er sich mit dir treffen will. Er meinte, dass er dich wo anders suchen geht. Also bringe ich dich jetzt wohl zu der Bar, okay?«
Harbinger überlegte einen Augenblick, bevor er sich vom Boden hochstemmte und aufstand.
»Schön« sagte Harbinger nachdenklich »Bring‘ mich zu der Bar.«
»Es ist nicht weit. Nur zwei Straßen.«
Der Verbrannte drehte sich um und durchquerte die Gasse. Harbinger folgte ihm auf die Hauptstraße, auf der Autos dicht an dicht standen. Sie gingen den Bürgersteig entlang, zwischen Passanten durch, bis sie ein schäbiges Gebäude mit einer aufblinkenden Leuchtreklame erreicht hatten.
»Das ist die Bar« bemerkte der Verbrannte »Vielleicht ist dein Freund schon da. Meine Aufgabe ist erledigt.«
»Danke« antwortete Harbinger, während er die Tür der Kneipe öffnete.
Der Verbrannte wandte sich wortlos ab und folgte dem Straßenverlauf. Harbinger blieb noch einen Augenblick stehen, bevor er durch die Tür in die Bar trat.
Der Raum war nicht besonders groß und schlecht beleuchtet. Die Einrichtung bestand aus schäbigen Holztischen und Bänken, sowie einigen Hockern, die an der Theke standen. Es war Nacht, irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen und deswegen Hauptgeschäftszeit in der Bar. Trotzdem wurde Harbinger sich nach einem Blick in die Runde nur sehr wenigen Besuchern gewahr.
Morrec war nicht in der Kneipe.
Seufzend ging Harbinger auf die Theke zu und setzte sich auf einen der Hocker. Er schaute die Bar entlang, ob noch jemand daran Platz genommen hatte, sah jedoch niemanden. Als er den Blick wieder nach vorne richtete, stand der Barkeeper, ein grimmig aussehender Asiate mit schwarzem Haar und kurz geschnittenem Bart, vor ihm.
»Was darf’s sein?« fragte er Harbinger.
»Whiskey« antwortete dieser »Die ganze Flasche und ein Glas mit Eiswürfeln.«
»Gezahlt wird vorher« brummte der Barkeeper und blickte seinen Gast erwartungsvoll an.
Seufzend holte Harbinger seine Brieftasche hervor, griff hinein und warf aufs Geratewohl einige Scheine auf den Tresen. Der Barkeeper ergriff sie und drehte sich um. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bevor er ein Glas und eine Flasche vor Harbinger hinstellte.
»Hier, Sir« sagte der Barkeeper, bevor er die Theke entlang ging und Harbinger mit seinem Whiskey alleine ließ.
Harbinger griff nach der Flasche und schenkte das Glas voll. Er stürzte den Whiskey in einem Zug hinunter und schüttete nochmal nach. Er konnte sich genau so gut betrinken, während er auf Morrec wartete. Allerdings schlug ihm der Whiskey auf den Magen, weshalb er das zweite Glas vorsichtiger trank als das erste.
»Noch irgend einen Wunsch, Sir?« fragte der Barkeeper, der noch einmal an Harbinger vorbeikam.
»Ich weiß nicht« antwortete dieser »Die Bar scheint mir nicht gerade gut besucht.«
»Unruhige Zeiten.« Der Barkeeper lachte humorlos. »Auf den Straßen herrscht Krieg. Und nicht nur auf den Straßen. Die Bevölkerung wird in die Kämpfe zwischen den Banden hineingezogen. Wer zwischen die Fronten gerät kann nicht hoffen, lebend davonzukommen.«
»Aber was machen dann all die Leute auf den Straßen? Haben sie keine Angst?«
»Natürlich. Jeder in dieser verdammten Stadt hat Angst, außer vielleicht die Gaar. Niemand traut sich so recht an die Gaar heran. Aber zum Glück kommen sie nicht oft in unseren Teil der Stadt.«
»Die Gaar?« Harbinger nippte an seinem Whiskey. »Wer ist das?«
»Sie wissen nicht, wer die Gaar sind?« Der Barkeeper starrte Harbinger ungläubig an. »Wie haben Sie es nur geschafft so lange zu überleben?«
»Ich lebe seit zwölf Jahren in dieser Stadt, aber ich habe noch nie von den Gaar gehört. Ist das eine Gang?«
»Weniger eine Gang. So werden die Leute genannt, die aus dem Westen kamen. Sie leben hier in der Stadt, im westlichen Viertel. Sie bleiben lieber unter sich, mischen sich nur selten in unsere Belange ein und das ist wahrscheinlich auch besser so. Die Gaar sind gefährlich. Wenn sie in diesen Kriegen mitmischen würden, dann wäre unser Viertel wahrscheinlich in wenigen Wochen komplett entvölkert.«
»Tut denn die Stadtverwaltung nichts gegen die Gewalt hier auf den Straßen? Was ist mit der Polizei?«
»Sie wissen davon. Aber die Gangs sind einfach zu mächtig. Die Polizei ist zwar besser ausgerüstet als die Männer von Curtis und Kalayo, aber sie haben viel weniger Männer. Niemand kann den Banden die Stirn bieten.«
»In dem Viertel aus dem ich komme herrschen bessere Verhältnisse.«
»Ach ja?« Der Barkeeper sah ihn abschätzend an. »Sie haben zwölf Jahre lang nichts von den Gaar mitbekommen. Wäre es nicht auch möglich, dass Sie das Unrecht auf den Straßen auch übersehen haben?«
Harbinger setzte zu einer Antwort an, doch dann hielt er inne. Er erinnerte sich wieder daran, wie die Killer in seine Wohnung gestürmt waren und seine Freunde ermordeten. Er hatte sich etwas vorgemacht. In seinem Viertel gab es keine besseren Verhältnisse.
»Sie könnten Recht haben« gab Harbinger zu.
»Eben« antwortete der Barkeeper »Diese ganze Stadt ist verkommen. Seit Jahren träume ich davon, von hier abzuhauen. Ich will raus aus der Stadt, vielleicht nach Süden. Irgendwohin, wo ich ein besseres Leben führen kann.«
»Dabei wünsche ich Ihnen viel Glück. Lassen Sie uns über was anderes reden. Sie haben vorhin erwähnt, dass jeder Angst hat. Und doch sind all diese Leute auf den Straßen. Warum laufen sie da draußen herum, kommen aber nicht in Ihre Bar?«
»Die Bandenkriege werden angekündigt. Die Gangs schicken einem der Radiosender eine Nachricht und dann wird bekanntgemacht, in welchen Straßen gekämpft werden wird. Aber manchmal, wenn zwei Truppen zufällig aufeinandertreffen, dann kann es auch zu einem spontanen Krieg kommen. Und das jederzeit und überall. Und wenn sowas passiert, dann sollte man lieber auf der Straße sein als in einer engen Bar, in der es nicht viele Ziele für die Kugeln der Krieger gibt.«
»Klingt plausibel« gab Harbinger zu, während er den Rest seines Whiskeys runterstürzte und sich nochmal nachschenkte.
»Trotzdem kann ich mich nicht beklagen« fuhr der Barkeeper fort »Ich habe noch nie bessere Zeiten erlebt. Es war schon immer so. Ich weiß nicht, wie es dort ist, wo Sie herkommen. Aber in diesem Stadtteil läuft das Geschäft für alle Kneipen mieserabel.«
»Wie lange kämpfen die Banden schon gegeneinander?«
»Seit Jahren. Früher waren Curtis und Kalayo die besten Freunde. Sie waren beide aufstrebende Junggangster in Richard LaCroys Gang. Aber irgendwann ist LaCroy aus dem Geschäft ausgestiegen. Kalayo hat die Bande übernommen. Schließlich brach Streit zwischen ihm und Curtis aus. Und das war der Auslöser dafür, dass Curtis Freunde um sich scharrte und eine eigene Gang gründete. Seitdem herrscht Krieg.«
Harbinger hatte den Barkeeper mit offenen Augen angestarrt, während dieser gesprochen hatte.
»Wer ist Richard LaCroy« fragte er leise.
»Das meinen Sie nicht ernst, oder?« Der Barkeeper warf einen misstrauischen Blick auf Harbinger. »Sie wollen damit sagen, dass Sie noch nie etwas von Richard LaCroy gehört haben?«
»In meinem ganzen Leben noch nicht« antwortete Harbinger, jede einzelne Silbe betonend.
»Ich weiß, dass unser Stadtteil ein wenig abgeschnitten von der Außenwelt ist, alleine schon durch die Bandenkriege. Aber es ist mir absolut schleierhaft, wie jemand noch nie etwas von Richard LaCroy gehört haben kann.«
»Wer ist Richard LaCroy?« wiederholte Harbinger.
»Er war, wie schon gesagt, der Boss der örtlichen Gang, bevor er sich aus dem Geschäft zurückzog. Anstatt der krummen Geschäfte verwendete er sein Geld darauf, sich einen eigenen Konzern aufzubauen. Innerhalb weniger Jahre scheffelte er Millionen. Angeblich hat er jetzt Kalayos Gang angeheuert, um diesen Teil der Stadt komplett zu unterjochen. Dadurch ist diese Gang Curtis Männern zwar weitaus überlegen, allerdings wehren diese sich bis zum letzten Mann. Und auch die Anarchisten, die für die Freiheit des Viertels kämpfen, sind Kalayos Feinde.«
»Was tut LaCroy? Ich meine, womit verdient er sein Geld?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber was auch immer es sein mag, es springt dabei anscheinend verdammt viel raus.« Der Barkeeper schaute an Harbinger vorbei an die kläglich besetzten Tische der Kneipe. »Wollen Sie noch etwas? Ich habe im Augenblick ein wenig zu tun und eine der Damen hier hat sicher auch Lust Ihnen zuzuhören.«
»Schon gut« antwortete Harbinger »Dann suche ich mir einen anderen Gesprächspartner.«
Während der Barkeeper sich in Bewegung setzte, kippte Harbinger das dritte Glas Whiskey herunter. Er stellte es wieder auf den Tisch und wandte sich um, um einen Blick auf die Gäste der Bar zu werfen, in der Hoffnung, dass Morrec inzwischen eingetroffen war.
Er sah zwar Morrec nicht, doch sein Blick wurde von einer anderen Person auf sich gezogen. Eine Person, die er schonmal getroffen hatte.

