Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : PAST-RP ● Poca Favilla Gran Fiamma Seconda
2171 - Citadel, Tayseri-Ward - Prof. Dr. Sergio Vittore (50)
Im Grunde war es ein guter Vormittag gewesen, als Sergio sich entschloss, seine Arbeit für eine halbe Stunde zu unterbrechen und sich eine Pause zu gönnen. Wie immer etwas missmutigen Blickes ging er am Panoramafenster im Flur vorbei und erwiderte der allzu künstlichen Atmosphäre des Tayseri-Wards nur eine gerümpfte Nase. Zugegebenermaßen war der Ausblick auf die außergewöhnlich grün gestalteten und vergleichsweise niedrigen Bauten mit der Kuppel des gewaltigen Gaeron Botanikgartens im Zentrum eine Augenweide und die glitzernde Geschäftigkeit des Verkehrs darüber zog die meisten Besucher der Citadel sofort in den magischen Bann dieser intergalaktischen Zusammenkunft der größten Spezies. Sergios Forscherherz hatte dafür jedoch wenig übrig. Er hatte die erhöhten Schwierigkeiten der Wohnungsbeschaffung nicht für die gute Aussicht auf sich genommen, sondern, um eine sozial höher gestellte und daher weniger neugierige oder gar kriminelle Nachbarschaft zu gewährleisten. Die Zellenaufsicht hatte im Sinne der Geheimhaltung offenbar wenig dagegen zu setzen. Aber so teuer die Unterkunft war, sie blieb für den Hausherren unwohnlich. Sicher war die Ordnung der Citadel schön anzusehen – aber ohne salzige Meerluft und den Geruch eines irdischen Gartens und vor allem ohne die Möglichkeit auf einen Blick zum Horizont war jede noch so moderne Umgebung nicht mehr als ein kaltes, unlackiertes Stück Stahl.
Das Brodeln der Espressokanne riss Sergio aus seinen etwas zu nostalgischen Gedanken. Es war ein fast schon alberner Anblick, wie dieses leicht rostige, achteckige und nahezu antike Gefäß auf der hochmodernen Heizfläche der Küche stand, nur damit sich der Herr des Hauses zu seiner gewohnten Stunde seinen Ristretto eingießen konnte, um sich damit auf die Terrasse zu setzen und beinahe meditativ die übergroße Nase in das winzige Tässchen zu hängen. Unter dem Einfluss der ätherischen Öle senkte der Doktor bald die Lider und ließ wie immer die Ergebnisse des Vormittags Revue passieren.
Die Gewebeproben, die er Luceija am Vortag aus dem Rückenmark entnommen hatte, waren äußerst vielversprechend und belohnten die halbjährlich wiederholte Tortur, die er dem Mädchen damit zumuten musste zumindest annähernd. Ihr Nervensystem hatte im Vergleich zum Vorjahr bereits 17% mehr Eezo eingelagert, seit die beiden auf radikalere Therapien umgestiegen waren. Es waren die Nebenwirkungen, die ihm mehr Sorgen bereiteten. Zwar war es mitunter auch Sinn dieses Projekts, ebensolche negativen Auswirkungen mitzuerforschen, aber je mehr sich seine kleine Luci entwickelte und allmählich zu einer jungen Erwachsenen heranwuchs, desto mehr zweifelte Sergio daran, ob er das Recht dazu hatte, ihre Zukunft zu rauben, und sei es zu einem noch so hohen Ziel. Und darüber, dass sie heranwuchs, gab es keinen Zweifel mehr, so sehr wie sich sich ihrem Ziehvater in den letzten Monaten zunehmend widersetzt hatte. Zumindest aus dieser Sicht, war er froh, dass er sie inzwischen außerhalb des Labors herumstreunen lassen konnte, um derweil in Ruhe seinen Kaffee zu genießen und trotz aller Arbeit wieder zu sich selbst zu finden.
Er neigte das Tässchen leicht, doch noch bevor der Pegel seine Lippen berührte, vibrierte das Kommunikationsgerät an seinem Handgelenk und ließ seine Bewegung erstarren. Gereizt knurrend hielt er noch einige Sekunden die Tasse an seinem Mund und starrte auf das blinkende Holodisplay wie ein Wachhund vor dem Zubeißen, ehe er sich dann doch entschloss, das Porzellan abzustellen und die Verbindung anzunehmen.
"Hm", brummte er nur gereizt zu Bestätigung in das Mikrofon und wartete auf eine schnelle Erklärung.
"Vittore", erwiderte die andere Seite, ebenfalls ohne Videosignal, und dennoch wusste der Sizilianer sofort, wer an der anderen Seite sprach – und genau genommen wusste er gleichzeitig nichts über ihn. Sergio war dem Zellenleiter, falls es überhaupt wirklich der Leiter war und nicht nur dessen Kontaktmann, nur einige wenige Male persönlich begegnet. Über das Extranet ließ er sich stets mit 'Mr. Frazier' ansprechen, obwohl die Tonführung eindeutig verriet, dass der Mann kein Amerikaner war, sondern Südländer wie Sergio; untereinander nannten er und seine Kollegen ihn aber stets nur 'den Alten.'
"Ein persönlicher Anruf? Wie überaus erfreulich", brummte der Doktor, während er sich das Nasenbein rieb, um dem heranrollenden Stress Luft zu machen. Ein Anruf vom Alten persönlich verhieß nie etwas Gutes.
"Sparen Sie sich Ihre Speichelleckerei für später auf, Vittore", erwiderte der Alte bissig, aber gehalten, da ihm der Sarkasmus der angeblichen Schmeichelei offenbar entgangen war.
"Ich war gerade auf der Durchreise, um auf der Citadel nach dem Rechten zu sehen. Dabei ließ man mir zukommen, dass Ihr Zögling offenbar mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Was haben Sie dazu zu sagen, Doktor?"
Sergio stockte der Atem und seine Nackenmuskeln verkrampften, als er versuchte, seinen ungläubigen Schock unartikuliert zu lassen. Luceija war erst seit drei, höchstens vier Stunden aus dem Haus, aber offenbar war das genug Zeit gewesen, Unruhe zu stiften.
"Ich... kümmere mich bereits darum", stammelte er nur in einer improvisierten, neutralen Antwort, um sein Unwissen zu kaschieren. Wenn es etwas gab, das noch schlimmer war, als seine vernachlässigte Geheimhaltung durch mangelnde Aufsicht, dann, dass er noch nicht einmal von dem disziplinären Ausbruch wusste. Der Gedanke gärte dennoch in seinem hitzigen, südländischen Blut, sodass er, als ein Zusammenballen der Faust nicht genügte, das Mikrofon des Commlinks stumm schaltete und seine Espressotasse mit einem lauten "Porca puttana!" auf die Fliesen der Terrasse schleuderte, sodass sie in tausend Stücke zersprang.
"Ich nehme an, ich muss mich nicht persönlich mit der C-Sec in Verbindung setzen? Ich habe noch andere Termine, Doktor"
"Ich kümmere mich schon selbst um mein Mädchen, Frazier. Ich bin bereits unterwegs zum C-Sec Präsidium 9“, entgegnete er möglichst selbstbewusst, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
"Präsidium 9? Man hat mir gesagt, sie werde gerade in Präsidium 4 verhört?"
Eilig notierte Sergio das Gesagte, erleichtert darüber, das sein Bluff ihm tatsächlich ohne weitere Peinlichkeiten die Informationen erschleichen konnte.
"Ja, natürlich, Nummer 4, mein Fehler"
"Machen Sie mich nicht noch ungehaltener, als ich ohnehin schon bin", giftete er Alte zurück und kappte die Verbindung. Den wütenden Ziehvater hielt es keine weitere Sekunde in der Wohnung. Unentschlossen zwischen wütendem Stampfen und eiligem Sprint wählte er bereits im Gehen das nächste Transportshuttle an. Noch hatte man ihn nicht kontaktiert, was hieß, dass das verhör tatsächlich noch nicht abgeschlossen war. Und worum auch immer es sich drehte, es konnte nur von Vorteil sein, eine Befragung so früh wie möglich zu unterbrechen.
2171 - Citadel, Tayseri-Ward, C-SEC Präsidium 4 - Luceija Natalicia Ascaiath (15 ½)
"No."
So viel Arroganz, da war sich Seargant Iji sicher, hatte er seit seinen letzten 10 Jahren Dienstzeit noch nicht gesehen. Und jetzt, kurz vor dem wohlverdienten Ruhestand, machte ihn diese Art von Verhalten nur umso wütender. Uneinsichtigkeit, obwohl die ein oder andere Marke an seiner Uniform deutlich machte, welchen Stand er hatte. Seit er bei C-SECURITY arbeitete, hatte er niemals mit so vielen Menschen zu tun gehabt wie jetzt. Dort, so leitete er ab, war wohl gerade eine regelrechte Citadel-Hype-Welle übergeschwappt und so gut wie jeder wollte die moderne Raumstation mit eigenen Augen sehen. So weit so gut. Er gönnte ihnen diese Neugier. Dass er seit dieser Welle an Neuzugängen aber nicht nur das dreifache an Papierkram zu erledigen hatte, sondern auch die Kriminalitätsrate deutlich angestiegen war, machte ihn rasend. Für einen Salarianer hatte er gefühlte Ewigkeiten verbracht daran Teil zu haben die Citadel zu einem sicheren Ort zu machen. Dann kamen diese Rotzgören von pubertären Menschenblagen um die Ecke und die Bemühungen versanken im Gulli. Und dann auch noch so ein Fall. "Das ist kein Spaß.", revidierte er mit zackigen Worten. Nach und nach hob er drei verschiedenen Päckchen kurz von der Tischplatte an, die ihn gerade so davon abhielt dem Menschenmädchen den Hals umzudrehen und beteuerte mit ausgeklügelten Phrasen, WIE gefährlich diese Mittel wirklich waren, die man ihr abgenommen hatte. "Seasulfit? Gut für Salarianer. Tödlich für alle anderen.", war er sich sicher und hob das nächste Päckchen, "Und das? Nicht registriert. Muss ins Labor. Dauert wieder Tage, aber sicher auch nicht besser als der Rest." Viel zu laut schlug das Tictacschachtelgrosse Päckchen auf dem metallernen Tisch auf und erzeugte einen deutlich zu lauten Hall für den kleinen Raum. "Sag uns, woher du das hast!", rief er einschüchternd, wobei sein Augenlid nur einen sehr dünnen, berechnenden Spalt seines vergleichsweise riesigen, rechten Auges NICHT bedeckte. Hätte man sich ein bisschen mit der Gestalt des Beamten auseinandergesetzt hätte man sogar bemerkt, dass das Lid in nervoeses Zucken geriet und sich perfekt an die unruhigen, dreigliedrigen Hände des Alien anpasste, die auffordernde Trommelgeraeusche erzeugten.
"Hmm...", raunte es von der gegenüberliegenden Seite des Tisches. "No-ho.", singsangte die Gegenseite und widmete sich ohne weitere Umschweife wieder ihren kurzen Fingernägeln, die sie behäbig von etwas Dreck befreite. Das war nicht das erste Mal, dass er diese Antwort hörte und wahrscheinlich genau deshalb war er kurz davor, dass dem Alien eine Ader auf Stirnhöhe zu platzen drohte. Ijis Finger zogen nun akustisch deutliche Linien auf dem Metall, ehe er auf es schlug, dass ein kurzes Zittern durch die Verhörte zuckte, die sich kurz sogar hatte erdreisten wollen, es sich besonders gemütlich zu machen und die Füsse auf dem Tisch zu kreuzen. Kaum hatte er sie davon abgehalten wanderte er nachdenklich durch den Raum und kratzte sein Kinn.
"Ho sempre detto che questa roba non è mio."1, entgegnete das schwarzhaarige Mädchen genervt auf den Ausbruch des Cops und missachtete dafür sogar die provisorische Maniküre. Eigenartigerweise passte ihr aufmüpfiges Verhalten nur wenig zu ihrem kränklich wirkenden Erscheinungsbild. "Komisch nur, dass wir das aus deiner Tasche gezogen haben.", mischte sich der Zweite im Bunde ein, der sich vom Universalübersetzer alles ins verständliche rücken lies. Sein voluminöser, plattenüberzogener Oberkörper lehnte sich über den Tisch und Raubtieraugen beobachteten das Menschenmädchen wachsam aber neutral. Officer Derim war deutlich weniger lange im Dienst, aber vielleicht war genau das sein Vorteil. Neuere Mitarbeiter der C-SEC-Enforcements hatten zum einen noch etwas mehr Distanz zu Einzelfällen wie diesem, aber zum anderen gehörte unterdessen auch eine kleine Weiterbildung in Sachen Umgang mit Menschen auf den Plan, von dem er jetzt ohne Zweifel profitierte. Er wusste nicht nur um genetisch vollkommen eingespeiste Arroganz sondern auch darum, wie wenig Kooperation mit dem Gesetz gezeigt wurde, wenn es eine unbekannte Einrichtung weit weg der Erde war, die sie anklagte. "Bist du abhängig?", fragte der Salarianer mit einem Mal unverblümt in seiner rassentypischen, zweifrequentigen Stimme. "Sind Sie wahnsinnig? Sehen Sie sich die ID an, das ist n Kind!", schlug Derim sofort ein. "Bedeutet garnichts. Sie kennen die Ratten. Aber ja. Gehörst du zu den Duct Rats? Wer hat dir das aufgetragen? Slingshot?"
"Was? NEIN!", protestierte die junge Frau und sass mit einem Mal fast schon aufrecht. Die aggressiv verzogenen Augenbrauen unterstrichen den giftigen Blick klarer, grell-grüner Augen. Auftrumpfend wollte sie ihre Empörung direkt mit einem ausgestreckten Finger in die Richtung der Cops deutlich machen, woraufhin diese aber weniger ungehalten reagierten und sicherheitshalber zumindest eine dreifingrige Hand die Waffe an seiner Seite sicherheitshalber abtastete. Jugendlich oder nicht, potenziell war erstmal jeder eine Gefahr. "Stecken Sie mich besser nicht mit diesen asozialen Dreckstücken in eine Schublade!" Auch Luci sah schnell, dass die Hände der Beamten an Stellen gerieten, die sie besser nicht provozieren sollte und steckte vorerst zurück. "PASS AUF wem du hier drohst, Kleine!"
Für einen Moment hielt sich die Stille wie ein dicker Nebel in der kleinen Verhörbox. Blicke tauschten sich aus. Langsame Schritte des Vorgesetzten zogen sich auf seiner Seite des Tisches hin und her, bis man meinen konnte, dass er eine Furche in den Boden treten wollte. "Das. Ist KEIN. Kavaliersdelikt.", sprach er deutlich aus, blieb irgendwann mitten in seinem Gang stehen und fokussierte die Halbitalienerin wieder. "Dealen. Auf meinem Ward. Auf MEINER Station. Gemeingefährlich. Naiv. Sehr naiv. Wird mit hoher Jugendstrafe versehen. "Knast". Auch für kleine Mädchen."
"Ma non si può nemmeno dimostrare niente a me."2
"Ach nicht? Überall sind Kameras. Kann jeden deiner Schritte nachprüfen, wenn ich will. Meinst du, das reicht nicht? Du bist außerdem auf frischer Tat ertappt. Schwer sich hier noch rauszureden. Siehst du?", bevor er den Gedanken zu Ende spinnte, nickte er Derim zu und der Officer führte nur wenige Eingaben in seinen Hololaptop aus, bevor er den Rahmen problemlos umdrehen konnte und die Kameras präsentierte. Iji schaltete sich inmitten der Aufnahmen, die zeigten, wie Luci bei zwei anderen Personen an einer Seitenstraße des Rejek-Bezirks stand und vorbeilaufende Passanten ansprach, ein. Die Absprache bei der Kette an Ereignissen schien gut ausgeklügelt für das Alter, aber längst nicht so gekonnt wie bei anderen Straftätern, soviel war sich Iji sicher. "Sieht ziemlich professionell aus. Nicht das erste Mal?" Als in die Szenerie die beiden Beamten kamen, die die Schwarzhaarige bei ihrer Straftat in flagranti erwischt hatten, drehte der Turianer das Bild wieder zu sich um. Ihre Begleiter waren schneller verschwunden, als sie bis drei zählen konnten, sodass die einzig Dumme die den Scheiß nun ausbaden durfte Luci war. Das hatte sie noch gut genug in Erinnerung, ohne das Video wirklich zu Ende sehen zu müssen.
"Quante volte faccio a dire? Siamo stati in attesa di qualcuno. Questo non è il mio. È la loro merda!"3
"Rospo ripugnante.."4, knurrte die Jugendliche hinterher - deutlich genug um wenigstens Fetzen davon auch bei des Salarianers Übersetzer ankommen zu lassen. Zwar war die Übersetzung alles andere als exakt, aber das, was ankam, reichte dem Beamten schon um das Verhör beinahe eskalieren zu lassen. Doch zum Glück für alle Beteiligten wurde Seargant Iji jäh unterbrochen, als es an der Türe klopfte und eine Asari den Kopf in die Verhandlungen steckte. "Sir, wir wären dann bereit für die Blutprobe. Und Tiang richtet aus, es will Sie dringend jemand sprechen."
1 Ich hab schonmal gesagt, dass das Zeug nicht mir gehört.
2 Ihr könnt mir doch nicht mal was nachweisen.
3 Wie oft soll ich das noch sagen? Wir haben auf jemanden gewartet. Das gehört mir nicht. Ist deren Scheiße.
4 Widerliche Kröte.
Wäre das Skycar, das Sergio eilig zu seiner Position angefordert hatte, nicht auf den Autopiloten beschränkt gewesen, er hätte es sicher in das nächste Gebäude geflogen, so aufgebracht war er. Doch je mehr er sich in der Fahrerkabine notgedrungen zur Ruhe bringen ließ, desto mehr fand er Platz in seinen Gedanken für eine kurze Analyse der Situation. Systematisch ging er alle Möglichkeiten durch, welche Ordnungswidrigkeit oder welchen Gesetzesverstoß sich seine Adoptivtochter wohl hatte zu Schulden kommen lassen. Und auch, wenn er Diebstahl, Körperverletzung und sogar fahrlässige Tötung als Eventualitäten in Betracht zog, um wirklich auf jede Situation vorbereitet zu sein, so war er sich schnell im Klaren darüber, dass sich seine Luci offenbar am heimischen Medizinschrank bedient haben musste, um, sich selbst ihr Taschengeld aufzubessern. Und genau hier begann der Teil, der sich ihm nicht erschließen wollte: Wieso sollte sie das für Geld tun, wenn sie von Sergio doch fast alles bekam, wonach sie fragte?
Schon wenig später durchschritt der Doktor die aufgleitende Glastür des Eingangsbereichs von Präsidium 4. Ein wirklicher Eingangsbereich war es im Grunde nicht: Direkt hinter der Tür stand Sergio bereits mitten in einem weitläufigen Großraumbüro, lediglich abgetrennt durch halbdurchsichtige Milchglaswände und die Schreibtische selbst. Es dauerte einen Augenblick, in dem Sergio in einer Mischung aus ungezielter Aggression und Verwirrung unruhig zappelnd hier stehen blieb, bis sich endlich ein recht klein gewachsener Asiate unter der hauptsächlich turianischen Belegschaft verantwortlich fühlte und sich von seinem Platz erhob.
"Verzeihen Sie, Sir, aber die öffentlichen Kontaktzeiten sind seit einer Stunde vorüber. kommen Sie doch morgen ab-"
"Ich bin der Vater eines Mädchens, das sie gerade zum Verhör hier haben", unterbrach Sergio den blassen Mann mit einem leichten Augenrollen, "Ihr Name ist Luceija Ascaiath. Und ich verlange als ihr Erziehungsberechtigter, dass Sie die Befragung sofort unterbrechen, bevor meine Tochter keinen rechtlichen Beistand erhalten hat", bemühte sich Sergio um einen halbwegs gehaltenen Ton, während er mit gestrecktem Haupt auf sein Gegenüber hinuntersah. Der Asiate hingegen hatte sichtlich Probleme, seine Frustration über den Neuankömmling nicht zu sehr zu zeigen.
"Das ist nicht ganz, wie die Dinge hier auf der Citadel laufen, Mr. Ascaiat-"
"Vittore", unterbrach er den Beamten korrigierend mit dem typisch italenisch gerollten R-Laut.
"Mr. Vittore. Hier auf der Citadel gilt nicht das Rechtssysem der Erde. Und nach Ratsgesetzen dürfen wir Ihre Tochter so lange befragen, wie es nötig ist"
Das war der Moment, in dem der Südländer seine Fassung verlor, sodass er dem C-Sec-Beamten den gestreckten Zeigefinger drohend auf die Brust drückte und sich leicht zu ihm hinunterbeugte.
"Versuchen Sie nicht, mich zu veralbern. Ich weiß sehr wohl, dass die Gesetze der Erdenallianz seit einem halben Jahr auch im Ratssektor anerkannt werden, es sei denn, es läge ein besonderer Härtefall vor. Oder wollen Sie mir erzählen, meine 15-jährige Tochter wäre eine akute Bedrohung für die Öffentlichkeit? Was hat Sie getan, einen Amoklauf verübt oder Alienbabies verspeist?"
"Nein, Sir, aber s-"
"Dann möchte ich Sie erneut bitten, das Verhör unmittelbar zu unterbrechen. Am Rande möchte ich Sie daran erinnern... Officer Tiang, richtig?", las er beiläufig von seinem Omnitool ab, "dass Sie Ihre Arbeit hier dem Einfluss einer promenschlichen Organisation verdanken, die mit dem Verhör dieses Mädchens gar nicht einverstanden wäre"
Es folgte keine Antwort, sondern lediglich das Entsetzen aus den flimmernden schwarzen Augen seines Gegenübers. Dann nickte Tiang schließig, wirbelte eilig herum und kontaktierte von seinem Schreibtisch aus seine Vorgesetzten. Sergio nickte zufrieden und lockerte seine grimmigen Züge etwas. Gerade jetzt während der Hochphase der menschlichen Expansion in den Ratssektor profitierte man enorm davon, mit einer Organisation wie Cerberus verbandelt zu sein, die so manchem Menschen zu einem besseren Status unter Aliens verholfen hatte. Und so fand sich Sergio bereits Minuten später im Flur vor dem Verhörzimmer wieder, aus dem gerade ein Salarianer und ein Turianer traten. Etwas weiter hinten im Raum, versperrt durch die breiten Rüstungen der beiden Beamten, konnte Sergio zunächst nur einen kurzen Blick auf seine Tochter erhaschen, die, so verriet ihre körpersprache, offenbar versuchte, die Sache durch Lässigkeit zu überspielen. Noch bevor Sergio sich vorstellen musste, neigte sich der Asiate zu seinen Kollegen nach vorne und ergriff sie bei den Schultern, um einige Schritte entfernt ein paar tuschelnde Worte mit ihnen zu wechseln. Was auch immer Tiang den beiden Aliens erzählte, es musste eine Ausrede sein, denn dass Cerberus etwas mit dem kurzgewachsenen Menschen zu schaffen hatte, wäre seiner beruflichen Laufbahn wohl kaum zuträglich gewesen. Derweil drehte Sergio seinen Kopf in Richtung des Verhörzimmers und warf Luceija aus der Distanz bereits einen bedrohlichen, tadelnden Blick zu, während er den Kopf leicht schüttelte. Dann riss der Turianer ihn aus seiner stummen Konversation.
"Verzeihen Sie bitte, Mr. Vittore. Diplomaten genießen bei uns natürlich rechtlichen Sonderstatus"
Sergio nickte lediglich leicht, ohne sein Pokerface fallen zu lassen, während er einen kurzen Blick zu Tiang warf. Es war offensichtlich, welche Lüge dieser hier vorgeschützt haben musste.
"Gegen eine unerhebliche Kautionsgebühr von 24 000 Credits können wir den Vorfall ohne Aktenvermerk vorbeistreichen lassen"
Wieder nickte der Doktor nur unbeeindruckt und ergänzte eine gewährende Geste, die wohl seiner Tarnung als menschlicher Diplomat entsprechen sollte. In ihm hingegen klang ein unartikulierter Seufzer nach, als er daran dachte, was für ein unnötiger Papierkram es werden würde, diese Summe über diverse verteilte Cerberus-Konten heranzuschaffen.
Einige falsche Handschläge später und ohne Luceija auch nur ein einziges weiteres Mal angesehen zu haben, waren beide wieder freien Fußes am Skycar angelangt. Bis hierhin hatte ihr Ziehvater Luceija stets das Wort verboten, wenn sie zu Erklärungsversuchen angesetzt hatte, doch als sich jetzt endlich das Cockpitfenster über den beiden schloss, griff Serrgio in typischer Manier kopfschmerzlindernd an seine Stirn und brummte nach kurzer Zeit des Durchatmens schließlich nur: "Du weißt, wie gefährlich so etwas für uns ist"
Einfach nur heilfroh endlich aus dem stickigen Kämmerchen raus zu sein und wieder frische, wenngleich künstliche Luft in ihre Lungen zu bekommen, stolzierte die Minderjährige dennoch ziemlich selbstbewusst und wenig eingeknickt neben ihrem Ziehvater her, was wahrscheinlich damit einher ging, dass sie vorher noch mit einem tiefdunklen, bittersüßen Grinsen an dem zähneknirschenden Salarianer vorbeigegangen war und "Questo è tutto quindi probabilmente con la vostra promozione."1 anhängte, bevor sie ihre damals schon ziemlich langen Haare hinter sich warf und das groteske Szenario verlies. Na zumindest hätte sie ihm das gerne gesagt, Sergio wusste allerdings genau, wie er Luci dazu bringen konnte, wenigstens auf halbem Weg die Klappe zu halten und so erübrigten sich vorerst weitere Zwischenfälle.
Bald darauf lies sie sich schon zur Beifahrerseite in den Sitz sinken, so tief, dass die überaus schmale Gestalt dort drin beinahe unter ging. Scharf sog die Halbitalienerin die Luft durch die Zähne ein, als ihre viel zu lockere Haltung die Wirbelsaeule unangenehm kruemmte und die Proben, die der Doc ihr gestern erst entnommen hatte, ihren Tribut zollten. Die Anklage ihres gestressten Ziehvaters ignorierte sie dabei zunächst, antwortete lieber mit einem "Quelli erano idioti assoluti. Che cosa avrebbe dovuto fare già?"2
Ihr Gesicht hatte die fünfzehneinhalbjährige in Richtung Fenster gedreht und den listigen Ausdruck darin längst verloren. Stattdessen erfreute sie sich in stiller Genugtuung daran, dass sie in ihrer Hosentasche noch eine angebrochene Zigarette fand, die sie sich dem kränklichen Erscheinungsbild zum Trotz in den rechten Mundwinkel schob und sie sich mit zittrigen Händen ansteckte. Nicht mehr viel, vielleicht ein, zwei Züge die man daraus entnehmen konnte aber im Augenblick war es besser als gar nichts zu haben. Das beruhigte wenigstens ihre eigenen Nerven.
1 Das war's dann wohl mit deiner Beförderung.
2 Das waren absolute Idioten. Was hätten die schon machen sollen?
Leise konnte man das Reiben seines Kiefers vernehmen, als er sich einen zornigen Ausbruch über die mehr als überhebliche Einstellung der Pubertiernden verkniff, doch dann fiel sein Blick für einen Moment auf den mickrigen Zigarettenstummel, den Luceija neben ihm im in der Fahrerkabine anzündete. Einen Zug ließ er sie daraus nehmen, dann entriss er ihr den selben, nur um dann selbst daran zu saugen, bis der Filter zu brennen begann und einen widerlichen Geschmack auf der Zunge hinterließ. Wenn man Cerberus-Mitglieder an etwas erkannte, dann wahrscheinlich an diesem archaischen Brauchtum aus alten Tagen, als man Tabak noch immer und zwar ausschließlich auf der Erde anbaute. Der Illusive Man lebte es vor, denn auch wenn kaum jemand je mit ihm persönlich sprechen durfte, die Erzählungen über seinen exzessiven Whiskey- und Tabakkonsum hatte jeder in Cerberus schon einmal gehört. Dennoch: Luceija wollte er diese schlechte Angewohnheit nicht gönnen. Nicht etwa aus Sorge - Lungenkrebs gehörte ohnehin den medizinischen Problemen des letzten Jahrhunderts an - sondern aus der Überzeugung heraus, dass man bei der Vielzahl an Experimenten und Wirkstoffen, die man bei Luceija anwendete, weitere unnötige Störfaktoren schon zu Gunsten der Testvalidität vermeiden musste.
Beiläufig drückte er die Zigarette am Armaturenbrett aus und ließ sie dort für den nächsten Benutzer des Leihfahrzeugs liegen, während er mit der anderen Hand den automatischen Kurs zurück zu seiner Wohnung anwählte.
"Vielleicht sind es Idioten, aber sie sind trotzdem Teil eines Systems, das selbst für Cerberus zu groß ist. Zumindest derzeit. Und wir wollen einfach keine schlafenden Hunde wecken, Luci", antwortete er ihr im selben breiten sizilianischen Dialekt, den sie von ihm gelernt hatte.
Obwohl er sich selbst auf den Kurs natürlich nicht konzentrieren musste, blickte er dennoch die längste Zeit vor sich aus der Frontscheibe und drehte den Kopf nur hin und wieder zu seiner aufmüpfigen Adoptivtochter, um sich ihrer Reaktion zu vergewissern.
"Und außerdem: 24 000 Credits, Luci. Das ist der Wert von mindestens drei Monaten pharmazeutischen Nachschubs. Und unser Budget wird im nächsten Geschäftsjahr vielleicht sowieso gekürzt, wenn die Testwerte sich nicht weiter verbessern"
Eine kurze Weile ließ er das Gesagte schweigend setzen. Seltsamerweise war er jetzt, da sein Zögling bei ihm im Skycar saß, längst nicht mehr so aufgebracht wie zuvor, und das, obwohl von ihr bisher nichteinmal eine Entschuldigung erfolgt war.
"Und das ist auch so etwas: Du verhökerst unser wertvolles Testmaterial gestreckt an irgendwelche Junkies? Das Zeug ist viel mehr wert, als du je auf der Straße dafür bekommen würdest. Und wofür solltest du das Geld schon brauchen? Wirklich, Luceija, ich hatte nach all unseren Jahren schon ein wenig mehr logisches Denken von dir erwartet"
Er konnte jetzt schon die Stimme seiner Vorgesetzten hören, die ihn daran erinnern würden, dass es ohnehin sehr riskant war, ein Testsubjekt nicht abgeschottet von der Außenwelt auf irgendeiner Anlage im ewigen Eis auszuwerten, sondern es stattdessen in eine halbwegs normale Umwelt zu integrieren. Aber Sergio war nach wie vor überzeugt davon, dass soziale Kontakte und freier Handlungsspielraum wichtige psychosomatische Effekte auf die Testergebnisse hatten. Und in diesem Fall vielleicht auch auf seine eigene Psyche, wenn er dadurch nachts etwas besser schlief.
Lange und ausgiebig seufzte Luceija um ihren Unmut zu den Kommentaren eindeutig zu machen. Sie war deutlich angesäuert und machte auch nicht im geringsten einen Hehl aus ihrer Stimmungslage. "Mja, du kannst jetzt aufhören den Übervater raushängen zu lassen."
Allem voran war die Halbitalienerin aber einfach nur müde. Ohne auf eine Uhr gesehen zu haben war ihr schnell klar, dass sie mehrere Stunden in den vier Wänden der C-SEC verbracht hatte und dabei nicht nur einmal die ein und die selbe Frage gestellt bekommen hatte, die sie ständig gleich beantwortete. Dazu spielte, dass sie eigentlich eingeplant hatte nach dem nächsten Deal einen netten Abend in diesem neuen Club auf der vierten Ebene des Plynkton-Towers zu genießen, von dem ihr jemand erzählt hatte..aber das Vorhaben war damit wohl hinüber. Zigaretten hatte sie auch nicht mehr. Der Tag konnte nur schlechter werden.
Die Personen, die unter ihrem fliegenden Shuttle in den Gassen gingen und bei künstlicher Atmosphäre Drinks in ebenso künstlichen Terrassen genießen konnten, würden das wahrscheinlich in keinem Fall so sehen und Luci spürte, wie sie unbewusst mit ihren Zähnen knirschte. "Ich brauch die verdammten Credits nicht.", stellte sie leise und viel zu spät klar, bis sich ihr Atem an der vom Fahrtwind gekühlten Scheibe sammelte und ihr die Sicht benebelte.
Unter leisem Stöhnen wandte sie sich nach vorne und versuchte ihre lädierte Rückenpartie nicht zu sehr mit ungewohnten Bewegungen zu belasten. Auch über ihr zogen Welten vorbei. Planeten. Der wundervoll-farbige Galaxienebel, der wie eine bezaubernde Deko über der gigantischen Raumstation haftete. Es war nicht so, dass ihr die Station nicht gefiel.. . Über die Citadel hatte sie viele, berauschende Geschichten gehört. Über schier unendliche Möglichkeiten, über ein potenzielles Schaltzentrum der menschlichen Rasse, das seinesgleichen suchen würde. Sie hatte Sergio oftmals an den Lippen geklebt, als er ihr über die technischen Details mit ein paar Leuten über Comm philosophiert hatte, aber alles in allem fehlte der Schwarzhaarigen vor allem das unverwechselbare Gefühl einer Heimat. Und das Meeresrauschen gehörte genauso dazu wie das kleine, hübsch ausgebaute Häuschen mit direkter Strandlage und dem gepflegten Garten, der sie mit einem zarten Geruch frischer Rosenblätter weckte. Jetzt hier eine Zukunft zu bestreiten schien ihr auf einmal fast zu viel zu sein. Also musste sie raus. Die stählernen, leblosen Wände der deutlich größeren Wohnung verlassen und ein bisschen dreckige Menschlichkeit in denen wecken, die ohnehin keine Menschlichkeit besaßen. Kurz gesagt: Sie hing nur zu gerne mit der vermeintlichen Gosse herum. Aber sondierte sich selbst unter den Kleinkriminellen und markierte hier den Lone Wolf. Sie würde es nicht wagen diese Schwäche ihm gegenüber zu äußern, aber sicher war für sie: Italien war so viel besser als die Citadel jemals sein konnte.
Kaum hatte Luceija ihn aufgefordert, nicht nallzu väterlich zu klingen, wurde er tatsächlich seltsam still und krallte sich stattdessen in die Steuerungsarmaturen des Cockpits, obwohl er diese momentan gar nicht bediente. Es war nach all den Jahren immernoch ein seltsames Gefühl, wenn zwischen den beiden die Worte "Vater" oder "Tochter" fielen, und vielleicht wusste Luceija das auch und nutzte diese Schwachstelle jetzt gekonnt gegen ihn, damit er sie nicht weiter mit Moralpredigten belästigte. Erst ihr leises, verzögertes Gemurmel im Anschluss ließ ihn wieder seinen Blick zu ihr richten.
"Wenn du Das Geld nicht brauchst, was soll dann das Ganze?"
Einen Moment lang ließ er das Gesagte setzen, zog die Frage dann aber angesichts des erneut allzu väterlichen Tons wieder zurück, indem er das Thema umlenkte.
"Deine Testergebnisse heute waren gut. Ich muss nachher nocheinmal zwei Blutproben nehmen und deine Medikation etwas anpassen. Vielleicht bekommen wir deine Schwindelanfälle und Atemprobleme so auch wieder in den Griff", brummte er in jetzt fast schon beruhigendem Ton, als sei es eine äußere, höhere Gewalt, die für Lucis Leiden verantwortlich war, dabei wusste er doch ganz genau, dass das Mädchen ohne all diese Experimente kerngesund gewesen wäre. Als auch auf diese Worte, die zugegebenermaßen ohnehin nicht der beste Anknüpfunspunkt für eine Konversation waren, Luceija nicht wirklich gesprächiger stimmten, wechselte Sergio erneut das Thema.
"Hast du zufällig schon angefangen, eines der Bücher zu lesen, die ich dir empfohlen habe?" Und dann, als auch dies etwas zu lehrerhaft klang, ergänzte er: "Nicht, dass du mit deiner Freizeit nicht machen könntest was du willst... Es sind nur einfach wirklich gute Bücher"
Leise seufzte Sergio, während er den Transitknotenpunkt in der Nähe ihres Wohngebäudes ansteuerte. Er hatte das Gefühl, weiter den disziplinären Zeigefinger heben zu müssen, dabei war es ihm doch im Grunde nicht wichtig, was Luceija außerhalb des Hauses tat, solang sie nur das Projekt nicht in Gefahr brachte. Und ihre Uneinsichtigkeit machte ihm die Sache zudem nicht wirklich einfacher.
Es war, als hätte sie eine Weile über das Gesagte nachdenken müssen. Ruhe dominierte das Skycar und lediglich die sanfte Geräusche des Masseneffektantriebs surrte in angenehmer, monotoner Gewohnheit durch den metallernen Wagen. Beinahe hätte er es geschafft die ohnehin schon schläfrige, junge Frau nach etlichen Stunden Verhörtortur in den Schlaf zu wiegen wie ein sanftes Lied. Aber mehr, als dass ihr Kopf kurz an die Scheibe sank und ihre schweren Augenlider sich sanft schlossen, geschah nicht. Viel zu verspätet lächelte sie sogar und überging die Frage nach dem Buch zunächst. "Das heisst, heute wird auf Essen verzichtet?", lächelte sie mit geschlossenen Augen und schien sich an der Tatsache zu erfreuen, dass eine Gabel voll Fisch von einer deutlich erholsameren Spritze ersetzt wurde. Die ging schneller, Mittel in ihrem Blut hatten jegliches Hungergefühl von ihrem dürren Leib gelöst und der Einstich hatte bereits jetzt mit 15 1/2 Jahren schon eine solche Suchtwirkung auf sie, dass es jeder liebenden Mutter das Herz geschmerzt hätte. Die Normalität mit der die Behandlungen zwischen ihnen liefen, war allerdings schon sehr eingeprägt in ihrer beider Leben. Etwa so wie lustige Spieleabende in anderen Familien. Es gehörte nunmal dazu und war unvermeidlich. Und zumindest für die Kleine bisher auch ziemlich okay. Vielleicht nicht die auftretenden Schmerzen, aber der Schirm, der sich dort herum spannte.
Luceija hatte mit ihrer Antwort wohl lange genug gewartet, dass jetzt das Shuttle zur Seite gerissen wurde und automatisch die Landesequenz eingeleitet wurde. Eine nette, angenehme Avina-Stimme unterstrich die Handlung derweil und nur noch kurz wurde der Antrieb lauter, als der Boden immer näher kam. Brummen war der letzte Klang, bevor ein Rütteln durch das Gefährt ging und es mit einem Mal verstummte. Sie waren angekommen.
"Plan mich am Besten einfach nicht ein.", erwiderte sie mit dieser eingebildeten, jugendlichen 'coolness', als wolle sie sagen, dass sie besseres vor habe. Noch immer lies sie die Frage nach dem Buch außen vor. Eigenständig stiess sie die Türe auf, die mit einem Druckluftweichen nach oben flügelartig wich und stieg taumeliger als erwartet auf. Sie standen nicht mitten in einem Pulk von Personen, deshalb zeigte sie auch wenig Scheu beim angebrochenen Weg in Richtung Wohnung "Gib mir einfach was zum Wachbleiben und ich bin wieder weg."
Sergio entrann sofort ein tiefer Seufzer, als seine Adoptivtochter ihn mit der üblichen Respektlosigkeit behandelte und all die Vorzüge, die er ihr gewährte, als Selbstverständlichkeiten hinnahm, doch vermischte sich sein Laut der Frustration mit dem Druckausgleich der Fahrerkabine beim Anheben der Glaskuppel - nicht dass Luceija sich überhaupt für seine Emotionen interessiert hätte. Etwas entnervt stopfte er daher die Hände in seinen Laborkittel und sah dem schnippischen Gang seiner Luceija kopfschüttelnd hinterher, bis er ihr schließlich doch zum Eingang des Gebäudes folgte und dort seine Schlüsselkarte herauskramte.
"Deine Pläne für heute Abend kannst du du vorerst abschreiben, junge Dame", brummte er etwas grimmig, aber insgesamt doch ohne den pädagogischen Unterton, den man darin vielleicht erwartet hätte. Die Eingangstür entriegelte sich und er schob Luceija in einer Mischung aus Zuneigung und Zwang mit einem Griff an der rechten Schulter hinein in das Treppenhaus.
"Ich sagte doch: wir müssen deine Medikation noch anpassen. Und dein Spritzenfrühstück, das du immer so sehr bevorzugst, kannst du auch vergessen. Heute gibt es Seeteufelfilet mit Bratgemüse - und erst als Dessert dann deine Medikamente", schmunzelte er ihr kurz zu, während er die Treppe zum Wohnungseingang mit ihr hinaufging und an deren Ende die Wohnung für seinen Zögling aufschloss.
"Und im Ernst, du solltest mehr essen. Sonst fällt dir noch deine Kleidung von den Schultern", stichelte er weiter und zupfte kurz an der Kapuze ihres schmalen Kapu-Jäckchens, das ihr Körper tatsächlich kaum ausfüllte und das vergleichsweise locker an ihrer unterernährten Gestalt hinunterfiel.
In der Wohnung ging er dann voraus in die Küche, um dort direkt die am Morgen angefangenen Analysen wieder anprojizieren zu lassen, während er sich an dir Zubereitung des Essens machte.
"Du kannst derweil schon mal ins Labor gehen und dich vorbereiten. Ich komme dann gleich nach... Und denk gar nicht daran, wieder etwas aus den Schränken mitgehen zu lassen - die Ampullen sind abgezählt!", rief er ihr aus der Küche zu, ehe er die beiden zurechtgelegten gefrorenen Fischfilets vorsichtig in die Pfanne legte. Wahrscheinlich war er beinahe der einzige Mensch auf der Citadel, der sich sein Mittagessen noch selbst zubereitete. Und dennoch war er mit der Nahrungsqualität hier alles andere als zufrieden. Ein gefrorenes und über wochenlange Routen importiertes Zuchtfischfilet war einfach nicht mit frischem Heimatfisch vergleichbar - von dem Gemüse gar nicht zu sprechen.
"Die Ampullen sind abgezählt..", äffte die Jugendliche ihren Ziehvater nach, als sie ihm kaum den Rücken zugekehrt hatte. Die schmale Jacke, die kaum bis zur Mitte des Rückens ging und ihr dennoch viel zu groß war, streifte sie mit flatternden Armen ab, wagte es aber nicht sie an den Haken zu hängen. Sie warf sie lieber über eine Ecke der großzügigen Kücheninsel und ignorierte sie dort. Unter der Jacke trug die Halbitalienerin ein etwas zu weites, asymmetrisches Shirt, dass ihr ob der Größe sogar leicht über die linke Schulter fiel. Die Hose darunter sollte eigentlich enganliegend sein, verfehlte ihren Zweck aber um ein gutes Stück. Als Sergio schon dabei war, den zum Auftauen bereitgelegten Fisch in die schnell erwärmte Pfanne zu hauen, rümpfte die junge Frau leicht die Nase, bevor sie diese in den großen Kühlschrank steckte.
Noch immer war sie sich unsicher, wie wohl sie sich in den neuen vier Wänden hatte fühlen sollen. Zwar hatten die Umstände dafür gesorgt, dass das Duo sich schnell einleben konnte, aber uneingeschränkt zufrieden war sie nicht. Und sie teilte Sergios Ansichten in Bezug auf die Lebensmittel stark. Es roch allein schon ganz anders, wenn das Meerestier angebraten wurde. Da lag es nicht an falscher Zubereitung sondern schlicht an eingeschränkten Ressourcen. Da erwies es sich als positive Eigenschaft, dass ihr Hunger sich auf ein Minimum reduzierte und auch sonstige Essgewohnheiten ungesund begrenzt waren.
Gerade aber hatte sie Durst und musterte kritisch den Inhalt dieser Kühlmöglichkeit. Zu ihrem Missfallen musste sie feststellen, dass Sergio keine neuen Twinkies eingekauft hatte (etwas, dass sie verdächtig gerne aß), stattdessen aber preparierte 0,33 Liter Gefäße in hoher Stückzahl eine komplette Stufe einnahmen. Sie alle waren trüb, erinnerten an eine Zitronenmischung und wiesen ebenfalls solche kleinsten Teilchen auf, die an Fruchtfleischreste erinnerten. "Gibts auch irgendwas OHNE...wasauchimmer?", murmelte sie, ohne den Älteren dabei ansehen zu wollen und entschied sich kurzerhand dazu, den Kühlschrank etwas ungehaltener zu schließen, obwohl ihr die Kraft für einen wirklichen Knalleffekt fehlte. "Dann halt nicht."
Ihre nächste Station war der Küchenschrank, dem sie ein Glas entnahm und es an der Spüle mit dem ekelhaft versetzten Wasser füllte nur, um es direkt zu leeren, auf den Abtropfteil derer zu werfen und dann vollends die offene Küche durch das Wohnzimmer zu verlassen. "Leck mich, Sergio.", murmelte sie auf dem Weg in den hinteren Bereich, den sie durch eine Tür verlies, die unweigerlich auch an der Eingangsgarderobe vorbei führte. Ein Willkommener Umweg um die Hand in eine Seitentasche seiner Jacke gleiten zu lassen und stattdessen SEINE Zigaretten zu klauen, bevor sie ins Labor verschwand. Und wäre hier nicht alles mit den automatischen Schiebetüren ausgestattet, wäre es mehr als der radikale Schlag auf das Panel, dass er von Luci noch gehört hätte.
Das Labor selbst war vergleichsweise klein. Wenn man aber bedachte, dass sie zu Hause auf Palermo die Maschinen teilweise im Gang auslagern mussten, weil einfach zu wenig Platz für die vielen Geräte war, war es wieder geräumig. Vorallem der moderne Behandlungstisch mitsamt neuer Roboterarme als Unterstützung für die Behandlung war eine Verbesserung. Die, die sie auf Palermo benutzt haben hatten schon ein paar Reparaturen überstanden, eine nächste aber wohl eher nicht. Die bislang letzte Behandlung hatten sie auch noch auf dem alten Wege durchgeführt und deutlich länger gedauert. Jetzt stand sie also in einem länglichen Raum, deren eine Fassade in einen Innenhof der Citadel ragte, durch die Glasfassade aber viel Licht in das Gebäude drang. Jalousien verdeckten im Augenblick nur den oberen Teil der Front, also musste die Schwarzhaarige schützend einen Arm vor ihre Augen halten um nicht geblendet zu werden.
Zigaretten zog sie gerne aus Schachteln. Steckte sie gerne zwischen ihre trockenen, dunklen Lippen und setzte sie kontrolliert in Brand. Ganz egal, wie viele Giftstoffe nun in dem Glimmstängel steckten, er nahm einfach immer noch den Stress aus ihrem völlig zerstörten Alltag. Die Polizisten auf der Wache wollten sie nicht rauchen lassen. Behaupteten, es wäre nicht Altersgerecht - darüber lachte sie nur. Was hatten ein paar dumme Aliens schon für eine Ahnung von menschlichem Verhalten. Wenn es nach ihnen gehen würde, wäre es wohl auch nicht angebracht, wie Luci jetzt - mit Zigarette im Mundwinkel - einen Scheiß auf die nicht eingeschaltene Verblendung gab und sich einfach so routiniert das zu weite Shirt über den Kopf zog. Sich jeden Moment einem deutlich Älteren im BH präsentieren würde. Wahrscheinlich würden sie noch Kindesmisshandlung in diese Beziehung hineininterpretieren. Diese Vollidioten wussten garnichts. Erstrecht nichts von einem vollkommenen, normalen Vater-Arzt-Tochter-Patienten Verhältnis.
Lucis Schritte führten sie rauchend an den Behandlungstisch, wo sie sofort Platz nahm, die Beine auf die Trage schob und dann lediglich ans Kopfende greifen musste um ein Datapad zu erreichen, auf welchem sie ihre zuletzt gelesene Bücherreihe wieder abrief. Dabei handelte es sich um eine scheinbar vereinfachte Fassung von Dante Alighieris Werken in italienischer Sprache. Die originalen hatte sie bis dahin nicht gesehen und wären für ihre 15 Jahre wohl auch noch etwas zu Komplex. Zumindest hatte Sergio mal behauptet, dass das der Grund für die abgespeckte Version war und sie eines Tages seine Originalen erben würde. Altitalienische aber auch griechische Antikliteratur. Sie mochte ihre Bücher sehr. Vertiefte sich gern in den Geschichten und kreativen Ausdrücken. Vielleicht auch, weil es die einzige der wenigen Arten Bücher waren, die sie zugespielt bekommen hatte.
Asche, die sie nicht beachtete, rieselte auf ihr Schlüsselbein.
Bereits einige Minuten später war sämtliches Gemüse bereits liebevoll kleingeschnitten und die zweite Pfanne angewärmt, sodass sich Luceija gerade rechtzeitig hinter der Kühlschranktür versteckte, bevor ein lautes Zischen des eingeworfenen Gemüses neben ihr ertönte und eine große Dunstwolke aus der Pfanne aufstob. Ihren Missmut über den leeren Kühlschrank hörte er dennoch durch das Zischen des Wassers in Öl heraus und rief dagegen an.
"Dieses 'wasauchimmer' ist Zitronenlimonade mit einem isotonischen Gemisch und einigen Kreislaufanregenden Hormonen. Wenn dir wieder schummrig werden sollte, trink einfach eine davon. Am besten sogar schon bevor dir schummrig wird"
Kein einziges Mal sah er dabei von seinem Essen auf, das er gerade gewissenhaft mit Zitronensaft beträufelte. Eine frische Zitrone, wie er immer gerne auf Nachfrage Luceijas betonte, da sich Zitrusfrüchte lange genug für einen Import hielten. Ein teurer Spaß - und das nichtmal für den Transportweg, sondern für die Produktion auf der mittlerweile völlig übervölkerten Erde, wo lokale Landwirtschaft schlichte Platzverschwendung und ohnehin nur noch in vertikaler Kultur möglich war. Doch Sergio mochte den Gedanken, dass es tatsächlich die Sonnenstrahlen des Sol-Systems waren, die seinem Fisch die fruchtig-saure Kopfnote verliehen. Die gezielten Energiefelder der modernen Heizplatte wärmten das Essen überaus schnell, eine Eigenschaft, die Sergio trotz seiner Traditionsverliebtheit in Bezug auf Essen begrüßte. Ungünstigerweise versiegte so aber recht bald das Zischen der Pfanne, sodass er Luceijas "Leck mich, Sergio" noch gerade vernehmen konnte, woraufhin er, ohne zu zögern, den kleinen Löffel in seiner Hand nach Luceija warf, und sie damit genau am Hinterkopf traf, gerade bevor sie aus seinem Sichtfeld verschwinden konnte. Er war nicht einmal besonders wütend über die Bemerkung, fand einfach nur, dass er sie so nicht stehen lassen konnte. Immerhin war er es, der das rotzfreche Gör hier durchfütterte - auch wenn dies gewissermaßen zu seinen Pflichten des Projekts gehörte. Dennoch schmunzelte er fast etwas entschuldigend und zog seinen Kopf kurz an, als er seinen überraschend guten Treffer bemerkte.
Kurz darauf war das Essen fertig und der Doktor gab sich überraschend viel Mühe dabei, den Gemüsesud aus der Pfanne gleichmäßig über das Essen auf den Tellern zu träufeln, beinahe liebevoll wie ein Restaurantkoch. Gekonnt balancierte er nun beide Teller in einer Hand, eine der 'Aufputschlimonaden' in der anderen, in Richtung Labor, wo Luceija bereits halb entblößt auf der Liege in ihrem Datapad schmökerte.
"Siehst du dir Vids an?", rümpfte Sergio kurz die Nase, während er sich neben Luceija setzte und ihren Teller neben ihr auf der Polsterliege abstellte. Insgesamt hoffte er natürlich, dass sie die Frage verneinen würde, denn es war ihm tatsächlich ein persönliches Anliegen, dass sie seinen Alighieri las, und sei es nur in der bearbeiteten Version.
Kurz desinfizierte er sich die Hände, stülpte anschließend aber nur über eine Hand einen Latexhandschuh, während er mit der anderen eine Gabel seines Essens gedankenverloren in seinen Mund stopfte. Mit der rechten griff er hingegen nach etwas, das an eine Wäscheklammer erinnerte, zeigte Luceija schmatzend unter einer Geste der Hand an, dass sie ihren Kopf drehen solle, sodass er die Klammer an ihr Ohrläppchen hinter dem dünnen, schwarzen Haar klemmen konnte. Dann stach für den Bruchteil einer Sekunde eine Nadel blitzschnell in ihr Fleisch und saugte das Blut daraus ab, ehe Sergio die Klammer wieder entfernte und einen Tropfen Medigel darauf verstrich. Der Auftakt von fast jeder Behandlung.
Es folgte eine weitere Gabel, die er ungeduldig verschlang, bevor er unter lautem Kauen die Ergebnisse der Kurzanalyse genauer auf einer Monitorprojektion oberhalb von Luceijas liegendem Körper betrachtete.
"Mhm... Wirklich keine allzu guten Werte. Die Leukozyten haben wir inzwischen wieder auf Normalniveau, aber deine Erythrozyten und deine Sauerstoffsättigung sind eine Katastrophe. Wir müssen irgendeine Medikation finden, die deine Blutzellteilung etwas weniger beeinflusst, sonst kann ich mit dir wieder den Boden wischen"
Da ihn jetzt wieder sein voller Mund vom Reden abhielt, machte er mit dem Finger eine kreisende Geste, um ihr anzuzeigen, dass sie sich auf den Bauch wenden solle. Die Gabel behielt er kurz im Mund, um beide Hände freizuhaben, ihre BH-Klammer zu öffnen. Schon kurz darauf folgte die gewohnte Kälte eines stählernen Sensors, den Sergio an Luceijas Wirbelsäule entlang hinunterzog, wodurch sich über ihr eine halbdurchsichtige, freischwebende Projektion ihres Rückgrats aufbaute. Zwei routinierte Tastendrücke später legte sich ein Filter über das Bild und ließ einige hundert ungleichmäßig verteilte Partikel darauf blau leuchten.
"Aber die Eezo-Distribution im Rückenmark geht gut voran. Also sollten wir andererseits vielleicht doch nicht zu viel an den Medikamenten ändern... Was meinst du: Hältst du ein wenig Schwindel und Kurzatmigkeit aus, oder soll ich die Dosis der Apoptosebeschleuniger etwas senken?"
Er musste manchmal über sich selbst erschaudern, wie selbstverständlich er mit dem Wohlbefinden seiner Ziehtochter feilschte, doch das war nunmal sein tägliches Brot. Dennoch kam ihm hin und wieder ein komisches Gefühl dabei auf, wenn er ihr schmerzverzogenes Gesicht sah oder bemerkte, wie sie nach einer kurzen Treppe bereits schwer atmend in sich zusammensank.
Bäuchlings auf der bepolsterten Liege lies die dürre Halbitalienerin die ersten Behandlungen anstandslos über sich ergehen. Wo andere in ihrem Alter laut gequiekt hätten als der Arzt den BH-Verschluss öffnete, konzentrierte sie sich hingegen primär auf das weiße Kunstleder unter ihr, auf welchem sie mit dem Zeigefingernagel kleine Furchen neben ihrem Teller zog. Sie mochte das Geräusch dabei - wie der abgeriebene Teil des synthetischen Materials eindeutig bewies, Sergio aber wohl vielleicht nicht besonders gefiel. Zum Glück stellte er sich nicht so an, dass sie im Mundwinkel die Zigarette klemmen hatte, in seine Richtung unbewusst den Rauch ausatmete und sich nicht daran störte, dass die abgeklopfte Asche ganz am Tellerrand herabgeklopft seine letzte Ruhe fand und dabei beinahe das Gemüse gestreift und kontaminiert hätte. Bei der Berührung des kühlen Scanners auf ihrer vergleichsweise warmen Haut, zuckte sie wie gewohnt leicht zusammen. "Gib mir das Zeug..", atmete sie aus, bevor der Kopf mit der rechten Wange auf dem Polster ankam und sie gleichzeitig mit maximal ausgestrecktem Arm das Datapad irgendwo auf Kopfhöhe wieder in ein Regal schob.
Ein Seufzen folgte. Über einen Schnitz angebratene Aubergine hinweg begutachtete sie Sergios Taten. Auch, wenn sie keinen wirklichen Einfluss an den Testergebnissen hatte, fühlte sie sich unverhältnismäßig schuldig beim Gedanken daran, nicht die besten Ergebnisse geliefert zu haben. Entsprechend erschlagen, nicht unbedingt unterstützt von ihrer Blässe, blickte sie so zu ihm hinauf ohne sich zu bewegen und fragte kleinlaut nach: "Sind die wirklich so schlecht?"
Ihre feingliedrige, freie Hand, die gerade die Zigarette hielt, führte den Stummel an ihre Lippen, bevor sie das sorgsam bereitete Essen mit dem Rauch anpustete. Die zuvor ziemlich arrogante Miene, die sich während der Wartezeit auf Sergio neutralisiert hatte, wurde nunmehr eher ins Negative gezogen. Tomatengeruch stieg ihr in die Nase und besonders der dominante Geruch von Basilikum und Rosmarin mischte sich in die ohnehin schon mediterrane Mixtur. Aber obwohl ihr Magen sich kräuselte und beim Anblick des Essens tatsächlichen Hunger verspürte, wollte ihr Kopf nicht danach greifen. Ganz gleich wie sehr sie davon benebelt wurde. Wahrscheinlich lag es auch schon daran, dass sie im schlimmsten Fall befürchtete, den gesamten Mageninhalt, den sie sich hier anfressen würde, nach gewissen Behandlungen ganz schnell wieder in einen Eimer verlieren würde. Es kam drauf an was es war und wie lange es andauerte. Die angekündigte Medimenge jedoch war schon eher ein Zeichen für mehr gefüllte Eimer und einen üblen Geschmack in ihrem Mund. Kurzum: Die effektive Lust am Essen war der Italienerin schon lange vergangen. Nur zu schade, wo die italienische, besonders die sizilianische Küche, doch so viel zu erzählen hatte.
Nochmals atmete sie zu tief aus. "Das...heißt also, du bist nicht zufrieden mit mir.", stellte sie eher fest als zu fragen.
Er nickte zufrieden, als sich Luceija damit einverstanden erklärte, ihr persönliches Wohlbefinden aufzuopfern, um das Projekt schneller voranzubringen. Er war beinahe stolz, wie gut sie sich in die Doktrin der Forschungszelle integrierte, doch andererseits machte es ihm auch etwas Sorge, wie bedingungslos sie ihr eigenes Leben damit riskierte. Wahrscheinlich sorgte sich Sergio darum sogar mehr als sie selbst, vielleicht auch, da sie gar nicht recht verstand, was man mit ihr genau anstellte. Und das erste Anzeichen für ihr schwindendes Wohlbefinden war ihr mangelnder Appetit.
Erst als er selbst bereits den fünften großen Bissen von seiner selbstbereiteten Mahlzeit genommen hatte, und sich der zugegebenermaßen etwas zähe Seeteufel in seine Speiseröhre verabschiedte hatte, bemerkte er, dass Luceija bisher noch keinen einzigen Bissen von der Mahlzeit zu sich genommen hatte. Stattdessen fiel nun sogar Asche von ihrer Zigarette auf die mühevoll gekochte Speise, woraufhin Sergio erneut etwas empört die Nase rümpfte. An der Zigarette an sich schien er sich hingegen weniger zu stören, fühlte sich, im Gegenteil, eher animiert, sich nun selbst auch eine Zigarette zwischen die Lippen zu stecken und anzuzünden.
"Das...heißt also, du bist nicht zufrieden mit mir.", vernahm er dann überrascht von seiner 'Patientin' und musste ersteinmal einen Rauchschwall langsam ausatmen, bevor er eine passende Antwort geben konnte.
"Keine Sorge, Luci, deine Werte sind insgesamt hervorragend", versuchte er sie zu beruhigen, während er mit seinem Rollhocker zu den Medizinschränken hinüberglitt und die richtigen Ampullen für die weitere Behandlung heraussuchte, wobei ihm die unabgeklopfte Zigarette Asche auf die Hose fallen ließ. Erst als er die richtige Ampulle entdeckt hatte, rollte er zurück zu Luceija und steckte das Glasfläschchen in einen entsprechenden Zugang des Roboterarms, der so bedrohlich über ihr schwebte. Vollautomatisch orientierten sich nun acht Nadeln entlang des Rückgrats des jungen Mädchens und suchten mittels roter Lasermesspunkte und -gitter die richtigen Einstechpunkte an ihrer Wirbelsäule ab.
"Was Cerberus interessiert, sind lediglich deine Eezo-Distributionswerte, und die werden in letzter Zeit immer besser. Aber was mich persönlich interessiert, ist deine sonstige Gesundheit. Und die wird wiederum immer schlechter, je vehementer wir die Sache vorantreiben wollen. Ich bin also nicht enttäuscht von dir, Luci, im Gegenteil: Ich bin positiv überrascht, wie gut du mit mir zusammenarbeitest"
Inzwischen ertönte ein hydraulisches Zischen, als sich die bläuliche Flüssigkeit aus der Ampulle in die acht Spritzenkolben der Nadeln am Roboterarm verteilte und dieser sich hinabsenkte bis etwa zehn Zentimeter über die blasse Haut des Mädchens. Da diese das Geräusch wohl nur zu gut von den bisherigen Behandlungen kannte, wusste sie wohl auch, was ihr nun wieder bevorstand.
"Und ich will dir etwas vorschlagen: Nachdem diese Behandlung vorbei ist und du zumindest ein bisschen etwas außer Nikotin zu dir genommen hast, sind wir beide für heute fertig mit dem Pflichtprogramm. Dann kannst du tun, was du willst. Also: bereit für die Spritzen?"
Es war wohl eher eine rhetorische Frage oder eine Vorwarnung, sich nun nicht mehr zu bewegen, denn bereits in der nächsten Sekunde löste er die Injektion aus und die Spritzen senkten sich weiter hinab, bis sie jeweils die Haut eindrückten, aber nicht punktierten, verharrten für eine Sekunde so und stachen dann alle gleichzeitig ruckartig zu, um sich innert einer Sekunde in das Rückenmark des Mädchens zu entleeren und dann wieder in die Ausgangsstellung zurückzukehren. Selbst Sergio musste in dieser Sekunde jedes Mal die Luft anhalten.
"[...]also, bereit für die Spritzen?", war häufig eine Ankündigung, die von nicht viel Vorbereitungszeit untermalt wurde. Es reichte gerade so, damit sie schnell die Zigarette an den Rand des Tellers legen konnte und - aus Mangel eines anderen, schmerzfreieren Gegenstandes - sich in den linken Zeigefinger biss um den schnellen aber starken Schmerz zu kompensieren. Dann noch ein strenges Einatmen und ein gedrosselter Ausruf durch den blockierten Mund und alles war auch schon vorbei. Es erinnerte nur noch die rechte, auf dem Stoff des Stuhles verkrampfte Hand daran, dass unangenehm keine Bezeichnung für diese Behandlung war. Trotz Routine konnte sie den Schmerz dabei nicht ignorieren. Immerhin war es allein schon ekelhaft zu bemerken, wie sich mehrere Nadeln gleichzeitig in das junge Rückgrad bohrten.
Etwas zu zittrig taute die Halbitalienerin wieder aus ihrer Starre auf und bewegte sich nur langsam, während der Roboterarm nach und nach die acht Spritzen über einem kleinen Behälter mit unbekannter Lösung loslies und sie beim Eintauchen eine hübsche, kleine, rote Blutwolke verloren. Die Lippen presste Luci fest gegeneinander als sie auch den Finger gelöst hatte und blickte erschlagen zu Sergio auf. "Bereit..", hängte sie sarkastisch viel zu spät nach, übte sich jetzt sogar in sowas wie einem schwachen Lächeln. Glücklicherweise konnte sie sich ziemlich schnell davon regenerieren, sodass sie bald schon wackelig aufsass, sich beidhändig an der Liege festhielt und schon fast demonstrativ danach den Teller Essen auf ihren Schoss stellte. Würde sie nun auch essen anstatt den langsam auskühlenden Fisch einfach nur anzustarren wie in Gemälde, wäre wohl auch Sergio gut getan. "Ugh...", seufzte sie und rieb sich die Unterlippe mit dem Daumen und Zeigefinger.
Ihr behandelnder Arzt verzog während ihres kurzen, gedämpften Schreis nicht einmal eine Braue oder blinzelte, eher nickte er noch leicht zufrieden, als der Schrei endete und ihm somit bewusst machte, dass alles wie üblich nach Plan verlaufen war. Zweimals tätschelte er ihr daher die Schulter in lobender Manier, zugegebenermaßen etwas grob, ehe er mit seinem Hocker wieder zu einem anderen Medizinschrank glitt und dort eine der altbekannten Spritzen per Hand aufzog. Als er sich dann wieder umwandte, saß Luceija dort mit noch immer entblößtem Oberkörper und starrte auf den Teller in ihrem Schoß, als wolle sie es hypnotisieren. Sergio war den Anblick längst gewöhnt - den ihrer Appetitlosigkeit und ihrer Nacktheit - und so war es höchstens ein Schmunzeln, was sich auf seine Lippen schlich, als Luceija zudem begann, angewidert ihre Unterlippe zu kneten.
"Glaub mir, wenn du noch länger als zehn Minuten wartest mit dem ersten Bissen, wird es erstens kalt und dir wird zwitens zu übel sein. Also rein damit. ein leerer Sack bleibt nicht stehen", trieb er sie weiter an, und so väterlich es klang, umso mehr versuchte er sich einzureden, dass es keine elterliche, sondern ärztliche Fürsorge war, die aus ihm sprach. Um diesen Gedanken zu bekräftigen, setzte er gleich die nächste Nadel an ihrem schmächtigen Körper an, diesmal intramuskulär am Oberarm, und leerte eine klare Flüssigkeit unter ihre Haut, während sie sich noch mit dem Gedanken an Essen quälte.
"Das sind jetzt die besagten Apoptosebeschleuniger", murmelte er brummend, wie immer unsicher, ob Luceija sich überhaupt dafür interessierte.
"Bevor wir dir übermorgen die Naniten spritzen, wird es dir dann erstmal weniger gut gehen. Übelkeit und vielleicht ein leichtes Brennen im Rücken, aber da hast du schon Schlimmeres durchgehalten", brummte er weiter in fast schon einschläfernd ruhigem Tonfall, zog dann die Spritze aus ihrem Oberarm und rollte wieder davon. Inzwischen war des Geräusch seiner Stuhlräder auf dem Fliesenboden wohl so vertraut wie der eigene Herzschlag, Mit Hilfe einer gerade errechneten Tabelle, die er neben der Vitrinentür ablas, warf er dann hier mal ein Pillchen, dort mal eine Kapsel in ein kleines Kästchen, deren einzelne Fächer mit Uhrzeiten beschriftet waren. Er wusste, dass sich Luceija nicht immer an die Vorgaben hielt und auch einmal alle Medikamente auf einmal nahm, um sich die Sache einfach zu machen, und daher hatte er die Dosen bereits so angepasst, dass dies keine größeren Komplikationen verursachen würde. Bei den Schmerzmitteln war er dieses Mal jedoch großzügiger, denn er ahnte, dass das brennende Gefühl in ihrem Rücken heute bereits ins periphäre Nervensystem ausstrahlen und somit den ganzen Körper durchziehen könnte. Das wäre ein gutes Zeichen für den Projektfortschritt, aber dennoch nicht gerade angenehm. Dazu wählte er noch Entzündungshemmer, diverse Hormone, Nahrungsergänzungsmittel - denn ohne die wäre Luci sicher längst verhungert, - und, erst seit Neuestem, eine Derivat von Red Sand, das deutlich weniger Suchtpotenzial und halluzinogene Wirkung zeigte, dafür aber umso mehr die Synapsen zur Integration von Element Zero anregte. Lediglich die Kopfschmerzen, eine verbleibende Entzugserscheinung, wurde er hierbei noch nicht ganz los, aber zusammen mit den Schmerzmitteln hielt er diese Nebenwirkung für tolerierbar. Mit diesem frisch geschnürten Tablettenpaket stieß er sich dann wieder vom Boden ab und rollte rauschend zu Luceija hinüber, der er das Kästchen neben den Teller auf den Schoß legte.
"Dein Lunchpaket", ergänzte er in neutralem Tonfall. Was einmal ein Scherz gewesen war, war im Laufe der Jahre zu einem eingefahrenen Begriff unter den beiden geworden, der jedoch keine humoristische Wirkung mehr entfalten wollte, stattdessen eher ein wenig Zynismus zum Ausdruck brachte.