Harbinger
29.05.2005, 10:37
Kapitel 10 – The Fallen One (HammerFall)

There is a light down at memory lane
Slowly fading away
Still holding on to the dreams torn apart
I will follow my heart

Es dauerte einen Augenblick, bevor Harbinger sich von dem Barhocker erhob und unsicheren Schrittes auf den Tisch zuging. Der Whiskey tat bereits seine Wirkung, wodurch er ein wenig schwankte, doch das interessierte ihn im Augenblick wenig. Sein Blick war gefangen von der Person, die auf einer der Bänke saß und ihn ansah.
»Ich habe Sie schon beim Reinkommen bemerkt, Dante« begrüßte die große Frau ihn mit einem warmen Lächeln »Ich hatte mich schon gefragt, wie lange sie dafür bräuchten, auf mich aufmerksam zu werden.«
»Tja, ich bin nicht gerade in bester Verfassung, Amanda« antwortete Harbinger und setzte sich der Frau gegenüber, die er in dem heruntergekommenen Krankenhaus kennengelernt hatte »Was treibt Sie hier her?«
»Ich weiß nicht.« Als sie wieder lächelte, schienen die Sorgen von Harbinger abzufallen und er fühlte sich sofort besser. »Vielleicht der Durst, vielleicht einfach nur die Lust, mal wieder eine Bar zu besuchen.« Sie senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Vielleicht bin ich auch nur hier, weil Sie sich gewünscht haben, dass es so wäre.«
Er zuckte ein Stück zurück und sah sie verwirrt an. Als sie seinen Blick wahrnahm, begann sie glockenhell zu lachen.
»Das war nur ein Scherz, Dante« erklärte sie »Ich bin hier, weil ich Sie auf der Straße sah, wie Sie in die Bar gegangen sind. Und ich dachte mir, dass es vielleicht schön wäre, Sie wiederzusehen. Wie ist es Ihnen inzwischen ergangen?«
»Nicht gut.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Stück meines Weges gegangen. Ich dachte bereits, ich wäre am Ende angekommen, doch es erwies sich, dass ich die ganze Zeit im Kreis gelaufen bin und jetzt wieder da bin, wo ich angefangen habe. Vielleicht nichtmal das. Ich weiß nicht, wo ich weitermachen soll. Keine Anhaltspunkte...«
»Wonach suchen Sie, Alex?«
»Ich suche nach einem Mörder.« Er überlegte kurz. »Besser gesagt nach jemandem, der einen Mord in Auftrag gegeben hat.«
»Ein Mord? An wem?«
Harbinger sah sich in der Bar um. Er dachte darüber nach, ob er Amanda einweihen sollte. Schließlich seufzte er. Er hatte sowieso nichtsmehr zu verlieren, also konnte er es riskieren.
»Jemand hat einige Killer auf mich angesetzt« begann Harbinger »Sie brachten meine Freunde um, doch ich entkam und tötete die drei Mörder. Doch den Auftraggeber habe ich noch immer nicht gefunden. Ich dachte, dass es Tyler Curtis gewesen wäre, doch irgend etwas an der Geschichte passt nicht zusammen.«
Sie starrte ihn einen Augenblick an.
»Warum sollte Tyler Curtis sie umbringen wollen, Dante?« fragte Amanda schließlich.
»Er kam an meine Tür und stellte mir ein Ultimatum. Ich sollte meine Wohnung räumen, sonst würde es mir leid tun.«
»Warum? Wozu wollte er Ihre Wohnung haben?«
Harbinger stutzte kurz.
»Das hat er nicht gesagt« murmelte er »Er sagte nur, dass ich es tun sollte.«
»Aber wozu sollte Tyler Curtis Ihre Wohnung haben wollen?« Amanda lehnte sich zurück und musterte Harbinger nachdenklich. »Er ist der Anführer einer Gang. Wozu sollte er die Wohnung eines einfachen Mannes benötigen?«
»Mir sind noch mehr Dinge aufgefallen, die nicht zusammenpassen. Voranging die Tatsache, dass der Mann, den ich als Tyler Curtis kennenlernte, nicht Tyler Curtis ist. Er ist einfach nur eine Marionette, die der wahre Curtis vorschiebt, damit er aus der Schusslinie ist. Aber ich kann mich genau daran erinnern, wie diese Marionette zu mir kam. Damals war sein ganzes Verhalten so... anders.«
»Erinnerungen können täuschen, Dante.«
»Das können sie, aber könnte das Ganze tatsächlich so weit gehen? Sie sind Ärztin, Amanda. Sie müssen das doch wissen.«
»Sie sollten ihren Erinnerungen einfach nicht so viel Bedeutung beimessen, Alex. Es ist gefährlich, wenn sie die Gegenwart für die Vergangenheit ausblenden.«
»Vielleicht haben Sie recht.«
Minutenlang saßen Harbinger und Amanda schweigend beieinander. Sie wussten nicht, was sie jetzt sagen sollten. Mit quälender Langsamkeit verging Sekunde um Sekunde.
»Dante?« fragte Amanda schließlich nach scheinbar einer Ewigkeit.
»Ja, Amanda?« erwiderte er und hob den Kopf, so dass er ihr in die Augen schauen konnte.
»Was wirst du jetzt tun?« Scheinbar unbewußt wechselte sie in ein vertrautes Du. »Was hast du als nächstes vor, wenn du keine Anhaltspunkte hast?«
»Einer meiner Verbündeten hat mich hier her gebeten. Er will dringend mit mir sprechen, doch noch ist er nicht hier.«
Es sah so aus, als würde Amanda noch etwas sagen wollen, doch Harbinger verstand ihre Worte nicht, als die Tür der Bar in Stücke gerissen wurde. Instinktiv zog Harbinger den Kopf ein und warf den Tisch um, an dem er und Amanda saßen. Eine seiner Hände glitt unter seinen Mantel und ergriff die Beretta, die darunter steckte. Gemeinsam mit Amanda warf er sich hinter den schützenden Tisch und lauschte.
Schwere Schritte erklungen von der gesprengten Tür her. Mindestens zehn Männer, die den Schritten nach zu urteilen bewaffnet waren, drängten sich in die Bar und begannen das Feuer zu eröffnen.
»Kümmert euch um die Zeugen, aber lasst Harbinger nicht aus den Augen« wurde ein Befehl gebrüllt.
Sie waren wegen ihm hier, erkannte Harbinger, der nachdenklich die Beretta in seiner Hand wog. Aus den Schussgeräuschen, die die Waffen abgaben, schloss er, dass die Angreifer keine von Curtis Männern waren. Die Waffen waren automatisch, die Geräusche von Kugeln, die in Holz und Fleisch drangen nahezu ununterbrochen zu hören.
»Sie wollen mich, Amanda« flüsterte er der Frau neben ihm zu.
»Du musst hier heraus, Dante« antwortete sie genau so leise.
Wortlos nickte er. Vorsichtig richtete er sich ein wenig auf, um einen Blick auf seine Gegner zu werfen. Die Männer, die er über die Tischkante sah, waren in schwarze Kampfanzüge gekleidet und schwangen schwere Sturmgewehre. Es waren zwölf Angreifer, die sich alle mit der Präzision von ausgebildeten Soldaten bewegten.
Nur einer der Männer sah, wie Harbinger die Hand mit der Beretta hob und die Waffe auf ihn richtete. Doch bevor er etwas unternehmen konnte, drückte Harbinger ab und schwang sich über den Tisch, während die Kugel die Stirn des Angreifers durchbohrte und das Leben aus seinem Körper riss. Das Sturmgewehr entglitt seinen Händen und fiel zu Boden. Seine Kollegen waren zu sehr in Kämpfe mit den überlebenden Gästen, die teilweise Waffen zu ihrer Verteidigung gezogen hatten, verwickelt, als dass sie das Ableben des Mannes bemerkt hätten. Harbinger nutzte die Gelegenheit, steckte die Beretta weg, rannte auf die Leiche zu und warf sich mit einem Hechtsprung zu Boden, so dass er neben dem Sturmgewehr auf dem Bauch liegen blieb. Seine Hand schnellte vor, ergriff die schwere Waffe und hob diese in Richtung der restlichen Angreifer.
Noch vor ein paar Tagen hätte Harbinger nie geglaubt, dass er einen Menschen kaltblütig töten würde. Doch es war zu viel geschehen, als dass er noch Skrupel haben könnte. Ohne mit der Wimper zu zucken zog er den Abzug der Waffe durch und hielt die Mündung auf seine Gegner gerichtet. Kugeln schlugen in die ungeschützten Rücken der Männer ein. Sie schrien schmerzerfüllt auf, als sie blutend zu Boden stürzten. Zwei waren tot, ehe der Rest der Gruppe bemerkt hatte, dass der Feind in ihrem Rücken war. Die verbleibenden neun Männer wirbelten mit erhobenen Waffen herum, doch einige von ihnen waren schon getroffen worden und geschwächt. Nur drei von ihnen waren in der Lage, sofort zurück zu schiessen. Ihre Kugeln verfehlten Harbinger, der geschickt aufsprang und sich hinter einen Tisch stürzte.
Aus seiner Deckung heraus hörte er, wie neuerlich Männer in die Bar strömten. Fluchend riskierte Harbinger einen weiteren Blick in den verwüsteten Raum. Neun Krieger der ersten Truppe waren noch auf den Beinen, fünf weitere zu ihnen gestoßen. Harbinger war sich darüber im Klaren, dass er nie gegen diese Übermacht bestehen konnte. Er brauchte nur eine Ablenkung, damit er sich auf die Suche nach einer Hintertür machen konnte.
Während er über Möglichkeiten nachdachte und die Hälfte der Angreifer sich seiner Deckung näherten, erklang ein schmerzerfüllter Schrei von der Straße. Für einen Augenblick stellten sowohl die Gäste der Bar wie auch die Männer, die sie gestürmt hatten, das Feuer ein und lauschten nach dem Ursprung dieser Stimme.
Einer der Angreifer schlich auf die gesprengte Tür der Kneipe zu und warf einen Blick nach draußen. Er versuchte etwas zu sagen, doch in diesem Augenblick rauschte eine große Gestalt in langem Mantel mit einem Schwert in der Hand in die Bar. Sie riss den Mann von den Beinen, hockte sich über ihn und rammte das Schwert in seine Brust.
Sofort erkannte Harbinger Morrec, der ihm die Ablenkung lieferte, die er zur Flucht benötigte. Die Männer in den schwarzen Kampfanzügen richteten ihre Sturmgewehre auf den großen Mann mit der archaischen Waffe, doch keiner wagte es so recht abzudrücken. Dieses Zögern war ihr größter Fehler. Morrec sprang auf sie zu und landete mit erhobenem Schwert in ihrer Mitte. Die Klinge riss lange Wunden in die Körper der Männer. Harbinger fackelte nicht lange sondern sprang mit dem Sturmgewehr in der Hand auf und stürmte auf eine Tür zu, die hinter der Theke lag. Er stieß sie auf und warf sich hindurch.
In dem Raum hinter der Tür lag die Küche der Bar. Sie war alles andere als sauber, doch was Harbinger mehr daran störte, war der Mann im schwarzen Kampfanzug, der durch eine andere Tür, durch die Harbinger einen schneebedeckten Hinterhof sehen konnten. Er hatte die Hintertür gefunden.
Bevor sein Gegner etwas unternehmen konnte, hob Harbinger sein erbeutetes Sturmgewehr und feuerte eine Salve ab. Eine Kugel durchschlug das Knie des Mannes und ließ ihn zu Boden stürzen. Mit dem nächsten Schuss zerriss Harbinger die Schulter seines Gegners, so dass dieser mit einem schmerzerfüllten Aufschrei die Waffe fallen. Harbinger senkte das Sturmgewehr und eilte auf die Hintertür zu. Als er an dem Mann vorbeikam, der auf dem Boden kniete, trat er diesem ins Gesicht, so dass dieser bewußtlos zusammensackte.
Zwei weitere Schritte und Harbinger erreichte die Tür, stieß sie auf und ging hindurch. Er war entkommen, hatte eine kleine Gasse hinter der Bar erreicht. Er war in Sicherheit.
Eine Kugel pfiff durch die Luft, direkt an Harbingers Ohr vorbei. Er warf sich zu Boden und hob das Sturmgewehr. Wachsam ließ er den Blick umherschweifen, auf der Suche nach demjenigen, der auf ihn geschossen hatte.
»Der nächste Schuss wird dich töten, Alexander Harbinger« erklärte eine weibliche Stimme mit einem harten Unterton »Ich habe nicht aus Versehen vorbeigeschossen.«
»Miranda?« keuchte Harbinger »Wie kannst du das tun? Du bist meine Einbildung. Du kannst mich nicht umbringen.«
Die große Frau mit den langen roten Haaren trat aus einem Schatten, der von einem Müllcontainer geworfen wurde. In ihrer Hand hielt sie einen sechsschüssigen Revolver, den sie auf Harbinger gerichtet hatte.
»Warum sollte ich das nicht können?« fragte sie mit einem grausamen Lächeln »Du bist absolut unwichtig geworden. Du bist das letzte Überbleibsel, das es noch zu beseitigen gilt, bevor wir einen Neuanfang wagen können. Du und dein Vorgänger.«
»Mein Vorgänger?«
»Das ist nichts, was dich jetzt noch interessieren braucht, Harbinger« brüllte Miranda ihn zornig an »Du hattest deine Chance. Alles was du tun solltest, war Tyler Curtis umzubringen. Aber du hast versagt.«
»Und deswegen willst du mich umbringen?«
Sie antwortete nicht, sondern kam nur ein paar Schritte näher.
»Du bist ein Teil von mir« murmelte Harbinger, während er mit einer deutlichen Geste sein erbeutetes Sturmgewehr in den Schnee warf »Also willst nicht du mich umbringen... Ich will mich umbringen.«
»Wenn es das ist, was du glauben willst« antwortete Miranda lachend »Es ist mir egal, wer dich umbringt. Hauptsache es wird gründlich getan. Du hattest schon ein wenig zu viel Glück für meinen Geschmack, Alex.«
»Was geschieht mit dir, wenn ich tot bin, Miranda?« fragte er »Wie kannst du dann weiter existieren?«
»Hör auf Fragen zu stellen« befahl Miranda »Mach dich einfach dazu bereit, zu sterben.«
Harbinger bedachte seine Situation. Er sah keinen Ausweg, keine Möglichkeit, diese Konfrontation zu überleben. Doch noch immer fraß sich diese eine Frage in sein Gehirn.
Warum sollte eine eingebildete Persönlichkeit versuchen, ihn umzubringen?
Ihm fiel keine Antwort ein. Er wusste nicht was er tun sollte, doch er hatte schon vor langer Zeit mit seinem Leben abgeschlossen, er hatte keine Angst.
Ein Schatten bewegte sich am Rande von Harbingers Blickfeld. Er versuchte sich danach umzudrehen, doch in diesem Augenblick sprang er aus seinem Augenwinkel direkt vor seine Augen. Direkt an Miranda vorbei. Sie schrie auf, als der Schatten sie berührte. Harbinger schaute sie verblüfft an, als die Hand, mit der sie den Revolver gehalten hatte, sich von ihrem Handgelenk löste und zu Boden fiel. Zurück blieb ein blutiger Armstumpf. Verängstigt wirbelte Miranda herum und rannte die Gasse entlang, während sie langsam verblasste.
»Das war knapp, Alex« hörte Harbinger eine ruhige Stimme.
Er schaute sich um und sah Morrec, der an einer Wand lehnte. In der Hand hielt Morrec das Schwert, dessen Klinge jetzt blutig war. Er war der Schatten gewesen, den Harbinger aus dem Augenwinkel gesehen hatte und der Mirandas Hand abgetrennt hatte.
»Du hast sie gesehen?« stieß Harbinger hervor.
»Ich habe etwas gesehen« verbesserte Morrec ihn »Du hast mit etwas gesprochen, das habe ich gesehen. Und dann habe ich gehandelt.« Durch die Kapuze konnte Harbinger Morrecs Gesicht nicht sehen, doch er hörte, dass der große Mann lachte. »Wie wäre es, wenn du mir sagst, was ich getan habe?«
»Um es so einfach wie möglich zu sagen: Du hast meiner eingebildeten Freundin die Hand abgeschlagen.«
»Was?«
»Ich bin schizophren, Morrec. Zumindest hat man mich das Glauben gemacht. Zwei Leute haben mich auf meinem Weg begleitet, nur ich habe sie gesehen. Sie sagten, dass ich sie mir nur einbilden würde, weil mein Gehirn Schaden genommen hätte. Aber jetzt wollen sie mich umbringen.« Er deutete ein Schulterzucken an. »Du hast mich gerade vor mir selbst gerettet, Morrec.«
»Das würde ich bezweifeln, Alex. Aber belassen wir es trotzdem erstmal dabei. LaCroy will dich offensichtlich ernsthaft umbringen, ansonsten würde er keine so großen Truppen auf dich ansetzen. Ich muss dich in Sicherheit bringen, Dante. Aber ich muss auch herausfinden, was LaCroy vorhat. Am Besten bringe ich dich an einen anderen Ort.«
»Wohin, Morrec? York?«
»Nein« antwortete der große Mann »Noch nicht. Ich bringe dich zuerst zu einem sicheren Ort. Und dann werde ich Maximilian suchen, damit er dich nach York geleitet. Ich habe in der Zwischenzeit noch etwas zu tun. Aber nun lass‘ uns erstmal aufbrechen.«
Mit diesen Worten griff Morrec unter seinen Mantel und zog einen langen Gegenstand hervor, der in ein weißes Tuch eingewickelt war. Er warf ihn Harbinger zu.
»Das kannst du vielleicht gebrauchen« bemerkte er und wandte sich um.
Harbinger schlug das Tuch zurück und warf einen Blick auf den Gegenstand. Es war ein Schwert wie Morrec es führte, mit einer langen Klinge aus Stahl. Die Parierstange war schlicht, jedoch zweckmäßig, genau wie das Heft, das aus Eisen gehämmert worden war. Harbinger nahm die Waffe in die Hand und schwang sie probeweise. Sie war perfekt ausbalanciert.
»Wollen wir gehen, Dante?« fragte Morrec, während Harbinger noch die Schneide des Schwerts mit dem Daumen.
»Gleich Morrec« antwortete dieser »Sag mir, wer ist Maximilian?«
»Du hast ihn schon getroffen.« Morrec drehte sich zu Harbinger um und obwohl die Augen des großen Mannes unter der Kapuze genau wie sein gesamtes Gesicht verborgen waren, spürte Harbinger wie sie sich in die seinen bohrten. »Maximilian MacBeth. Er ist der Mann mit dem verbrannten Gesicht, der dich hier her gebracht hat.«
»Oh. Natürlich. Gut, dann werde ich ihn erkennen.« Seufzend verhärtete Harbinger den Griff um das Heft des Schwertes und senkte die Klinge. »Gehen wir.«
»Du kannst mit einem Schwert umgehen?«
»Es reicht um mich zu verteidigen.«
»Gut. Es ist mit einer ganzen Menge Ärger zu rechnen.«
Ohne ein weiteres Wort setzte Harbinger sich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck in Bewegung. Morrec schloss sich ihm schweigend an.