"Ich sehe mir nachher den botanischen Garten zwei Blocks weiter an. Ich dachte mir, vielleicht kriechst du heute nicht mit den Straßenkindern durch irgendwelche Schächte und willst mitkommen. Deine Entscheidung"
Sergio schien die Frage beinahe etwas unangenehm zu sein, vielleicht, da er ahnte, dass ein Teenager weniger Interesse an der intergalaktischen Flora zeigen würde als er selbst. Dennoch beobachtete er mit auf dem Instrumententablett aufgestütztem Kopf unterdessen ganz genau, wie viele Gabeln seine Adoptivtochter bereits hinuntergewürgt hatte und blickte dabei hin und wieder skeptisch auf die deutlich hervorstehenden Rippen unter ihrer dünnen, weißen Haut
Es gestaltete sich schwieriger als erwartet zu essen. Ohnehin war das niemals wirklich leicht für die junge Frau und genau deswegen waren die nahrungsergänzenden Mittel vielleicht nicht besonders verkehrt. Auch, weil sie oft auch einfach nicht wollte. Chronische Appetitlosigkeit eine von vielen Nebenwirkungen, die eben passieren konnten. Damit lebte sie aber gut und gerne, einzig Sergio schien gelegentlich versuchen zu wollen daran etwas zu ändern, aber wahrscheinlich auch nur weil es ihn ärgerte wenn er kochte und das gute Essen jedes Mal zum großen Teil im Abfall landete.
Luci hatte jetzt schon beinahe zu lange gewartet. Ihr wurde tatsächlich kalt, alleine schon weil sie als Südländerin ganz andere Temperaturen auf ihrer Haut gewohnt war als sie auf der Citadel herrschten. Aber selbst wenn sich die frische auf das Essen übertrug, machte das das eintretende Schwindelgefühl dabei nicht wett. Durch die Injektion viel schneller in seiner Wirkung, brauchte sie nun zwei Anläufe um nach der Gabel zu greifen und zitterte ein bisschen, als sie Gemüse und Fisch gleichzeitig auf die Gabel zwingen wollte. Es galt, jegliche Übelkeit konsequent zu ignorieren, was sie damit dann auch vollen Herzens versuchte umzusetzen und eine erste Ladung wie eine schlecht eingestellte Maschine kaute.
"Ist gut..", erwähnte sie während des Kauens und beurteilte damit das Essen. Dass sie eigentlich schon zu der üppig gefüllten Tablettenschachtel sah und eigentlich nur aß, damit sie die Pillen danach nehmen konnte, erwähnte sie nicht, sondern mühte sich Gabel um Gabel weiter tapfer ab. Hin und wieder war ein zweiter Versuch nötig, weil der wackelige Griff um ihr Besteck das Gemüse wieder in ihren Schoß fallen lies.
'Is gut' war damit aber auch die Antwort auf seine Frage. Ohnehin viel zu müde um heute noch zahlreiche Mittelchen unters Volk zu bringen oder sich in Clubs zu schleichen, willigte sie also auf den eigenwilligen Einflug ein. "...ich komm mit."
Tiefes ein- und ausatmen deuteten nach einer Weile schon an, dass es besser war aufzuhören. Beide Hände griffen zittrig wie eine Parkinsonkranke nach dem Teller um ihn wieder neben sich zu platzieren, bevor sie nach ihrer Kleidung angeln konnte und dabei einfach direkt das Shirt über zog und die Unterwäsche ignorierte. Das Mädchen hob bald schon den Kopf und war nicht besonders zufrieden mit den Auswirkungen, die die Mittel auf sie hatten und nachdem es auch immer unterschiedlich verlief, konnte sie nie genau sagen, ob das nun eine eher kritische oder durchaus akzeptable Reaktion ihres Körpers war, die eventuell sogar wünschenswert hätte sein können. Nur zu stark fühlte sie sich gerade - besonders beim Hüpfen von der Liege - wie bei einem anderen Mal, als sie einen kurzen Ausfall ihrer rechten Hand gehabt hatte, als wohl das Eezo nach oben gestreut hatte. "Uh...weisst du...weisst du noch letztes Jahr?", atmete sie ein bisschen schwerfälliger aus. "Die Sache mit der Hand?" Ihr Blick traf endlich Sergios. "..ich glaub' es geht wieder los."
Ein freudiges, aber in Sergios Gesicht dennoch ein wenig gruseliges Lächeln huschte über seine faltigen, leicht olivenartigen Teint und mit einem Schlag der Handflächen auf die Schenkel sprang er von seinem Hocker auf. In den letzten Wochen hatte es nicht viele Gelegenheiten gegeben, etwas mit Luceija außerhalb der Wohnung zu unternehmen, entweder, weil sie selbst in irgendwelchen Gassen herumstreunte, oder, weil Sergios Analyseauswertungen teilweise bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatten und ihn selbst sein Ristretto tagsüber nicht zu mehr als dem Nötigsten motivieren konnte. Nach Luceijas Zusage zu diesem kleinen Edutainment-Ausflug, schien es ihm auch plötzlich gar nicht mehr so wichtig zu sein, wie viel sie von ihrem Teller aß, sondern entriss ihn ihrer zitternden Hand sogar noch, bevor sie ihn abstellen konnte. Erst nach einem zweiten Blick auf ihre schmale Hand erkannte er ihr seltsames Symptom und hob etwas skeptisch eine Braue, beäugte sie mit einem Blick, der sie fast schon dafür tadelte, obwohl sie natürlich nicht absichtlich Nebenwirkungen entwickelte. Aufmerksam beobachtete er deshalb, ob sie beim Ankleiden die Finger noch präzise schließen und mit den Händen kräftig genug greifen konnte. Aber erst ihre Selbstdiagnose beunruhigte ihn dann wirklich für einen Moment.
Etwa ein Jahr zuvor hatte Sergio es zum ersten Mal gewagt, die Eezo-Konzentration in den Medikamenten um etwa ein Drittel zu erhöhen, da selbst der eher schwache Organismus seines Mädchens in der Blüte der Pubertät nun widerstandsfähig genug für einige Veränderungen gewesen war. Doch schon einige Wochen später beim täglichen Heimunterricht fiel Luceija beim Zeichnen eines mathematischen Graphen der Stift immer wieder aus der Hand und auch die Verschlüsse ihrer Jacke konnte sie nur mit Mühe öffnen. Schon einige Stunden später war ihre Hand völlig bewegungsunfähig, bis die Lähmung am nächsten Tag sogar den gesamten Unterarm betraf. Sergio hatte schon damals die Panik ergriffen, so gelassen und manchmal sogar fahrlässig er mit anderen Komplikationen auch sonst umgegangen sein mochte, hiermit war nicht zu spaßen. Er hatte sogar befürchtet, die Lähmung könnte bald auf den Torso und ihre Atemmuskulatur übergehen, sodass sie ihm im Ernstfall einfach mitten in der Nacht hätte ersticken können. Erst rund dreißig arbeitsreiche und sorgenvolle Stunden später war ihm des Rätsels Lösung gekommen: Das Eezo hatte sich nicht nur im Rückenmark verteilt, sondern durch die Blutbahn auch andere Nervenstränge erreicht, wo kleinere Eezo-Partikel mit einem der Schmerzmittelbotenstoffe reagierten und dort nahezu verklumpten. Es hatte genügt, das Schmerzmittel einige Tage abzusetzen, um die elektrisch interferierenden Eezo-Partikel wieder aus ihrem Nervensystem zu bekommen. Bei so vielen Medikamenten zur gleichen Zeit waren die Kreuzwirkungen schlicht kaum vorherzusehen und die Veränderung eines Parameters hatte oft einen dramatischen Effekt zu Folge. So auch jetzt.
"Tja, Luci, dann habe ich eine schlechte Nachricht für dich", reagierte er, nun da er sich erinnert hatte, doch wieder recht gelassen und griff nach ihrer rechten Hand, um sie sich genau anzusehen und die Sehnen des Unterarms abzutasten.
"Du musst aus deiner Lunchbox heute alle hellgrünen Tabletten weglassen. Keine Schmerzmittel, bis deine Hand wieder ruhig wird, verstanden?"
Und als er bemerkte, welchen Missmut dies Luci bereitete:
"Nimm einfach einen Kaugummi mit und irgendeinen Handschmeichler zur Ablenkung. Es wird heute etwas mehr wehtun als sonst", stellte er schulterzuckend fest und presste die Lippen in halbherzigem Mitleid aufeinander. Was vielleicht etwas kühl wirkte, war seine Strategie, seiner Ziehtochter den Schmerz zu erleichtern: Sie durch diverse Aktivitäten davon abzulenken und die Sache nicht zu sehr zu thematisieren, um sie nicht zu sehr mit Ehrfurcht aufzuladen, hatte Luceija bisher besser auf eine Nacht voller Pein vorbereitet, als jedes säuselnd-zärtliche Wort des Trostes. Zudem war er weder Pädagoge noch Psychotherapeut sondern Arzt - ihn interessierten die feinen Nuancen des Umgangs mit Patienten schon lange nicht mehr, bereits Jahre bevor man ihm die damals Vierjährige Hals über Kopf anvertraut hatte.
Und so verließ er das Labor vor ihr mit den wieder aufgenommenen Tellern in den Händen und räumte das Nötigste aus der Küche, bereit, bald mit ihr hinauszugehen.
"Also, meine kleine Laborratte: Die hellgrünen Pillen aussortieren, Jacke anziehen und los", rief er dabei noch hinter sich.
Und wieder aussortieren. Ihr tat es erschreckenderweise nicht nur leid, jede hellgrüne Tablette aus der kleinen, dafür vorgesehenen Box zu fischen, es tat ihr fast schon weh. Jedes Schmerzmittel wie ein kleiner Freund, der stets dabei half über die immer wieder neuen Schritte in ihrem Experimentenverlauf hinweg zu kommen und es mehr zu einem Spiel zu machen. Einer freudigen, schmerzlosen Behandlung die von Lernprozessen, Spiel oder einfach nur wundervoll bunten Trips gefüllt wurde. Ihre eigenartige Beziehung musste sie dennoch beenden. Fünf Grünlinge nahm sie mit einem Seufzen aus der Schachtel und war einen Moment lang - beim Anblick der Pharmazie - hin und her-gerissen, ob sie nicht in ihrem Magen besser aufgehoben wären. Vielleicht war es aber das Zittern ihrer Hand dass sie letztlich davon abhielt alle auf einmal zu schlucken und sie stattdessen beinahe gewissenhaft auf den Schreibtisch ihres Docs rieseln zu lassen - wo sie sogar die Zeit finden sollte, alle sorgfältig zu sortieren.
Luci gähnte jetzt das dritte Mal, da war sie gerade erst an die Garderobe zurückgekehrt, nur um die achtlos hingeworfene Jacke eben nicht dort zu finden womit sie also nochmal einen Schlenker machen musste. Erst dann legte sich in einer genauso einschläfernden Geschwindigkeit die Jacke um, brauchte auch hier einen Extraanlauf um den Reißverschluss zu schließen und zupfte jetzt nur noch die Haare unter dem Textil hervor, die sie zwirbelte und über ihre linke Schulter legte. Bereits jetzt war der tiefschwarze Schopf schon lang genug, dass er erst auf höhe des Bauchnabels endete. Ans Abschneiden hatte sie mit 11 einmal gedacht und ein paar der Zotteln vor dem Spiegel gekürzt. Nicht, dass es eine Meisterleistung gewesen wäre. Eigentlich glich es eher einer Katastrophe, weshalb sie ab diesem Tag die Hände von der Schere ließ und sie seither wieder wie Unkraut gewachsen waren. Mitschuld daran, dass sie die Schere erstmal nicht mehr beachtete war aber auch Sergios wirklich zorniger Eingriff, weil er - sie alleine eingeschlossen im Bad mit einer Schere - sonstwas vermutet hatte. Absoluter Unsinn, das wusste sie sicher - wenn sie eines war, dann kein suizidgefährdetes, kleines Bündel. Literatur half, dieses Image aufrecht zu halten. Denn auch ohne einen definitiven Glauben zu verfolgen konnte der Gedanke an den Tod überaus unheimlich sein.
"Wo genau is das..?", fragte sie benebelt, natürlich schon längst die 20:00 Uhr Tabletten eingenommen. Da war egal, dass es bis zur angegebenen Zeit noch eine gute Viertelstunde hin war. "Vielleicht kenn' ich ne Abkürzung. Bin mir sicher ich war häufiger draußen als du die letzten Wochen." Dabei grinste sie breit, was ihren verklärten Blick nur ulkiger machte.
Gerade hatte Sergio das Gröbste weggeräumt und mit einem gekonnten Wurf den Säuberungsroboter wie einen Diskus durch die Terassentür nach draußen geworfen, auf dass er dort übereifrig und ungeachtet der Misshandlung die Reste des vergönnten Espressos bereinigte, da beäugte er Luceija schon wieder mit dem nächsten skeptischen Blick. Mit angehobener Augenbraue streckte er jetzt, leicht zu ihr hinuntergebeugt, seinen Zeigefinger aus und hielt ihn senkrecht zwischen ihre Augen, ließ ihn von links nach rechts und wieder zurückwandern und beobachtete dabei die Bewegungen ihrer Pupillen, als sie dem Finger folgten. Dann schnippte er, dank seiner etwas morschen Fingerknochen überraschend laut, direkt vor ihre Augen, um sie zurückschrecken zu lassen, und seufzte.
"Ich sage das nur ungern, aber ich glaube ich muss dir irgendwann noch mehr von dem Zeug aus der Schachtel streichen. Noch ein Medikament mehr und jeder C-Sec-Agent im Viertel glaubt, du wärst permanent high", schmunzelte er mit sarkastischem Ton.
So sehr er sie damit eventuell beleidigte oder verunsicherte, sie tat es ihm prompt gleich, indem sie ihn darauf hinwies, wie sehr er den ganzen Tag auf diese Wohnung bezogen war. Er grub sich meist in seiner Arbeit ein, mied nicht nur die Straßen, sondern sogar die Nähe seiner Fenster, da ihn der Anblick von wartenden Turianern, Asari, Salarianern und welchem Weltraumungeziefer auch immer an der Transithaltestelle meist zu sehr anwiderte, als dass er sich danach wirklich konzentrieren konnte. Doch da die Einkäufe per Abonnement stets in das Vorratsfach des Kühlschranks geliefert wurden, die Speziallampen stets ausreichend künstliches Sonnenlicht lieferten und das Trainingsgerät neben seinem Bett zu Genüge dafür sorgte, dass er sich einige Zivilisationsklrankheiten ersparte, gab es auch schlicht keine Notwendigkeit, das Haus zu verlassen. Tatsächlich hatte er das Labor schon so lange bewohnt, dass er am Vormittag im weißen Chemikerkittel das Haus verlassen hatte, da es ihm die natürlichste Kleidung zu sein schien. Es war ihm ein Stück weit peinlich - er musste ausgesehen haben wie ein exzentrischer Forscher aus billigen Romanen.
"Weit ist es nicht. Die riesige Kuppel, die man von unserer Terasse aus sehen kann - das ist der botanische Garten. Nur habe ich tatsächlich keine Ahnung, wie man am besten den überfüllten Boulevard dorthin umgehen soll", brummte er seine Mundpartie reibend, während er nachdenklich zu Boden starrte. "Und einem Mädchen wie dir vertrauen und mir den Weg zeigen lassen - da ende ich wahrscheinlich mit leeren Taschen und besäuselt in der Gosse, wie jedes Mal, wenn ich mich auf junge Frauen einlasse", murmelte er weiterhin mit abgewandtem Blick im selben nachdenklichen Ton, wobei nur ein kurzes Zucken an seinem Munswinkel verriet, dass er nur herumalberte.
"Also, kleine Laborratte: Finde den Weg durch da Labyrinth", stichelte er weiter, als er die Tür für sie öffnete und ihr den Weg hinauswies. Dabei zog er ihr im Vorbeigehen unauffällig am hinteren Kragen, um einen Blick auf die oberste Einstichwunde im Nackenwirbel zu werfen, die glücklicherweise diesmal nicht begann anzuschwellen, wie einige Male zuvor. Anschließend zupfte er zur Tarnung der prüfenden Geste ihre Kapuze zurecht und folgte ihr, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Mehr als ein Blick über die Schulter widmete das Schwarzhaarige Mädchen ihrem Ziehvater nicht, als er die kleine Jacke zurechtzuppelte, gerade als sie aus der Tür geschritten waren. Es war dieser kleine Anflug von Normalität, der sie irgendwie berührte, sofern es etwas gab was eine fünfzehnjährige unter ihren Umständen berühren konnte. Dieses kleine bisschen heile Familienwelt, die ihr im Vergleich zu jeden anderen Momenten so unsagbar fremd vorkam, dass sie jedes Mal das Gefühl hatte, sich distanzieren zu müssen. Weil es irgendwie falsch war. Anders und ungewohnt. Nicht so, wie es jeden Tag war. Schnell entschied sich die junge Frau deshalb dazu, keine weitere Reaktion zu zeigen, sondern nach vorne zu sehen und durch schummrige Augen hindurch das grün der weit bepflanzten Anlage aufzunehmen.
Annähernd konnte man sich eine gute, klare Luft einbilden, wo man so von Pflanzen umgeben war, wo eigentlich keine einzige hätte wachsen können. Zu vergleichen war aber auch das bisschen Grünzeug nicht mit ihrer geliebten Heimat Palermo, über die sie Wochen oder gar Tage lang hätte schwärmen können, als wolle sie Urlaubsreisen dorthin verkaufen. Und wäre sie sich dessen bewusst gewesen, wie lange sie den weiten Strand von Montello, die kleine, bezaubernde Altstadt oder die liebevoll gestaltete Promenade nicht mehr sehen würde, hätte sie wohl kaum aufgehört jemals davon zu schwärmen.
"Hier lang", bestimmte sie fast schon zielsicher und zeigte dabei einen Weg entlang nach links hinunter, der einen eleganten Bogen um ihr Grundstück machte, aber an der entscheidenden Stelle noch einmal nach rechts abzweigte. Er war viel kleiner, auf der Erde wäre er vielleicht sowas wie ein abgehalfteter Radweg gewesen, das war alles. Aber um ihn erstmal zu erreichen, hatte Luci den Weg bis dorthin zu bewältigen und war im Grunde kein Stück schneller, nein, sogar langsamer als ihr älterer Herr. Mehr Spaß hatte sie aber definitiv dabei. Die Welt um sie herum eine gute Ebene intensiver, der Geruch um sie herum etwas stärker und die Geräusche ein Stück klarer. Da konnte sie nur zu gut den Arm ignorieren, der unwohl kribbelte und wogegen sie lediglich mit dem Öffnen und Schließen ihrer Faust konterte. Auch die Schmerzen in ihrem Rücken, die sie kaum so gerade und flott laufen ließen wie sonst. "Und weisst du-...", säuselte sie schon, "...wenigstens...bin ich 'ne gute Laborratte.", konnte sie hier sagen, wo zumindest in nächster Nähe niemand neugierig sein konnte. Und fast schon beiläufig zog sie eine kleine Creditcard aus der Jackentasche und hielt sie ihrem Vater hin. "..mit dem Zeug vorhin hab ich fast 300 Credits eingenommen UND...naja. N bisschen Spaß gehabt. Wenigstns lieg ich dir nich auf der Tasche."
Mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt ging Sergio in einem nicht allzu angestrengten Tempo hinter Luceija her, auch wenn sein Blick weniger Gemütsruhe ausstrahlte, wenn er sich beinahe schon nervös nach eventuellen Beobachtern umblickte. Doch bisher waren die meisten Gaffer Turianer oder Salarianer gewesen, die den Menschen zu dieser frühen Stunde des gegenseitigen Kontaktes noch so skeptisch gegenüber standen, dass es kaum verwunderlich war, wenn ihre seltsamen Augen einem Menschen misstrauisch folgten. Erst Lucis Selbstbeweihräucherung riss ihn etwas aus seiner Paranoia und ließ ihn schmunzeln.
"Oh, wenn wir einmal davon absehen, dass das Zeug unsere Auftraggeber sicher mehrere Tausend Credits gekostet hat, dann könnte man das so sehen. Wir sollten das in Zukunft weiter so machen: Wir bekommen hochwertigen Nachschub von oben, den wir dann, statt ihn zu verwenden, für einen Bruchteil des Wertes verhökern. Klingt nach einem erholsamen Lebensabend für uns, hm?", alberte er herum, während er dem recht schmalen Weg, den sie nun eingeschlagen hatten, um eine Kurve folgte. Natürlich wusste er, dass es über die Sache im Grunde gar nichts zu spaßen gab: Einer korrupten, gewaltbereiten Großorganisation Gelder abzuzweigen, und sei es nur dieses eine Mal gewesen, war wie Dynamitstangen neben einem Feuer zu jonglieren. Und wahrscheinlich ahnte Luceija gerade das und empfand dadurch nur einen umso belebenderen Nervenkitzel.
Wenige Minuten später war das ungleiche Paar bereits am Eingang der enormen Klimakuppel angelangt, die sich aus dem Tayseri-Ward aufbäumte. Die Größe der Citadel wurde einem erst jetzt bewusst, wenn man vor einem der Gebäude stand, das so enorm wirkte, und dabei doch nicht einmal ein Zweihundertstel der Fläche einer der fünf Wards einnahm. Selbst ein Zyniker wie Sergio konnte sich eines Moments der Ehrfurcht nicht erwehren, bevor er dann aus seinem Staunen auftaute und mit den Händen in den Hosentaschen gemeinsam mit Luceija die Kuppel betrat. Die Erbauer der Kuppel verstanden durchaus etwas davon, wie man einen faszinierenden ersten Eindruck erzielte: Eine Art tiefblauer Palmenwald erstreckte sich über die nächsten 100 Meter vor den beiden, wobei die Blätter der palmenartigen Gewächse circa sieben Meter hoch eher wie seltsame Drahtgeflechte hin und her wiegten. Dieses Meer aus Marineblau war zudem kontrastreich besprenkelt von den orange glühenden Farbfunken kleinster Blüten, die sich oft an den Stämmen der Bäume und Sträucher verteilten. Und immer wieder zwischen dieser schieren Masse aus Farbe präsentierte sich an einem Weg durch das Dickicht eine Vielzahl an floralen Kuriositäten, die besonders skurril gewachsen waren und denen man noch seltsamere Namen auf kleinen Holoschildchen gegeben hatte. Sergio schlenderte langsam diesen Weg entlang, bevorzugte, wie immer, dann aber eine Abzweigung vom Weg und schritt mit Luceija gemeinsam zu einer anderen Sektion der Gartenkuppel. Sein Staunen über die Pflanzenwelt versuchte er nicht allzu stark zu zeigen, um sich vor Luceija nicht als zu exzentrisch zu präsentieren.
"Also, Luci", setzte er dann plötzlich mit ernstem Ton an, als sie abseits von den meisten Besuchern im Schatten der Pflanzen abgetaucht waren.
"Ich mische mich wirklich nicht gern in deine privaten Dinge ein. Was du außerhalb des Labors tust ist deine Sache. Aber wir beide müssen uns trotzdem an Regeln halten, damit die uns nicht an irgendwelche Dreschschlünde auf einem abgelegenen Wüstenplaneten verfüttern, verstehst du?", fiel es ihm sichtlich schwer, die Sache ernsthaft anzusprechen und dabei den Blickkontakt zu dem Teenager zu halten.
"Und dazu zählt eben auch, dass wir dem Gesetz nicht auffallen dürfen. Und, dass wir unsere Zelle nicht hintergehen dürfen. Und indem du unsere Mittel verkauft hast, hast du gleich beide Regeln gebrochen. Was noch, hast du etwa irgendeinem von unserem Projekt erzählt? Ein junger Spund vielleicht, der längst weiß, was sich bei uns in der Wohnung abspielt?", redete er sich jetzt doch allmählich in Rage und begann dabei charakteristisch ausladend zu gestikulieren.
"WEN INTERESSIERTS DENN was sich bei UNS in der Wohnung abspielt?!", erwiderte die Jugendliche verhältnismäßig lautstark und echauffierte sich zusehends über die für sie unerklärliche Problematik des Ganzen und das deutlich energischer als man von jemandem erwarten würde, der derartig mit Mitteln zugepumpt war, dass es einen Kroganer hätte alle Viere gen Himmel strecken lassen können. Doch so sehr sie sich in Rage begeben und Sergio dabei das Wort abgeschnitten hatte, so schnell kam sie auch wieder auf dem Boden der Tatsachen an. Sie kräuselte ihre Augenbrauen zu einem skeptischen und gleichzeitig zornigen Blick und hatte eben jenen urplötzlich nicht mehr für die schillernden Pflanzenfarben um sie herum, die wie Kristalle in ihren verklärten Augen reflektierten.
Luci hatte der Sinn für die Ästhetik der Pflanzenwelt nicht gefehlt, aber so erstaunt, wie sie die prächtigen Farben beim Eintritt in die Kuppel angestarrt hatte, hatte sie wohl noch keine angesehen. Sie waren nicht das, was sie wirklich als schön bezeichnet hätte - nichts ging über die Faszination des L'Orto botanico di Palermo, das wusste Sergio so gut wie sie - aber sie waren so fremd, so exotisch, dass man zweimal hinsehen MUSSTE. Und die Farben ließen etwas anderes auch fast nicht zu. Wäre da nicht dieses Thema gewesen, dass ihr Ziehvater immer wieder auf den Tisch brachte und einfach nicht damit abschließen konnte, obwohl ihre Rückkehr vom Präsidium jetzt schon eine gute Weile zurücklag. Fuer sie war die Sache eigentlich gegessen gewesen. Wortwörtlich. Sobald etwas Gras über alles gewachsen war, würde sie ohnehin wieder irgendwas mitgehen lassen und auf der Strasse zu Schleuderpreisen verhökern - einfach nur aus dem Thrill heraus, einfach nur aus Trotz und Spaß und aus Langeweile und-...warum auch immer. Aber Sergio...konnte einfach nicht ruhig sein. Einfach nicht aufhören damit sie zu maßregeln, was ihrem pubertierenden Selbst sowas von gegen den Strich ging, dass sie hätte die nächstbeste Liane als Strick nutzen wollen.
Ihr war klar, dass es gefährlich war. Dass man die Zelle nicht zu verärgern hatte. Das war Tageslehrstoff Nummer 1 - neben Fächern wie Mathematik, Italienisch, Englisch, Galaktischer Geschichte, Terranischer Literatur oder den Mnemotechnik-Kursen - ebenso wie Nachtlektüre. Handle stehts im Sinne der Zelle. Deine Zelle ist deine Familie..all das. Und hinter jeder Doktrin stand sie mit vollem Herzen. Vielleicht sogar zu sehr, wenn man bedachte, wie wenig sie die regelmäßigen Behandlungen und die höchst eigenwillige Erziehung störte - oder besser, wie normal diese für andere Leute so abartige Behandlung der Kleinen war. Genau aus diesem Grund verstand sie Sergios Sorge nur halb so gut wie sie. Ja, es gab Risiken. Ja, es gab Leute, die nicht nachvollziehen konnten wie wichtig das alles war aber andere Familien hatten doch auch mit Kritiken zu kämpfen, oder nicht?
"Wen es interessiert? Sieh dich doch einmal um!", bellte Sergio unmittelbar nach dieser Unterbrechung zurück und machte eine ausladende Geste zur Decke der Kuppel, wo man die Lichter des gegenüberliegenden Wards sehen konnte.
"Die ganze Station hier besteht zu 90% aus Aliens, die jede Gelgeneheit dankbar wahrnehmen, uns und jeden anderen Menschen in das Sonnensystem zurückzujagen, aus dem sie gekommen sind. Und hypnotisiert wie die Minderheit der Menschen hier sind, wollen sicher selbst die meisten von denen uns für jede Kleinigkeit am Kragen packen, die wir uns zum Wohle der Menschheit zu Schulden kommen lassen. Die wollen unsere Zelle ausradieren, Luci. Und am besten jede Zelle der gesamten Organisation. Und du hilfst ihnen noch dabei. Und wofür? Wofür setzt du deine Familie aufs Spiel, Luci? Für ein paar lausige Creditchips und einen Adrenalinkick? Zu Hause liegt eine Spritze Adrenalin, das Zeug kannst du auch ohne alberne Risiken haben. Und Geld haben wir mehr, als du jemals ausgeben könntest. Willst du alles mit Füßen treten, was unsere Familie für dich getan hat? Was ich für dich getan habe? Habe ich dir denn gar nichts beigebracht"
So sehr er sich auch hin und wieder bemühte, seinen immer lauter werdenden Tonfall zu senken, um nicht doch ungewollte Zuhörer anzulocken, konnte er sich doch nicht vollends zügeln und fuchtelte dabei zudem wild vor Luceijas Gesicht herum. Erst, als er nach diesen Worten sprachlos wurde, wandte er sich nach einem Moment des eindringenden Blicks seiner nervös zitternden Pupillen von ihr ab, spuckte zur Seite als Ausdruck seiner Verachtung über dieses Verhalten.
"Ich setze einen Scheiß damit aufs Spiel!", muckte die kleine Italienerin weiter auf und lies Sergio das auch körperlich spüren indem sie scheinbar unbeeindruckt aufrückte, dabei giftige Blicke die kurze Distanz nach oben werfend. Sah man ihr in diese Gift- und Gallespuckenden Augen, war einem ziemlich schnell klar, dass sie im Falle des Falles keine große Kraft gehabt hätte es jetzt auf Gerangel ankommen zu lassen, wo sie doch gerade froh war halbwegs sicher auf beiden Beinen stehen zu können. "Die Station besteht aus nichts als dummen Aliens?", ahmte sie jetzt wieder schlecht-theatralisch nach. "Glaubst du jetzt, ich wär blind und wüsste das nicht? DU hast doch keine Ahnung, wies hier wirklich abgeht. DU hast keine Ahnung wie SCHEIß schwierig es ist hier klar zu kommen. Jeden verdammten Meter kriecht dir so ein verfluchter Cop nach und glaubt wahrscheinlich, du hast vor den ganzen Schrotthaufen abzufackeln und - verdammt - manchmal würd' ich das nur ZU gerne tun, dann wären wir nämlich wenigstens wieder zu Hause!"
Manchmal war es von Vorteil in einer langsam aussterbenden Erdensprache Streiten zu können. Wirklich viel mehr als das typische 'Bibedi-Babedi' (https://www.youtube.com/watch?v=9JhuOicPFZY) verstanden sie nämlich einfach nicht. Nicht nur, weil Menschen für gewöhnlich nicht alle Italienisch verstanden, sondern auch, weil jedes Übersetzungstool bei der Sprachgeschwindigkeit und diesem markanten, sizilianischen Dialekt darin entweder ins absolute Wanken geriet, oder viele Wörter einfach überspringen musste, weil sie nicht richtig registriert werden konnten. Normalerweise gebot es daher der Höflichkeit unter normalen Gesprächen eine langsamere Geschwindigkeit zu wählen. Höflichkeit war aber gerade das kleinste Interesse der beiden Südländer. Besonders für Luci, die allmählich von dem In-Rage-Reden ein wenig aus dem Konzept gebracht schien und nicht mehr ganz so stabil stand (was sie allerdings gut zu kaschieren wusste). Die rechte Hand hatte inzwischen den Löwenanteil jeglichen Gefühls verloren. Dennoch schaffte sie, damit irgendwie rumzufuchteln.
"Und selbst WENN, was glaubst du schon was Ascension DESWEGEN mit mir macht, huh? Garnichts - die sperren vielleicht DICH weg. ICH bleibe aber ihr kleines, perfektes Projekt."
Sergio geriet mehr und mehr in einen Zustand, in dem er sich kaum noch unter Kontrolle hatte und das sah man seinen leicht gebleckten Zähnen und seiner angespannten Haltung nur zu sehr an. Erst als plötzlich die Worte 'zu Hause' fielen, geriet er selbst für den Bruchteil einer Sekunde in unterbewusstes Heimweh, zweifelte vielleicht sogar für diesen kurzen Moment an der Sinnhaftigkeit der ganzen Sache, wenn er dafür seine Identität, seine Heimat aufgeben musste. Seine Lippen schlossen sich wieder und sein Blick wurde beinahe schon weich und mitfühlend, als er die tobende Luceija ansah und nur zu gut verstand, was in ihr diese Wut auslöste; den Drang, einfach nur für den Moment der Erlösung alles hinzuwerfen, was sie jahrelang aufgebaut hatten.
Doch als ihre Sehnsucht urplötzlich in Arroganz umschlug und sie ihren eigenen Wert so hoch betitelte, es sogar wagte, Sergio schon fast zu bedrohen, er sei nur ein austauschbares Zahnrad im Gegensatz zu ihr, da kehrte alle so kurzfristig verflogene Wut umso intensiver zurück. Unwillkürlich, noch bevor er es selbst bemerkte, hob sich seine Hand vor ihr weit in die Höhe, um dann mit einer Wucht auf ihr Gesicht herunterzusausen, dass es sie beim Aufschlag wohl fast schon aus dem Stand schleudern würde.
"WAGE es nicht, so mit mir zu reden, undankbares Balg", bellte er dabei heraus, dass ihm den Geifer von den Lippen schleuderte, und erhob vor Wut zitternd seinen ausgestreckten Zeigefinger gegen sie, "oder, ich schwöre dir, ich mache dich zu genau dem geschundenen, freiheitsberaubten und weggedröhnten Tier, das die Zelle so gern aus dir machen würde, wenn ich nicht für dich da wäre!"
Nur im Bruchteil eines Momentes - nicht zuletzt wegen des sich langsam ausbreitenden Schmerzes an ihrer Wange - realisierte die fünfzehnjährige, was gerade geschehen war und hielt sich instinktiv das Gesicht. Ihre großen Augen hatten dabei nichts als Anklage für den deutlich älteren Italiener übrig und suchten in weiteren, stummgeschaltenen Sekunden nach einer Antwort für diese Tat. Sie bekam ihre weitere Erklärung, in welcher sich das satte grün selbstständig und unkontrollierbar verwässerte, bis sie froh darum sein konnte, dass die langen Strähnen ihrer schwarzen Haare verdeckten, dass ihr die eigentlich triviale Handgreiflichkeit naher ging als Sergio wohl gedacht hatte. Ihre große Klappe schloss sich jedenfalls auch im selben Moment.
Luceijas linke Hand hatte sich in einer Mischung aus Trauer und Wut zu einer kleinen Faust zusammengezogen - die rechte hätte das ebenfalls gerne getan, allerdings scheiterte sie beim Versuch und war zu taub um noch irgendwie nützlich zu sein, abseits überaus grober Gesten. Sie wollte ihr Unwohlsein so wohl kompensieren, hoffte, dass sich durch möglichst starkes zusammenpressen ihrer Finger bis zum weissen hervortreten der Fingerknöchel einige Probleme, die nun wortlos im Raum standen, gelöst hätten weil sie es hasste über solcherlei Dinge zu sprechen, aber es löste sich nichts. Sie fühlte sich nur unwohler und erwischte sich dann sogar dabei, wie sie nervös an ihrer Unterlippe nagte um Tränen in ihrer Entstehung und das dazugehörige, drängende Gefühl in ihrem Inneren auszublenden.
"Fick dich, Sergio!", knurrte sie im Versuch gefährlich zu wirken, war dabei dann aber nur noch weinerlicher. Komplettieren konnte sie das dann damit, dass sie umgehend auf dem Fleck kehrt machte und sie einigermaßen hurtig in einer Richtung und ohne weitere Sicherheitsumwege zu machen, einfach nur aus der Nähe ihres Ziehvaters verschwand.
Genau zum richtigen Augenblick hatte sich die junge Halbitalienerin weggedreht, da musste sie schon den Ärmel ihres Oberteiles nutzen um die überaus lästigen Tränen zu entfernen, die einfach so ungefragt über ihre deutlich zu blass gewordene Haut gerollt waren.
Alles, woran sie denken konnte war, wie sehr sie es hier gerade hasste. Wie gerne sie einfach verschwunden wäre, ihre Sachen gepackt und zurück nach Italien gegangen wäre... . Aber komplett alleine? Hatte sie selbst hier kaum eine Chance in ihrem Alter. Geschweige denn alleinigen Zugriff auf das benötigte Konto, auf welchem genug Credits gelegen hätten um einen Platz im nächsten Schiff zu buchen. Alleine saß sie hier fest und das wusste sie genau. Dass sie wahrscheinlich auch nicht besonders lang am Leben wäre, wenn sie sich von ihrem Ziehvater und behandelnden Arzt für immer entfernen würde, dachte sie in ihrer Naivität nicht einmal. Nichts desto trotz verliefen sich ihre Fluchtversuche bald schon im Sand aber auch, wenn ihre Tränen schnell festgetrocknet waren und die errötete Wange langsam aber sicher keine flächigen Schmerzen mehr hinterlies, dachte sie garnicht erst darüber nach nach Hause zurück zu gehen. Noch nicht.
So kam es, dass sie ihren Abend eben nicht wie eigentlich geplant im botanischen Garten mit Sergio verbrachte, sondern im Helios - einem kleinen Eckclub, in welchen sie sich problemlos hatte einschleichen können - nicht zuletzt, weil sie da so eine Person kannte, die wiederum eine andere kannte. Mit fünfzehn Jahren war ein Clubbesuch noch etwas spezielles, aber auch deutlich anders als die unzähligen Male, die die Schwarzhaarige heute hinter sich brachte. Sie trank deutlich zielloser und durcheinander. Mit weniger Kontrolle. Und die Konsequenzen daraus folgten ebenfalls - allein auf Grund ihrer Mittel - in einem deutlich rapideren Tempo. Ebenso schnell und deutlich wackeliger überwand sie auch die unerträgliche Scham und die beissende Schuld die sie davon abhielten direkt nach Hause zu gehen und bog gerade um die Ecke, die sie von ihrer Unterkunft trennte. Von hier aus sah sie, dass noch Licht brannte und ihr missfiel der Gedanke bei jedem Schritt mehr, jetzt von dem alten Mann verhört zu werden. Dennoch zückte sie mit der Linken ihre Keycard und verschaffte sich möglichst leise Zugang zum eigenen Quartier. Die Alternativen - wie auf der Straße zu schlafen - vergleichsweise nicht besonders verlockend. Dazu kam, dass ihre Rechte im Moment wirklich nutzlos schien und leblos keine Hilfe beim Öffnen der Haustüre bot, die nun sogar mit einer angenehmen Stimme die Türöffnung bestätigte - nicht nur ihr, sondern auch dem Rest der Bewohner innerhalb der Wohnung...
In seiner momentanen blinden Wut über diese Respektlosigkeiten empfand Sergio nur sehr gedämpftes Mitgefühl für sein kleines Mädchen, als diesem halb aus Zorn, halb aus Enttäuschung die Tränen an den Wangen hinunterrollten. Wieder wagte sie es, ihn zu beleidigen, weshalb sich, ohne dass er es selbst bemerkte, seine Faust erneut zusammballte und er trotz ihrer Tränen beinahe wieder ausgeholt hätte, wäre Luceija nicht bereits an ihm vorbeigestürmt. Er griff nach ihrem Ärmel, um sie bei sich zu behalten, wollte seine Genugtuung einfordern, doch der Ärmel entglitt seinem Griff und Luceija stürmte in das bizarre, femdartige Dickicht aus seinem Blickfeld. Nur einige Schritte weit lief er ihr hinterher, hätte er sie doch sicher am einzigen Ausgang wieder abfangen können, da die Medikamente ihr genug zugesetzt hatten, um ihren jugendlichen Agilitätsvorteil wieder auszugleichen. Doch in dieser Sekunde bereits war er die gesamte Diskussion leid. Ein Gefühl von Trotz stellte sich in ihm ein und seine restliche Wut entlud sich in einem Tritt nach einem der palmenartigen Baumstämme, sodass etwas Rinde davon absplitterte.
"Sieh doch selbst, wo du damit landest", brummte er noch unverständlich zu sich selbst, stopfte sich die Hände in seine weiten Kitteltaschen und stapfte aufgebracht in die Gegenrichtung, nur um Luceija auch nicht zufällig begegnen zu müssen.
Erst in den folgenden Stunden, in denen er gedankenverloren durch die verschiedenen Abteile des Gartens wanderte und die teils wunderschönen Kuriositäten zu seinen Seiten völlig außer Acht ließ, wuchsen die ersten Gewissensbisse in ihm. Sicher war es notwendig gewesen, seiner Ziehtochter die notwendigste aller Grenzen aufzuzeigen, denn hätte er ihren Übermut und ihre Arroganz ungestraft gelassen, wäre ihr eine Zukunft als skrupellose und womöglich auch kriminelle Biotik-Expertin vorbestimmt gewesen, statt dass sie Cerberus und der Menschheit von irgendeinem Nutzen hätte sein können. Ganz zu schweigen von all den Risiken, in die sie sich selbst und nicht zuletzt Sergio hätte bringen können, wenn man ihr diese Charakterzüge nicht rechtzeitig austrieb. Sergio war sich also sicher, richtig gehandelt zu haben - und doch bereute er es, seinem Ärger so sehr Luft gemacht zu haben, denn es war kaum abzustreiten, dass er Luceija einiges abverlangte und sie mit einer Lebenssituation konfrontierte, die sie notwendigerweise von anderen Menschen isolierte. War es da wirklich verwunderlich, dass Sergio hin und wieder dieses Aufbäumen ihrerseits erfahren musste?
Durch diese etwas differenziertere Betrachtungsweise beruhigt, hatte sich der Doktor nach einigen Stunden unter der Kuppel daher wieder auf den Nachhauseweg gemacht. Ein Tee aus Kräutern, die ausnahmsweise nicht von der Erde, sondern von der Elcor-Kolonie Thunawanuro stammten, besänftigte weiter sein Gemüt, als er im Wohnbereich quer auf der Couch lag und die neusten Informationen aus dem Extranet verfolgte. Eine synthetische Stimme aus dem Eingangsflur, die mit einem "Willkommen zu Hause" Luceija begrüßte, riss ihn aus seiner Beschäftigung und er erhob sich leicht aus der liegenden Haltung, um über den Sofarand hinweg zum Eingang zu spähen, wo er die eindeutig recht ausgelaugte Luceija erblickte. Er hielt den Blickkontakt nur kurz aufrecht, sank dann wieder in die Sofakissen zurück und tippte beiläufig auf einem Holopad herum, bevor er dann endlich brummte:
"Schon zurück? Ist doch erst 2 Uhr?", spöttelte er etwas ironisch, schien allerdings in keiner Weise wütend darüber zu sein.
"Reste sind noch im Kühlschrank", brummte er und fuchtelte dabei mit seiner Hand so locker und beiläufig zur Küche, als hätte es an diesem Tag nie einen Streit gegeben.
Die Wand war gerade ihr bester Freund: Er half ihr, ins innere der Wohnung zu kommen ohne direkt auf den dürftigen Teppich zu fallen, der sich über die plastik-metallenen Bodenplatten des Eingangsbereiches erstreckte und harmonisches Wohlsein vermitteln wollte. Er glich ihren leichten rechtsdrall konsequent aus und geleitete sie wie an einem roten Faden in das ebenerdig gelegene Badezimmer, dessen Türe sie nicht einmal gedachte zu schließen. Ohnehin wäre nichts in diesem Raum geschehen, was Sergio nicht schon gesehen hätte - regelmäßig hing die Halbitalienerin nach einer Nacht in diversen Bars (für die sie auf der Erde noch deutlich zu jung gewesen wäre) über der Porzellanschüssel und lehnte sich mit der Stirn gegen den hinteren Teil der Brille. Diesmal bohrten sich ihre kurzen Nägel sogar regelrecht in das harte Material, als Geifer gemischt mit alkoholgetränkter Säure von ihrer Unterlippe in das frisch aufbereitete Wasser tropfte. Unlängst kniete sie auf dem Boden und verfrachtete sich wie automatisch in die höchstmöglich angenehme Position. Sergios Aufruf nach Essensresten im Kühlschrank beantwortete sie mit einem eindeutigen Würgeklang, der wenig später in Spülgeräuschen über ging.
Nach weiteren zehn Minuten und dem sporadischen Waschen ihrer Hände, war sie sich sicher sich nicht auf dem Weg ins Wohnzimmer nochmal übergeben zu müssen und lies sich stattdessen vollkommen ausgelaugt ins Sofa fallen, welches gegenüber dem ihres Ziehvaters stand. Mit dem Versuch eine Konversation zu ignorieren drehte sie sich jedoch der Lehne entgegen und atmete den künstlichen Geruch von synthetischem Stoff ein.
Der ohnehin oft grimmig wirkende alte Mann verzog sein Gesicht leicht bei dem würgenden Geräusch seines Sprösslings im Badezimmer. Dabei war es aber weniger das Mitleid oder die Anwiderung, die ihm diese Grimasse bereitete, sondern die Empörung darüber, wie Luceija ihm sein Angebot auf Selbstgekochtes dankte. Und es war nicht das erste Mal, dass seine mühsam gekochten Speisen ihren undankbaren Magen wieder durch den Mund verließen. Andererseits war er sich sicher, dass jedem anderen, durchschnittlicheren Koch Luceija längst verhungert wäre. Gewöhnt an diese Szenerie, wenn auch diesmal offensichtlich durch Alkohol provoziert, sah er nichteinmal von der Lektüre auf seinem Holopad auf, als sich das dürre Mädchen völlig entkräftet neben ihm auf das zweite Sofa fallen ließ. Ihre Körpersprache, seinerseits nur beiläufig aus dem Augenwinkel betrachtet, zeigte ihm eindeutig, dass sie nicht fähig war, irgendwelche Worte der Kritik prdouktiv aufzunehmen, und so unterdrückte er den väterlichen Drang, ihr etwas über ihr respektloses Verhalten oder ihren zu exzessiven Alkoholkonsum gemischt mit Medikamenten vorzupredigen. Stattdessen schmunzelte er leicht schadenfreudig, als er sicher war, dass sie ihn nicht mehr ansah, erhob sich dann, um ihr die schweren Schuhe von den Füßen zu ziehen, die vom Sofarand hinabbaumelten, und ihr eine dünne Mikrofaserdecke überzuwerfen. Sie zuzudecken schien ihm wohl doch etwas zu kitschig, sodass er ihr die Decke vielmehr zur 'Selbstbedienung' zuwarf, und dennoch hatte die Geste angesichts ihres vorigen Streits etwas Fürsorgliches.
Gerade hatte Sergio die Lichter auf ein Minimum hinuntergedimmt und die Lautstärke des Extranetmonitors heruntergeregelt, da las er aus dem Augenwinkel einige Worte eines Newstickers am Bildschirmrand: "Drogenhandel unter 'duct rats' nimmt zu - experimentelle Drogen tauchen in den Straßen der Citadel auf"
Kurz ließ er diese Worte mit einem leicht besorgten Blick auf sich wirken, winkte dann aber ab und wandte sich um in Richtung Schlafzimmer und ließ Luceija somit in der ruhigen Atmosphäre des Wohnbereichs zurück...
Die 'Nacht', wenn man die durchweg beleuchtete Phase vor den Fenstern überhaupt also solche bezeichnen wollte, fiel für beide Bewohner des Apartments relativ kurz aus. Schon einige Stunden später wurde Sergio vom kontinuierlichen Alarmsignal seines blinkenden Holopads geweckt, als eine Nachricht von höherer Priorität unbedingt verlangte, gelesen zu werden. Der Sizilianer hatte sich in seiner Erschöpfung des Vorabends nichteinmal die Zeit genommen, sich umzukleiden, sondern war mit aufgeknöpftem Hemd, aber noch angezogener Hose bäuchlings auf die Matratze gefallen. Entsprechend zerknittert und geschwollen fühlte sich sein Gesicht daher an, als das nervtötende Geräusch ihn irgendwann doch dazu brachte, seinen Kopf knurrend aus dem Kissen zu drehen und mit ungezielten Handbewegungen nach dem Holopad zu tasten. Es war eine Textnachricht, sodass Sergio nichts anderes übrig blieb, als den Schlaf aus seinen Augen zu reiben und blinzelnd zu versuchen, die Schrift auf dem Pad zu entschlüsseln. Schon jetzt ahnte er, dass es nichts Gutes sein konnte, was er gleich lesen würde, denn niemand schickte noch Textnachrichten außer seinem Zellenleiter, wenn es eine schlechte Nachricht war, bei der er zu feige oder zu beschäftigt war, sie selbst zu überbringen und sich mit einem Streit herumzuplagen.
Der Text war wie immer mehr als uneindeutig formuliert, um eventuelle ungewollte Mitleser nicht misstrauisch zu machen, doch Sergio begriff den Inhalt dennoch unmissverständlich bereits anhand der Betreffzeile: "Kürzung der Mittel". So oft er die folgenden Worte auch noch mit immer skeptischerem Blick las, er wurde nicht schlauer daraus. In mehr als kurzatmigen und vagen Worten vermittelte ihm die Zellenleitung, dass man die finanziellen Mittel umleite, um effizienter Forschungsergebnisse zu erzielen. Sergios Projekt werde deshalb nun nur noch mit minimalen Mitteln unterstützt. Doch einen Grund dafür lieferte man nicht.
In den folgenden Minuten wurde das italienische Temperament in Sergio wach, sodass er erst begann zu sich selbst zu fluchen, dann im Zimmer auf und ab zu gehen, hin und wieder die Nachricht erneut lesend, nur um das Holopad dann doch wieder auf das Bett zurückzuwerfen. Schon bald darauf stürmte er schließlich aus dem Schlafzimmer in den Wohnbereich und ärgerte sich dabei beiläufig darüber, dass man die modernen Schiebtüren nicht wütend zuschlagen konnte. In seiner Unruhe nahm er sich keine Zeit für Rücksicht auf die noch immer schlafende Luceija, die sich wie ein Kokon in die dünne Decke eingerollt hatte und sich vor den heller werdenden Tageslichtlampen der Wohnung zu verbergen versuchte. Stattdessen ging er eilig an ihr vorbei und riss ihr dabei die Decke schlichtweg vom Körper. Bereits routiniert genug im Umgang mit der rebellischen Heranwachsenden wusste er, dass dies zum Aufwecken nicht genügen würde und schmetterte ihr deshalb recht kräftig eines der Sofakissen auf die Schulter.
"Wach Auf, Luci", brummte er dann aufgebracht, "Wir müssen reden"
Trotz seiner Unruhe nahm er sich daraufhin dennoch Zeit für eines seiner Morgenrituale und beruhigte die nervösen Hände, indem er seine Espressokanne mit Pulver und Wasser füllte und sie auf der modernen Heizfläche abstellte. Dann setzte er sich an den minimalistischen Küchentisch, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und starrte verzweifelt nachdenkend auf die Arbeitsplatte, die Finger ins ergrauende, ungekämmte Haar gekrallt.
Luci hatte sich die Decke, die Sergio ihr zu und halbwegs auf sie geworfen hatte, größtenteils mit einem umständlichen, trägen Sofa-tanz nach oben gearbeitet und dabei den wohlig-weichen Stoff irgendwie geschafft über sich zu werfen, ohne sich wieder vollständig aufsetzen zu müssen. Mit der selben Trägheit dauerte es daher nicht lange, bis sich die Schwarzhaarige vollständig in den Überwurf eingedreht hatte wie eine kubanische Zigarre und lediglich Nase und Augen noch als letzter, erkennbarer Teil eines Kopfes aus dem Wohlfühl-Burrito herausragte. Dann war und blieb sie ruhig, die aufgebrachte Atmung verlangsamte sich in einen viel gemächlicheren Rhythmus und nur wenig später hörte man das leise Atmen nur noch, als es zwischen ihren Lippen gegen den Bezug der Couch prallte.
Beinahe und ziemlich plötzlich wach war sie allerdings schon am überaus frühen Morgen geworden. Ächzend hatte sie sich von der Schlafgelegenheit gerade weit genug aufgelehnt um mit noch immer umwickelter Decke auf die noch wackeligeren Beine zu kommen und dann wenig später den Kühlschrank inspizieren zu können. Einer der unscheinbaren, selbstangerührten Vitamindrinks, in dessen trübem Wasser man am Boden ein wenig Fruchtfleisch erkennen konnte, sollte ihren Kater ein wenig dämmen. Wirklich gerne trank sie das Zeug zwar nicht, aber das lag weniger am Geschmack als daran, dass sie sich beinahe schon an die abgepackten Soda-Behälter gewöhnt hatte. Nichts desto trotz waren die Drinks, die zum grössten Teil aus eigens ausgepressten Limetten bestanden - ein wahres Wunder wenn es um Kopfschmerzen und migräneartige Beschwerden ging. Wahrscheinlich wusste das auch Sergio, denn kurz nachdem sie die Schwelle von Kind zu Teenager überschritten hatte und ihr Ziehvater zwangsläufig auch mit einigen sehr weiblichen Problemen konfrontiert wurde (über die sie nie wieder sprachen nachdem alles wesentliche geklärt war), wagte er wohl zu behaupten, dass die Drinks für wirklich JEDES Problem eine Art Ideallösung waren. Vielleicht war Luci auch ganz recht, dass sie nicht genau wusste was alles eingemischt war. Die Schmerzmittel konnte sie allerdings schmecken.
Nachdem Sergios Vitamin-Pillencocktail tatsächlich besagte Wirkung erzielte und seine Tochter sich sicher war, dass es noch deutlich zu früh war um wach zu sein, lies sie sich einfach wieder - so wie sie war - zurück aufs Sofa fallen und schlief umgehend wieder ein.
So lange, bis am tatsächlichen Morgen irgendjemand die Dreistigkeit besessen hatte, sie mit einem Kissen wachzudreschen. "Geht's noch?!", brummte sie unzufrieden und krümmte sich noch ein bisschen mehr in die Fötenlage. "Es is viel zu früh, wieso fangen wir - IMMER - früher an!?"
Demonstrativ legte sie ihren linken Arm komplett auf die Ohren und versuchte den Italiener zu ignorieren. Als der Verlust der Decke allerdings für übermäßige Gänsehaut sorgte, rang sie sich verschlafen dazu auf, sich doch in die sitzende Lage zurückzuarbeiten, die Beine dafür allerdings fest an sich zu ziehen. Sie knurrte unzufrieden. Interessierte sich nur wenig für die Kleidung, die sie bereits am Vortag getragen hatte und jetzt mit etwas Schweiß an ihrer Haut klebte. Momentan hätte sie am liebsten einfach durchgeschlafen bis zum nächsten Morgen. Oder den Morgen danach.. .
"Wenn dein einziges Problem ist, dass du früh aufstehen musst, dann wird dich sicher freuen, was man mir eben mitgeteilt hat. Womöglich musst du jetzt nämlich nie wieder früh für eine Behandlung aufstehen - weil es vielleicht auch nie wieder eine Behandlung geben wird", brummte er sarkastisch und starrte währenddessen auf die marmorierte Tischplatte, hob seine Augen zu ihr erst dann, als er sich sicher war, dass die Dringlichkeit der Sache bei ihr angekommen war. Er selbst bemühte sich, Ruhe zu bewahren, doch die stetig auf die Arbeitsfläche trommelnden Fingerkuppen zeigten deutlich, wieviel Nervosität unter der Fassade verborgen war. Daher umso ungeduldiger zeigte er keine Rücksicht auf Luceijas angeschlagenen Zustand und deutete daher fordernd mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Sitzmöbel ihm gegenüber. Nur wenn sie sich tatsächlich zu ihm begab, konnte er sich sicher sein, dass sie auch wach genug war, ihm zuzuhören.
"Es sieht ganz so aus, als wäre deine Aufmüpfigkeit von gestern der Leitung mehr aufs Gemüt geschlagen als vermutet. Ich habe heute Nacht eine... beunruhigende Nachricht bekommen", leitete er ein, als sich Luceija endlich zu ihm an den Tisch bewegte.
"Der Alte streicht uns die Mittel", brachte er es dann auf den Punkt, als sie vor ihm zum Sitzen kam, fokussierte ihre Augen kurz, um ihre Reaktion zu beobachten, doch wandte er seinen Blick gleich wieder ab, bevor er fortfuhr.
"Wir bekommen nur noch das Nötigste: Miete, akuter Personenschutz bei Bedarf und ein paar billige, frei zugängliche Medikamente. Aber alle für unsere Forschungen wichtigen Substanzen werden wegrationiert... Und das ärgerlichste an der ganzen Sache ist, dass dieser verdammte", er verlor kurz seine Fassung und schlug mit der Faust auf den Tisch, "stinkfaule Bürostuhlfurzer sich nichtmal die Mühe gemacht hat, mir eine Begründung zu liefern! Keine schlechten Quartalsanalysen, keine Sparkurspolitik bei Cerberus, keine Ankündigung von Disziplinarverfahren - einfach nichts. Nur eine große, fette Null auf unserem Konto"
So wie die Worte bis eben aus ihm herausgesprudelt waren, so verstummte Sergio jetzt plötzlich, rieb sich mit der kopfstützenden Hand die Nasenwurzel und seufzte fassungslos. Erst die Kochgeräusche seiner Espressokanne erlösten ihn von der unangenehmen Stille und er stand erleichtert auf, um sich zur Ablenkung zumindest mit dem Servieren zweier Espressotassen beschäftigen zu können.
"Moment...", leitete sie ein und rieb sich mit dem Handballen den Teil der Stirn, der beinahe unangenehm pochte. Dabei war sie sich fast sicher, dass es nicht an den Auswirkungen ihres vorangegangenen, eher mauen Besäufnisses war, sondern die tatsächliche Konfrontation mit dieser Neuigkeit, die ihr wahrscheinlich genauso wenig schmeckte wie Sergio. "WAS?!", schien sie wacher, lies die Hand nonchalant in den Schoss fallen und beugte sich ungläubig vor. Es schien als hoffe sie, den zugegeben ziemlich dummen Witz von Sergios erkalteten Gesichtszügen ablesen zu können. "Welcher kleinkarierte Vollidiot kam denn auf DIE Idee?!"
Wie mit Aufputschmitteln versorgt stand sie rasant auf, hatte in einer nahezu theatralischen Weise direkt eine Hand in ihrem Haar, dass sie sich so zurück über den Kopf kämmte und dabei in einem gedämpften Ton mindestens dreißig verschiedene Flüche in eine unbekannte Richtung aussprach. Dabei war dann SIE es, die abermals regelrechte Furchen ins Parkett zog und nicht länger still sass, denn was das bedeutete lag auf der Hand: Keine Mittel mehr? Das hieß, sie säße bald auf dem Trockenen. Im schlimmsten Fall wäre SIE diejenige, die bald auf der Strasse nach irgendwelchen leichten, gepanschten Drogen betteln musste, weil sie ihren nächsten Schuss nicht pünktlich bekam. Allein der Gedanke bereitete ihr Kopfschmerzen. Aus nächster Nähe hatte sie ja gesehen, was für Zombies sie angebettelt hatten, irgendwelche Tütchen raus zu geben. So wie die wollte sie nie werden. Das waren niedere Kreaturen. Dumme Aasfresser, die den Dreck unter ihren Schuhen nicht wert waren.
"Und jetzt willst du MIR die Sache in die Schuhe schieben? Wegen ein bisschen dealen?!", wandte sie sich Sergio direkt zu und versuchte dem langsam ansteigenden Pulsieren ihrer Schläfe zu entkommen.
"Ich schiebe dir überhaupt nichts in die Schuhe, Luci", sprach er mit erzwungen ruhigem Ton, während er seinen Kaffee in hohem Strahl in die winzigen Tassen eingoss. Erst, als er beide Tässchen zum Tisch hinüber getragen und Luci ihre Tasse zugeschoben hatte, fuhr er fort.
"Ich sagte nur, dass der Alte irgendeinen Grund haben muss, den ich nicht kenne. Schuldzuweisungen haben hier keinen Sinn. Die Sache mit der Verhaftung gestern kann nur ein Anlass gewesen sein, kein alleiniger Grund", verfiel Sergio immer mehr in ein Murmeln, bei dem er seine große Nase in das Tässchen hängte und grübelnd in die Leere starrte.
"Wenn man uns den Geldhahn zudreht, dann kann es nicht nur an unseren Ergebnissen allein liegen. Wir haben jahrelang Gelder verbraucht, das bricht man nicht einfach ungenutzt ab, wenn man keine Alternative hat. Es muss noch irgendein anderes Projekt geben, das eher den Vorstellungen der Zelle entspricht. Irgendetwas mit besseren oder zumindest billigeren Ergebnissen... Ein Projekt, von dem wir beide nichts wissen sollen", brummte der Italiener weiter mit tiefer Stimme vor sich hin, während er das Porzellan in seinen Fingern sachte schwenkte und dann schlürfend einen Schluck daraus nahm.
Die Zellenstruktur von Cerberus ließ nur zu, dass es sich bei diesem Konkurrenzprojekt um etwas sehr Ähnliches handelte, was Sergio mit Luceija betrieb. Irgendeine Form der postnatalen induzierten biotischen Mutation, nur wahrscheinlich mit anderen Methoden. Aber zumindest die Medikamente müssten doch wohl die gleichen sein?
Sergio leerte seinen Kaffee in einem Zug und sprang von seinem Hocker auf, um an einem der Wandterminals in der Küche das Extranet anzuwählen.
"Wir müssen zum Lager unseres Pharmalieferanten", erklärte er dann eilig über seine Schulter, während er bereits die Adressdaten ausfindig machte und ein Skycar zu diesen Koordinaten orderte.
"Wenn wir diejenigen finden, die die selben Präparate erhalten wie wir, wissen wir sicher bald mehr"
Schon Sekunden später stand Sergio in der Garderobe und warf sich eine dünne Jacke über, doch bemerkte er, dass Luceija in ihrem Kater wohl weniger Motivation hierfür aufbrachte.
"Mach schneller, Luci. Ein Lager voller Drogen - wenn dich das nicht aufweckt, ist dir wohl nicht mehr zu helfen", spöttelte er, bevor er, erst halb in seinen Schuhen, aus der Haustür stürzte.
Ein glatter Durchbiss würde es sein, wenn sich Luci weiter auf das Kauen auf ihrer Unterlippe konzentrieren würde. Die Halbitalienerin kam sich vor, als stünde sie unter Schock und schien nach und nach mehr zu realisieren, was das Streichen der Gelder wirklich für sie bedeutete. Schnell, und tief in ihren Gedanken versunken, versuchte sie abzuzählen, wie viele Mittel sie noch hatte Abzweigen und in ihr geheimes Lager hatte bringen können. Sie zählte, begann nochmal von neuem, aber in ihrer schieren Panik, komplett aufzulaufen, gelang es dem schwarzhaarigen Mädchen nicht, sich an alle einzelnen, abgepackten Dosen zu erinnern. Das Zählen mittels ihrer Finger nutze dabei auch nichts - noch immer war das Gefühl in ihrem rechten Arm noch nicht gänzlich zurückgekehrt - ein weiterer Punkt, der sie beunruhigte. Was, wenn die Mittel fehlen würden um DAS zu korrigieren? Einfach so in eine normale Klinik konnten sie nicht fahren - man würde Fragen stellen und ganz davon ab traute sie in medizinischen Dingen ohnehin nur Sergio. "Was-", kam sie fast nicht hinterher und wandte sich rasch um, wo sie entsetzt feststellen musste, dass er schon aus der Türe verschwunden war. "Verdammt..", knurrte sie gerade rechtzeitig um zu ihren Schuhen zu rennen, die sie erst noch mit einer ebenso großen Hektik suchen musste. Gerade so erreichte sie das wohl in der Vergangenheit oft benutzte Schuhwerk, schlüpfte umständlich in einen und rief dem Älteren direkt und ohne zu lange überlegen hinterher.
Nichtmal dran gedacht die Schnürsenkel zu binden, schlenderte sie hinterher und hämmerte mit der Faust auf das Panel, dass an der im Winkel zur Tür liegenden Wand angebracht war, bis es tiefrot leuchtete und signalisierte, dass der Zugang nun verriegelt war. Ohne eine entsprechende Keycard und den Code war ein Eintritt damit zumindest verhindert. Auch hierbei wusste weil sah sie zwar, dass sie auf das Panel einschlug, aber sie spürte keinen Widerstand, was ihr am nächsten Tag wohl zum Verhängnis werden und in einer noch lädierteren Hand enden würde.
"Wo genau willst du da halten?", sprintete sie nach und holte den Italiener ein, als er gerade um die Ecke bog und einen Wagen anpeilte, den er wohl eben erst vor ihre gemeinsame Wohnung beordert hatte. Luci erinnerte sich noch an das Gebäude, an dessen Rezeption sie einmal gesessen und gewartet hatte. Mit einer deutlichen Ungeduld. "Die lassen uns doch noch nie da rein wenn sie sehen, dass wir in 'nem öffentlichen Shuttle dort auftauchen." Noch einmal verfrachtete das Mädchen ihre langen Haare mit der Hand zurück und schmeckte noch immer die Überreste des Alkohols von letzter Nacht auf ihrer Zunge, die sich unterdessen anfühlte, als wäre sie pelzig. Ob es zu spät war unterwegs noch kurz zu halten um eine Flasche Hochprozentiges zum Spülen zu besorgen?
Etwas ungeduldig wartete Sergio neben der Tür, während Luceija begann, die Türverriegelung zu programmieren. Er selbst wäre wahrscheinlich erneut ohne sie auch nur zu schließen nach draußen gestürmt. Er war es einfach sein Leben lang gewohnt gewesen, dass in seinem Haus alle Türen zu seinen Gärten hin offen standen und so eine sanfte Meerbise durch die Flure strömen konnte. Es hatte genug freies Gelände um sein Grundstück herum gegeben, sodass ihm sowieso jeder neugierige Blick erpart geblieben war. Doch hier auf der Citadel war es ein Risiko, den Nachbarn auch nur einen kurzen Blick durch den Türspalt zu gewähren. Umso ungeduldiger betrachtete Sergio Luceijas Finger, die auffällig grobmotorisch die holografischen Felder eher wie Trommeln spielten, obwohl schon ein zarter Wink aus dem Handgelenk zur Betätigung genügt hätte.
"Immernoch taub?", brummte er mit einer Mischung aus Neugier und Besorgnis, obwohl er die Antwort wohl schon kannte.
"Wir kümmern uns später darum - wenn die Hand bis dahin nicht schon abgefault ist", spöttelte er mit einer Ernsthaftigkeit, die seinen ohnehin makaberen Witz noch unangebrachter wirken ließ. Er wusste, dass ihre Symptome nichts Ernstes waren. Doch insgeheim versuchte er mit seinem schwarzen Humor wohl nur zu kaschieren, dass sie schon sehr bald zu etwas Ernstem werden konnten, wenn der Nachschub ausblieb. Er zögerte daher nicht lange, sondern stürmte bereits, die Hände noch in den Kitteltaschen, mit klackenden Schuhen die Treppe hinunter, und den Ausgang hinaus, wo bereits ein Skycar schwebte und einladend die Fahrerkabine automatisiert öffnete.
"Oh, sie werden uns mit Sicherheit zumindest anhören, immerhin gehören wir zu deren besten Kunden. Der Kunde ist König - vor allem, wenn dieser Kunde zehntausende Credits im Monat einbringt", murmelte er zur Antwort etwas undeutlich vor sich hin, als er sich in den Sitz pflanzte.
"Also, mach beim Einsteigen keine Kratzer in deinen vergoldeten Arsch", schmunzelte er ihr frech zu und gab dann die Zielkoordinaten ein.
Die Eingangshalle von Kenotam Biosolutions sah genau so aus, wie man sich die Lobby einer Pharmafirma vorstellte: grell beleuchtet, klinisch rein und strahlend weiß mit nur sehr minimalistischer Einrichtung. Wo man sonst einen dekadenten Springbrunnen als Zierde erwartete, gab es hier eine Art Kraftfeld, das mehrere pastellfarbene Flüssigkeiten in wabernden Kugeln langsam in Spiralen schweben ließ, sodass sie ein hypnotisches Farbenspiel ergaben. Dahinter, an einem komplett gläsernen Tresen, saß in ebenfalls weißer, langer Kleidung eine Asari - offenbar die Rezeptionistin - und erhob sich sofort zum Stand, als sie Sergio und Luceija den Raum betreten sah. Sanft lächelnd sah sie beiden entgegen und begrüßte sie freundlich, als sie in Hörreichweite kamen.
"Doktor Vittore!", jauchzte sie übertieben fröhlich auf, nachdem sie kurz auf den Monitor neben sich geschielt hatte, wohl um den Namen ihres Gegenübers abzulesen.
"Willkommen bei Kenotam Bio Solutions. Was verschafft mir die Ehre, eines persönlichen Besuchs?"