Harbinger
29.05.2005, 10:54
Kapitel 11 – Cloned Insanity (Kalmah)

This glorious madness that is not in gods hands
Makes you believe you're all powerful
This inhumane robot
Becomes a heathen god
Will be idolized and takes all control
Spreads over the planet and infects us all

Seite an Seite schritten Harbinger und Morrec durch die verschneiten Hinterhöfe, jeder in einen langen Mantel gehüllt und ein langes Schwert in der Hand. Sie schwiegen und erwarteten jeden Moment einen Angriff. Ihre Muskeln waren angespannt, so dass sie auf der Stelle darauf reagieren könnten. Ihre Schritte führten sie durch den Schnee, an einem verfallenen Gebäude vorbei, dann an einem weiteren und noch einem. Nichts geschah.
»Bist du sicher, dass sie uns verfolgen, Morrec?« brach Harbinger schließlich das Schweigen.
»Ich war mir fast sicher« antwortete der große Mann mit einem zweifelnden Unterton in der Stimme »Aber ich könnte mich irren.«
»Hat LaCroy viele Leute?« fuhr Harbinger fort.
»Eigentlich hat er nur eine kleine Gruppe von Bodyguards. Aber er hat Kalayos Unterstützung und Kalayos Gang ist groß. Er könnte uns beinahe eine ganze Armee entgegen werfen. Wir können froh sein, wenn er das nicht tut.«
»Es ist so ruhig« murmelte Harbinger und wog das Schwert nervös in der Hand.
»Was willst du damit sagen?«
»Die Ruhe vor dem Sturm.« Harbinger warf einen Blick über die Schulter. »Vor dem Angriff herrscht immer eine nahezu greifbare Stille.«
Morrec drehte den Kopf zu Harbinger und die unsichtbaren Augen blickten ihn an.
»Lass‘ mich raten, Dante« sagte Morrec leise lachend »Du hast zu viele schlechte Filme gesehen, oder?«
Harbinger errötete leicht.
»Aber es ist wirklich ruhig« protestierte Harbinger »Das gefällt mir nicht.«
»Keine Sorge. Solange alles ruhig ist ist alles in Ordnung. Sobald die Explosionen, die Kugeleinschläge und die Kampfschreie beginnen, dann kannst du dir Sorgen machen.«
»Ich glaube, du machst dich über mich lustig, Morrec.«
»Ich?« Diesmal lachte Morrec lauter. »Würdest du mir das zutrauen, Dante?«
»Ich kenne dich nichtmal, Morrec. Ich traue dir alles zu.«
Morrec blieb plötzlich stehen und lauschte.
»Schön, dass du mir alles zutraust, Dante« sagte er schließlich und hob sein Schwert »Dann traue mir auch jetzt, wenn ich dir sage, dass es jetzt Zeit wird, dein Schwert zu heben.«
Harbinger verhielt sich für einen Augenblick ganz ruhig und versuchte etwas zu hören. Ein leises Flüstern drang an sein Ohr. Ein Klicken hingegen ließ ihn herumfahren und die Klinge in seiner Hand heben.
»Los geht’s« rief Morrec und ging in die Knie.
Eine Kugel pfiff an Harbingers Bein vorbei und schlug in den aufgewühlten Schnee des Hinterhofs ein. Dem Schussgeräusch folgte ein kurzer wütender Kampfschrei, als ein ungepflegt aussehender Mann hinter einer Ecke hervorsprang, eine schwere Keule und einen Revolver schwingend. Hinter ihm betrat ein weiterer Mann den Hinterhof. Er hielt eine Axt in der Hand und rannte auf Harbinger zu.
»Zwei, Morrec« brüllte Harbinger und erhob sein Schwert »Hilf mir.«
»Das wirst du schon alleine schaffen müssen, Dante« hörte er die Antwort, die in wildem Kampfgetümmel hinter ihm unterging, während er mit dem Schwert einen Keulenschlag abfing »Ich habe hier drüben genug zu tun.«
Die beiden Angreifer bauten sich vor Harbinger auf und schlugen mit ihren Waffen auf den jungen Mann ein. Er parierte Geschickt und stieß mit der Schulter zu. Der Mann mit der Keule wankte zurück, als Harbingers Gewicht gegen seinen Körper schmetterte. Während dieser Angreifer zurücktaumelte wendete Harbinger sich dem Gegner mit der Axt zu. Der Stahl seines Schwertes traf funkensprühend auf die breite Axtklinge und glitt davon ab. Der Söldner mit der Axt grinste bösartig, als er seine Chance sah, den großen Mann niederzustrecken. Harbingers Schwert war gesenkt, da die Axt des Mannes die Waffe abgelenkt hatte. Mit einem wilden Aufschrei sprang der Angreifer mit erhobener Axt nach vorne.
Ein lauter Knall ertönte und der Angreifer stürzte mit leerem Blick zu Boden. Ein dünner Rinnsal aus Blut floss durch den Schnee von seiner Leiche fort. Grimmig warf Harbinger einen Blick auf die Beretta, die in seiner Hand lag. Er hatte sie blitzschnell unter seinem Mantel hervorgeholt und den angreifenden Mann mit einer einzelnen Kugel erschossen. Zögernd richtete er die Pistole auf den zweiten Gegner, der mit der Keule in der Hand bereits wieder heran stürmte. Fluchend warf Harbinger die Waffe in den Schnee und hob wieder sein Schwert.
Die Klinge traf auf die Holzkeule, schnitt in das dicke Holz und blieb darin stecken. Mit einem verärgerten Ausruf zerrte Harbinger am Heft seiner Waffe, doch es nützte nichts. Sie hatte sich in der Waffe seines Gegners verkantet und ließ sich nicht einfach herausziehen. Der Söldner lachte bösartig, hielt mit der einen Hand seine Keule und damit auch Harbingers Schwert fest und schlug seinem Gegenüber mit der anderen Faust ins Gesicht. Harbingers Finger lösten sich vom Griff seines Schwertes, während er zurücktaumelte.
Keuchend stieß er mit dem Rücken gegen etwas weiches, nachgiebiges. Erschrocken wirbelte er herum und sah einen der Söldner, der offensichtlich mit Morrec gekämpft hatte. Morrecs Schwert ragte aus seiner Brust und ein schmerzerfülltes Zittern durchlief seinen Körper. Harbinger reagierte sofort. Er fuhr mit der Hand den rechten Arm des Sterbenden hinunter und griff zu, als er die Waffe des Mannes spürte. Wütend riss er daran und wandte sich sofort zu seinem Gegner mit der Holzkeule um. Triumphierend hob er die Waffe, die er erbeutet hatte.
In seiner Hand lag ein langes rostiges Messer.
Harbinger fluchte, als er sah, dass die Klinge absolut stumpf war, den Mann, der sein Schwert hatte, schien es hingegen zu amüsieren. Siegessicher ging er auf Harbinger zu und hob seine Keule, in der die Klinge steckte, die Morrec Harbinger gegeben hatte. Grinsend holte er zum Schlag aus. Harbinger ergriff sein stumpfes Messer an der Klinge und machte einen Ausfallschritt nach vorne. Zornig wich er dem Schlag seines Gegners aus und packte ihn mit der freien Hand am Kragen. Bevor der Mann sich wehren konnte, schlug Harbinger mit dem Griff des Messers zu. Das stumpfe, aber schwerere Ende traf den Mann an der Stirn und er keuchte, während sein Blick glasig wurde. Kraftlos versuchte der Mann seine Keule zu heben, doch Harbinger schlug wieder zu. Die Gegenwehr des Söldners wurde nach jedem Schlag, der ihn traf schwächer, bis er schließlich schlaff in Harbingers Griff wurde.
Wutentbrannt stieß Harbinger den bewußtlosen Mann zu Boden und riss die Keule, in der sein Schwert steckte, an sich. Er packte die Waffe am Heft und setzte seinem Gegner die Spitze der Klinge auf die Brust. Für einen einzigen Augenblick wollte er nichts lieber, als dem Bewußtlosen, der im Schnee lag, die Klinge durch das Herz treiben, das Leben aus ihm herausquetschen. Doch dann wurde er von furchtbarem Grauen ergriffen.
Wie kam er dazu, einen Menschen kaltblütig töten zu wollen? Noch vor wenigen Tagen war es das Furchtbarste gewesen, in Notwehr Männer zu töten, die es auf sein Leben abgesehen hatten. Und nun dachte er daran, einem wehrlosen Mann sein Schwert in den Körper zu treiben. Er verabscheute sich selbst für dieses Verlangen. Was würde Amanda von ihm denken? Was würde Miranda von ihm denken? Er hielt in Gedanken inne. Er war sich nichtmal sicher, was Miranda überhaupt dachte. Er war sich nichtsmehr sicher, was Miranda betraf. Statt dessen schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf.
Was würde Laurel von ihm denken?
Er wusste nicht, warum er gerade jetzt an die junge Prostituierte dachte, doch irgendwie schien es ihm wichtig, was sie von ihm hielt. Er musste diese Gedanken verdrängen, musste etwas dagegen unternehmen. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er musste seine Zweifel in Wut ertränken.
Mit einem wilden Aufschrei wandte er sich von dem Bewußtlosen ab und schwang sein Schwert, dessen Klinge noch immer in der Holzkeule feststeckte. Mitten im Schlag änderte er die Richtung, als er ein geeignetes Ziel für seinen Angriff fand. Die Holzkeule stieß wuchtig gegen den Kopf eines Mannes, der mit einem Schwert in der Hand auf Morrec zugegangen war. Blut und Holzsplitter stürzten in den aufgewühlten Schnee, als sowohl die Keule als auch der Kiefer des Angreifers brach. Harbingers Schwert war wieder frei.
Mit einem Stoß des Ellenbogens schleuderte er den Mann mit dem gebrochenen Kiefer gegen eine Hauswand, bevor er in einem ruhigen Augenblick die Situation überblicken konnte. Im blutigen Schnee zu seinen Füßen lag die Leiche des Mannes, den er erschossen hatte, neben dem Bewußtlosen, den er mit dem stumpfen Messer niedergeschlagen hatte. Ein Stück entfernt saß der Mann mit dem gebrochenen Kiefer leise wimmernd auf dem Boden.
Morrec hatte in der Zwischenzeit gründlichere Arbeit geleistet. Er war anscheinend von wesentlich mehr Angreifern bedrängt worden, als Harbinger. Vier von ihnen lagen bereits tot auf dem Boden, zwei starben noch, während ihr Blut in die Schneewehen spritzte. Nurnoch einer von Morrecs Gegnern war auf den Beinen. Ein blutiger Riss zog sich über seine linke Seite und seine Hände zitterten stark.
»Warte Morrec« rief Harbinger dem großen Mann in dem schwarzen Mantel zu »Töte ihn nicht.«
»Warum nicht, Dante?« fragte Morrec und richtete sein Schwert auf die Kehle des Mannes.
»Ich will mit ihm sprechen« antwortete Harbinger leise »Vielleicht kann er mir einige Fragen beantworten.«
»Wenn du unbedingt willst.« Morrec zuckte mit den Schultern und wandte sich an den Verletzten, der vor ihm stand. »Der Mann will mit dir reden. Wenn du bei der Wahrheit bleibst, dann überlebst du vielleicht.«
Der Mann schluckte und nickte schwitzend.
»Okay« sagte Harbinger zu seinem Gefangenen »Fangen wir mit was einfachem an. Ich werde dir keine Suggestivfragen stellen. Ich will, dass du alles aus eigener Kraft beantwortest. Fangen wir einfach an. Wie heißt du?«
»Mein Name... ist Gellec« stotterte der Mann kraftlos.
»Schön, Gellec. Ich bin Alexander Harbinger. Aber ich bin ziemlich sicher, dass du das schon längst wusstest. Für wen arbeitest du?«
»Ich bin ein einfacher Soldat in den Streitkräften von Dragos Kalayo.«
»Ist das alles?«
Gellec warf einen verwirrten Blick auf Harbinger.
»Ich verstehe nicht...« begann er.
»Für wen arbeitet dein Boss?« unterbrach Harbinger ihn »Steht er im Augenblick im Dienst von irgend jemandem?«
»Er... hat einen Vertrag mit Richard LaCroy.«
»Also ist es wahr« wandte Harbinger sich an Morrec »LaCroy hat sich tatsächlich mit Kalayo verbündet. Aber wozu braucht er eine Armee?«
»Ich weiß es nicht« antwortete Morrec »Vielleicht kann unser Freund hier etwas Licht ins Dunkel bringen.«
»Das glaube ich eher nicht.« Nachdenklich schaute Harbinger wieder Gellec an. »Seit wann sind Kalayo und LaCroy miteinander verbündet?«
»Noch nicht lange« antwortete der Straßensoldat nach kurzem Überlegen »Vielleicht seit einer Woche. Länger auf keinen Fall.«
»Weißt du, wozu LaCroy eure Hilfe braucht, Gellec?«
»Ich kenne nur die Gerüchte, die unter uns Soldaten die Runde gemacht haben. Es heißt, dass LaCroy einen Angriff von Tyler Curtis erwartet und deswegen eine Armee um sich braucht. Angeblich wartet Curtis nurnoch auf einen mächtigen Krieger, der seine Streitkräfte unterstützt, bevor die Schlacht beginnt.« Gellec seufzte leise. »Ich sollte glücklich sein, dass ihr mich besiegt habt. So muss ich nicht in den Krieg zwischen LaCroy und Curtis ziehen. Die Überlebenschancen sind äußerst gering.«
Harbinger dachte kurz über das soeben gehörte nach.
»Schön« sagte er schließlich »Kommen wir zu etwas anderem. Wie lautete der Auftrag, der euch hier her geführt hat, Gellec?«
»Kalayo stellte eine Truppe von dreißig Männern ab« erklärte der Gefangene »Er wies uns an, die Straßen nach einem gewissen Alexander Harbinger zu durchsuchen. Tja, wir sahen dich, wie du in der Bar saßest. Und wir griffen an.«
»Dreißig Männer?« fragte Harbinger mit weit aufgerissenen Augen.
»Das könnte hinkommen« warf Morrec ein »Du hast in der Bar drei getötet. Ich habe nicht alle anderen erwischt. Ein paar von denen, die in die Kneipe gestürmt sind, könnten zu denen hier gehören.«
»Aber die dreißig Männer waren noch nicht alles« unterbrach Gellec den großen Mann »Kalayo hat auch noch seine beiden engsten Vertrauten ausgesandt, um dich abzufangen, Harbinger.«