Sergio hasste diese elends langen Begrüßungsfloskeln und überstand sie nur, da seine Finger unterdessen zur Beruhigung auf die Glasplatte trommeln konnten.
"Jaja", winkte er dann ab ohne die Begrüßung auch nur irgendwie zu erwidern, "ich habe nicht viel Zeit. Sehen Sie, das hier ist meine Tochter, die ich mit der Hilfe Ihrer Medikamente seit Jahren wegen eines seltenen Gendefekts behandle"
Die Asari musterte Luceija einen Moment und hob dann den Kopf leicht zum Zeichen des Verständnisses, doch betonte sie dies so übermäßig, dass die Scharade dahinter klar war. Die Firma war längst nicht so blütenrein, wie es die Dekoration im Eingangsbereich zu suggerieren versuchte. Kenotam war eine gut verheimlichte Tochterfirma von Binary Helix, die wegen des schlechten Rufes bezüglich illegaler Forschungen und Produkte als unschuldiges Verkaufsgesicht ihres korrupten Mutterkonzerns diente. Jedoch wussten beinahe alle Kunden stillschweigend, mit wem sie hier wirklich Geschäfte machten und waren meist selbst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Doch Kenotam war wiederum bekannt für seine Kundendiskretion - und ließ sich diese zudem gut bezahlen. Der Asari hinter dem Tresen schien daher klar zu sein, dass sich hinter Luceija wohl kaum jemand mit einem seltenen Gendefekt verbarg, auch wenn sie über die wahren Verwendungszwecke der Medikamente nur rätseln konnte.
"Ich verst-"
"Sie müssen gar nichts verstehen, hören Sie einfach zu", unterbrach sie der Italiener und konnte dabei nur gerade so sein Temperament abfangen.
"Irgendetwas scheint mit der letzten Charge der Apoptosebeschleuniger und Schmerzmittel nicht in Ordnung gewesen zu sein. Seit der letzten Injektion kommt es bei ihr zu Bindehautentzündungen und Taubheit der Gliedmaßen. Sehen Sie?"
Er deutete auf Luceijas Augen, die vom morgendlichen Kater noch immer rot unterlaufen wirkten, zog dann seine Nagelfeile aus der Kitteltasche, um mit der Spitze sachte in das Fleisch ihrer Handfläche zu stechen.
"Völlig taub!", ergänzte er zur Erklärung, als Luceija die Hand weiter völlig ruhig hielt.
"Das ist unmöglich, Mr. Vitto-"
"Doktor", unterbrach er die Asari wieder, um sie weiter zu verunsichern.
"Doktor Vittore. Die Nebenwirkungen müssen eine andere Ursache haben"
"Und doch sind sie eindeutig da, Verehrteste. Und ich bin sicher, dass es von den Apoptosehmmern kommen muss, denn ich habe eine chemische Analyse des Wirkstoffes vorgenommen und dabei erhebliche Quecksilberverunreingungen gemessen. Bei Ihrem Fertigungsvorgang wird eindeutig gepfuscht und ich bin hier, um meinen Liefervertrag aufzulösen."
"Aber ich bitte Sie, Doktor, ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Kommen Sie, ich lade Sie ein, eine unserer Fuhren zu untersuchen. Eine zufällige Stichprobe, wenn Sie möchten. Es kann sich nur um einen unglücklichen Zufall gehandelt haben. Unsere Qualität ist weiterhin hervorragend"
"Unsinn. Die restliche Ladung ist sicher genauso schlecht verarbeitet wie meine. Ich will sofort Beweise sehen, oder sie sehen keinen müden Credit mehr von mir auf Ihrer nächsten Monatsabrechnung", zeterte er lauthals, während er bereits in Richtung des Personaleingangs strebte und die Rezeptionistin somit nahezu zwang, ihm zu folgen.
"Und du fasst derweil nichts an, Luci, hörst du. Vorallem nicht den Terminal!", konnte er noch rufen, ehe er hinter der Tür am anderen Ende der Halle verschwand und die Asari mit sich zog. Wie stark er seine Bitte an Luceija betont hatte, sprach wohl Bände davon, was er tatsächlich von ihr verlangte.
Im selben Moment, indem die Nagelfeile in das Fleisch der fünfzehnjährigen gestochen wurde - wenn auch nur sachte - zuckte unbemerkt ihr linkes Bein, dass hinter dem Tresen und bei ihrer geringen Größe kaum auffiel. Auch nicht, weil Sergio keine langen Phrasen um diese Tat knüpfte und so ziemlich rasch ihre Taubheit präsentieren wollte, wobei ein minimales Zucken nicht aufgefallen wäre. Vielleicht wäre sie vor Schreck zusammengezuckt, würde die Asari womöglich denken. Stattdessen hatte ihr Vater einfach in spontaner Präsentationswut vergessen um welche Hand es sich handelte und die vollkommen Gesunde mit dem Stich traktiert. Jetzt, da er um die Ecke war und sie ihr Pokerface nicht mehr aufrecht erhalten musste, stieß sie einen gebrochenen Fluch aus und begutachtete die Einstichwunde, aus der nur der minimale Tropfen Blut quellte. "Ouch!", keuchte sie und rieb den Blutfleck knurrend an ihrer Hose ab.
"..nicht das Terminal anfassen..", wiederholte sie flüsternd und kam dabei nicht umhin verschmitzt zu schmunzeln. "ist klar, Doc."
Kaum, dass sie nochmals einen Sicherheitsblick um die Ecke geworfen hatte, schwang sie ihre schmale Hüfte um den gläsernen Eingangstresen und den Hintern auf den hochmodernen Bürostuhl, der offenbar für alles designt war aber nicht für Komfort über mehrere Stunden. Wie die Blaue das aushielt war Luci Schleierhaft. Schon jetzt beim Versuch es sich hier mehr oder weniger bequem zu machen, scheiterte sie kläglich und musste mangels Lehne und dank sehr bewegungsfreudiger Teleskop-Bodenbefestigung aufpassen, nicht rücklings auf den Boden zu fallen. Diese Hürde allerdings rasch bewältigt nutzte sie ihre geringe Zeitspanne aus um den Monitor zwischen den beiden metallenen Fassungen aufleuchten zu lassen und mit einer Gestensteuerung die Kundenunterlagen durch zu sehen.
Zugegeben hatte die Halbitalienerin keine überschwänglich hohen Kenntnisse im Terminal-Hacking. Aber Cerberus legte großen Wert darauf, dass mitunter auch diese Basics problemlos erlernt werden konnten, weil in DIESER Welt absolut nichts mehr ohne aktuelle Technologien ging. In ihrem Alter diese Basics anzutrainieren war natürlich verhältnismäßig leicht, deshalb glich dem was sie brauchte größtenteils ohnehin keinem Hacking sondern dem simplen, effektiven Handling besagter Technologien. Bald schon war ihr klar, welches Tab sie zu den Kundeneinträgen bringen würde und noch schneller wurde ihr bewusst, dass es ab hier einem kleinen Glücksspiel glich, den Zugang zu bekommen - hätte sie da nicht das praktische Modul, dass sie an die Seite des PCs klemmte und ein Programm startete, welches den Löwenanteil der Arbeit erledigen würde.
"Schneller...komm schon..", motivierte sie die Technik leise und warf immer wieder einen routinierten Blick über die eigene Schulter. Sie hörte Stimmen. Was genau Sergio mit der Asari tat um sie abzulenken konnte sie sich nur ausdenken. Aber Ewigkeiten durfte die Schwarzhaarige nicht aufwenden. Deshalb reagierte sie schnell und versuchte ins Backup-System des hauseigenen Programmes einzudringen. Gerade noch rechtzeitig wandte sie den simpelsten aller Tricks an und kopierte einfach die Datenbank auf das ohnehin schon mitgeführte Modul. Jetzt war es eine Frage der Zeit...
17 Sekunden...14 Sekunden...
Mit einer gewissen Befriedigung konnte er um den Rahmen der Tür herum noch erspähen, wie sich Luceija in unbeteiligtem Gang auf das Terminal zubewegte und somit wohl seine Botschaft verstanden hatte. Dann löschte er eilig den freudigen Ausdruck aus seiner Miene, denn sein Schauspiel verlangte, weiterhin das südländische Temperament wirken zu lassen. Die Asari führte ihn inzwischen durch einige Gänge zur Lager- und Abfertigungshalle der Firma, oder vielmehr führte Sergio sie dorthin und ließ sich nur hin und wieder an Kreuzungen in die richtige Richtung weisen.
"Ich muss Sie allerdings bitten, den Ablauf nicht unnötig zu stören. Wir sind heute eigentlich nicht auf Besucher eingestellt, also bitte fassen Sie nichts ohne meine ausdrückliche Erlaubnis an", mahnte die blau-lila gefärbte Rezeptionistin hinter einem zarten Lächeln versteckt, während ihre Hüften rhythmisch durch eine der größeren Türen hindurch wiegten und sie mit einer fließenden Bewegung der Hand Sergio einlud, in die Halle einzutreten.
Der Anblick war tatsächlich beeindruckend: Eine circa zwanzig Meter hohe Decke überdachte ein Lager, das komplett aus Edelstahl bestand und daher einen beinahe unheimlichen, reinlichen Glanz ausstrahlte. Gang für Gang reihten sich turmhohe Schubladenregale hinauf, sodass deren oberes Ende nur dank einer gedimmten, bläulichen Deckenbeleuchtung zu erkennen war. Etwa zwei dutzend Dronenroboter schwirrten derweil wie Insekten zwischen den Schubladen des Lagers hin und her, um wie ein Bienenschwarm den pharmazeutischen Pollenstaub zu den Transportfahrzeugen zu tragen. Ein wenig einschüchternd wirkten hingegen die Mechs, die sich vor jeder Regalreihe stramm aufreihten und ihre Gewehre im Anschlag hielten. Offenbar kamen tatsächlich hin und wieder einige Banden auf die absurde Idee, einen multinationalen Konzern an ihrer Hauptschlagader berauben zu können.
Nach diesem kurzen Moment der beeindruckten Musterung der Halle sammelte sich Sergio dann wieder und stieß zu seinem eigentlichen Vorhaben vor.
"Schön und gut - Jetzt führen Sie mich bitte zu diesen Medikamenten auf meiner Liste, damit ich eine Stichprobe nehmen kann", forderte der Italiener und klopfte dabei zweimals auf das Holopad in seiner Hand.
"Das wird nicht nötig sein", lächelte die Asari und machte dabei eine beschwichtigende Geste, die Sergio an intergalaktische Ritter aus einer frühmodernen Science-Fiction-Reihe erinnerte, auf die er kürzlich zufällig im Extranet gestoßen war, "Unsere Dronen bringen Ihnen einfach die Stoffe auf Ihrer Liste und-"
"Nichts da", unterbrach Sergio sie erneut energisch, "Ich will selbst eine Packung aus dem entsprechenden Fach nehmen. Ihre Dronen bringen mir doch sicher nur die Vorzeigeprodukte, so einfach lasse ich mich nicht verarschen", forderte der Doktor mit dem obligatorischen Gefuchtel beider Hände, um seiner Wut Audruck zu verleihen. Die Asari schien ganz und gar nicht erfreut darüber zu sein, nun auch noch selbst diese Handarbeit verrichten zu müssen, doch ohne irgendwelche Widerworte nickte sie schließlich mit zusammengepressten Lippen.
"Folgen Sie mir", lud die Asari ein und Sergio ahnte trotz ihres höflichen Tonfalls, dass sie davor war, ihre Geduld zu verlieren, denn sie begann, ihre Höflichkeitssignale allmählich auf das Nötigste zusammenzukürzen. Die Rezeptionistin führte Sergio in weiterhin elegantem Schritt auf eine mit einem Geländer gesicherten Hebebühne, die sie mit einem kleinen Joystick zu den entsprechenden Schubladen in schwindelerregenden Höhen im oberen Teil der Regale steuerte. Bei jeder der Schubladen, die sich etwa zwei Meter herausziehen ließen, nahm sich der Doktor alle Zeit der Welt, in Ruhe das für ihn richtige Paket der Medikamente auszuwählen, es langsam auszufalten und einige Pillen oder Ampullen in entsprechende Teströhrchen aus seinen Kitteltaschen umzufüllen. In dem einen oder anderen unbeobachteten Moment konnte er schhmunzelnd beobachten, wie die Asari unterdessen die Augen rollte oder die Arme frustriert vor der Brust verschränkte.
Die Odyssee hatte sicher gute zehn Minuten in Anspruch genommen, sodass sich Sergio nun sicher sein konnte, dass Luceija genug Zeit für ihre Aufgabe hatte. Unter weiteren Flüchen und Androhungen rechtlicher Klagen kehrten die beiden nach dieser Frist lauthals aus dem Seitenflur der Eingangshalle zurück, um ihre Ankunft für Luceija überdeutlich anzukündigen. Ohne weitere Verabschiedungen trennte sich Sergio jetzt direkt von der Asari und ging dicht an Luceija vorüber, mit einer kurzen Geste zum Ausgang winkend.
"Sie hören von uns!", bellte er noch hinter sich, ehe er gemeinsam mit Luceija aus dem Gebäude trat.
"Du hast doch aber nichts angefasst, oder?", fragte er sie dann mit einem kurzen Zwinkern, noch immer getarnt, für die Eventualität ungewollter Zuhörer. Zügig begab er sich derweil zurück zum Skycar und schwang sich in die Fahrerkabine, um hier unegstört mit Luceija sprechen zu können.
"Fast nicht", war die Italienerin sich sicher und stieg mit einem fragwürdigen Schmunzeln zurück in das bereits wartende Skycar. Dass die beiden ein eingespieltes Team waren, wenn es um solcherlei Methoden der Informationsbeschaffung ging, wurde selbst dem eingeschränktesten schnell klar. Offenbar waren solche Aktionen nicht nur einmal abgelaufen - vielleicht nicht unbedingt in exakter Form, aber zumindest ähnlich genug. Und auch wenn Luci kein absolutes Ass im Hacken war, waren ihr die Handgriffe, die sie getan hatte, durchaus einfach gefallen - auch, wenn man die paar Gestensteuerungen nicht wirklich als Handgriffe bezeichnen konnte. "Da die aber mit Sicherheit keinen Test durchführen werden, wie und warum der arschförmige Abdruck auf dem Sitz etwas kleiner geworden ist, kannst du mal davon ausgehen, dass das unser kleines Geheimnis bleibt."
Luci hatte einen beinahe ungesunden Faible für illegale Tätigkeiten entwickelt, das würde Sergio schnell klar werden. Wahrscheinlich lag diese Tatsache darin begründet, dass die Hemmschwelle bei dem ohnehin sehr kriminellen Lebensstil der Beiden derartig tief war, dass ihre Moralvorstellungen irreversibel verkorkst waren. Nicht, dass Sergio behauptet hätte sie wären das. Das war nichts weiter als ein Blick von Außen - eine Prognose der bürgerlichen Schmarotzer und Langweiler. Die, die einem Mädchen wie Luci nichts zugemutet hätten, nein, die auf Sizilien selbst sogar der Ansicht waren, man müsse das Mädchen mit einer Art ehrfurcht begegnen die man hatte, wenn man einem Rollstuhlfahrer oder anderweitig Behinderten zu nahe kam. Ob man es wollte oder nicht, die Fassade ihrer Krankheit verleitete nahezu ausnahmslos jeden dazu, sie mit dem sprichwörtlichen Samthandschuh anzupacken. Ein Fehler dererseits, den Luci nur zu gerne ausnutzen würde, wenn die Leute derartig dumm und naiv waren. Und eine fehlende Eigenschaft, die sie bei Sergio unheimlich genoss (wenn auch nicht zugeben würde).
Jetzt, angekommen auf dem Beifahrersitz, präsentierte sie in ihrer funktionstüchtigen Hand den beinahe winzigen Stick, den sie eben noch mit den Daten gefüttert hatte und kicherte bei deren Anblick wie eine Angetrunkene (die sie allein der betäubenden Mittel wegen und dem prägenden Schlafmangel vielleicht sogar etwas zu perfekt imitieren konnte). "Könnten wirs uns nicht einfacher machen..", offenbarte sie Teil eins ihres Planes, unterbrach sich dann aber für einen tiefen Luftzug, als habe sie gerade ein paar Treppen zu schnell genommen, "...und einfach deren Konten räumen? Damit sollte das doch gehen." Mit fragendem Blick bedachte sie den Fahrer und war für eine Sekunde heilfroh, dass sich die Türen des Shuttles automatisch schließen konnten - mangels Gefühl im Arm wäre alleine diese Tätigkeit ein Spaß für die nächsten, folgenden Stunden gewesen.
Mit einem zufriedenen Grinsen fokussierten sich Sergios Augen auf den kleinen Datenträger zwischen Lucis Fingern. So ungeduldig griff er danach, dass er beinahe vergessen hätte zu würdigen, wie gut Luceija inzwischen mit ihm zusammenarbeitete. Doch für mehr als ein anerkennendes Nicken in ihre Richtung trieb ihn dann doch zu sehr die Neugier. Kaum hatte er den Bordcomputer angwiesen, die beiden zu ihrer Wohnung zurückzumanövrieren, zog er den Stick aus ihren dünnen Fingern und ließ ihn direkt in seiner äußeren Kitteltasche verschwinden. Direkt danach wählte er an seinem Omnitoolimplantat das externe Speichermedium an und übertrug die Daten drahtlos auf die Holoprojektion über seinem Unterarm. Luceijas Anstiftungen zum schweren Diebstahl quittierte er in seiner Konzentration nur mit einem kurzen Schmunzeln, während vorbeirauschende Datensätze sein Gesicht von unten in leichtem Orange beleuchteten.
"Du glaubst doch nicht, dass alle wichtigen Transaktionsschlüssel der Firmenkonten auf einem Computer an der Rezeption gespeichert sind, oder?", brummte er dann und wählte sich dabei einige Menüpunkte weiter, "Das hier sind offiziell vertrauliche, aber schlecht geschützte Datensätze über Kundenbestellungen. Es gibt keinen Grund für die Firma, diese mit mehr als dem Nötigsten zu schützen. Aber wenn du einen größeren Coup planst, bei dem wir uns in weniger als einer Minute durch zahlreiche Sicherheitsebenen hacken, Unsummen auf zahlreiche anonyme Konten quer über die Terminus-Systeme überweisen und uns für die nächsten zwanzig Jahre auf einem Strandplaneten verstecken: Ich bin ganz Ohr", witzelte er spöttisch, auch wenn er dabei sichtlich zumindest für eine Sekunde selbst von dem utopischen Gedanken angetan war, all die moralisch zweifelhaften Experimente für militante Organisationen hinter sich zu lassen und seinen Lebensabend lieber mit karibischen Cocktails als mit kriminellen Kindesausbeutungen im Namen der Wissenschaft zu verbringen. Doch als er seine Suchanfrage nach dem Medikamentennamen abschickte und direkt eine Trefferzeile rot markiert aufleuchtete, zog es Sergio wieder in die Realität zurück.
"Okay, ich habe hier was...", klärte er dann nach längerem Schweigen Luceija auf, der er nun auch einen Blick auf die Bildfläche gewährte.
"Ein Kerl aus dem Bachjret-Ward bestellt seit zwei Jahren in ähnlichen Zeitabständen die gleichen Medikamente wie wir. Das Geld dafür kommt von einem Kontoinhaber, dessen Name für mich eindeutig nach einem typischen Cerberus-Decknamen aussieht. Und jetzt das beste: Seit einem Monat erhält er von unserem Lieferanten die doppelte Menge. Sieht ganz so aus, als würde man jemandem die Bestände aufstocken, während man sie uns streicht", fasste Sergio ihr in geduldigen Worten zusammen, während er selbst bereits überlegte, was die Konsequenz aus dieser neuen Erkenntnis war.
"Seine Adresse steht hier... Ich weiß nur nicht, ob wir so plump sein sollten, ihm tatsächlich einfach einen Besuch abzustatten"
Inzwischen durchflog das Shuttle nach einer scharfen Kurve einen schwach beleuchteten Korridor zwischen einer Reihe von Wolkenkratzern und überdacht von deren freischwebenden Querverbindungen. Schon einige Sekunden später wurde es innerhalb der Passagierkabine so dunkel, dass nur die in sekündlichem Rhythmus vorbeiziehenden quadratischen Lichtflächen der blauen Korridorlampen Sergios Gesicht immer wieder in einer Reihe unzusammenhängender Einzeleindrücke aus den Schatten hervortreten ließen.
Luceija zeigte wenig Respekt. Nicht nur gegenüber älteren, gleichaltrigen, geschweige denn jüngeren...sie zeigte auch keinen gegenüber dem Eigentum anderer. Vielleicht war dies auch nur ein weiterer Abklatsch von vielen Ticks seitens ihres Adoptivvaters. Vielleicht aber auch nur ein aus der Pubertät heraus entwickelter Dreh in ihrem Oberstübchen, dass sie mit dieser 'Leckt mich, Leute'-Haltung durch die Welt stiefelte. Aber auch, wenn es wirklich nur das war, dass sie die Füße überkreuz ein weiteres Mal auf die Konsole des Wagens legen lies und den Sitz weit genug zurück fahren lies, bis sie noch immer einen Blick aus der Windschutzscheibe hatte aber es deutlich bequemer für das Mädchen wurde, war eines sicher: Am wenigsten Respekt hatte die Schwarzhaarige vor sich selbst. Dabei war es nicht mal Selbsthass, der sie durchzog sondern einfach nur kühle Gleichgültigkeit. Bereits in ihrem zarten Alter war ihr - sofern man die Ausrede des Gendefekts nicht glauben wollte - die Drogenabhängigkeit ins Gesicht geschrieben und trotzdem erschrak sie nicht, wenn sie morgens in den Spiegel sah. Interessiere sich weder für ihre viel zu blass gewordene Haut, die nicht länger von Siziliens Sonne beschienen und wenigstens über dieses Symptom hinweg getäuscht hätte, noch für das bald permanente Rot in ihren Augäpfeln. Den schläfrigen oder deutlich zu wachen Blick. Oder auch nicht für das Gefühl der Nadel, die sie sich - wie sie es jetzt tat - regelmäßig ohne mit der Wimper zu zucken aufgezogen in die Hüfte rammte und beinahe jegliches Gefühl für Sanftheit dabei verlor. Man könnte meinen, dass sie darauf bestand den Einstich zu spüren, so, wie sie die Augen verdrehte, ein leichtes Seufzen zwischen den jugendlichen Lippen hervorquoll und sich ihre Glieder just in dem Moment entspannten, in dem sie den Kolben vollständig entleert hatte und die leere Hülle zurück ins Handschuhfach warf.
Für Sergio wäre der Anblick wohl der normalste überhaupt, für andere hingegen eine unaussprechliche Untat. Luci zuckte jedoch nur mit der lebendigeren Schulter von beiden und kuschelte sich regelrecht mit dem Kopf in den Sitz, während sie ihren Blick auf ihren Vater richtete. "Also..ich hätte schon irgendwie Lust mal wieder bei ein paar Idioten einzusteigen. Aber mit dem hier", sie hob ihren tauben Arm gerade so an, damit es als Andeutung genügte, "komm ich nich' weit."
Sie lächelte verklärt, warf dann aber lange Blicke auf die Umrisse des Älteren, die nur hin und wieder in der sachten Beleuchtung des Tunnels aufflackerten wie in einem Kerzenschein und sogleich wieder verschwanden. Sie betrachtete ihn wie ein teures Ausstellungsstück - mit Ehrfurcht und einem gewissen Stolz. Viel zu lange, als dass ihr Gedankengang nicht derartig melancholisch enden konnte. "Und was ist...", beendete sie die Stille, da waren sie noch lange in den Tunnelbereichen unterwegs. "..was ist, wenn ich für Cerberus einfach nicht gut genug bin?"
Die Worte waren ungewohnt klar für eine zugedröhnte, pubertäre Fünfzehnjährige und sprachen mit der selben Ehrfurcht wie ihre Blicke es schon taten. Nein, Respekt vor sich selbst oder 'anderen' kannte sie nicht. Aber da war diese Götzenfigur. Dieses Idealbild, diese Perfektion 'Cerberus' - diese unbeschreiblich stolze, liebende aber auch strenge Familie, die sie regelrecht anbetete. Dessen Lektüre sie las, von dessen Teller sie aß, in deren Räume sie wohnte, nach dessen Doktrin sie lebte und in dessen Arzt sie erst einen Vater fand. Für die sie lebte und bereits jetzt, mit der gleichen Rücksichtslosigkeit des Nadelstichs in ihr Fleisch ihr junges Leben lassen würde, wenn es nötig war. Auch, wenn sie Angst vor dem Unbekannten hatte, dass danach folgen würde - oder dem Nichts, dass dort auf sie wartete.
"Was ist, wenn...wir alles richtig gemacht haben, aber ich einfach nicht richtig bin? Wenn Cerberus so entscheidet, kann es doch nicht falsch sein..? Sind wir dann nicht die Idioten, wenn wir sie angreifen?"
In seiner Gedankenverlorenheit fiel Sergio offenbar gar nicht auf, wie Luceija sich neben ihm in typischer Manier die nächste Dosis verabreichte und wie dann später ihr melancholischer Blick auf ihm haftete. Stattdessen schien er gedanklich die Planung für das weitere Vorgehen gegen seine unverhofften Konkurrenten durchzugehen. So fokussiert war er zumeist selten auf eine einzige Sache, verlangte ihm doch sein Beruf oft eher einen Rundumblick und optimale Multitaskingfähigkeit ab. Doch in diesem Moment blendete er absichtlich alle Gedanken abseits der unmittelbaren Pläne aus, um somit seine eigene Wut im Zaum zu halten. Es machte ihn rasend, wieviel ungeahnte Mühen er in seine geliebte Organisation investiert hatte, nur damit inkompetente Mittelsmänner, die nichts von ihrem Handwerk verstanden, ihm dazwischenpfuschten.
"..was ist, wenn ich für Cerberus einfach nicht gut genug bin?", unterbrach seine Beifahrerin dann seine Gedankenstrom. Zunächst schien Sergio die Frage gar nicht recht zu verstehen, drehte seinen Blick nur überrascht zu Luceija und blickte ihr mit skeptischem Ausdruck in die grünen Augen, die selbst in diesem fahlen Licht einen Teil ihrer ungewöhnlichen Farbe entfalteten. Er erkannte nach kurzem Zögern die Melancholie darin und konnte nicht anders, als für einen Moment mitfühlend die Lippen aufeinanderzupressen.
"Unsinn", brummte er etwas zaghaft, als er noch darüber rätselte, was er hierauf antworten sollte.
"Was ist, wenn...wir alles richtig gemacht haben, aber ich einfach nicht richtig bin? Wenn Cerberus so entscheidet, kann es doch nicht falsch sein..? Sind wir dann nicht die Idioten, wenn wir sie angreifen?"
"Was redest du denn da für einen Mist?!", wiederholte er dann energischer und fuhr von Rührung in Wut um. "Natürlich bist du 'richtig' für das Projekt. Ich habe mein halbes Leben in diese Sache investiert. Ich weiß ganz genau was ich tue, und Cerberus weiß das auch, sonst hätten sie mich niemals mit solch einer Verantwortung betraut. Und glaub mir, Luci, du bist perfekt für das Projekt. Deine genetische Disposition, das frühe Einstiegsalter, das Durchhaltevermögen - dich als Testperson für die Experimente zu haben ist ein wahrer Glücksgriff. Die Typen aus dem anderen Projekt müssen irgendwelche Werte gefälscht haben. Vielleicht hat uns jemand schlechtgeredet, vielleicht will man uns auch nur hin und wieder zeigen, dass wir die Gelder nicht geschenkt bekommen, sondern weiterhin gute Ergebnisse liefern müssen. Ich habe ja auch keine Ahnung, Luci... Aber wenn es tatsächlich stimmt und Cerberus das andere Projekt für ausgereifter hält, dann muss man sie hinters Licht geführt haben. Sie wissen nicht, dass sie ihre Finanzen in einen Betrug stecken. Und irgendein gieriger Fettsack stopft sich jetzt seine unverdienten Kitteltaschen damit voll - auf Kosten der Menschheit!"
Nachdem sich Sergio so immer mehr in Rage geredet hatte, blickte er nun wieder still aus dem Fenster und kaute dabei an seinen Nägeln. Für einen Moment, verborgen unter dem Dunkel des Tunnels und grimmigen Augenbrauen, schien jetzt aber doch ein leiser Zweifel hindurchzublitzen.
"Es gibt keine Fehler bei uns. Wenn diese Sache zu schaffen ist, dann nur in unserem Projekt", murmelte er das Mantra der Verdrängung in seine vorgehaltene Hand und folgte dabei mit den Pupillen den vorbeisausenden Lichtern. Erst dabei, und auch nur nach einer halben Minute des leeren Dahinstarrens, stellte sich sein Blick auf die Holoprojektion der Heckkamera scharf, wobei ihm auffiel, dass seit ihres Starts ein und dasselbe Skycar hinter ihnen herflog - ein gold-weiß akzentuiertes, modernes Vehikel der neueren Baureihe, das nur zu sehr aus der Masse der anderen herausstach.
"Ich glaube, jemand folgt uns...", murmelte er leise, als er plötzlich fürchtete, dass die Fahrerkabine vielleicht sogar die ganze Zeit über verwanzt gewesen sein könnte. Eilig speiste er bei diesem Verdacht den Computer mit neuen Zieldaten in Richtung einer Einkaufsmeile ganz in ihrer Nähe. Das Shuttle wechselte den Kurs, nahm eine Kurve zur linken und reihte sich in eine andere Flugschneise ein. Sergio wagte es in seiner Anspannung kaum zu sprechen, beobachtete stattdessen nur die Heckkamera, bis er schließlich das fremde Vehikel nicht mehr ausmachen konnte. Doch noch konnte er sich nicht sicher sein, dass ihnen wirklich niemand mehr folgte.
"Du... brauchst doch neue Stiefel, richtig?", erfand er eilig einen Vorwand für eventuelle Mithörer und sah bei diesen Worten Luceija mit unmissverständlicher Aufforderung an, seinem Spiel zu folgen. "Wir besorgen dir hier noch ein Paar auf dem Weg."
Schon wenig später setzte ihr Shuttle auf dem Landeparkplatz eines Einkaufsdecks auf und die Cockpitfenster entriegelten sich. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, stieg er aus dem Cockpit aus und sah sich aufmerksam in diesem Dschungel aus Fahrzeugen um, versuchte aber, dabei möglichst nicht auffällig zu wirken.
"Siehst du jemanden?", brummte er dezent zu ihr, als er sich neben sie stellte und wie einer Tochter locker einen Arm um ihre schmalen Schultern legte, und mit ihr zum Eingang der Einkaufsmeile trottete.
Es würde Luci schwer fallen zu beschreiben, wie sie sich fühlte, als der Arm um ihre Schultern drapiert wurde wie ein schwerer Mantel und die Halbitalienerin mit sanfter Bestimmtheit in Richtung der Einkaufsmeile getrieben worden war. Denn eigentlich prasselten gerade zwei ganz verschiedene, aber gleichsam unangenehme und ungewohnte Gefühle auf die junge Frau ein.
Zum einen war da diese Einkaufsmeile. Davon gab es dutzende, nein unzählige auf der prunkvollen Citadel und egal wo man versuchte hinzugehen, warben kleinere wie größere Geschäfte, Ketten und Restaurants um die Aufmerksamkeit der potenziellen Kundschaft. Grelle, bunte, teils auch absolut ausgefallene Werbemöglichkeiten wurden genutzt, technische Höchstleistungen aufgefahren um zum Beispiel ein neues Skycar mit einer niemals-endenden, spiralförmigen Glitterwelle von Decke bis Boden zu präsentieren. Es gab kaum einen Ort, der so vielfältig war und sich so oft veränderte wie Einkaufs- und Flaniermeilen auf dieser Raumstation. Wahrscheinlich lag es unter anderem an den horrenden Mietpreisen, die man verlangte, um auch nur so etwas winziges wie eine Ramen-Bar zwischen Raumhafen C-23 und dem Surima-Square an eine Ecke zu integrieren und das immer unter der Prämisse zu wissen, dass man die Kosten für den Kredit erst in 100 Jahren abbezahlt haben würde. Nahezu jedes Geschäft war eher in eine Einbuchtung eingelassen, alsdass es - ähnlich auf der Erde - wirkliche Häuser gewesen wären, die die Promenaden zieren. Ein ganz einfaches, marketingbezogenes Kalkül um den Promotern, die häufig den Weg der vorbeiflanierenden kreuzten, leichteres Spiel zu machen und offensichtlich hatten sie damit in jeglicher Hinsicht Erfolg. Das war nur einer der vielen, unzähligen Punkte, weshalb Luceija dieses 'Shoppen' hasste. Weshalb sie sich zunehmend sträubte solche ohnehin schon furchtbar seltenen Dinge zu tun, die eigentlich für ein Mädchen in ihrem Alter mehr als normal gewesen wären. Tatsächlich aber war es sogar so selten und so "normal", dass es eine beinahe abstoßende Wirkung auf die junge Frau hatte. Es war ganz einfach ZU normal. Zu generisch, zu sehr das, was alle taten. Alle - eine Gruppe, zu der sie nicht gehörte. Es fühlte sich grausam und eigenartig an solche Stätten aufzusuchen, sie fühlte sich beobachtet und verurteilt und wollte alles einfach nur schnell hinter sich bringen. Vielleicht war sie so, weil Sergio sich ähnlich verhielt. Oder vielleicht war es auch nur eine von vielen, psychischen Störungen die ihre unkonventionelle Erziehung mit sich brachte.
Egal was es war, sie wusste, sie wollte das nicht. Deshalb wohl auch der Druck ihres Ziehvaters gegen den Rücken. Stiefel, wozu würde sie Stiefel brauchen, dachte sie sich. Eine absolut unnötige Anschaffung, beschloss sie. Wenn sie sich ihre aktuellen Schuhe ansehen würde, wäre sie vermutlich nicht so leichtfertig dieser Ansicht gewesen, denn so, wie sie unterdessen abgelaufen und irgendwie auch ranzig wirkten, mochte sie sie zwar lieber, spürte aber bald jeden Stein auf dem unebenen Untergrund. Aber auch hier war es nicht so, dass es ihnen an Geld gemangelt hätte. Es war einfach nur eine Seltenheit gewesen, dass sie zum Einkaufen anderswo hin als in Palermos Innenstadt gegangen waren. Lebensmittel wurde ihnen geliefert. Kleidung auf Bestellung auch. Cerberus übernahm dank großzügigem Lohn alle Kosten, daran scheiterte es somit also nicht. Aber wenn sie zusammen in die Stadt gingen (früher selbstverständlich häufiger als später), waren es viel mehr Restaurantbesuche, Kulturevents, oder aber die reichhaltigen Wochenmärkte, die sie lockte. Es war ein viel traditionelleres Leben als das, was einen auf der Citadel regelrecht überwältigte. Klar wusste man davon...aber niemals würde man einen Vergleich haben, wenn man beides nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Und dennoch war beiden Italienern klar: Nichts konnte mit dem Strand und dem weiter, wundervollen Meer konkurrieren.
Und so wirkte es eher beklemmend, wie Sergio den Arm um seine Tochter schlang. Als zweiten Punkt für ihr Unwohlsein musste man hinzufügen, dass Sergio normal nicht nach dieser Nähe suchte. Sie beide waren nie diese Art Vater und Tochter, die ständig miteinander kuschelten, die heile Familienwelt bespielten und gemeinsame Lacher zelebrierten. Immer herrschte eine - wenn auch immer schmaler werdende - kühle Distanz zwischen beiden Parteien, die zu ihrem jeweiligen, eigenen Schutz diente. Ein ganz automatischer Mechanismus, der nicht entkräften konnte dass auf der Hand lag, dass Luceija ihren - wenn auch nicht leiblichen - Vater liebte und zu ihm auf sah. Doch Worte waren es nicht, die das bekräftigen konnten. Ein 'ich liebe dich' oder 'hab dich lieb' hörte man im Hause Vittore/Ascaiath nicht auf die Weise, die man von anderen Haushalten erwartet hätte. Es waren mehr die kleinen, von Außen unscheinbaren Dinge, die die gegenseitige Zuneigung zeigten. Das Frühstück am Morgen, das Zudecken nach einem Rausch, der Wein auf der Terrasse, unweit des Strandes oder die allgegenwärtige Zuneigung, die jeder einzelnen, genetisch veränderten, blau-violetten Rose zu Teil wurde, die in ihrem privaten Areal spross. Es steckte Symbolik hinter ihrer wirklich innigen Beziehung. Und für manches brauchte es auch einfach keine Worte.
Wahrscheinlich wusste er um ihr Denken in dieser Sache, was erklären würde, weshalb er selbst nichts dazu sagte und stattdessen fragte, ob Luceija jemanden sah. "Nein", antwortete sie knapp und sah etwas unsicher aus, so, wie sie hager neben ihrem Ziehvater her lief und vermittelte ungewollt wieder dieses kränkliche, verstörte Bild, dass ihr in der Öffentlichkeit ein Alibi für die ausbleichende Haut und die kränklichen Augenringe, - nicht zuletzt aber auch die Mittel, falls sie jemand beobachten würde - bot. "Aber irgendwas ist da."
Ohne, dass sie im Moment weiter darüber sprachen, verließen sie das zwischen dutzenden Etagen eingequetschte Parkareal und fanden sich sehr schnell und nur zwei Sicherheitsschleusen später im chaotischen Innenleben des Wards wieder, was - wie Luci in den nächsten Jahren lernen würde - kein wirkliches Chaos war, wenn man Omega betrachtete. Ohne zu warten orientierten sie sich an den durchtickernden Buchstaben einer Banderole, die den Weg nach links wies. Es wäre beinahe schon eine angenehme Atmosphäre, wenn man nicht mit sozialen Phobien umherlief. Leicht abgedunkelt stachen so die Werbeflächen nur noch mehr hervor. Überall bekam man irgendwas, die großen Marken verdrängten die ohnehin schon raren, kleinen Händler und in einem konstanten Fluss kamen den beiden Wesen entgegen - der Großteil latent gestresst.
"Hey!", unterbrach ihren Weg eine Asari, "Schön Sie hier zu sehen!" Luci verstand bis heute nicht, warum die immernoch glaubten, man würde auf den Trick reinfallen, wenn Promoter auf gut-Freund machten. "Wie wär es mit einer neuen Frisur für die Kleine?!", war es offenbar ein Friseur, der zumindest das Mädchen in den Laden treiben wollte. Dabei schreckte die Asari nicht davor zurück, demonstrativ mit den Fingern in Lucis Haaren herumzuwedeln - offenbar im Ansatz, etwas daran zu kritisieren zu finden. "Finger - weg!", raunte Luci deutlich zu der deutlich hochgewachsenen Außerirdischen. Dabei erkannte man ein leichtes Beben an ihren Nasenflügeln, die den aufkeimenden Zorn perfekt deutlich machten.
Demonstrativ versuchte Sergio inzwischen den Trott beizubehalten, während sich die Asari mit ihnen mitbewegte und zu allem Überfluss nun auch noch in Luceijas Haaren hermpfuschte. Wo er zunächst noch versucht hatte, durch stummes Ignorieren den unangemeldeten Fremdling loszuwerden, sprudelte nun doch plötzlich sein südländisches Temperament über und er bellte ihr unvermittelt entgegen "Und wie wäre es, wenn ich Ihnen Ihre Kopftentakel ein bisschen kürzen würde? Vielleicht kommt dann endlich wieder Frischluft an Ihr schimmelndes Alienhirn"
Die Asari war völlig empört, atmete zunächst tief ein, um eine gesalzene Antwort zu geben, doch entschied sie sich, um nicht mitten auf dem Boulevard eine Szene zu machen und somit dem Image ihres Ladens zu schaden, stattdessen ihr falsches Lächeln wieder aufzusetzen und das nächste Opfer einige Meter weiter anzusprechen.
"Widerliches Pack", murmelte er noch kurz in seinen Bart, wollte mit seinem Zorn vielleicht nur überspielen, dass er gerade seine Unauffälligkeit riskiert hatte, nur um Luceija in Schutz zu nehmen.
"Ich mag das hier genausowenig wie du, Luci. Wir hängen hier nur eventuelle Verfolger ab und dann nichts wie weg, also such dir schnell ein paar Schuhe aus. Irgendwelche", sprach er in leisem Tonfall zu ihr, während seiner Pupillen unauffällig seine nähere Umgebung beobachteten und nach etwas verdächtigem suchten. Für einen Augenblick glaubte er auch tatsächlich, von einer Person eine Etage höher beobachtet zu werden; eine junge, dunkelblonde Frau, die sich unbeteiligt über ein Geländer lehnte und zu den beiden hinuntersah. Doch als sich ihr Kopf nicht mit der Bewegung der beiden mitdrehte, verwarf er den Verdacht. Dennoch war ihm genauso unwohl in dieser Atmosphäre wie seiner Ziehtochter; nichteinmal so sehr, weil es eine Einkaufsmeile war - an die Dekadenz dieser Orte und die zahlreichen Aliens hatte er sich inzwischen fast schon gewöhnt. Doch Luceija so offensichtlich in seinem Arm zu halten, war eine Scharade, die er tatsächlich nur ungern spielte. Er wusste, dass seine Luci körperliche Nähe nicht unbedingt genoss - und wahrscheinlich war er sogar derjenige, von dem sie es sich abgeschaut hatte.
"Wie wär's zum Beispiel dort", schlug er deshalb recht wahllos vor, nur um schnell von diesem Ort zu entkommen, und deutete auf einen Laden, der offenbar Gebrauchtes und Restposten von so gut wie Allem verkaufte: von mit Einschusslöchern versehenen Rüstungsteilen bis zu fehlerhaften Küchenutensielien für jederlei fremdartige Nahrung - aber auch ein paar Kleidungsstücke verirrten sich dazwischen. Als die beiden näher an die Kleiderstange traten, bereute Sergio aber beinahe seinen Vorschlag. Bei ein paar der abgetragenen Anzüge fragte er sich sogar, ob vielleicht sogar jemand darin gestorben sein könnte. Um seine Tarnung trotzdem weiter aufrecht zu erhalten, mimte er weiterhin den interessierten Käufer und wühlte sich mit etwas angewidertem Blick durch die Bestände.
"Und schau vorher nach, ob keine Parasiteneier oder sowas drin sind...", warnte er Luceija daher nur halb im Scherz.
Diese resolute Art mochte sie an Sergio wohl fast an meisten. Zumindest war es einer der Eigenschaften, die sie am meisten an dem Sizilianer schätzte, weil sie solche Zustände, wie eben noch mit der Friseuralientante, ganz schnell aus der Welt geschafft wurden und er - wenn auch unbewusst - Luci damit ein Gefühl gab, dass sie selbst nicht realisierte. Es war einer von wirklich seltenen Momenten, in denen man die Zugehörigkeit regelrecht erfühlen konnte, als wäre sie zu etwas physischem geworden. Einen Bruchteil war es, als sei sie für mehr wichtig als nur die Hülle des Testsubjektes, auf die so manche Mediziner scharf waren. Zur damaligen Zeit war ihr die Tragweite dieses anderen, eigenartigen Gefühles nicht klar. Es war nur kurz, nur wie ein Funke, der in ihr unentdeckt sprießen konnte. Doch viele, viele Jahre nach diesem einen Moment würde er ihr auffallen, würde sich aus tausenden, anderen Begebenheiten herausstechen und ihr eindeutig signalisieren: Das war Liebe.
Zu jenem Moment regierte jedoch primär der Rest des Unwohlseins, der sich durch das enge Schlendern ergab. Erst als sie in die Nähe des Ladens gekommen waren, den Sergio spontan favorisierte, lies sie sich ablenken. Sie waren ganz am Ende der länglichen Passage angekommen und ließen sich, nach dem skeptischen Blick ihres Ziehvaters nach oben, von dem blendend grellen An- und Verkauf-Holo ins Innere der vollgestopften paar Quadratmeter locken. "...also such dir schnell ein paar Schuhe aus." war hier fast schon eine irrwitzige Aufforderung. Denn erstmal musste man in diesem Kleiderstangen-Labyrinth voller Mode der letzten drei Jahrhunderte Schuhe überhaupt finden. Während in den meisten Geschäften alles Style oder Typtechnisch sortiert und präsentiert wurde, wurde hier offenbar jeder Gegenstand einfach irgendwo hingestellt, ganz egal wo es war, ob auf anderen Dingen, ob unter der Decke, auf der Kleiderstange, darunter, in einem der vielen, vollgestopften Fächer eines Regales oder doch einfach im hintersten Eck auf dem Boden. Da waren Kleidungsstücke aller möglichen Ratsrassen die man kannte - ein Haufen verschiedenster Beutel, Harnischen und Striemen, die wahrscheinlich mal von einem Vorcha getragen wurden und Anzüge und Kleider aus dem letzten Mittelalter, die kein Mensch, der halbwegs bei Sinnen war, auch nur noch als Putzlappen benutzen würde. Wahrscheinlich hatte es sogar mal das ein oder andere, schöne Teil hier gegeben - vielleicht das Outfit einer Asari, dessen Proportionen auch den Menschen und zumindest als zweite Schicht einem Quarianer dienen würden. Aber all diese wurden wohl schon eine Sekunde nach dem Aufhängen wieder verkauft. Perlen suchte man hier also schlussendlich vergebens, es sei denn man hatte eine Schwäche für Mottenzerfressene Sommerhüte, turianische, lange Unterhosen oder Rüstungsteilen, die nichtmal mehr komplett aus dem Erstkontaktkrieg gekommen waren. Vermutlich sogar von einer Leiche gezerrt, so, wie Luci ihrer Ersteinschätzung nach die Einschusslöcher auf Herzhöhe bewertete und dabei mit dem Zeigefinger die tiefen Mulden abfuhr, unter denen ein Herz wohl in tausend Stücke zersprengt worden war. 'Präziser Schuss', dachte sich die Jugendliche. Bewusst hatte sie sich einige Schritt von Sergio abgesetzt, MIT dem dieses Shoppingerlebnis noch unangenehmer und schwer erträglicher gewesen wäre. Sie nahm sich etwas Zeit - dachte sich, dass es vermutlich ganz gut wäre etwaige Verfolger so auch im Glauben zu lassen, sie seien wirklich nur an einem Einkauf interessiert.
Kühl musterte die junge Frau aus den grünen Augen heraus einen großen Aktionskorb, in dem dutzende, unterschiedliche Winterhandschuhe lagen. Sie spielte Interesse vor und lies die eigenen Finger durch den Synthetik- und Baumwollstoff gleiten, fischte immer wieder eines heraus um es etwas genauer zu betrachten und stellte dabei nicht nur fest, dass jeder Handschuh nachdem sie griff nicht etwa fünffingrig war wie ihre menschliche Hand sondern fast ausschließlich alle dreifingrig waren - sondern bemerkte sie auch durch einen unweit platzierten Spiegel, dass ein Schatten sich irgendwo in absehbarer Nähe hinter sie begeben hatte. Doch als sie sich umwandte - der dreifingrige Handschuh dabei zurück in den Korb fiel - war er verschwunden.
"Sergio?", fragte sie in normaler Lautstärke und sah sich um, bekam aber nicht direkt eine Antwort. Wahrscheinlich war er noch immer in einem anderen Gang und wahrscheinlich war es so auch besser in ihrer Lage. Dennoch kam ihr irgendetwas eigenartig vor. Wie ein sechster Sinn, der ihr sagen wollte, dass etwas nicht stimmte, obwohl sie noch nicht genau fassen konnte, was es war. Nach wie vor etwas benebelt, wollte sie sich auf die Schattengestalten die sie sah nicht so recht verlassen und lenkte ihren Blick stattdessen in die gegensätzliche Richtung, wo sie etwas, durch mehrere unaufgeräumte Reihen Bekleidung hindurch, erkannte, dass sie sofort interessierte und sie beinahe anzog wie eine Motte das Licht..
Aus dieser sicheren Distanz zu Luceija beäugte er sie hin und wieder über den Rand der Regale hinweg und sah ihr beim Durchwühlen der Kleidung zu. Ohne dass er das Gefühl hätte zuordnen können, beschlich ihn ein Anflug von Melancholie. Es war das erste Mal seit langem gewesen, dass er Luceija ohne ein definitives Ziel irgendwohin mitgenommen hatte. Selbst am Tag zuvor, als sie die botanischen Gärten besuchten, hatte er in irgendeiner Weise geplant, was er ihr beibringen und zeigen, was sie lernen und verstehen sollte. Sie war in doppelter Hinsicht sein Langzeitprojekt, denn erst im Laufe der Jahre hatte er verstanden, dass man ihm nicht einfach nur ein Testsubjekt, sondern eine viel größere Verantwortung anvertraut hatte, als er eines Tages der offizielle Adoptivvater eines kleinen Mädchens wurde. Jetzt hingen die Testergebnisse nicht nur von seinen medizinischen Kenntnissen, sondern auch von seinen sozialen Eigenschaften ab. Eine biotisch begabte Kampfmaschine ohne ein Verständnis von Loyalität wäre für Cerberus genauso nutzlos gewesen wie eine hochgebildete und treue Verbündete, deren Versuchsreihe fehlgeschlagen war. Zudem war er davon überzeugt, dass sich die zwei Seiten dieser Medaille gegenseitig beeinflussten und Luceijas Biotik sich nie richtig entwickeln würde, wenn sie nicht selbst vom Sinn der Experimente für ein höheres Ziel überzeugt war. Es war im letzten Jahrzehnt nicht immer leicht für den Arzt gewesen, zwischen diesen zwei Fronten zu kämpfen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, doch der Erfolg hatte ihm bisher stets recht gegeben. Jetzt aber zweifelte seine Organisation an ihm und er zweifelte daher an sich selbst. Hatte er wirklich das beste aus Luceija herausgeholt? Hätte er fürsorglicher sein sollen? Strikter bei ihren Ausgangszeiten oder ihren dubiosen Freizeitaktivitäten? Vielleicht hätte er sie ja wirklich einfach halten sollen wie einen Hund, so wie es ein paar seiner Kollegen taten. Wo blieb denn schließlich die Objektivität der wissenschaft, wenn man alles mit Fürsorge korrumpierte? Er grübelte mit einer gewissen Wut über sich selbst, schob den Gedanken aber erst beiseite, als die grellgrünen Augen des Mädchens sich wieder zu ihm wandten und die Verwunderung über sein Starren deutlich machten. Unkommentiert drehte er sich um.
Innerhalb weniger Augenblicke hatte sich Sergios Ziehtochter bereits in die Untiefen des Ladens zurückgezogen und suchte dort nach irgendetwas Brauchbarem. Im Nachhinein betrachtet war es durchaus klug gewesen, sich ausgerechnet in diesen unaufgeräumten Stand zu begeben, denn zwischen den schwer einsehbaren Regalen voller Krempel gab es genug Grund, sich lange aufzuhalten, ohne dabei einen Verdacht zu erregen. Angesichts dieser Erkenntnis entspannten sich die Schultern des Arztes etwas und er stopfte die Hände locker in seinen obligatorischen Kittel, während er nun selbst etwas weiter abseits von Luceija ein paar Dinge durchwühlte. Im Grunde brauchte er nichts und oft genug griff er eher aus Verwirrung nach den Artikeln, beäugte sie kurz und warf sie dann in der immergleichen Weise wieder zurück auf ihren staubigen Platz. Die ausgediente Maske eines Volus-Druckanzugs erregte seine besondere Aufmerksamkeit, da er sich schon immer gefragt hatte, wie diese seltsam tollpatschigen Wesen wohl unter ihren Rüsselmasken aussahen. Hatten sie überhaupt Rüssel, oder war es nur ein Filterschlauch der Maske? Waren sie überhaupt so kugelrund wie ihre Anzüge, oder waren diese eher aus technischen Gründen so geformt und die Volus selbst waren schlanke, drahtige Wesen? Unglücklicherweise gab das Innere der Maske kaum Aufschluss darüber, da die Polsterung bereits entfernt worden war und so legte Sergio das Stück Metall etwas enttäuscht zurück. Er hoffte stattdessen, irgendwann einmal in eine Kampfsituation zu geraten, nach der er einen erschossenen Volus demaskieren oder sogar sezieren durfte.
Ein paar Minuten lang hielt sich der Italiener daraufhin mit einer Pistolengürtung auf, die er unter seinen Kittel schnürte, um zu prüfen, ob sie tatsächlich auf den ersten Blick unsichtbar blieb. Er selbst verstand nicht wirklich, warum er plötzlich das Bedürfnis hatte, seine Pistole, die er zu Hause hinter der Wandverkleidung versteckte, verdeckt mit sich zu führen, würde er damit doch im Falle einer Durchsuchung nur unnötiges Misstrauen bei der C-Sec erzeugen. Doch seit das unbekannte Skycar ihnen vermutlich hierher gefolgt war und er sich der Unterstützung seiner Organisation nicht mehr uneingeschränkt sicher sein konnte, erschien ihm ein gewaltsamer Plan B plötzlich viel sinnvoller. Skeptisch stellte sich Sergio für einen der schmierigen Spiegel, um die Unauffälligkeit des versteckten Waffengurt von vorne zu überprüfen, als sich plötzlich hinter dem Spiegelbild seiner rechten Schulter eine Frauengestalt von Sergio abwandte und dann wieder aus seinerm Blickfeld verschwand. Konfus sah Sergio kurz hinter sich, doch sah er niemanden außer Luceija, die gerade etwas abseits knieend in einer Kiste voller Schuhe wühlte. Mit einem nachdenklichen Brummen vernachlässigte Sergio daher sein Spiegelbild und ging in seinem typisch aufrechten aber gemütlichen Trott zurück in Luceijas Richtung, als sich ihm plötzlich ein Salarianer in die Quere stellte.
"Sie da", setzte er in der typisch hochfrequenten Stimme an, "Wollten Sie gerade gehen? Der Gurt unter ihrem Kittel - den müssen Sie noch bezahlen"
"Ich? Nein, ich wollte-", stammelte Sergio zunächst etwas perplex, noch bevor sich seine Wut über diese Unhöflichkeit wirklich einstellen konnte.
"Fünfundvierzig Credits", unterbrach ihn das Alien in seiner Erklärung. Bevor er darauf weiter reagierte, schaute er zunächst um sich und stellte fest, dass Luceija plötzlich nicht mehr an der Stelle kniete, wo er sie gerade noch gesehen hatte.
"Jaja, Fünfundvierzig, verstanden", knurrte er und wählte an seinem Omnitool die Transaktionssoftware an, schaute dabei aber immer wieder um sich auf der Suche nach Luceija. Nur durch eine Kleiderstange mit zahlreichen Jumpsuits unterschiedlichster Körperformen daran konnte er die Silhouetten zweier Personen erahnen, die circa zehn Meter von ihm entfernt standen.
"Willkommen in Seldoks Gebrauchtartikeln", erklang hinter Luceija plötzlich eine etwas heisere Frauenstimme. Sie entpuppte sich als die einer offenbar noch nicht lange volljährigen Menschenfrau, in deren blassen Gesicht sofort von Adern gerötete Augen und leichte Augenringe auffielen. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie in einem Flechtzopf streng nach hinten gebunden, doch von diesen Details abgesehen wirkte ihr Ausdruck freundlich - zumindest auf die Weise, die man von einer Verkäuferin erwartete. "Wir haben hier schon länger nicht mehr aufgeräumt, ich weiß, aber das hat alles System. Suchst du was bestimmtes?", fuhr sie in freundlichem, aber nicht zu aufgesetztem Tonfall fort, während sie den Kopf leicht zur Seite neigte, um zu erkennen, was Luceija gerade in den Händen hielt, nahm dabei selbst eine lockere Haltung ein, indem sie eine Hand in die Hüfte stemmte, das Körpergewicht auf Stand- und Spielbein verteilt.
"Wir haben hier schon länger nicht mehr aufgeräumt, ich weiß, aber das hat alles System. Suchst du was bestimmtes?" Gerade eben erst hatte Luci sich hinunter gekniet und eine auffällig unauffällige Kiste in Augenschein genommen, die man vorher noch vor den Augen gieriger Kundschaft unter einem kleinen Hocker - dieser ebenfalls vollgestellt mit einem kitschigen Blumenkleid und einem Satz salarianischer Ankle-Boots - verstecken wollte gewühlt und wirkte dabei tatsächlich ziemlich präzise auf der Suche. Stattdessen lenkte sie sich nur ab, belächelte beinahe sogar schon das willkürliche Sortiment und fand auf eigenartige Weise gefallen daran, dass es hier so unordentlich war und nichts an die schnöden Kenzo-Stores mit schillernden Plastikdiamanten in der Auslage und einem blankgeputzten Boden erinnerte. Irgendwie hatte Luceija nie das Gefühl gehabt dort aufgehoben zu sein oder sich wohler zu fühlen, wie es eigentlich die Absicht eines Ladens mit gehobenem Standard sein sollte. Sie mochte dieses unkontrollierbare, dieses Wirrwarr aus kleinen und großen Dingen, die Möglichkeit, darin unter zu gehen und mit der Masse an Schnickschnack im Schatten zu verschmelzen...und vielleicht war es genau deshalb so, dass sie nur zu gerne in den siffigsten Kneipen unterkam. In Clubs, die den Prunk und Ruhm schon lange vergessen hatten, die übertrieben stark befüllt oder an unausstehlichen Orten voller Gestank und Ekel regelrecht hingekotzt wurden. Dabei war es nicht mal so, dass sich Luceija selbst als siffig bezeichnet hätte. Zumindest nicht auf die Art eines Obdachlosen oder vollkommen Verwahrlosten. Sie war chaotisch, liebte den Schmerz des Chaos, gleichermaßen wie die Kontrolle über das Unkontrollierbare. Im Grunde war und blieb es aber einfach die fehlende Zugehörigkeit, die sie in den Untergrund trieb. Die...und die Tatsache, dass dort das beste Zeug an- und verkauft wurde. Drogen, wie sich verstand. Keine eigenartigen, irgendwie absolut abgelatschten und klobigen, tiefschwarzen Lederstiefel, die - so wurde ihr schnell klar, als sie eine entsprechende Vertiefung bemerkte - offenbar aus einem ehemaligen Set einer Militäruniform stammten.. .
"Hmm...", grummelte die Sizilianerin im Anschein der Nachdenklichkeit und hielt den Griff um den Schaft des einzelnen Stiefels fest. Er war schwerer als sie auf den ersten Blick geglaubt hatte. 'Schwer genug um ihn einfach nach hinten zu werfen', überlegte sie kurz, hielt es dann jedoch für eine Verschwendung der augenscheinlichen Verkäuferin ein paar derartige Goldstücke einfach so in die Fresse zu klatschen. Ueber ihre linke Schulter hinweg warf Luceija einen kurzen Blick durch das bereits jetzt schon ziemlich lange, tiefschwarze Haar wie durch einen Vorhang hindurch und machte die lockere, schmale Silhouette der jungen Frau nur für einen kurzen Moment aus. Lange genug um sich sicher zu sein, dieser Person keinen weiteren Blickes zu würdigen. Auf der Suche nach dem zweiten Stiefel also, der das Paar vervollständigen und Luceija zur glücklichen Besitzerin eines wirklich bildschönen aber uralten Schuhwerks machen sollte, entschied sich die Südländerin zu einer knappen und eindeutigen Antwort, die der Blonden wohl hoffentlich eindeutig genug sein würde.
"Nach dem Aus-Schalter für deine furchtbar penetrante Stimme.", fasste Luci sich kurz. Da war er: Stiefel Nummer Zwei! Noch weiter hinten vergraben als schon die Kiste es war, angelte sie sich Magnetsohlenstiefel Zwei, hielt ihn sich nur kurz abwägend vor die grünen Augen und stand dann, langsam aber sicher, auf. Ja. Das waren ein paar wunderbare, schön eingelatschte Treter...
Angesichts dieser forschen Reaktion verengten sich die Augen der jungen Frau für den Bruchteil einer Sekunde zu schmalen Schlitzen, doch dann setzte sie wieder ein kleines Lächeln auf, wenn auch viel weniger freundlich als zuvor. "Schon verstanden", murmelte sie als Antwort und räusperte sich anschließend, offenbar selbst etwas verunsichert über den Klang ihrer Stimme. Kurz sah sie Luceija noch zu, wie sie das getrennte Paar Stiefel wiedervereinte, bemerkte dabei jedoch schnell, dass einem der Stiefel der Schnürsenkel fehlte. Mit einer kleinen Geste des Fingers gab sie ihrer Kundin zu verstehen, dass sie einen Moment warten solle, kramte dann in einer Kunststoffschublade etwas weiter abseits, zog einen sehr langen Schnürsenkel daraus hervor und entknotete diesen noch eilig, ehe sie ihn Luceija reichte. Zuerst öffnete sie noch die blassen Lippen, um es zu kommentieren, erinnnerte sich dann jedoch an den unbeliebten Klang ihrer Stimme und ersetzte den Kommentar durch ein kurzes Schmunzeln.
"Mit Magnetsohlen und dünnen Stahlkappen", fasste sie sich kurz, während sie Luceija beim Anprobieren und Schnüren der Stiefel zusah. "Die Elektromagnete aktiviert man mit einem Schalter am Schaftende. Die Batterien sind allerdings defekt und müssen ausgetauscht werden. Sagen wir... 80 Credits?", schlug die junge Dame vor, während sie die Hände hinter dem Rücken verschränkte und auf ihren eigenen Stiefelsohlen etwas ungeduldig vor und zurück wippte.
Zehn Meter davon entfernt hatte der Ladenbesitzer gerade die Bezahlung von Sergios Kauf abgewickelt und schien angesichts der neuverdienten Credits plötzlich viel freundlicher, ließ es sich nichteinmal verbieten, den Halt des Waffengurtes erneut zu prüfen und einige Riemen nachzuziehen oder zu lockern und dazu Erklärungen zur Qualität des Produktes anzuhängen, die Sergio nur mit einem desinteressierten Nicken und Brummen quittierte. Der Italiener wurde das Gefühl nicht los, dass er hierfür einen zu hohen Preis bezahlt hatte, wenn er sich ansah, wie zuvorkommend ihn der Salarianer plötzlich behandelte, aber für eine nachträgliche Verhandlung war es jetzt sowieso zu spät. Und so ließ sich der Arzt erneut in seinen Kittel helfen, während er sich weiter nach Luceija umsah, die nun plötzlich wieder hinter der Kleiderstange verschwunden war und wohl irgendwo in der Ladenecke saß. Gerade wollte er sich abwenden, um zu ihr zu gehen, als der Salarianer sich quer vor ihn stellte.
"Vielleicht wollen sie ja auch eine günstige... Ergänzung zu dem Gurt erwerben?", fragte dieser händereibend, während er sich auffällig räusperte. Sergio wusste sehr wohl, was damit gemeint war.
"Brauchen Sie dafür nicht eine Verkaufslizenz?", brummte er nur unbeeindruckt, spielte dann aber tatsächlich mit dem Gedanken, sich für den Heimweg eine kleinkalibrige Waffe mitgeben zu lassen.
"Wer sagt, dass ich keine habe? Oder dass Sie keinen Waffenschein haben", wich der Verkäufer der Frage aus und nutzte das leichte Interesse direkt, um Sergio zu sich hinter die Ladentheke zu winken. "Ich habe da ein paar echte Schnäppchen im Angebot, die genau zu ihrem Gurt passen - folgen sie mir"
Kurz sah er noch hinter sich, um sich zu vergewissern, dass er seine Ziehtochter nicht aus den Augen verlor, doch da wurde er bereits in die Abstellkammer hinter der Theke gezerrt.
Schwer baumelten die Magnetsohlenstiefel in Lucis vollständig nutzbarer Hand - gerade so, der Schaft eingeklemmt zwischen ihren schmalen Fingern. Beinahe wäre es zu viel Gewicht gewesen, beinahe zu viel um sie länger in dieser Position zu halten, während die Halbitalienerin aufgestanden war und mit einer lässigen, filmreifen Geste das lange Haar über die Schulter warf. Eine gewisse, verfängliche Arroganz strahlte sie selbst mit ihren bescheidenen, jungen Jahren aus, wie sie die etwas Größere von unten herauf musterte und dabei kritisch ihren geräderten Auftritt musterte. Sie war sich sicher, dass die Blonde 'ganz schön kaputt' aussah und 'verdammt unausgeschlafen für eine Promoterin' wirkte, äußerte sich aber mit einem halbseitigen Schmunzeln, als der lange, etwas angekaute Schnürsenkel vor ihrer Sicht baumelte. "Bei der Tonlage hätte ich 'ne Asari erwartet.", gab sich die junge Frau besonders unnahbar und zwirbelte dann, als sie die Stiefel einfach auf den Boden fallen lies, auch nach dem angebotenen Zubehör, welches sie anschließend in eine Öse einzog.
Um die Schmuckstücke anzuprobieren - dabei bekam sie eigenartig leuchtende Augen - war nicht der geringste Aufwand nötig. Die Tatsache, dass sie wohl schon eine Weile beim Militär eingetragen wurden (ja, so rochen sie auch), hatte das Leder unterdessen schon schön weich gemacht und ihr die Möglichkeit gegeben, schon von Weitem in das Schuhwerk zu hüpfen. Bei der Schnürung entschied sich Luci für eine eher unordentliche und schnelle Variante, die darin endete, dass sie den Schuh etwas auf Knöchelhöhe zwei Mal umschlang und dann eine schlampige Doppelschlaufe knotete und festzog. So weitete sich der Schaft der Stiefel etwas und sah deutlich lockerer aus. Kein Militärs hätte die Schuhe so getragen, soviel war klar. Auch, dass sie wohl noch etwas in die neuen Treter reinwachsen musste. Aber genauso klar war, dass sie solche Teile wohl kein zweites Mal finden würde. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich schlagartig und lebenslänglich in diese Schuhe verliebt. Wie die Zukunft zeigen würde, würde diese Liebe auch noch viele, viele Jahre nicht versiegen.
"Doc?", erkundigte sie sich etwas lauter. Ein zweites Mal dann mit mehr Nachdruck. "Wir können weiter. Doc..?"
"Warte", warf sie nur kurz der Blondine zu, hob dazu in auffordernder Manier den Zeigefinger wie einem Hund und machte Anstalten, an ihr vorbei zu wollen (IN ihren neuen Schuhen) um nach Sergio zu suchen.. .
Geduldig sah die Verkaufsangestellte Luceija beim Anziehen der Stiefel zu und schüttelte dabei mit verzogener Miene den Kopf über die unorthodoxe Schnürmethode, ohne jedoch ein Wort darüber zu verlieren. Als ihre Kundin dann aufstand, um nach ihrer offensichtlichen Begleitperson zu rufen, blickte die Frau etwas verwirrt hinter sich in Richtung des Ladentresens, machte aber keine Anstalten, ihrer Kundin auszuweichen, als diese an ihr mit einer gebieterischen Geste vorübergehen wollte. Sie selbst hob ihre Handfläche stattdessen, um Luceija anzuhalten, blockierte ihr den Weg und ging vor ihr in die Hocke, um den Stiefelrand mit dem Daumen abzutasten und so den richtigen Sitz des Schuhwerks zu überprüfen.
"Noch etwas zu viel Luft - Du solltest sie besser enger schnüren oder dickere Socken tragen, sonst gibt es vielleicht Blasen", empfahl sie während dieser routinierten Tastbewegungen und erhob sich schließlich wieder, um Luceija endlich zu ihrer Begleitung durchzulassen.
"Du kannst den Preis gerne noch mit Seldok runterhandeln. Ich glaube, er ist gerade mit deinem... 'Doc' ... im Lager", merkte sie an und trat dann einen Schritt zurück, um nicht weiter im Weg zu stehen.
Derweil war Sergio mit besagtem Ladenbesitzer bereits in die Verhandlungen über eine recht schlichte Handfeuerwaffe vertieft, die allem Anschein nach noch den Erstkontaktkrieg miterlebt hatte, aber natürlich war die ID bereits weggefeilt und der Zugehörigkeitschip entfernt worden. Sergio bemühte sich, nicht weiter nachzufragen, wem diese Waffe wohl einmal gehört hatte und wie ein Salarianer daran kam: Sie war klein und handlich mit großer Durchschlagskraft, auch wenn sie auf Grund der geringen Kühlleistung nicht für längere Gefechte geeignet war, doch für Notfallzwecke schien sie dem Italiener sehr geeignet, weshalb er sich auf einen Preis von 1400 Credits einließ - eine Stange Geld, wenn man bedachte, dass man ihm gerade alle Mittel gestrichen hatte. Im Hinterkopf fragte er sich bereits, welche Entzugserscheinungen er zur Kompensation dieses Kaufs Luceija wohl zumuten konnte, als diese sich plötzlich wie gerufen in den Türrahmen stellte. Zufrieden nickte er nach kurzem Mustern über die Stiefel an ihren Füßen, die sie zwar schlampig gebunden hatte, die ihm aber zumindest stabil und brauchbar erschienen.