»Seine beiden engsten Vertrauten?« fragte Morrec und Harbinger konnte hören, wie er nervös die Luft einsog »Du meinst Zeyden und Jax?«
Wortlos nickte Gellec. Morrec begann wilde Flüche auszustoßen, während er wütend durch den Schnee stapfte.
»Wer sind Zeyden und Jax?« wandte Harbinger sich an ihn.
»Das sind Kalayos beste Schwertkämpfer« antwortete Morrec, noch immer auf und ab gehend »Sie sind professionelle Killer. Und sie sind irgendwo dort draußen und warten auf uns. Oder...« Morrec hielt inne und hob den Kopf. »Mach dich bereit, Dante.«
Während Morrec sein Schwert hob war ein leises Zischen zu hören. Ein Wurfdolch zerschnitt die Luft direkt vor Harbingers Gesicht und drang knirschend in Gellecs Brust ein. Der Straßensoldat fiel keuchend zu Boden und starb nach wenigen Augenblicken.
»Kümmere du dich um Jax« wies Morrec Harbinger an »Ich knöpfe mir Zeyden vor.«
Kaum hatte der große Mann diese Worte ausgesprochen, sprangen schon zwei dunkle Gestalten mit Schwertern in den Händen in den aufgewühlten Schnee des Hinterhofs. Sie traten aus dem Schatten, so dass Harbinger sie sehen konnte. Er erkannte Zeyden daran, dass Morrec mit erhobenem Schwert auf ihn zuging. Zeyden war etwas kleiner als Harbinger mit breiten Schultern und muskulösen Oberarmen. In der Hand hielt er ein mächtiges Zweihandschwert, das er drohend erhob, als Morrec näher kam. Jax hingegen war klein und schlank. Er hatte keine sichtbaren Muskeln und schmale Schultern. In seiner Hand lag ein leichtes Schwert mit langer, schmaler Klinge.
Harbinger hob seine Waffe und schritt auf Jax zu. Aus dem Augenwinkel sah er bereits, wie der Kampf zwischen Morrec und Zeyden entbrannte, doch er achtete nicht weiter darauf. Wenn Morrecs Worte der Wahrheit entsprachen, dann musste er einen klaren Kopf behalten, wenn er eine Chance gegen Jax haben wollte. Bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen und machte sich für den ersten Angriff bereit. Jax sah ihn unverwandt an. Der kleine Mann bewegte sich kaum, er hatte nichtmal seine Klinge erhoben.
Als Harbinger nahe genug herangekommen war, setzte er blitzschnell zu einem kräftigen Schwerthieb an. Die Klinge raste auf Jax zu, zerschnitt jedoch nur die leere Luft, als der kleine Schwertkämpfer zur Seite auswich. Harbinger setzte nach, führte eine rasche Folge von ungestümen Schwertstreichen auf den kleinen Mann niederprasseln. Kein einziger Schlag traf sein Ziel. Jax war zu flink, als dass Harbinger ihn treffen konnte. Dann, als Harbingers Schultern zu schmerzen begannen, hob Jax wie auf einen stummen Befehl sein Schwert und ging zum Gegenangriff über.
Sein langes Schwert zuckte nach Harbingers ungeschütztem Körper. Der große Mann konnte im letzten Augenblick zurückweichen und seine eigene Waffe hochreissen, um Jax‘ Angriff abzuwehren. Die Klingen berührten sich für einen kurzen Augenblick und ein schabendes Geräusch erfüllte die Luft, als Stahl über Stahl strich. Jax reagierte wieder wesentlich schneller als Harbinger und zog sein Schwert an seinen Körper, um dann direkt wieder zuzustechen.
Harbinger versuchte dem Stich zu entgehen, doch die scharfe Klinge drang in seinen rechten Oberschenkel ein. Schmerzerfüllt schrie der große Mann auf und versuchte das Schwert aus seinem Körper zu ziehen, doch Jax ließ nicht locker. Harbinger versuchte ein weiteres mal sich von der Waffe des kleinen Mannes zu befreien, aber als es wieder nicht gelang, beugte der große Mann sich stattdessen vor und schlug mit der bloßen Faust zu. Das Schwert stach zwar tiefer in sein Bein, doch er biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz. Er traf Jax direkt im Gesicht und der Schwertkämpfer taumelte zurück, wobei er die Hand von seinem Schwertgriff nahm.
Leise fluchend griff Harbinger nach dem Griff der Waffe, die in seinem Bein steckte. Er zog daran und die Kling fuhr knirschend aus seinem Bein, gefolgt von einem hellen Blutstrahl, der in den aufgewühlten Schnee spritzte. Klirrend fiel Jax‘ Waffe zu Boden, während Harbinger seine hob. Er warf dem kleinen Mann, der sich noch immer von dem Fausthieb erholte, einen hasserfüllten Blick zu.
»Sieht nicht gut für dich aus« zischte Harbinger durch die geschlossenen Zähne.
Jax antwortete nicht. Er schüttelte leicht den Kopf, um sich von der Benommenheit, die von Harbingers Schlag geblieben war, zu erholen. Plötzlich warf er sich nach vorne auf seinen Gegner zu. Harbinger reagierte schnell, führte einen geschickten Schwertstreich gegen Jax‘ Kopf, verfehlte diesen jedoch um Haaresbreite. Jax bückte sich nach seinem Schwert, das vor Harbingers Füßen lag, hob es auf und riss die Klinge hoch. Harbinger sprang vor der scharfen Waffe zurück und parierte den Schlag. Die Schwerter trafen aufeinander und glitten wieder voneinander ab, während Harbinger rückwärts taumelte und zu Boden fiel.
Er landete auf etwas hartem. Blitzschnell rollte er sich zur Seite und griff zu. Die Beretta, die er in den Schnee geworfen hatte, lag in seiner Hand. Jax stürmte heran, das Schwert gesenkt und Mordlust in den Augen. Ein Schuss löste sich aus Harbingers Pistole und streifte den kleinen Mann an der Hüfte. Blut spritzte zu Boden, als Jax im Schritt angehalten wurde. Er schrie ein einziges mal auf, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Harbinger schoss ein weiteres mal, doch die Kugel verfehlte seinen Gegner.
Dann stand Jax wieder vor Harbinger und schlug mit dem Schwert zu. Die Schusswunde in seiner Seite schien ihn nicht zu behindern, doch alleine die Tatsache, dass Harbinger seinen Gegner mit der Beretta verwundet hatte, ließ ihn neue Kraft schöpfen. Er hob das Schwert über seinen Körper und fing den Schlag ab. Seine Position war ungünstig, er musste auf die Beine kommen, um sich gegen Jax wehren zu können. Mit einem Aufschrei hob Harbinger erneut die Beretta und schoss. Die nächste Kugel durchschlug Jax‘ rechte Brusthälfte. Keuchend stolperte der kleine Mann nach hinten und fiel in den Schnee. Harbinger sprang auf und warf einen Blick auf seinen Gegner, der blutend auf dem Boden lag.
»Sieht nicht gut für dich aus« sagte Harbinger nochmal und rang nach Atem.
Jax lachte abfällig.
»Sieht so aus, als hättest du gewonnen, toter Mann« antwortete Jax schwach.
»Du willst nicht weiterkämpfen?« fragte Harbinger und richtete die Beretta auf seinen Feind.
»Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ich sterbe, toter Mann.«
»Warum nennst du mich toter Mann?«
»Weil Richard LaCroy dich tot sehen will, Harbinger. Und nur weil du mich besiegt hast, wirst du nicht überleben. Du wirst sterben. Und nun beende, was du angefangen hast. Ich bin müde mit dir zu sprechen. Los, schieß!«
Harbinger seufzte und drückte ab. Die Kugel traf Jax‘ Brust, fuhr durch sein Herz und tötete innerhalb einer einzigen Sekunde. Harbinger nahm sich keine Zeit, um zu überprüfen, ob Jax wirklich tot war. Es gab wichtigeres für ihn zu tun. Er wirbelte herum und warf einen Blick auf Morrec und Zeyden. Die beiden Männer standen in geringem Abstand einander gegenüber und hielten ihre Schwerter gesenkt. Jeder wartete darauf, dass der andere den nächsten Schritt tat.
»Morrec...« rief Harbinger.
»Geh, Dante« antwortete Morrec, ohne den Blick von Zeyden zu wenden »Ich halte ihn auf.«
Harbinger wagte nicht, zu widersprechen. Er wusste, dass er fliehen musste. Mit wehendem Mantel drehte er sich um und lief los. Das Schwert entglitt seinen Fingern und fiel zu Boden, genau wie die Beretta. Er lief, während der Kampf in seinem Rücken erneut entbrannte.
Die Hinterhöfe verschwammen vor Harbingers Augen. Er versuchte eine der Hauptstraßen zu erreichen, einen sicheren, hellen Ort, an dem sich keine Mörder versteckten. Er wusste nicht, wie lange er gelaufen war, doch schließlich erreichte er eine der breiten Straßen, auf denen die Autos dicht an dicht standen und die Fahrer einander beschimpften und anhupten. Harbinger lehnte sich erleichtert an eine Hauswand und atmete auf. Auf einer Litfasssäule in der Nähe befand sich eine erleuchtete Uhr. Ein Blick darauf verriet Harbinger, dass es zwei Uhr morgens war. Er stieß sich von der Wand ab und ging die Straße hinunter, zwischen den Passanten hindurch, die noch immer unterwegs waren.
Nachdem er eine weile gegangen war, kam ihm die Umgebung mehr und mehr bekannt vor. Er wusste, dass er hier schon gewesen war und das vor nicht allzulanger Zeit. Er kam an einer kleinen Seitengasse vorbei und warf einen Blick hinein.
Der Schnee war unter einer frischen Schicht aufgewühlt gewesen und geronnenes Blut war hier und da unter den Schneemassen zu sehen. Fußspuren führten vom Zentrum der Blutspuren auf die Hauptstraße, auf der Harbinger stand. Er wusste, wo er war.
Mit einigen Schritten hatte er die Eingangstür der kleinen Bar erreicht, in die er schon eine Nacht zuvor getaumelt war. Trotz allem, was dort geschehen war, schien die Kneipe geöffnet zu sein. Harbinger griff nach der Türklinke und trat ein.
Erleichtert, dass außer ihm niemand in der Bar war, ging er auf die Theke zu und setzte sich. Keine Besucher bedeutete auch keine Killer. Nichtmal der Barkeeper war zu sehen.
»Komme gleich« rief eine Stimme aus einem Nebenraum.
Harbinger seufzte. Nach den Schrecken der Nacht musste er erstmal etwas trinken. Er wartete eine Minute, bis schwere Schritte hinter der Bar erklungen. Der Barkeeper war eingetreten. Harbinger hob den Blick und erschrak.
Der Barkeeper war groß und muskulös, hatte einen kurzen Bürstenhaarschnitt und eine Augenklappe auf dem linken Auge. Harbinger starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das war unmöglich. Er hatte gesehen, wie dieser Mann erschossen worden war.
»Was darf‘s sein?« fragte der muskulöse Mann.
»Ich...« stotterte Harbinger als Antwort, bevor er sich entschloss, die Sache anders anzugehen »Sagen Sie, kennen wir uns?«
»Das mag sein« brummte der Barkeeper »Aber ich sehe hier jeden Abend so viele Typen ein und aus gehen, dass ich mich nicht an jeden einzelnen erinnern kann. Waren Sie schonmal hier?«
»Ja... Gestern nacht.«
»Oh, da war ich wohl da. Dann haben wir uns sicher schonmal gesehen.«
»Ist Gestern irgendwas besonderes passiert?« fragte Harbinger und versuchte ganz beiläufig zu klingen.
»Ach, nichts.« Der Barkeeper lachte. »Ein paar Zechpreller und eine kleine Schlägerei. Sonst war alles ruhig.«
»Klingt so als wäre ein wenig Blut geflossen.«
»Ach.« Der muskulöse Mann winkte ab. »Nicht der Rede wert. Aber kommen wir zu wichtigerem. Was hätten Sie gerne.«
»Einen Whiskey« antwortete Harbinger mit schwankender Stimme.
»Wenn’s nur das ist« brummte der Barkeeper schulterzuckend.
Während er sich umdrehte stand Harbinger von seinem Hocker auf. Er ging durch die Tür, die zu den Toiletten führte. Vor einem der Spiegel blieb er stehen. Am Rande bemerkte er, dass es der selbe Spiegel war, durch den er sich in der vorigen Nacht gesehen hatte.
Wurde er verrückt? Hatte er sich alles nur eingebildet? Es war ihm alles so real vorgekommen, aber der äußerst lebendige Barkeeper war Beweis genug dafür, dass Harbinger den Verstand verloren hatte. Er hätte es wissen müssen. Die eingebildeten Freunde, die merkwürdigen Gefühle, die Monstren, die ihn verfolgt hatten. Das waren keine Vorboten gewesen. Es war der Wahnsinn selbst. Beiläufig fragte Harbinger, ob es Laurel tatsächlich gegeben hatte, oder Wittmore, oder Morrec. Vielleicht war er durch die Straßen gelaufen und hatte mit Phantomen gesprochen. Vielleicht war er in das Haus eines reichen Mannes und seiner Frau eingebrochen und hatte sie umgebracht, grundlos. Er hätte es wissen sollen in dem Augenblick, indem Morrec Mirandas Hand abgeschlagen hatte. Es war alles Einbildung.
Wenn es Miranda nicht gab, dann konnte es Morrec auch nicht geben. Er hatte behauptet, dass er etwas gesehen hätte, an der Stelle, an der sie stand. Und wenn es keinen Morrec gab, dann konnte es auch keine Laurel und keinen Wittmore geben, keinen William Tank, alles Lüge. Nur Tyler Curtis war dort draußen und er war Wirklichkeit. Wahrscheinlich hatte Harbinger seine Waffe auf den Mörder seiner Freunde gerichtet, doch sein eigener Wahnsinn hatte ihn dazu gebracht, diesen Bastard laufen zu lassen. Und jetzt war es zu spät. Er könnte genau so gut seinem Leben hier und jetzt ein Ende setzen. Wenn er doch nur die Beretta nicht weggeworfen hätte, dann wäre dieser ganze Wahnsinn vorbei.

Harbinger
29.05.2005, 11:31
Intermezzo 5 – Bloodletting (Marduk)

The ones among stardust the ones of the deepest pits
Apostles of christ and those who so perfectly into hell fits
All behind heavens door and the ones to the ocean floor
Strong and beautiful or uttermost twisted
All will they bleed

»Jetzt hätte ich schon gerne was zu trinken« sagte Patient Nummer 759, während er sich auf einen Barhocker setzte.
»Schön« knurrte der Barkeeper »Und was?«
»Whiskey« antwortete der Mann.
Der Barkeeper wandte sich um, ergriff eine Flasche Whiskey und ein Glas und stellte beides vor seinen Kunden. Wortlos schenkte er ein.
»Und vielleicht können Sie mir noch ein paar Informationen geben« fuhr der Patient fort.
»Kommt drauf an« erwiderte der muskulöse Mann mit gierigem Blick.
Seufzend warf Patient 759 ein paar Scheine auf die Theke.
»Das sieht schon ganz gut aus« bemerkte der Barkeeper grinsend und griff nach dem Geld »Worum geht’s?«
»Es geht um Richard LaCroy. Wo finde ich ihn und wie kann ich ihn umbringen?«
Der Barkeeper erbleichte sichtlich.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein« keuchte er.
»Mir war nie etwas ernster« antwortete der Patient leise.
Es sah so aus, als wollte der Barkeeper noch etwas sagen, doch der Tod ließ ihn verstummen, als eine Kugel seine Stirn durchschlug. Der Patient sprang sofort von seinem Hocker auf und wirbelte herum. Fünf Männer mit verschiedensten Schusswaffen standen in der Tür. Sie hatten die Schrotflinten, Pistolen und Gewehre gesenkt, doch sie schienen entschlossen zu sein, den Mann zu töten. Doch bevor einer von ihnen angreifen konnten, ergriff Patient Nummer 759 das Whiskeyglas von der Theke und schleuderte es nach den Männern. Das Glas traf einen von ihnen im Gesicht, splitterte und grub sich in seine Züge. Der Killer schrie auf, als die Scherben ihm ein Auge ausstachen. Er taumelte zurück gegen seine Kollegen, die für einen Augenblick abgelenkt waren.
Dieser Augenblick war alles, was Patient 759 brauchte. Er sprang auf sie zu und griff an. Mit einer einzigen Handbewegung brach er einem der Killer den Arm und riss seine Desert Eagle an sich. Blitzschnell hob er die Waffe und erschoss den Mann, dem er das Glas ins Gesicht geworfen hatte und seinen Partner mit dem gebrochenen Arm. Der nächste Schuss zerriss einem der Angreifer die Schulter. Die Männer hoben ihre Waffen und versuchten auf den Patienten zu zielen, doch er war bereits in ihrer Mitte. Ein Schuss löste sich aus der Schrotflinte eines der Killer. Eine der Kugeln riss ein Loch in die Handfläche von Patient Nummer 759, doch der größte Teil des Schrots zerriss den Brustkorb eines der anderen Killer. Er röchelte, spuckte Blut und fiel sterbend zu Boden. Mit einem schmerzerfüllten Aufschrei rammte der Patient seine Faust gegen die Schläfe des einen Killers, bevor er dem letzten Gegner einen Bauchschuss mit der Desert Eagle verpasste. Beide fielen zu Boden und blieben liegen. Der Patient knurrte einige hasserfüllte Worte, bevor er den Verletzten eine Kugel in den Kopf jagte.
Er war hier nicht sicher. Sie hatten ihn gefunden. Schnell steckte er die Desert Eagle ein und stieß die Tür der Bar auf. Mit zwei Schritten war er auf der Straße und sah sich um. Keine Gefahr war zu sehen. Er musste trotzdem verschwinden.
Es gab kein Geräusch, nichtmal das leiseste Zischen. Mit tödlicher Präzision durchschlug die Kugel die Brust von Patient Nummer 759. Sie sprengte sein Herz und trat an seinem Rücken wieder aus. Ein letzter Atemzug blieb, bevor der Mann tot auf dem Bürgersteig vor der Bar zusammensank.

Harbinger
29.05.2005, 11:41
Kapitel 12 – Pitch Black Ink (Cryhavoc)

With the sorrow's pitch-black ink your picture is tattooed in my mind
Another morning after without you
From the floor I wake, roof is falling down on me
How on earth I was so blind that your grief I couldn't see