"Danke vielmals", beendete er den Waffenkauf und zwang sich dabei, höflich zu bleiben, was ihm bei diesem seltsamen Alien aber sichtlich schwerfiel. "Die Stiefel hier zahle ich auch", brummte er widerwillig und deutete dabei zu Luceija. Dem Salarianer hingegen schien es zunächst nicht schnell genug zu gehen, die beiden erst einmal aus dem Lager zu verscheuchen und das Licht abzuschalten. Wahrscheinlich gab es noch ein paar andere viel illegalere Dinge darin, die die beiden nicht ungefragt sehen durften, und so begann er erst vor der Lagertür wieder mit dem Verkaufsgespräch, während er die Stiefel kinnreibend beäugte.
"Was schwebt Ihnen denn vor? Machen Sie mir ein Angebot", richtete er an Luceija, die ertrotz ihres jungen Alters bereits siezte. Für ihn war es wohl schwer zu entscheiden, wie alt der junge Mensch war, weshalb er sicherheitshalber die höflichere Variante wählte.
Neutraler Miene beobachtete das Mädchen die Goldfischglas-großen Augen des Salarianers mit der allem Zwang. Auf hypnotische Art versuchte sie mit einer Menge Ausgleich den stummen Blickkontaktswettstreit zu gewinnen und antwortete erst, nachdem sie eine Weile gut überlegt hatte, was zu sagen notwendig war. Dabei sah sie nicht von dem Salarianer ab, richtete ihre Wortwahl zunächst aber, auf urigstem Sizilianisch, an Sergio. "Was meinst du? Wie weit krieg ich ihn runter? Um die Hälfte? Was hast du für die Waffe bezahlt..?", wollte sie einen Gegenvergleich haben um letztlich seinen, wahrscheinlich zu hohen, Kaufpreis wieder zu relativieren. Es war Lucis unwahrscheinlicher Vorteil, dass Aliens ihr Alter nicht einschätzen konnten und ihr somit gleichauf mit ihrem Adoptivvater in eine direkte Verhandlung treten konnte, wobei sie oftmals etwas..ZU dreist wurde. In Italien weniger drastisch war das auf der Citadel eine derartig temperamentvolle Umgangsart, mit der die meisten Außerirdischen nicht umgehen konnten. Für einen Moment blieb die Schwarzhaarige dabei sehnsüchtig an ihren Erinnerungen an ihre vermisste Heimat hängen, biss aber die Zähne zusammen und entging dem drogenverzerrten Ansatz eines Gefühlsausbruches mit Bravour. In Zukunft besuchten sie diesen Laden besser nicht mehr, entschied sie für sich.
Das blonde Mädchen sah Luceija gerade nicht mehr, was sie ein wenig verwunderte. Doch ohne feste Ahnung vom seriösen Handel schrieb sie der Tüchtigen, die eben noch ungefragt an ihren neuen Schuhen gezupft hatte, zu, wahrscheinlich Waren zu verräumen oder sonstigen Unsinn zu treiben, über den sie weder nachdenken konnte noch wollte. Es war auch schlicht egal.
Einen Moment lang hatte sich Sergio bereits darauf gefreut, seinem nicht mehr so kleinen Mädchen bei ihren Verhandlungsversuchen zuzusehen und die Show zu genießen, bis ihm selbst wieder einfiel, dass es sein Geld war, mit dem sie hier spielen würde. Umso glücklicher war er daher darüber, dass sie sich zuvor in sizilianisch an ihn wandte, um die Preisvorstellungen abzuklären. Er selbst konnte dabei nur hoffen, dass das Sprachmodul des Salarianers nicht jeden Erdendialekt übersetzen konnte - doch angesichts der Tatsache, dass manche der Alien-Module nichteinmal Englisch verstanden, sondern sich aufgrund des marginalen Status der Menschen im Rat auf Handelssprache beschränkten, hielt er es kaum für nötig, seine Stimme zu weit zu senken.
"1400 Credits. Ich habe schon einen guten Preis hierfür bezahlt. Wird Zeit, dass wir für die Stiefel einen Stammkundenrabatt kassieren"
Etwas verwirrt über die Sprache starrte der Ladenbesitzer die beiden abwartend an, doch als ihm zu viel Zeit verstrich, entschied er sich, stattdessen doch selbst ein Angebot zu machen.
"Die Schuhe sind gut in Schuss. Magnetsohlen funktionieren noch immer, Stahlkappen halten sogar einem Elcorfuß stand. Sagen wir... 200 Credits?"
Luci fiel dem Salarianer ins Wort: "50 Credits. Und kein einziges mehr." Noch immer durchbohrte sie das Alien mit bloßen Blicken und versuchte diese ebenso hartnäckig zu halten wie die Führung der Verhandlung. "Wenn du einem alten Mann schon 1400 Credits für eine schlecht kalibrierte Waffe aus der künstlichen Hüfte leierst, solltest du ein paar abgelatschte Treter eigentlich kostenlos drauflegen. Die hast du womöglich eh genauso einer Leiche von den Füßen gezogen wie die Waffe aus den Händen. Oder besser: Du hast dir den Scheiß bestellt ohne nachzufragen, woher das kam."
Ihre Tirade wirkte gewiefter, als sie eigentlich schon war. Zwar hatte man der jungen Italienerin schon ein gewisses Sprachtalent in die Wiege gelegt, sie versucht regelmäßig und stark literarisch zu bilden, aber schlussendlich war sie noch immer erst fünfzehn. Sergio hingegen war der Ansicht gewesen, dass ihr gewisse Druckmittel im Leben weiterhelfen würden und lies sie Sätze kreieren, die ihr nicht nur bei einem solchen Verkaufsgespräch zu Gute kamen sondern auch, wenn sie sie ihren Stoff auf der Straße für den ein oder anderen Credit verhökerte. Letzteres war zwar nicht Sergios Absicht gewesen - gewiss nicht - aber wenn man ein Talent erstmal förderte, war es kaum aufzuhalten.
"Ich glaube, der Allianz gefällt nicht, was du hier verkaufst. Oder..?", wandte sie sich einen Moment ab, nahm eine lockerere Haltung ein und prüfte das Sortiment, dass um sie herum an Wänden und Garderoben hing. "...schließt du deshalb bald..?"
Luceijas Verhandlungsgegner versuchte an mehreren Stellen ihren Redeschwall mit Ausflüchten und Beschönigungen zu unterbrechen, doch da wurde er bereits von einem weiteren Argument ihrerseits überrumpelt, sodass er wiederholt innehalten musste, um sich neue Begründungen zurechtzulegen. Stattdessen starrte der Ladenbesitzer das Menschenmädchen nur wie eingefroren an, regelmäßig unterbrochen von dem typisch salarianischen 'Aufwärtsblinzeln'. Etwas, das einem Naserümpfen ähnlich sah, verzerrte die fremdartigen Gesichtszüge des Händlers, ehe er leise "Frechheit" murmelte. Doch je länger er sich nach Luceijas Aufforderung in seinem eigenen Laden umsah, desto mehr lockerte sich seine abwehrende Körperhaltung und er ließ sich wieder auf die Verhandlungen ein. Er spürte wohl die subtile Drohung, die in der Forumulierung des Mädchens lag.
"Aufbereitete und herkunftsregistrierte Gebrauchtwaren gibt es im Extranet zur Genüge. Mein Laden lebt davon, dass meine Kunden nicht zu viele Fragen stellen, und ich genausowenig nach dem Zweck des Kaufes frage. Woher die Stiefel? Weiß es nicht, kamen wohl mit irgendeiner Großlieferung. Wusste nichtmal, dass ich sie im Inventar habe. Würde sie daher nicht missen. Menschen kaufen ohnehin selten hier... 50 Credits klingt fair", plapperte er stakkatoartig herunter und streckte dann als abschließende Geste seine Hand noch vorn, wie es bei Menschen offenbar zum Vertragsabschluss üblich war.
Sergio nickte zufieden und schlug, wenn auch mit etwas Ekel, in die dreigliedrige Hand ein, wischte seine Handfläche dann an der Hose ab und tätigte mit einigen Fingergesten auf seinem Omnitool die Transaktion. Dabei schielte er immer wieder grinsend zu Luceija hinüber. Jemanden auf ein Viertel des Verhandlungspreises zu drücken - das war die stolze Frucht seiner Erziehung.
"Wo haben Sie die überhaupt gefunden?", fragte der Salarianer anschließend, als er wusste, dass diese inkompetente Frage seinen Verhandlungspreis nicht mehr drücken konnte.
"Ich nehme Schuhwerk üblicherweise direkt aus dem Sortiment - zu viele verschiedene Größen und Speziestypen"
Lucis leichtes Lächeln betonte ihre Lippen wie ein Kunstwerk. Es wurde komplett, etwas besonders, einzigartiges und schönes durch diese winzige, aber feuerentfachende, tödliche Essenz Temperament und Boshaftigkeit, die irgendwo irgendwie in der jungen Frau steckten und sie zwielichtiger wirken lies, als sie sich selbst vorkam. Ihr linkes Auge kniff sich etwas weiter zusammen als das Rechte und beobachtete den Salarianer auf seine Frage hin scharf und genau - dabei lies sie Revue passieren, wo genau sie die Schuhe gefunden hatte und hatte die kleine Nische, kaum zehn Schritte entfernt von ihr und übersäht von einer kleinen Lawine an Wollmäusen, die die Filteranlage nicht erwischt hatte, exakt vor Augen. "Dort hinten.", nickte sie in die Nähe des Fundortes. "Bei der Blonden." Dabei sah sie, beim Blick auf den Händler, aus den Augenwinkeln etwas, dass sie irritierte - und es war nicht das Fehlen eben jener Blondine. Es war ein gefälliges, zufriedenes und nur all zu seltenes, halbseitiges Grinsen auf den Lippen ihres Ziehvaters, auf dessen Entdecken hin sie unwillkürlich den Kopf senkte, dabei ein paar ihrer langen Strähnen über das Ohr in ihr Gesicht fielen und sie alle wieder versuchte mit dem Zeigefinger einzufangen.
Es war durchaus eine gute Portion Stolz den auch Luceija in diesem Moment empfand, aber so in dieser Form auch niemals geäußert hätte. Nur ein paar Sekunden hielt dieses 'Tänzchen' an, sonst beinahe unsichtbar für Außenstehende aber präsent genug, um dem Salarianer ein lachhaftes Schnauben zu entlocken. "Was gibts da so dumm zu grinsen?", warf Luci ein und erwachte aus ihrer Peinlichkeitsstarre innerhalb von wenigen Millisekunden als wäre sie ein Kampfroboter der Gefahr gewittert hatte. Dabei war 'grinsen' bei einem Alien schon fast zu weit hergeholt. Ob dieser überhaupt verstand? "Hab ich irgendwas lustiges gesagt?!", stellte sie die rhetorische Frage, wobei sie damit eigenartig zu dem Glubschäugigen nach oben starrte.
"Keineswegs", antwortete das Alien, das in der Tat offenbar wenig von Humor verstand. Und noch weniger von den Emotionsregungen der Menschen, weshalb die Blicke der beiden Kunden ihn im Grunde nur weiter verwirrten.
"Ich bin nur irritiert. Habe hier keine weiteren Kunden gesehen. Aber lassen Sie sich dadurch nicht weiter aufhalten. Danke für ihre Geschäfstreue", beendete die Amphibie ihre Interaktion floskelhaft. Sergio nickte nur noch zu diesen Worten und drehte sich dann sofort um, die Hand auf Luceijas Rücken aufgelegt, um ihr anzudeuten, dass es Zeit war zu gehen.
Vor dem Laden angelangt steckte er schließlich wieder seine Hände in die Kitteltaschen und beäugte kurz das neue Schuhwerk an Luceijas Füßen mit einer Mischung aus Skepsis und Zufriedenheit. Er selbst hatte seine neue Waffe bereits unter dem weiten Apothekermantel geholstert. Noch fühlte sie sich ungewohnt an, doch sie schien seine Paranoia etwas zu besänftigen.
"Die Kaulquappe hast du ganz schön vernichtet", brummte er mit einem dezenten Schmunzeln auf den Lippen. "Und jetzt hast du wenigstens Schuhe, denen der Dreck der tieferen Wards nicht so viel anhaben kann", spöttelte er etwas über ihren derzeitigen Umgang mit der Unterschicht der Citadel, doch andererseits schien es ihn auch nicht so sehr zu stören, wie es für einen Vater üblich gewesen wäre. Auf dem Weg zurück zu ihrem Shuttle war Sergio in einem seltsamen Zustand zwsichen dem guten Gefühl, mit seiner Ziehtochter Zeit zu verbringen, und der noch immer nicht ganz verflogenen Angst, verfolgt zu werden. Doch so sehr er sich auch umsah, niemand in dieser Einkaufsmeile schien ihm ernsthaft verdächtig. Und es beruhigte ihn daher zumindest, dass sein Verfolgungswahn offenbar kein Symptom von Chemikalien war, die er zum Selbstversuch zu sich genommen hatte, sondern er tatsächlich einen begründeten Verdacht gehabt haben musste. Vielleicht hatte er die Verfolger mit diesem vorgetäuschten Einkaufsumweg ja tatsächlich abgehängt.
"Vielleicht sollten wir wirklich ersteinmal zurück zum Apartment. Unter Medikamenteneinfluss will ich mich mit dir ungern zu einer unbekannten Adresse schleichen. Wir sollten uns zu Hause lieber das weitere Vorgehen überlegen", beschloss er, während er die Scheibe des Skycars öffnete.
"Wieso Zeit verlieren?!", knurrte die Halbitalienerin mit einer Ungeduld, die sie kaum besser in Worte fassen konnte. "Wir können direkt los - du bist bewaffnet und ich - du weisst das - bin mit dem Stoff besser konditioniert als ohne. Willst du das lieber mit Entzugssymptomen durchziehen?", wollte sie wissen. Immer wieder wenn es sich ergab, bei ihrem schlendernden Gang durch die Einkaufsmeile, sah sie nach unten zu ihren Schuhen und schmunzelte zufriedengestellt. Vielleicht, so überlegte sie, wäre es sinnvoll gewesen, Sergio hätte ihr ebenfalls eine Waffe gekauft - man wusste ja nie, wie diese Sache noch weiter verlaufen würde. "Du solltest mir übrigens auch eine geben.", plapperte sie dann viel zu schnell heraus und missachtete einmal wieder die Tatsache, dass ihr Arm noch ziemlich nutzlos einfach so da hing. Gerade unter Sizilianern war es wichtig, dass man sich verteidigte. Nicht, dass sie Palermo als ein furchtbar kriminelles Pflaster betiteln würde, aber man sollte sich jeder Zeit bewusst sein, dass "Temperament" nicht nur in positiver Art auftauchen konnte.
Einen Moment lang verharrte Sergio still an Ort und Stelle, um Luceija skeptisch zu beäugen. Dann nickte er schließlich und stieg in das Vehikel. Dennoch schien er nicht wirklich überzeugt davon zu sein, dass es eine gute Idee war, das erst kürzlich behandelte Mädchen mit sich zu einem potentiell gefährlichen Agenten zu nehmen. Doch insgeheim hatte sie recht: Je länger die beiden warteten, desto höher waren die Chancen, dass man sie bereits erwartete. Die Glaskanzel schloss sich über den beiden und bereits kurz darauf nahm das Skycar den Flug in Richtung Bachjret-Ward auf - mit dem Umweg über den Ring der Citadel waren das mindestens zwanzig Minuten Flug.
"Du solltest mir übrigens auch eine geben.", hörte er dann seine Begleiterin große Töne spucken und drehte daher nur mit angezogenen Brauen langsam den Kopf zu ihr, um sie ungläubig anzusehen.
"Ja, sicher. Vielleicht sobald du ohne zu schwanken gehen, deine Arme heben und wieder scharf sehen kannst", spöttelte er kopfschüttelnd und sah dann wieder aus der Frontscheibe vor sich.
"Außerdem könnte es deiner Tarnung abträglich sein, wenn das angheblich herz- und nervenkranke Mädchen eine Kampfpistole im Holster trägt. Lass uns das ganze erstmal subtil angehen. Wir werden die Waffe wahrscheinlich sowieso nicht brauchen... Fühlt sich nur einfach sicherer an, vorbereitet zu sein"
Inzwischen rasten die höheren Wolkenkratzer unter den beiden ungeachtet vorbei, als sich das Gefährt in die sich kreuzenden, leuchtenden Bänder aus anderen Shuttles einreihte. In der Ferne war der Präsidiumsring bereits als Silhouette sichtbar, wobei der Witwe-Stern unangenehm von der Seite blendete. Sergio selbst war derweil offenbar in die Projektionen seines Omnitools vertieft, als er versuchte, über den unbekannten Besteller der Medikamente mehr in Erfahrung zu bringen, doch wie man an den regelmäßig rot aufblinkenden Warnfeldern erkennen konnte, führten alle seine Bemühungen in eine Sicherheitsblockade.
"Also entweder, der Kerl ist tatsächlich einer von uns und man deckt ihm von der Zellenleitung aus den Rücken... Oder wir fliegen gerade zum Apartment eines Toten", brummte er nachdenklich, während er sich das inzwischen etwas stoppelige, graue Kinn rieb.
"Sein Apartment ist in den obersten zwei Stockwerken einer der Wolkenkratzer im Bachjret-Ward. Wir könnten entweder über die Rezeption reingehen und hoffen, dass er nichts mitbekommt, oder illegal auf dem Dach landen und dann hoffen, dass die C-Sec nicht in der Nähe patroulliert. In beiden Fällen müssen wir also schnell rein und wieder raus", fasste er zusammen und trommelte dabei mit drei Fingern ungeduldig auf dem Armaturenbrett, während das Skycar gerade durch einen Tunnel in den Präsidiumsring einflog. Die angespannte Stimmung im Shuttle milderte sich leicht beim Anblick des Parks, doch Sergio ließ sich von der Aussicht nur kurz ablenken, drehte seinen Kopf stattdessem wieder mit leicht besorgtem Blick zu Luceija.
"Bist du sicher, dass du dafür jetzt schon bereit bist?", fragte er sie mit etwas nervösem Tonfall und wusste dabei doch längst, was die Antwort sein würde.
Um es sich in dem engen Gefährt und unter Betrachtung des noch einige Zeit andauernden Fluges in den Bachjret-Ward gemütlicher zu machen, stemmte Luceija ganz unkonventionell die Füße gegen das Armaturenbrett und stieß somit umweglos durch das helle, orangefarbene Interface der Bediensteuerung, die - besonders auf Autopilot - aber so lange funktionslos blieb, bis man sich dazu entschied sie zu entsperren. Während ihr Adoptivvater damit beschäftigt gewesen war, Informationen über die potenzielle Gefahrenquelle innerhalb ihrer eigenen Reihen einzuholen, war die Tochter dabei sich mit gelangweilten Fingerbewegungen ihrer uneingeschränkt funktionstüchtigen Hand durch den Inhalt einer Website auf einem Holopad zu scrollen, die ganz und gar keine Informationen zum aktuellen Problem beinhalteten, sondern viel eher eine Liste der anstehenden Partys in abgefuckten und überlaufenen Clubs auf ihrem Heimatward. Sie interessierte sich wenig bis garnicht für die high society-Szeneclubs und das auch, wenn es abgesehen vom aktuellen Defizit nicht an den nötigen Credits gescheitert wäre, sich dort unter die Leute zu mischen. Die 'Assis' waren ihr meist einfach lieber. Da hatte es mehr Stil sich mit einem geklauten Treibstoffdepot-Sixpack und ein paar ehemaligen Schachtratten neben den Abzugsfilterausgang der illegalen Red-Sand-Küche in der vierten Ebene zu setzen. Andererseits hatte sie sich aber auch klar von diesem Personenkreis abgehoben, wann immer die Gelegenheit sich für die junge Frau bot. Vermutlich war sie selbst unsicher darüber, wo sie sich am heimischsten fühlen sollte, jetzt, wo man ihr die eigentliche Heimat aus den Händen gerissen hatte.
Spätestens als Sergio sie direkt angesprochen hatte, blickte die Halbitalienerin kurz über das Holopad hinweg auf und fing seinen Blick ein, der wiederum nur erneute Skepsis einfing. Ob sie für etwas bereit war oder nicht, hörte sie ansonsten nie von ihm. Grund genug, den Doc nochmals eindringlicher zu begutachten und dabei klar zu signalisieren, dass DAS wirklich komisch für sie war. Vielleicht käme er selbst schnell genug auf den Trichter und würde sie einfach dort hin fahren, ihr endlich eine Waffe in die schlaffe Hand drücken und sie dann auch mal in ernsthafter Weise abdrücken lassen, anstatt immer nur damit zu drohen. "Jaah..", schob sie nochmals eindrücklicher nach und hob sichtlich irritiert eine Augenbraue. Er würde jetzt hoffentlich nicht auch noch sentimental werden - so bat sie im Inneren. "Sterb ich bald oder so?"
Zuerst behielt er noch den Blick der Besorgnis bei, doch als er sah, wie überrascht, ja beinahe empört Luceija über seine Nachfrage war, hob er bereits die Hände in einer beschwichtigenden, abwehrenden Geste und seine Mimik erklärte seine eigene Frage für überflüssig. Manchmal vergaß er, dass er dieses Mädchen fast ihr ganzes Leben lang auf die rauen Seiten ihrer Umwelt vorbereitet hatte. Er fühlte sich zwischen all den Injektionen und Bestrahlungen, die er an ihr vornahm, beinahe wie ein Künstler. Und wenn er bei den regelmäßigen Gewebeanalysen dann die sehr langsame, aber stetige Veränderung hin zu einem Nervensystem beobachtete, das die E-Zero-Moleküle in immer mehr Axone integrierte; das zunehmend mutierte, jedoch auf kontrollierte Weise und ohne auch nur eine einzige dauerhaft lebensfähige Krebszelle zu bilden - dann wandelte sich sein Wesen zu dem eines Bildhauers, der sich mit Luceija das beste Stück Marmor gebrochen hatte und das es nun nur noch zu formen galt. So sehr ihn diese Selbstanschauung aber motivierte, so sehr hielt sie ihn auch oft von wichtigen Entscheidungen ab. Wo sollte er seinen Meißel besser nicht ansetzen, um die Risse im Stein nicht zu weiten? Wann würde er vom Mineral zu viele Splitter abschlagen und es verunstalten? Wieviel Schlagkraft und Spannung ertrug das Kernmaterial tatsächlich, wenn er die Oberfläche zu vehement formte? So sehr er sein Lebenswerk beherrschte, so sehr beherrschte es wiederum sein Leben. Und so schmunzelte er gleichermaßen mit Stolz und mit Skepsis, als sein Zögling seine übertriebene Obhut abwies.
"Wir gehen also über das Dach rein", brummte er dann amüsiert.
"Die zweite Pistole ist unter deinem Sitz - glaubst du wirklich, ich würde ohne Waffe das Haus verlassen? Hat allerdings ein kleineres Kaliber und durchschlägt keine Rüstungen" Während dieser Worte bückte er sich bereits über Luceijas Schoß, um an die Waffe zu gelangen und hob sie dann demonstrativ vor sie, den Lauf selbstverständlich abgewandt.
"Abzug, Sicherungshebel, Kühlaggregat, Kimme, Korn. Zwei Hände an der Waffe, Korn scharf sehen, Ziel scharf sehen und abdrücken. Das Zielsystem macht ohnehin die halbe Arbeit für dich", fasste er knapp die Bestandteile und Bedienung der kleinkalibrigen Pistole zusammen, während er mit dem Zeigefinger darauf herumdeutete und die Verwendung demonstrierte.
"Aber irgendetwas sagt mir, dass du das alles schon wusstest", grinste er sie so gar nicht vorwurfsvoll, sondern eher stolz an, bevor er den Griff der Waffe in ihre Hand drückte.
Wenig später geriet der Bachjret-Ward und anschließend der besagte Wolkenkratzer ins Blickfeld des Skycars, sodass Sergio den Autopiloten deaktivierte und mit einigen Tastenbetätigungen das Dach des Gebäudes manuell ansteuerte. Das Vehikel setzte butterweich auf, die Motoren wurden leiser und tieffrequenter, bis sich die Kanzel mit einem Zischen öffnete und die beiden entließ. Kurz prüfte er, ob seine Pistole auch unsichtbar genug verborgen war, dann zupfte er sich selbstbewusst das Kittelrevers zurecht und marschierte zügig auf den Dacheingang zu - das Cerberus-Entschlüsselungsprogramm auf seinem Omnitool erledigte den Rest. Locker und relativ gemütlich schritt er mit Luceija die Gänge des Gebäudes entlang. Sie waren teuer eingerichtet und mit Gemälden und exotischen Pflanzen dekoriert, dabei aber doch in ihrem grellen Weiß der durchgehenden Deckenbeleuchtung sehr schlicht gehalten. Ein Keeper versperrte auf halber Strecke den Flur mit seinem breiten, vierbeinigen Stand, als er gerade ein Wandpanel abnahm, um an die Schaltkreise dahinter zu gelangen. Sergio ignorierte ihn, obschon er sich immernoch nicht so recht an diese Arachnoiden gewöhnt hatte, und zog an ihm vorbei. Zum Glück interessierte diese Wesen ein Eindringling so wenig wie alles andere, das zumindest deren Arbeitsablauf nicht unterbrach.
Dann standen beide schließlich vor der Apartmenttür, die sich Sergio notiert hatte - Nummer 19/12. An dieser Tür war kein Hacking nötig. Wie erwartet reagierte das Türschloss sofort auf den zwanzigstelligen Code, den diese Cerberus-Zelle einheitlich verwendete. Der Bewohner war also tatsächlich in der selben Zelle organisiert wie Luceija und Sergio. Von dieser Erkenntnis beunruhigt blickte er Luceija neben sich stumm an, deutete dann mit einer seitlichen Kopfbewegung in die noch dunkle Wohnung, die dann automatisch ihre Beleuchtung aufdimmte.
"Kein Geschmack, der Kerl", brummte Sergio mürrisch, als sich die Tür hinter ihm wieder schloss und er die Waffe aus dem Holster unter seinem Kittel zog. Das Mobiliar war eine seltsame Mischung aus knallbunten Designermöbeln in abstrusen Formen und aus extrem schlichten und funktionalen Wohnelementen aus fremdartigen Hölzern und Kunststoffen. Es wirkte wie eine ganz normale Wohnung für zwei Personen. Doch gerade deshalb wirkte sie verdächtig - welche Wohnung war schon tatsächlich durchschnittlich?
"Wartungsdienst! Jemand zu Hause?", rief er nur um sicherzugehen in die Wohnung, doch wie erwartet folgte keine Antwort. Der Italiener behielt die Waffe trotzdem in den Händen. Eine Geste der Hand deutete an, dass sie sich aufteilen sollten, um die Wohnung schnell nach etwas Brauchbarem zu durchsuchen - optimalerweise nach etwas Belastendem, das das Konkurrenzprojekt schlecht dastehen lassen würde.
"Nur ein paar Minuten - wenn jemand kommt, werden wir ihn erschießen müssen, oder er schießt zuerst. Und auf den Papierkram mit der Zellenleitung habe ich wirklich keine Lust"
Die Schwarzhaarige Adoptivtochter versah den Sizilianer nicht noch einmal mit einem bissigen Kommentar. Sie blieb ruhig und setzte stattdessen ein sich langsam entwickelndes und dabei immer herzlicher werdendes Lächeln auf, dass so kristallklar aus ihrem dumpfen Drogenzustand herausstach, dass man klar erkennen konnte, dass es sich bei diesem liebevollen Ausdruck um eine absolute Seltenheit handelte. Leider, so würde man meinen, besah sie Sergio mit ungenügender Aufmerksamkeit und stieg stattdessen aus dem Gefährt aus, womit ihm der sensible Moment entging.
Statt sich jedoch dieser Tatsache bewusst zu sein, betrachtete sie mit dem selben, herzerfüllenden Lächeln die zu große Waffe in ihrer Hand und drehte sie begutachtend zu allen Seiten. Selbstverständlich wusste sie, wie sie das Schusswerkzeug zu verwenden hatte und er ging richtig in der Annahme wenn er glaubte, dass sie nicht das erste Mal geschossen hatte. Aber bisher war das alles nicht mit einer Ernsthaftigkeit verbunden. Einmal diente eine geliehene Waffe nur dazu, einen kleinen Laden um die Ecke um ein Sixpack Importbier und eine Stange Zigaretten zu erleichtern. Ein andernmal hielt sie die Waffe einem Alien ins Gesicht und drohte, ihn zu erschießen. Alles also nicht, um irgendwelchen, ernsthaften Straftaten zu begehen, sondern nur zum Spaß. Und alles ging auch so schnell, dass sie die Situationen beinahe vergessen hätte.
Sie dachte auch nicht mehr lange darüber nach, wie und wann sie eine Waffe in der Hand gehalten hatte, sondern folgte in einem Schlendergang ihrem Vater, mit dem sie sich Zugang zum Gebäude verschafften und schließlich einem Gang folgten, die zu beiden Seiten mit Apartments besetzt waren.
Der Bachjret-Ward war ein komischer Ort - Luci war nicht besonders oft hier, aber die Apartmentgebäude wurden immer experimenteller, je öfter sie hier her kam. Dieses Mal war es ein Gang, der zunehmend an einen Bürokorridor erinnerte. Man erkannte genau, wo links und rechts das eine Apartment begann und wieder endete, aber auch nur daran, dass die bodentiefe Fensterfassade bei einigen Apartments einen Einblick ins Innere zuließen.
Die Italienerin verstand nicht genau, was die exzentrischen Idioten in diesem Viertel dazu trieb, sich so exhibitionistisch nieder zu lassen - hatte doch jeder von ihnen genug Geld, damit es sich lohnen würde hier mehrere Male einzubrechen.. . Aber schätzungsweise war die Präsentation dessen, was man besaß genau das, was sie hier bezweckten. Der Keeper, den sie passierten und auf den Luceija mit ausgestrecktem Arm beim Vorbeigehen testweise zielte, bevor sie gelangweilt den Waffenarm wieder senkte, interessierte sich für den Prunk wohl garnicht. Er reparierte, wie diese Viecher es immer taten. Sergios Kommentare aber konnte sie nur allzu gut nachvollziehen und vermutete, selbst den selben Spruch gebracht zu haben. Eines aber wunderte sie am meisten, als sie in die leicht aufdimmende Wohnung schritten: "Ziemlich...öffentlicher Ort für das, was wir sonst machen."
Allem voran, als sie hereinschritt, war das eigenartige Gefühl der Fremde präsent, dass die junge Frau überkam wie ein Schleier einer nicht diagnostizierten Depression. Man wurde sich bewusst, dass man noch immer auf der Citadel war, das erkannte man an jeder Bausubstanz, an der ganzen, verbauten Technik, an der Einrichtung, die nicht nur modern, sondern hochmodern war, an dem kühlen, distanzierten Charme einer Raumstation. Etwas, dass sie schätzte, wenn sie in dieser Emotionslage verharren wollte. Aber auch etwas, dass sie hasste, wenn sie in einer anderen verweilen wollte. Als sei der Raumgigant ein anonymes Schlupfloch in eine andere Dimension. Eine Bleibe, wenn man weder in der Gosse wie auf Omega, noch in der heimatlichen Normalität der Ursprungswelt verweilen wollte oder konnte. Sie wurde aus diesem Gefühlschaos nicht schlau - wurde sogar regelrecht genervt davon, jedes Mal, wenn sie sich selbst damit konfrontierte.
Vielleicht veranlasste sie genau dieses trübe, eingezwängte Gefühl dazu, nicht sofort die Schreibtische und Schränke nach Hinweisen zu durchsuchen, sondern an die Fensterfront zu treten, die einen Blick hinaus in die Weite des Alls und der vor ihr präsentierten Wards lieferte, wo sie ihre Waffe, gesichert, hinten in den Hosenbund klemmte und sich dann mit beiden Armen auf das Geländer lehnte, dass vor jenem Panoramabereich auf Hüfthöhe angesetzt wurde. "Wann können wir wieder unsere Sachen packen und von der Citadel runter? Nach Hause? Die Station kotzt mich jeden Tag mehr an." Womit sie klar und deutlich nicht ihr gemeinsames Apartment auf der Citadel meinte, sondern ihre tatsächliche Heimat Sizilien. Dessen terrane Häuserfassaden mit den Säulen, dem Relief und gelegentlichem Stuck, mit altertümlichen, eisenschmiedernen, kleinen Balkonen an aufgeplatztem Putz der kleinen Wohnanlagen. Dem rustikalen Charme, der sprühenden Leichtigkeit überall, unterstützt von der brennenden Sonne und einem unendlich klaren, rauschenden Wasser.
"Schau dir die scheiße an", fuhr sie fort und damit das erste Mal um, um auf die umliegende Dekoration zu deuten, die eindeutig eher zu einem ausgeflippten Künstlerpärchen gepasst hätte. "die beschissenen Bilder, die Möbel -..niemand der auch nur halbwegs Geschmack hat, stellt sich SO nen unnötigen Kram in die Wohnung." Letztlich spielte sie unter anderem auf eine Figur an, die aus einem sehr schlank drapierten Drahtgestell zusammengebastelt wurde. An allen möglichen Stellen wurde sie mit quietschpinken Puscheln und anderem, gleichfarbigen Stoff verziert, sodass sie an eine überaus groteske Darstellung eines auf der Erde lebenden Flamingos erinnerte, die sie mit nur einem Zeigefinger hochheben konnte und dann angewidert fallen lies. "Es ist so furchtbar scheiße hier und jeden Tag wirds unerträglicher."
Sergio hatte mit dem Öffnen der ersten auffälligen Schubladen in einem großen Schreibtisch bereits begonnen, fand darin auch tatsächlich einige Medikamentenflaschen, deren Etiketten er jedoch nach einigen kurzen Blicken ungeachtet wieder zurückstellte. Außer frei verkäuflichen Schmerzmitteln und standardmäßigen Antidepressiva war hier nichts zu entdecken. Doch kaum war er richtig in die Routine der Durchsuchung gekommen, da mussten seine Hände in der Bewegung einfrieren, als er die melancholischen Gedanken seiner Ziehtochter hörte. Zunächst war er geneigt, das Thema mit ein paar beiläufigen Worten abzuschütteln, saß den beiden doch der Zeitdruck im Nacken sowie das unangenehme Gefühl, unerlaubt in einer fremden Umgebung zu sein, so unwahrscheinlich es vielleicht doch sein mochte, dass in den nächsten Minuten jemand hereinkommen würde. Als er jedoch Luceija im Augenwinkel so am Fenster stehen sah, folgte er seinem väterlichen Instinkt und stellte sich zu ihr, berührte sie nicht, sondern stützte nur die Daumen in die Hüfte und blickte mit ihr auf die Tristesse der geschäftigen Raumstation.