Lebenswillen war für Alexander Harbinger ein Fremdwort geworden. Er hatte alles verloren, wirklich alles. Sein Blick verlor sich in dem Spiegel, der vor ihm hing. Was sollte er nur tun? Sein Blick schweifte zur Seite ab. Er las erneut die Wandfließen, auf die Worte und Sätze geschrieben worden waren. Ein weiterer Fiel ihm ins Auge, den er letztes mal nicht bemerkt hatte. >York lebt< war fein säuberlich auf eine der Fließen geschrieben worden. Harbinger starrte auf die Worte, tief in Gedanken versunken.
»Du hast verloren, Dante« zischte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Bevor er sich umdrehen konnte, traf ihn ein Faustschlag in die Seite. Mehr aus Überraschung als aus Schmerz taumelte er zur Seite und wirbelte herum. Vor ihm stand Miranda. Ihre Augen blitzten hasserfüllt und auf dem Stumpf ihres rechten Armes befand sich ein blutgetränkter Verband.
»Morrec ist nicht hier, um dir zu helfen« fuhr sie fort.
Er lachte leise. Es war ein schmerzerfüllter, freudloser Laut.
»Wovon sprichst du?« fuhr er sie gereizt an »Du existierst nichtmal, genau so wenig wie Morrec oder Wittmore oder wer auch immer. Ihr seid alle nur meine Einbildung. Ich bin einfach nur ein total Verrückter, der sich nach dem Tod sehnt.«
Er ging einen Schritt auf sie zu.
»Dann bring’ mich doch um« rief er »Tu es endlich, anstatt immer nur darüber zu reden. Töte mich. Dann gibt es einen psychopathischen Mörder weniger, der nicht selbst für seine Taten verantwortlich ist, der von den „leisen Stimmen“ dazu gezwungen wurde.«
Er machte einen weiteren Schritt.
»Wie viele Menschen, Miranda?« Er lachte gequält. »Wie viele Menschen habe ich umgebracht, weil meine Einbildungen mich dazu getrieben haben? Ich hatte am Ende kein Problem mehr damit, einem wehrlosen Mann eine Kugel in den Kopf zu jagen. Wie viele waren es... Da waren diese Killer in dieser Bar, dann der junge Anführer von diesen Anarchistenjägern. Ich weiß nicht, ob er zu Curtis oder zu Kalayo gehörte, aber einer von beiden muss es gewesen sein.«
Harbinger näherte sich einen weiteren Schritt.
»Und da es Laurel nicht gegeben haben kann, habe ich auch diesen Killer getötet. Er muss auf mich angesetzt gewesen sein. Und dieses Ehepaar. Ich bin bei ihnen eingebrochen und habe sie kaltblütig ermordet und habe versucht, die Sache Laurel anzulasten... Ich habe den Anführer dieser Söldner in dem Hotel erschossen. Und da es keinen Thomas Wittmore geben kann, habe ich die restlichen auch getötet. Sie sollten wahrscheinlich auch mich töten. Dann war da der Kerl in der Waffenfabrik. Während dieser Straßenschlacht habe ich bestimmt ein halbes Dutzend Männer umgebracht. Und dann diese Killer in der Bar und in den Hinterhöfen.«
Mit einem letzten Schritt baute er sich direkt vor Miranda auf und schaute auf sie herunter.
»Ich habe dreißig von Kalayos Männern getötet, darunter einen seiner besten Schwertkämpfer. Ich habe ihn geschlagen. Als er hilflos auf dem Boden lag habe ich ihn kaltblütig ermordet. In den letzten zwei Tagen habe ich ungefähr fünfundvierzig Menschen getötet. Und das nur, weil mir die „leisen Stimmen“ eingeredet haben, dass es das richtige gewesen wäre. Wenn ich nicht das Musterbeispiel eines Psychopathen bin, dann weiß ich es auch nicht. Also töte mich endlich, Miranda, damit all das hier vorbei ist.«
Sie antwortete nicht, sondern blickte ihn einen Augenblick bestürzt an. Dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck von Bestürzung in Verachtung. Sie ballte ihre verbleibende Faust und rammte sie in Harbingers Magengrube. Er taumelte zurück, während ihm die Luft aus den Lungen fuhr. Keuchend stürzte Harbinger zu Boden und blieb auf den Fließen liegen.
»Du hast ja keine Ahnung, Alexander Harbinger« sagte Miranda verächtlich »Noch viele weitere Leichen gehen auf dein Konto. Aber das weißt du alles schon längst nichtmehr. Du bist ein nichts, vollkommen austauschbar, ein gescheiterter Versuch. Ich werde dich wegfegen, vom Angesicht dieser Stadt. Und wenn du erst tot bist, dann können wir von vorne beginnen.«
Sie ging auf Harbinger zu, der versuchte vom Boden aufzustehen. Erbarmungslos trat sie ihm in die Rippen. Schwer atmend brach er wieder zusammen, versuchte weg zu kriechen.
»Warum tust du nichts, Alexander Harbinger?« Sie lachte bösartig. »Wehre dich. Du willst doch nicht kampflos sterben, oder?«
»Warum nicht?« keuchte er »Ich sehne mich nach dem Tod, der diesen Wahnsinn beenden wird. Und nie würde ich gegen dich die Hand erheben.«
»Sie haben es also gründlicher gemacht, als ich dachte« murmelte sie »Erstaunlich. Aber trotzdem bist du wertlos.«
Sie trat erneut zu und traf Harbingers Knie. Er stöhnte schmerzerfüllt auf. Schwach kroch er noch ein Stück zurück, bis die gefließte Wand in seinem Rücken war und er sich daran lehnte.
»Endstation, Dante« sagte sie böse lachend.
Plötzlich fiel ihm etwas auf, etwas was sie gesagt hatte.
»Du nennst mich Dante?« fragte er »Du hast mich früher immer Dante genannt, weil das mein Künstlername war. Aber... Aber seit dem du hier hinter mir erschienen bist... Seitdem hast du mich Alex genannt. Warum nennst du mich jetzt Dante?«
Sie hielt inne und betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf.
»Das hat mir niemand gesagt« sagte sie zu sich selbst »Sie scheinen es doch nicht so gründlich gemacht zu haben.«
»Wovon sprichst du, Miranda?« rief er.
»Das ist nichtmehr wichtig, Alexander Harbinger... Oder Dante... Oder wie auch immer.«
Sie griff mit ihrer verbleibenden Hand unter ihr Kleid und holte ein scharfes Kampfmesser hervor.
»Jetzt ist Zeit für dich, zu sterben« fauchte sie.
Drohend näherte sie sich Harbinger, der an der Wand lehnte, kraftlos sein Ende erwartend.
Und plötzlich stand jemand in der Tür, eine weibliche Gestalt, groß mit langen braunen Haaren. Harbinger erkannte sie sofort. Es war Amanda. Sie lief auf Miranda zu und warf sich gegen die rothaarige Frau.
»Was...« entfuhr es Miranda, während sie ein Stück vorwärts stolperte und das Messer aus ihrer Hand fiel.
Amanda achtete nicht darauf. Sie ballte eine Faust und schlug Miranda damit ins Gesicht. Die Rothaarige taumelte zurück und stieß gegen die Wand. Sie war überrascht von Amandas Angriff und war nicht bereit, sich zu wehren. Amanda nutzte das aus und begann Miranda zu verprügeln. Ihre Fäuste trafen ihre Gegnerin an verschiedenen schmerzhaften Stellen, bis diese zu Boden fiel. Mit einem Aufschrei warf Amanda sich auf Miranda und schlug auf sie ein. Von seinem Beobachtungsposten aus konnte Harbinger sehen, wie Mirandas Gesicht unter den Hieben anschwoll und wie Blut aus ihrer Nase lief. Amanda ließ nicht locker, bis ihre Gegnerin am Boden lag, offensichtlich unfähig sich zu rühren.
»Amanda« keuchte Harbinger, als die Brünette aufstand.
»Keine Sorge, Dante« antwortete sie leise »Alles wird gut.«
»Was zum...« stieß Miranda hervor, während sie einen Schwall Blut spuckte.
Mehr konnte sie nicht sagen. Amanda hatte das Kampfmesser vom Boden aufgehoben und sich neben ihre Gegnerin gekniet. Mit unbewegtem Gesicht setzte sie die Klinge an und schnitt Miranda seelenruhig die Kehle durch. Die Rothaarige keuchte leise, während ein Blut aus dem Schnitt in ihrem Hals rann. Mit einem Seufzen wich das Leben aus ihrem Körper. Sie war tot.
»Wie...« setzte Harbinger an.
»Sei für einen Augenblick ruhig, Dante« sagte Amanda schnell »Ich muss mit dir reden.«
Wortlos nickte Harbinger.
»Du machst eine schwere Zeit durch« bemerkte Amanda »Aber du darfst jetzt nicht vollends deinen Lebenswillen verlieren.«
»Was erwartest du, Amanda« brauste er auf »Du hast gerade zum zweiten Mal die Frau, die ich geliebt habe, von mir genommen. Wie soll ich da noch ein Fünkchen Lebenswillen in mir tragen.«
»Bist du dir darüber im Klaren, was du gerade gesagt hast, Dante?« fragte sie ihn ruhig »Ja, Miranda ist tot. Aber denke mal über das nach, was du mir gerade vorgeworfen hast. Hast du dir sie wirklich nur eingebildet, Dante? Wie kann es dann sein, dass ich sie gesehen habe? Und vor allem, dass ich ihr mit diesem Messer die Kehle durchgeschnitten habe?«
Er öffnete den Mund, doch ihm fiel nichts ein, was er erwidern könnte. Er schluckte schwer.
»Okay, kommen wir zu wichtigerem« fuhr Amanda fort »Nichts ist so schlimm, wie du dir eingeredet hast. Du bist nicht verrückt, Dante. Morrec existiert, genau wie Wittmore und Laurel. Und auch William Tank gibt es wirklich. Erinnere dich daran, wie du mit Laurel in der Waffenfabrik warst. Dieser Kerl hat gedroht, sie mit einer Waffe zu erschießen. Also musst du dir jetzt eingestehen, dass es Laurel doch gibt, oder dass du dir auch diesen Mann eingebildet hast.« Sie schwieg einen Augenblick. »Die ganze Sache ist etwas komplizierter, als du zu Beginn dachtest. Als du damals in der Seitengasse aufgewacht bist, da warst du der Ansicht, dass es damit getan wäre, Tyler Curtis umzubringen.«
»Woher...«
Sie legte einen Finger auf seine Lippen.
»Du hast mittlerweile erfahren, dass noch mehr Menschen in deinen Rachefeldzug verwickelt sind« erklärte Amanda »Du weißt nicht, wieso sie sich einmischen. Vor allem LaCroy und Morrec sind dir ein Rätsel, da sie anscheinend genaue Gegensätze darstellen, nicht wahr? Ich kann dir nicht erklären, warum das alles so ist. Noch nicht. Aber du wirst schon bald alles erfahren.«
»Woher weißt du das alles?« fragte Harbinger.
»Ich war immer bei dir, Dante« antwortete sie geheimnisvoll »Auch wenn du mich nicht gesehen hast, ich war immer in deiner Nähe, seit dem Augenblick, in dem du in dieser Seitengasse aufgewacht bist.«
»Aber... Ich dachte, du wärst nur eine der Ärztinnen aus dem Krankenhaus.«
»Ich bin viel mehr als das.« Amanda lachte leise. »Obwohl ich eigentlich gar keine Ärztin bin. Warum glaubst du wohl, dass du mich in dieser Bar getroffen hast? Zufall?«
Er schwieg.
»Ich habe dich die ganze Zeit über im Auge behalten, Dante. Deswegen war ich dort.« Sie sah ihn einen Augenblick an. »Hör zu, ich muss fort. Aber ich werde dich weiter beobachten. Aber bevor ich gehe, muss ich dir noch etwas mitteilen. Etwas, worüber du nachdenken solltest.« Sie warf einen Blick auf seine Handfläche mit der Wunde darin. »Sieh dir deine Hand an, Dante. Warum kannst du mit jeder Art von Waffen umgehen, mit Pistolen, Schrotflinten, sogar mit Schwertern, obwohl du so etwas in deinem ganzen Leben nicht gelernt hast?« Sie schwieg einen Augenblick. »Und warum konntest du, als Laurel dich darum bat, nicht mit dieser Gitarre umgehen? Denkst du, dass diese kleine Verletzung dir diese Fähigkeit geraubt hat?«
Er starrte wortlos auf seine Handfläche, um die der blutige Verband gewickelt war, den Amanda ihm in dem Krankenhaus angelegt hatte. Vorsichtig wickelte er den Stoff ab und legte die Hand mit dem Loch darin frei. Es war wirklich nicht groß und jetzt, wo er darauf achtete, kam es ihm sehr unbedeutend vor. Ein kleines, rundes Loch in der Mitte der Hand. Er stutzte. Aber diese Wunde stammte von einer Messerklinge. Warum war sie rund und nicht länglich und schmal?
Er schaute auf und wollte Amanda danach fragen, doch sie war verschwunden. Ohne ein Wort, sogar ohne ein Geräusch zu verursachen, war sie einfach gegangen und hatte Harbinger zurückgelassen. Er seufzte und stemmte sich hoch. Er warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und schauderte. Frische Prellungen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab und ein dünner Rinnsal aus Blut floss aus der Wunde unter seinem Auge, die wieder aufgebrochen war. Doch diese Verwundungen riefen nicht mehr als ein Schulterzucken bei ihm hervor. Er ergriff ein Papierhandtuch, das in seiner Nähe lag, wischte sich das Gesicht ab und warf das Tuch weg, bevor er sich zur Tür wandte. Ohne ein weiteres Wort ging er zurück in die Bar, hob auf dem Weg jedoch das Kampfmesser auf.
»Sie haben ja ganzschön lange gebraucht« knurrte der Barkeeper »Und offensichtlich Selbstgespräche geführt.«
Harbinger warf einen abschätzenden Blick auf den muskulösen Mann. Er war sich absolut sicher, dass dieser Mann der selbe war, der vor seinen Augen erschossen wurde. Seufzend beschloss Harbinger, dass er dieses Rätsel hier auf der Stelle ergründen musste.
Blitzschnell hob er das Kampfmesser und schleuderte es nach dem Barkeeper. Die Klinge grub sich in den Hals des Mannes, worauf er röchelnd zu Boden ging. Harbinger schwang sich über die Theke und schloss seine Hand um den Griff der Waffe, die aus der Kehle des sterbenden Barkeepers ragte. Mit einem Ruck zerschnitt er den Rest des Halses des Mannes und bekam die Klinge frei. Der muskulöse Mann war sofort tot..
»Kommen Sie raus« rief Harbinger.
Es dauerte einen Augenblick, bevor der alte Mann, dem die Bar gehörte, aus einer Tür kam und Harbinger wütend anfunkelte.
»Sie haben meinen Barkeeper umgebracht« fuhr der Alte Harbinger an »Warum haben Sie das getan?«
»Er war schon tot« brüllte Harbinger zurück »Ich habe ihn sterben gesehen, als ich das erste mal in diese Bar kam. Warum lebte er wieder?«
»Weil ich ihn zurückgeholt habe« antwortete der Barbesitzer in gemäßigterem Ton »Ich weiß, es ist nicht ganz legal, aber es ist billiger als mir jedes mal einen neuen Barkeeper zu besorgen, wenn hier jemand reinkommt und meinen alten umnietet.«
»Sie haben was getan?«
»Das hier ist kein Mensch. Er ist nur eine sprechende Puppe. Er ist zu absolut nichts zu gebrauchen, außer zum Drinks einschenken und zum schlechte Witze reißen.« Er warf einen Blick auf die Leiche seines Barkeepers. »Und jetzt machen Sie, dass Sie hier raus kommen. Ich muss diesen Nichtsnutz zurückholen. Und Ihnen sollte ich eigentlich Hausverbot erteilen.«
Harbinger drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging durch die Tür hinaus. Die Worte des Barbesitzers hatten ihn noch weit mehr irritiert, doch er hatte jetzt keine Nerven dazu, sich mit dem Mann zu streiten. Er beschloss, diese Erklärung einfach zu akzeptieren und zu gehen.
Schnee fiel auf die Straßen, als Harbinger wieder aus der Bar trat. Die öffentliche Uhr in der Nähe verriet ihm, dass eine halbe Stunde vergangen war, seit er die Kneipe betreten hatte. Seufzend vergrub er seine Hände in den Taschen seines Mantels und wandte sich um. Er stapfte den Bürgersteig entlang, den Passanten ausweichend, die ihm entgegen kamen.
»Da bist du ja wieder« rief eine krächzende Stimme über den Lärm der Straße hinweg.
Harbinger fuhr erschrocken herum, als er merkte, dass die Stimme ihn meinte. Ein Stück entfernt stand Maximilian MacBeth, der Mann mit dem verbrannten Gesicht. Er lief auf Harbinger zu.
»Dein Freund schickt mich wieder« fuhr Maximilian fort.
Keuchend blieb er vor Harbinger stehen. Der kurze Weg, den er gelaufen war, schien anstrengend gewesen zu sein.
»Maximilian MacBeth?« fragte Harbinger »Das bist du, oder?«
»Ja« murmelte der Verbrannte »So heiße ich. Dieser Morrec hat mich wieder aufgesucht. Er hat gesagt, dass ich dich suchen soll und, dass du hier in der Gegend sein solltest.«
»Was hat Morrec dir aufgetragen?«
»Er sagte, dass ich dich nach York bringen soll.«
»Warum will Morrec, dass ich nach England gehe? Und warum sind Wittmore und Laurel dort?«
Maximilian sah ihn einen Augenblick verwirrt an, bevor er krächzend lachte.
»England?« fragte er »Wovon redest du?«
»Von York. Du sollst mich dort hin bringen, oder?«
»Wenn du die Gegend unbedingt ‚England‘ nennen willst« antwortete der Verbrannte lachend »Mir ist es gleich. Aber wir sollten los gehen, wenn wir nicht erst bei Sonnenaufgang dort sein wollen. Es ist ein Stück.«
Harbinger sah Maximilian misstrauisch an.
»Wovon redest du?« wollte er zweifelnd wissen »Du willst mit mir nach York gehen?«
»Ich weiß, bis zum Eingang mögen es fünfzehn Meilen sein, aber bei diesem Verkehr kommen wir zu Fuß schneller voran.«
»Eingang?« Harbinger starrte den Verbrannten mit offenem Mund an. »Welcher Eingang?«
»York« krächzte Maximilian »Lass‘ uns endlich gehen.«
Mit diesen Worten drehte Maximilian MacBeth sich um und ging los. Nach kurzem Zögern folgte Harbinger ihm.
»Gut, Maximilian« sagte Harbinger, als er den Verbrannten eingeholt hatte »Dann bring’ mich nach York.«
»Schön« krächzte der Verbrannte »Dieser Morrec-Kerl hat gesagt, dass du da die Frau und den anderen Mann triffst. Er hat Namen genannt, aber ich habe sie vergessen.«
»Laurel und Thomas Wittmore?« versuchte Harbinger ihm auf die Sprünge zu helfen.
»Kann so gewesen sein. Er sagte, dass er nicht da sein wird, wenn du ankommst. Hat gesagt, dass er den beobachten muss, der dich töten will. LaCroy oder so.«
Harbinger antwortete nicht. Er verstand nicht, warum Morrec ihn nach York bringen ließ, aber anscheinend würde er ihn früher oder später dort treffen und nach seinen Beweggründen fragen können.

Die ersten Sonnenstrahlen erhellten das Firmament, als Alexander Harbinger und Maximilian MacBeth aus einem Hinterhof traten. Vor ihnen lag das Meer, auf dessen bleigrauen Wellen rote Strahlen durch den Sonnenaufgang abzeichneten. Zwischen ihnen und der Küste erstreckte sich ein riesiger kreisrunder Krater, der zwischen den heruntergekommenen Häusern lag.
»Was ist das?« keuchte Harbinger verwirrt.
»Das ist der Eingang« antwortete Maximilian krächzend »Durch das Ding da geht’s nach York.«
»Dort liegt York?« Harbinger warf einen Seitenblick auf den verbrannten Mann. »Ich habe das Gefühl, dass wir nicht von dem selben York sprechen.« Er schwieg einen Augenblick. »Was ist dieses York, Maximilian?«
»York ist die alte Stadt.« Der verbrannte zuckte mit den Schultern. »Stand früher hier. Dann kam die Katastrophe und York wurde verschüttet. Alles, außer dem, was in der Höhle ist. Das ist jetzt York.«
»In der Höhle?«
»Durch den Krater kommen wir zu einem Aufzug. Mit dem können wir in die Höhle fallen. Die wurde von der Katastrophe verschont und dort stehen noch ein paar Häuser. Sie ist ziemlich sicher. Manchmal fällt etwas Erde runter, aber die Decke hält.«
»Du meinst, dass da eine unterirdische Stadt liegt?«
»Ist nurnoch wenig übrig. Ein Stadtteil, der nicht zerstört wurde. Komm, gehen wir hinunter.«
Maximilian schritt über den Rand des Kraters und stieg die steile Seite hinunter. Harbinger folgte ihm nach kurzem Zögern. Gemeinsam gingen sie auf das Zentrum des riesigen Kraters zu, wobei gelegentlich die Erde unter ihren Füßen nachgab und die Wand hinunterrutschte. Es dauerte einige Minuten, bis sie auf der runden, flachen Fläche im Zentrum des Kraters standen.
»Dort drüben« bemerkte Maximilian und zeigte mit einer verkohlten Hand in eine Richtung »Da ist der Eingang.«
Harbinger blinzelte und sah einen engen Gang, der mit einigen Holzbrettern gestützt wurde.
»Das ist der Weg nach York?« fragte er zweifelnd.
»Da geht’s zur alten Stadt« bestätigte der Verbrannte krächzend.
Er ging los, auf den Stollen zu, der aus dem Krater ins Erdreich führte. Mit Zweifeln im Herzen folgte Alexander Harbinger ihm.

Harbinger
29.05.2005, 11:52
Epilog 3 – Pray Nightfall (Paradise Lost)

I hold on tight for this mortal ride
Rest my head ‘til the mornings coming down on me
I realise my own sacrifice
Better rest my head before somebody’s going out…

Die nacht war klar und Morrec konnte sogar das helle Licht einer öffentlichen Uhr auf der Straße sehen. Es war kurz nach drei morgens. In diesem Augenblick wurde Harbinger von Maximilian MacBeth durch die Straßen New Yorks zu dem riesigen Krater geführt. Morrec machte sich jedoch keine Gedanken darüber. Er hatte wichtigeres zu tun.
Mit einer Hand stemmte er sich gegen die Wand des Hochhauses, während er sich mit der anderen an dem langen Seil festgeklammert hatte, das von der Spitze des Gebäudes bis fast zur Straße hinunter reichte. Von seiner Position aus konnte er in den Raum hinter der Fensterwand blicken, ohne selbst gesehen zu werden. Seit einigen Minuten harrte er aus, den Blick in das Büro gerichtet, vor dem er hing. Nichts tat sich.
Kurz darauf öffnete sich eine Tür und ein großer Mann mit kurzen Haaren und Vollbart trat ein. Er wirkte nervös, während er auf den schweren Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes zuging. Eine weitere Tür öffnete sich und ein anderer großer Mann trat ein, ein Mann mit langen Haaren und einem Bart, der über seine Wangen und sein Kinn verlief, jedoch mit gründlich rasierter Oberlippe. Er war ungefähr vierzig, durchtrainiert und wirkte äußerst gefährlich. Morrec kannte diesen Mann.
Er sah Richard LaCroy vor sich.
Nur zehn Zentimeter bruch- und kugelsicheres Glas trennten ihn von dem ehemaligen Bandenchef, der so viele Leben zerstört und genommen hatte. Er hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen, doch es war Morrec ein Leichtes, von den Lippen der beiden Männer abzulesen.
»Was gibt es, Jack?« fragte LaCroy seinen Gegenüber.
»Harbinger lebt« antwortete Jack »Wir haben versagt.«
LaCroy schwieg. Er ging um den schweren Schreibtisch herum und setze sich auf den Bürostuhl dahinter, bevor er wieder sprach.
»Wo ist Miranda, Jack?« fragte der langhaarige Mann weiter.
»Sie ist in die Bar gegangen, um Harbinger auszuschalten. Aber er muss sie umgebracht haben. Ich fand sie mit durchschnittener Kehle auf der Toilette.«
»Das sind schlechte Neuigkeiten, Jack. Du hast es nicht geschafft, den Mann umzubringen. Statt dessen hat er Miranda erledigt.« Er hielt einen Augenblick inne. »Was soll ich jetzt tun, Jack?«
»Harbinger hat unwahrscheinlich viel Glück« brummte Jack »Und er hat Verbündete. Sie haben jeden Söldner, jeden einzelnen Killer, den wir auf sie angesetzt haben, umgebracht. Sogar Jax. Nur Zeyden lebt noch. Er hat gegen diesen Morrec gekämpft und hätte ihn fast getötet, doch dann ist der Kerl geflohen und Zeyden blieb mit der Leiche seines Partners zurück.«
»Jetzt gibt es nurnoch dich, Tank und Zeyden« bemerkte LaCroy »Harbinger hat Miranda umgebracht. Und Jax. Und die Anführer der Söldner und Killer-Kommandos. Und du hast versagt, Jack.«
»Ich bin untröstlich, Mister LaCroy« stieß Jack zerknirscht hervor »Es tut mir leid.«
»Oh, das macht nichts, Jack« antwortete LaCroy »Du erhältst noch eine Chance. Du wirst Harbinger für mich ausfindig machen. Und dann werden du und Tank mit einigen von Kalayos Leuten zuschlagen.«
»Wie Sie wünschen, Mister LaCroy.«
»Ach, Jack. Wenn ihr Harbinger gefunden habt und den Angriff vorbereitet...« Richard LaCroy lächelte freudlos »Bevor ihr angreift, wirst du zu Harbinger gehen. Haben wir uns verstanden?«
Jack schluckte schwer. LaCroys Anweisung war mit einem Todesurteil gleichzusetzen. Wenn er ohne Rückendeckung vor Harbinger treten würde, dann würde dieser ihn wahrscheinlich auf der Stelle umbringen. Wenn Jack Glück hatte.
Morrec hatte genug gehört. Er griff mit der zweiten Hand nach dem Seil und kletterte daran herunter auf die Straße.

Harbinger
31.05.2005, 14:21
THE END

So... und hier mach ich jetzt mal schluss. Ich werde die Geschichte zwar weiter schreiben, aber nicht mehr hier posten. Jetzt könnt ihr auf mich schimpfen und rummaulen, soviel ihr wollt, ich ändere meinen Entschluss nicht. Es hat nichts damit zu tun, dass ich keine Kritik zu meinem Werk bekomme, es liegt ganz einfach daran, dass ich einfach viel zu begeistert davon bin. Und wenn ich das ganze Buch (wenn's erstmal fertig ist, was nicht mehr lange dauern dürfte...) hier rein poste, dann kann ich nichts damit anfangen, außer glänzend vor euch dazustehen. Dann is nix mit veröffentlichen oder bei irgendwelchen Wettbewerben damit mitmachen. Deswegen stelle ich das Posten hier ein und schreibe die Story im stillen weiter. Wenn ich fertig bin, werde ich sie nochmal ganz von vorne durchackern und den letzten Rest ausbügeln. Und wenn das gelungen ist, dann schreibe ich eine Nachricht in diesen Thread, dass ich fertig bin. Und wer dann interessiert daran ist, die Story zu lesen, der muss mir eine PN schicken mit einer Begründung, warum er/sie das dürfen sollte :D. Nicht zugelassen werden solche Gründe wie "Du bist der tollste und so" oder "Weil mir is grad langweilig und ich brauch was zu lesen". Sie sollte schon ordentlich sein (und aus mehr als einem Satz bestehen). Dann lasse ich euch die Story irgendwie zukommen. Wie auch immer, ich gebe diesen Thread hier jetzt offiziell dazu frei, dass ihr auf mich schimpft oder eure zukünftigen Kommentare zu der Geschichte hier rein packt.

Harbinger
13.07.2005, 18:02
almost done...
also, hab die story jetzt fertig geschrieben, jetzt werd ich mich wohl ans Ausbügeln setzen. sind 145 Din-A4 Seiten wenn ich mich recht entsinne, wird wohl noch die eine oder andere mehr werden. besten dank schonmal an Ceyx, der angefangen hat meine geistigen ergüsse zu lesen und fehler aufgespürt hat, die mir doch glatt nicht aufgefallen sind... ich poste nochmal, wenn wirklich ALLES fertig ist.

Re'on
18.08.2005, 21:19
Ich beschimpf dich nicht, ich versteh dich, da ich das selbe mit meinem Buch Re'on machen würde. Es hätte, wie du gesagt hast, keinen Sinn einfach so ein solches Werk online zu stellen.
Ich les mich jetzt noch durch, aber wenn ich fertig bin, schreib ich Kritik und dann können wir unsere Werke austauschen.

.earnur
11.09.2005, 19:01
die geschichte ist einfach toll

.earnur
11.09.2005, 19:02
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