"Ich wäre auch lieber wieder auf Sizilien. Ein angenehmeres Klima. Besseres Essen... Und vor allem nur eine einzige zweibeinige Spezies. Ich kann dir das Heimweh nicht verübeln. Aber du musst an das größere Bild denken. Wir beide sind für größeres bestimmt. Und bisher liefen unsere Versuche doch hervorragend. Immer bessere Ergebnisse, vor allem im letzten Jahr. Wenn die Verlaufskurve so weiter steigt, dann sind wir in spätestens zwei Jahren mit den Versuchen fertig. Vielleicht sogar in einem Jahr. Dann brauchen wir die Maschinen hier nicht mehr und die Zellenleitung auch nicht. Und vielleicht können wir dann ja wieder zurück nach Sizilien."
Er schluckte leicht nach den letzten Worten, presste seine Lippen aufeinander und entfernte sich wieder von Luceija, um dann das Holopad auf dem Schreibtisch zu durchsuchen. Da es nicht passwortgeschützt war, vermutete er keinerlei brauchbare Informationen, doch lenkten ihn die rhythmischen Wischbewegungen durch die Textblöcke von dem unangenehmen Gesprächsthema ab.
"Also, je früher wir diese Sache hier geklärt haben, desto früher geht es wieder nach Hause. Vielleicht siehst du dich da hinten mal nach Räumen um, die weniger repräsentativ wirken. Ein Archiv vielleicht oder ein Medikamentenvorrat"
Mangelnde, alternative Möglichkeiten brachten die Halbitalienerin schließlich nach mehreren Sekunden dazu, den Blick von der äußerst vorteilhaft präsentierten Citadel und ihren Wards abzuwenden. Der Glanz, der vom nahen Witwe-Stern auf einen der Wolkenkratzer traf, blendete sie kurz und trieb sie nur noch eher von der Szenerie ab - so als wolle die Raumstation selbst sie von ihrem Anblick vertreiben. "Ist gut."
Vieler Worte war sie nicht länger mächtig, als sie sich zunehmends in einen Gedankengang hineinstürzte, der sie sehr weit weg von der Citadel wegtrieb und wieder mehr hin an einen immer wiederkehrenden Sandstrand, der einfach nicht aus ihren Erinnerungen zu kratzen war. Genauso wenig wie die dekorative Altstadt der palermischen Gemeinde, knorrige, in sich verdrehte Olivenbäume, die die beste Vorlage waren daran hochzuklettern und aus Langweile Sprüche in ihre Rinde zu schnitzen.. . Während ihrer stummen und in sich gekehrten Suche, zupfte Luceija die Handfeuerwaffe aus der Rückseite ihres Hosenbundes und legte sie auf die Kommode, die der Hausherr auf der massionetteartigen Erhöhung gelagert hatte. Auch hier, in diesem Zwischenstock, hatten sie eine Fassade mit zahlreichen Kunstwerken drapiert, wovon viele Luceija bekannt waren. "Das ist ein Suliére, richtig?", sinnierte sie vor sich hin, so als wäre ihr Vater in greifbarer Nähe. "Ziemlich teures Bild. Und mal ausnahmsweise was wirklich Gutes, nicht ständig diese simplen Quadrate auf weißem Grund die die Spinner "Kunst" nennen..", spuckte sie aus und klang ihrem Alter kaum angemessen. Doch ihre Defizite im Sozialen Bereich wusste Vittore wunderbar mit - für andere Kinder sinnlosem - Wissen von Kunst und Musik aufzufüllen, was beinahe schon ein wenig peinlich war, weil sie mittlerweile mehr Gemälde von Italienischen Malern und mehr Lektüren kannte, als Sergio selbst. Nicht an alle konnte sie sich erinnern..aber der Sizilianer und nicht zuletzt Cerberus hatten dafür gesorgt, dass ihr die wirklich wichtigen nicht aus dem Kopf gingen. Natürlich hatte die Organisation ihre eigenen Mittel und Wege, dafür Sorge zu tragen...
Sie bedachte das Kunstwerk mit eindringlichem Blick, nagte sich dabei auf den Daumennagel ihrer rechten Hand und lies sich nur viel zu spät davon ablenken, dass es gefühlte zwei Schritte weiter rechts ein kurzer Gang ja noch weiter nach hinten führte. "Ich schätze ich hab das Bad gefunden.", sagte sie lauter um Sergio teilhaben zu lassen und folgte dem Gang. Am Ende dessen begrüßte sie ein kleiner Wandschrank, in dem ein paar Bücher, ein Bügeleisen und eine kleine Kiste mit unauffälligen Nähutensilien stand. Zu ihrer Rechten hingegen war das Badezimmer, dass sie bereits vermutet hatte und recht Prunkvoll über dem Rest der Wohnung zu thronen schien - hier mit einem noch besseren Blick auf die Raumstation. Zu ihrer Linken aber...war eine weitere Türe, die nicht bereits zur Seite eingezogen war, sondern mit einem roten Panel die eher dunkle Ecke ausleuchtete.
"Doc?", rief sie und bemerkte erst jetzt, dass sie die Waffe nicht wieder zu sich genommen hatte. Also lief sie das Stück zurück um sie sich zu greifen und wandte sich noch einmal an ihren Adoptivvater. "Doc - hier hinten ist ne verschlossene Tür, ich brauch deine App."
Die Datensätze des Holopads rauschten weiter an Sergios Augen vorüber, als er versuchte, irgendeine brauchbare Information daraus zu ziehen, doch natürlich war der Besitzer der Wohnung nicht dumm genug gewesen, sensible Informationen auf einem Pad abzuspeichern, das mitten im offenen Wohnzimmer lag. Dennoch kopierte der Doktor noch einige der Cache-Dateien auf sein Omnitool, in der Hoffnung, daraus später einige Spuren extrahieren zu können. Während der Ladebalken sich noch füllte, legte er das Holopad exakt zurück an seine alte Position und in den alten Lagewinkel, ehe er die Treppe zur balkonartigen Erhöhung hinaufstieg, wo sich Luceija gerade mit einem der sündhaft teuren Wandgemälde beschäftigte. Sergio betrachtete es nur kurz, doch der kurze Blick genügte ihm, um es in einen kunsthistorischen Kontext einzuordnen und seiner Tochter zufrieden zuzustimmen - es war tatsächlich der besagte Künstler. Und auch ihre Abneigung gegenüber den veralteten geometrischen Experimenten früherer Künstler konnte er nur nickend bestätigen, während er den Rahmen des besagten Bildes abtastete und dahinterspähte, ob sich hier ein Geheimfach verbarg.
"Nur dass die 'Spinner', wie du sie nennst, bei den Asari inzwischen eine kleine Renaissance feiern. Der Kubismus des 21. Jahrhunderts scheint das genauso dekadente ach-so-kultivierte Volk der Oberflächlichkeit besonders anzusprechen... Ich sage dir, Luci, lass dich bloß niemals auf diese schuppigen Tentakelköpfe ein. Ein Volk, das für alle anderen Völker attraktiv wirkt, aber bei deren Paarung nur Asari zur Welt kommen? Glaub mir, die sind noch viel bedrohlicher als Kroganer und Batarianer zusammen.", sinnierte er murmelnd zusammen, bevor er die Suche nach einem geheimen Fach aufgab und sich stattdessen das Bad näher betrachtete.
Er betrachtete sich hier vor allem die Kleinigkeiten des Alltags genauer. Zwei Zahnbürsten, zwei halb geleerte Zahnpastatuben, Frauenhygieneprodukte... Aber kein Make-Up. Zudem nur Duschgel, aber kein Shampoo in der Dusche. Und ein knittriges, scheinbar beiläufig aufgehängtes Handtuch neben der Dusche, an dessen Rückseite jedoch noch ein Preischip befestigt war. Auf den zweiten Blick war es eindeutig, dass hier kein erfolgreiches Business-Ehepaar seine Zweitwohnung hatte, wie sie es offenbar vermitteln wollten. Wahrscheinlich hatte man diese Wohnung sogar nie wirklich als Wohnung benutzt - und wenn, dann nur um zum Schein einige vermeintliche Freunde für eine Stunde in das versnobte Wohnzimmer einzuladen. Entsprechend überraschte es Sergio nicht wirklich, als aus dem angrenzenden Flur Luceija zu ihm hinüberrief und ihn auf einen versperrten Raum aufmerksam machte. Er hätte sein letztes Hemd darauf verwettet, dass hier das wahre Geheimnis dieser Alibi-Räumlichkeiten versteckt gehalten wurde und entsprechend wechselte er nur schweigsame, aber bedeutsame Blicke mit Luceija, während er routiniert zuerst den bekannten Cerberus-Zahlencode eingab. Zu seiner Überraschung funktionierte dieser hier nicht, obwohl er für den Wohnungseingang noch funktioniert hatte. Wollte der Besitzer hier etwa etwas vor der Zelle geheimhalten? Mit skeptisch verengten Brauen ließ der Doktor sein Entschlüsselungsprogramm laufen, dessen Algorithmus er mehrfach modifizieren musste, um endlich eine brauchbare Methode zu finden. Nach etwa einer Minute öffnete sich die Tür und offenbarte einen weiß beleuchteten Raum, der schon auf den ersten Blick für die beiden als Labor erkennbar war.
Tatsächlich ähnelte es ihrem Labor zu Hause stark, doch wenn man es sich näher betrachtete, zeigten sich immer mehr beunruhigende Details, die es klar von dem der beiden Eindringlinge abgrenzten. Die Wände waren mit Schalldämmmatten beklebt auch ein Fenster suchte man vergeblich. Sergio entdeckte bei seinem ersten vorsichtigen Rundgang zunächst eine Überwachungskamera hinter einigen Plastikgefäßen auf einem Regalbrett und speiste mit wenigen Betätigungen seines Omnitools eine vorbereitete Software in die Kamera ein, sodass diese die ereignislosen Minuten vor dem Eindringen der beiden endlos in Schleife abspielte und damit deren Anwesenheit vertuschte. Erst jetzt betrachtete sich der Mann im weißen Kittel die Objekte im Labor genauer. Der robotische Schwenkarm des Operationstisches war, wie Sergios, mit Injektionsnadeln für die Wirbelsäule des Subjekts ausgestattet, doch waren diese wesentlich zahleicher mit jeweils sechs radial angeordneten Nadeln für jeden Wirbelknorpel - viel zu viele für eine halbwegs schmerzfreie Behandlung. Auch der Medikamentenvorrat in den gläsernen Kühlschränken war beunruhigend umfangreich. Bei einem solchen Repertoire schätzte Sergio, dass man hier mindestens die dreifache Dosis seiner Medikamente verabreichte - ganz zu schweigen von den zahlreichen kaum getesteten Stoffen, von denen er selbst nur namentlich gehört hatte; meist in Kontexten, die von einer Verwendung abrieten. Besonders verwirrend schien ihm jedoch eine Gerätschaft, die bedeutungsschwer im Zentrum einer sonst leeren Metalltischplatte platziert war: Eine Art Kragen, so schlussfolgerte er aus der Form, aus Titanstahl gefertigt und mit vier davon abstehenden Bügeln, die wohl auf den Schulterblättern und unterhalb der Schlüsselbeinknochen aufliegen sollten. Gesteuert von unkontrollierbarer Neugier legte sich Sergios Finger zögerlich auf die Bedienarmatur am vorderen Rand, woraufhin das Sichtfenster eines kleinen, eingelassenen Flüssigkeitstanks mit einer undefinierbaren, dunkellila Substanz darin aufleuchtete. Skeptischen Blickes beugte sich der Italiener nach vorne, um das Ding näher zu betrachten, als er plötzlich mit einem Schrecken vor aus den Bügeln herausschießenden, feinen Nadeln zurückschreckte. Mit einer Mischung aus Anwiderung und Verwirrung schaltete er das Gerät wieder aus. Er brauchte einige Sekunden, um sich aus seinen Überlegungen zu dem Gerät zu befreien und sich wieder auf das Wesentlichste zu konzentrieren.
"Archive", brummte Sergio, zunächst zu sich selbst, um sein weiteres Vorgehen zu planen, dann an Luceija gerichtet: "Such nach irgendwelchen Aufzeichnungen. Keine Zeit, sie jetzt anzusehen, kopier einfach alles, was wie ein Videolog oder ein brauchbarer Datensatz aussieht und dann nichts wie raus hier... Ich glaube, den Besitzer will ich gar nicht mehr persönlich treffen", spulte er eilig seinen Plan ab und machte sich inzwischen selbst daran, parallel Daten aus den Computern zu kopieren und Fotos vom Laboratorium zu machen. Dabei fiel sein Blick auf einen Notizzettel neben dem Computermonitor, auf den jemand mit schlichter, schwarzer Tinte "Subject Zero Resultat-Daten anfragen" gekritzelt hatte. Der Name löste in seiner Erinnerung nichts aus, doch ergänzte er den Suchfilter im dieses Schlüsselwort, um somit keine Datei zu übersehen, die damit in Verbindung stand.
Viel mehr hätte man sich unter diesem stetig verschlossenen, mysteriös in der letzten Ecke liegenden Raum gar nicht vorstellen können. Luceija hatte bereits die Vermutung gehabt, dass es das sein würde, wonach sie letztlich gesucht hatten - der Rest war zugegebenermaßen aber auch viel zu künstlich, viel zu wenig belebt und wirkte auf seine hochmoderne, 'verpackte' Art einfach nicht echt. Bei den Hinweisen, die die beiden bereits gesammelt hatten, musste sich der Fehler irgendwo versteckt haben. Dieser hier lag dabei dann schon fast offensichtlich hinter der einzigen, verriegelten Türe im gesamten Komplex. Eingepfercht in der hintersten Ecke eines Ganges, der so bereits an einen begehbaren Kleiderschrank erinnern wollte.
Luci hatte Sergio über die Schulter gesehen, als er das Bad inspiziert hatte. Hatte nach ihm die Zahnbürsten und das Handtuch gesehen, konnte aber keine Feuchtigkeit gespeichert in dem Frottee bemerken, sodass eindeutig war, dass die letzte Dusche lange her war. Spaßeshalber stellte sich Luci in die nicht-aktivierte Duschkabine um - wie ein lächerlicher Ermittler - einen nicht-vorhandenen Mord besser nachvollziehen zu können, wenn man sich in der Opfer hinein versetzte. Aber so blödsinnig der Ansatz auch war, desto interessanter fand es Luceija, dass sie - kaum, dass sie den schwarzen Schopf gen Decke richtete und dabei auch bei einer geschlossenen Duschkabine wunderbar darüber hinweg hätte sehen können - ein Loch zwischen den Deckenfliesen erkannte. Es passte nicht zusammen: Da war eine Wohnung, die so sauber war, dass sie direkt aus der Fabrik hätte geschnitten sein können, so unangetastet und porentief rein. Warum sollte dann gerade diese eine Deckenfliese nicht schon längst ausgetauscht worden sein? Wer würde, so ordnungsliebend und offensichtlich wohlhabend wie diese Hausherren es waren, diesen Fehler so belassen? Luci hatte bereits angesetzt davon zu berichten, da war Sergio schon wieder nach draußen geschritten und öffnete nun den anderen Raum mithilfe eines seiner Tools. Nur wenige Augenblicke später glitt schon mit einem Druckgeräusch die Türe zur Seite hin auf, sodass der Schwarzhaarigen kaum eine andere Wahl blieb, als dem Älteren zu folgen.
Die junge Frau hatte den Raum einige Moment auf sich wirken lassen. Bei Sergios Vorankündigung, dass es sich um eine Konkurrenz handeln müsse, die eben so wie sie beide an Experimenten arbeiten, war ihr schon bewusst, dass sie auf einen ähnlichen Ort hätte treffen müssen. Vielleicht nicht gerade hier, aber zumindest irgendwo - gegebenenfalls in einem anderen, gemieteten Gebäude. Doch er lag wirklich schon vor ihnen, war sogar recht einfach zu knacken und jetzt hatten sowohl sie als auch Sergio jede Freiheit sich in diesem Raum zu bewegen und alle Details zu untersuchen, die sie interessierte. Würde man auch so schnell in ihre Wohnung eindringen können? Testergebnisse stehlen und Medikamente manipulieren können?
Die verstärkten Wände jedenfalls, gegen die sie mit einem Finger nun testweise trommelte, verrieten, dass sie eigentlich nicht gefunden werden wollten. Jetzt merkte sie auch, was ihr so unangenehm aufgestoßen war, als sie ins Innere gelaufen war: Der Raum schluckte unheimlich viele Geräusche, sodass sie, wenn auch Sergio neben ihr die Luft angehalten hätte, nur das eigene Rauschen in ihren Ohren gehört hätte. Schall hatte hier kaum eine Chance. Noch ein Faktor, der ihr unnatürlich vorkam. Anders als bei ihnen zu Hause.
Im nächsten Moment hatte sich Sergio bereits der metallernen Liege zugewandt und interessiert irgendeinen Bügel begutachtet, dessen Zweck nicht zu schwer zu erraten war. Auch wenn sich Luceija ernsthaft fragte, warum man so etwas brauchen sollte. Sie selbst hatte das noch nie genutzt und hätte auch nicht gewusst, was man über so eine Gerätschaft injizieren müsste. Nichts desto trotz setzte sich die Italienerin ihrem Adoptivvater gegenüber auf einen kleinen Hocker, verschränkte die Arme auf dem Metall und sah ihm bei der zweifelnden Betrachtung der Gerätschaft zu.
"Kommt dir das nicht komisch vor, dass es hier aussieht wie in 'nem Extranet-Fetischfilm?" Fragend hob sie die schwarze Augenbraue und lies das hervorstechende Grün den Älteren taxieren. Wäre man nicht Luceija, hätte man diese Frage schon garnicht gestellt. Denn egal ob da eine metallene Halskrause lag die automatisch dutzende Nadeln mit Medikamenten injizieren konnte oder nicht, sah es bis auf ein paar Details - die für Luceija einen Riiiiesenunterschied machten - nämlich in ihrem "Labor" schon ziemlich ähnlich aus. Auf Sizilien, in ihrem kleinen, urtypischen, idyllisch ruhigen Strandhäuschen mit den veralteten Maschinen, war es natürlich schon anders, wahrscheinlich verfälschten die Erinnerungen an das ältere Labor, dass stellenweise auch im Rest des Hauses verteilt war, auch Luceijas Wahrnehmung enorm... . Aber die Ähnlichkeit ihrer Citadelpraxis mit diesem Raum war für einen Außenstehenden schon prägend. Umso irrwitziger war es, dass sie den Unterschied scheinbar sah. Ihn sogar eher als Fetisch-Zelle bezeichnete als tatsächliches Behandlungszimmer. Wohl oder übel trübte auch ihre Sinne, dass das 'Labor' auf der Citadel und auch auf Sizilien nicht nur ein 'Labor' waren...sondern eben auch ihr Zimmer.
Fetisch-Filme hatte sie manchmal im Extranet angesehen - mit eigenen Technikaccessoires auch kein Problem - zumindest nicht wenn man zu leichtsinnig war und nicht bedacht hatte, dass Sergio auf allem was sie besaß eine Weiterleitung integriert hatte und er dann eines Abend geglaubt hatte, sein Terminal sei gehackt worden als die äußerst freizügigen Filmchen über die holographischen Oberflächen waberten. Die Diskussion, die Sergio empfohlen wurde irgendwann einmal mit seiner Ziehtochter zu führen, wurde dann ein gutes Stück zu früh fällig. Und die damit verbundenen Diskussionen sizilianisch laut.
"Dafür spricht einiges. Das hier.", sie deutete auf den Kragen, "Der Lärmschutz. Die 'unauffälligen' Kameras über der Dusche.. . Ganz ehrlich Doc? Die können wohl kaum die selben Experimente machen wie wir. Ich glaub nicht mal dran, dass die von Cerberus sind - dann würde ich dieses Zeug doch als erste kennen."
Es war ruhig. Die Stacheln des Kragens schlugen heraus und ließen Sergio kurz zurückzucken. "...richtig?"
Sie hatte keine Antwort zu erwarten, sah stattdessen gegen seinen Rücken und dabei zu, wie er aufstand..
Dass er ihr nicht antwortete irritierte das sizilianische Mädchen.
Der Doktor konnte sich ein leises, spöttisches Lachen nicht verkneifen, als Luceija das Labor mit einem Pornofilmset verglich, doch ein wenig beunruhigte ihn dabei auch, als er sich etwas umsah, wie sehr sie die offensichtlichen Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen heimischen Labor ausblendete. Für moralische Bedenken über die eindeutig verzerrten Wahrnehmung seines Zöglings fehlte jetzt jedoch die Zeit, und so glitt er zum nächsten Terminal neben Luceija hinüber, um auch diesen nach brauchbaren Informationen zu durchsuchen. Die zweite Frage des Mädchen ignorierte er zunächst, reagierte erst darauf, als sie noch ein weiteres Mal nachhakte. Ihr Ziehvater blickte sie nicht an, als er endlich reagierte, scrollte stattdessen durch die Datenbanken auf der Holoprojektion.
"Ist nicht so einfach, dir die ganze Wissenschaft hinter unseren Versuchen zu erklären, Luci", murmelte er zunächst, vergewisserte sich dann mit einem kurzen Blick zur Seite, ob sie dieses Argument zufriedenstellend fand. "Die Forscher bei Cerberus haben nunmal...", er gestikulierte auffällig und nach Worten ringend, "sehr unterschiedliche Forschungsauffassungen. Meine Herangehensweisen haben bei uns die wenigsten verstanden, also überrascht es mich im Nachhinein betrachtet kaum, dass eine andere Zelle ein paar eher... ergebnisorientiertere Methoden anwendet. Sozusagen als Kontrollgruppe, verstehst du? So wie meine Rosenbüsche auf Sizilien, bei denen ich eine Reihe auf saureren Böden gepflanzt habe als die andere, um zu sehen, welche Rosen prächtiger blühen. Dieser Typ hier macht sicher auch nur seine Arbeit... Nur eben schlampiger. Unsere Arbeit ist eindeutig die bessere. Wir helfen der Zelle hiermit nur, das schneller herauszufinden."
Eine Weile lang fixierte er Luceija noch, um ihre Reaktion zu beobachten, bis er sich offenbar in Rückschau des Gesprächs an ein Detail zurückerinnerte.
"Warte, sagtest du eben Kamera über der Dusche?", stieß er etwas nervös aus, ehe er den Computer mit noch eiligeren Tastendrücken durchsuchte. Tatsächlich fand er kurz darauf eine Software, die über zahlreiche Kameras die gesamte Wohnung überwachte - und dazu zählte nicht nur diejenige, die er hier im Labor unschädlich gemacht hatte, sondern - das verriet ihm ein schnelles Durchwechseln durch zahlreiche Live-Aufnahmen - mindestens ein Dutzend weitere.
"Dieser kleine...", leitete er schon ein, als ihm plötzlich der Atem stockte. Der Anblick des Monitors ließ ihn zurückschrecken, als er darauf zwei Gestalten sah, die einen Flur entlang auf die Eingangstür der Wohnung zugingen. Die Aufnahmezeit in der Ecke des Bildschirms machte dabei unmissverständlich klar, dass sich die Besitzer der Wohnung gerade in dieser Sekunde auf dem Weg dorthin befanden und schon fast an der Tür angelangt waren.
"Fuck!", stieß er nur aus und beeilte sich, die offensichtlichtsen Dateien vom Rechner auf sein Omnitool zu kopieren und die letzten Minuten der Videoaufnahmen mit einer weiteren Endlosschleife zu überspielen. "Sie kommen nach Hause - versteck dich irgendwo! Besenschrank, Bett, igrendwo!", keifte er in einer seltsamen Mischung aus Schrei- und Flüsterton. Etwa eine halbe Minute später konnte er das Terminal wieder abschalten und die Tür hinter sich schließen, bevor er sich selbst auf die Suche nach einem provirsorischen Versteck machte. In seiner Aufregung erinnerte er sich erst nach einigem Herumirren an den Putzschrank direkt neben der Eingangstür, zu der er Luceija nun kommentarlos am Handgelenk zerrte. Gerade so passten Sergios breitere Schultern in die schmale Nische, sodass zwischen ihn und Luceija bei dichtem Körperkontakt nichteinmal ein Blatt Papier passte. Direkt darauf schloss sich die Paneeltür; noch in derselben Sekunde, in der sich die Wohnungstür öffnete.
"Ich kann ja aber wohl davon ausgehen, dass du irgendeine Spur hast?", erklang eine kratzige, alte Männerstimme dumpf durch die Schranktür. Sie war ein wenig höher als gewöhnlich, aber dennoch kräftig und selbstbewusst. Die Schritte von zwei Personen bewegten sich am Schrank vorbei. Es folgte das Geräusch der zugleitenden Wohnungstür und das Rascheln abgelegter Jacken und Schuhe.
"Ja, Doktor. Sicher. Ich konnte die beiden nach dem Besuch im Laden zwar nicht weiter verfolgen, aber ich konnte einem der beiden einen Peilsender unterjubeln", fasste eine etwas leisere Frauenstimme zusammen, die unter den Atemgeräuschen der beiden im stickigen Wandschrank kaum zu vernehmen war. Sergio erkannte sofort, von wem die Rede sein musste und blickte im fahlen Licht, das durch die Ritzen der Tür drang, fassungslos in Luceijas Richtung, als wäre sie es gewesen, die es ihm verschweigen hatte, doch war ihr Blick wohl mindestens ebenso von Verwirrung gezeichnet.
"Mh - unbefriedigend", entgegnete die Männerstimme in grimmigem Tonfall nach einer bedächtigen Pause. Offenbar war er mit diesem Ausgang nicht sonderlich zufrieden, versuchte jedoch das beste darin zu sehen. "Wahrscheinlich die billigen Mikrosender aus dem Illiumpaket neulich, hm? Wir werden Glück haben, wenn wir sie damit auf drei Kilometer anpeilen können - wenn nicht weniger. Es könnte also Tage dauern, bis wir ein Signal auffangen"
"Tut mir leid, Doktor. Ich wusste ni-"
"Aach, komm mir nicht damit, das bringt mich auch nicht weiter. Aber keine Sorge. Mit etwas Überzeugungsarbeit beim Alten streichen sie deren Projekt ohnehin soweit zusammen, bis sie ihren Citadel-Standort aufgeben müssen"
Wieder trafen sich Sergios und Luceijas Blicke mit Entsetzen über das Gesagte, doch natürlich mussten beide ihr südländisches Temperament weiterhin im Zaum halten.
"Gut... Sehr beruhigend", kommentierte die leisere Stimme knapp und blieb dabei sachlich und wenig erfreut. "Es wäre ohnehin schwer genug, den beiden unentdeckt wieder zu begegnen. Sie könnten mich vielleicht wiedererkennen"
"Wiedererkennen?", entgegnete der Mann mit einer plötzlich viel leiseren und tieferen Stimme, die ganz offensichtlich nur die Ruhe vor dem Sturm war. "Willst du damit sagen, dass sie dein Gesicht gesehen haben, du lausige Anfängerin?!"
"Nein, ich... meine, Ja. Aber sie haben mich doch nicht verdächtigt, also werden sie sich sicher nichts eingeprägt haben."
"So eine Scheiße! Was für ein Amateur bist du eigentlich?!", schrie der Mann wie wild durch die Wohnung, dass es in alle Richtungen wiederhallte. Das Scheppern eines umstürzenden Möbelstücks ertönte, dann, kurz darauf, das unverkennbare, kurz ausgestoßene Aufstöhnen nach einem Schlag, als die Frau eine Faust traf und sie mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel.
"Los, komm mit ins Labor", forderte der Mann sie nach einer kurzen Beruhigungsphase auf, die jedoch abrupt endete, als die Frau scheinbar nicht unmittelbar reagierte.
"Ich sagte steh auf! Ins Labor, wird's bald!"
"Nein, Dok. Ulysses, bitte. Nicht, wenn du so drauf bist. Können wir nicht eine Stunde-"
"Jetzt!", schrie er, dass es Sergio durch Mark und Bein fuhr. Dann hörte er, wie der Mann sie mit einem weiteren dumpfen Ächzen erneut schlug, sie dann offenbar an Armen oder Beinen über den Boden in den hinteren Teil der Wohnung schleifte. Rhythmisch erklangen metallische Schläge auf den Metallstufen, als er ihren Körper die Wendeltreppe hinaufzerrte und ihre Fersen schlaff gegen jede neue Stufe schlugen. Erst jetzt traute sich Sergio zu reagieren und stieß flüsternd erneut ein leises aber langgezogenes "Fuck" aus, ehe er sofort, aber wie in Zeitlupe, den Schrank wieder öffnete und möglichst lautlos mit Luceija heraus und dann aus der Wohnung trat. Er hielt sich dicht bei der Wand, um nicht in den Winkel der neuentdeckten Überwachungskamera zu treten, die in die andere Richtung des Flurs zeigte. Erst einige Schritte gangabwärts bei dem altbekannten Keeper nahm er sich die Zeit stehenzubleiben und sich völlig entnervt die Haare zu raufen.
"Was bei den neun Kreisen der Hölle war das denn?"
"Oh nein! Iulisses! Tu mir das nicht an!", schauspielerte Luceija schlecht nach und kam nicht umhin schadenfroh zu lachen. "Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass die komische Blonde nicht ganz normal ist."
Eigentlich hatte sie gar nicht so viel an ihr bemerkt. Verkäuferinnen waren für Luceija schon immer, genauso wie alle anderen Personen in irgendwelchen Servicebranchen, insbesondere auf der Citadel, quasi Roboter. Sie übte sich in stolzer, überheblicher Missachtung, was ihr den sozialen Aspekt wiederum ersparte, der ihr schon immer nicht besonders leicht fiel. Sie beobachtete die Personen lieber. Gerade auf der Citadel. Auf Sizilien hatte sie zwar auch ihre Mühe, aber alles hatte einen ganz anderen Charme gehabt. Man ging sich offensiver an, man kommunizierte mehr mit Gesten und Mimik und vor allem verstanden sie die ursizilianischen Worte auch ohne irgendwelche Übersetzungstools die eine noch kühlere Atmosphäre schafften. Grundsätzlich hätte sie also eine perfekte Ausgangslage gehabt, die unbekannte Blondine zu taxieren und sich gegebenenfalls irgendwelche Auffälligkeiten zu merken. Stattdessen aber hatte sie bei ganz besonders dieser jungen Frau alles weitere ignoriert, weil sie zu sehr von der Idee der Magnetsohlenstiefel angetan war, die sofort einen gewissen Reiz in der Italienerin ausgelöst hatten. Vor ihrem Adoptivvater wollte sie das aber kaum zugeben.
Auch jetzt waren sie wieder ganz präsent in ihren Gedanken und damit auch die Situation im Laden, während sie die neuen Treter begutachtete. Dieses Mal brummte sie bei ihrer Observation allerdings leise, setzte sich dann hinter dem Keeper auf den Boden und riss sich möglichst zügig die neuen Stiefel von den Füßen. Bei jedem einzelnen fuhr sie langsam die Außenseite und später auch die Innenseite ab, fand aber zunächst nichts genaueres. Das Leder war noch etwas steif, aber beklebt von Schmutz, der offenbar nicht nur von einem Planeten stammen konnte. Auch, wenn sie ein paar Mal getragen wurden, waren sie nicht ganz so demoliert, wie man hätte erwarten können. Die Innenseite hatte eine Lederstiefel-typische, weiche Beschichtung, die sie angenehm zu tragen machte. Erst weiter unten spürte sie unter ihren Fingern, dass das Material fester und griffiger wurde und konnte genau die verstärkten Stellen ertasten, die hin zu der Magneteinlage führten und wohl ein paar Kabel beherbergten. Den geschützten Kabeln folgend fiel es dem Mädchen bald wie Schuppen von den Augen: Der Regler. Magnetsohlen. Eine fehlende Batterie! Die vermeintliche Verkäuferin, die sich ohnehin nur als weitere Laborratte entpuppte, war wirklich so dumm gewesen, sie auch noch darauf hinzuweisen.. .
Schnell glitten die schmalen Finger an eine Klappe an der Sohle, die sie mit einem längeren Fingernagel erreichen konnte und sie bei dem Versuch des öffnens kurzerhand für die 'gute Sache' opferte. Eine winzige Klappe, die vom Schmutz einmal eingekrustet war, aber an der offenbar schon herumgewerkelt wurde, öffnete sich sprunghaft und gab frei, wonach Luceija gesucht hatte: Einen kleinen, rötlich blinkenden Sender.
"Dieses verdammte Miststück..", knurrte sie in sizilianischer Sprache, drehte den Stiefel um und klopfte die Rückseite an ihrer Hand aus, sodass nach nur einem Versuch der Sender hilflos in ihre Hand rutschte und ihr Schuhwerk damit ungefährlich machte. "Keine Ahnung wie die das so schnell hier rein bekommen hat oder ob die geahnt hat, dass ich genau nach denen greife..", grummelte sie unzufrieden mit sich selbst in ihren nicht-vorhandenen Bart und tat das selbe mit dem anderen, rechten, Stiefel um auch hier einen Sender zu finden, bevor sie die Treter wieder 'zusammenbaute'.
Gerade hielt sie die beiden Sender nach oben zu Sergio und war drauf und dran, sie ihm zu übergeben, da kam ihr eine bessere Idee, wobei sie forschend um die Ecke des Ganges blickte und sich sicherheitshalber informierte, ob doch jemand auf dem Weg hier her war.
Ohne weiter darauf zu warten, positionierte sich Luci überaus vorsichtig HINTER dem arbeitenden, wegversperrenden Keeper und war wirklich unfassbar achtsam damit, die einzige Lasche an diesem winzigen, irgendwie schon niedlichen Mini-Rucksack auf dessen Rücken zu öffnen um die Sender einfach nur hineinfallen zu lassen, ehe sie sich versuchte mit ihrem Ziehvater aus dem Staub zu machen. Damit musste sie wirklich aufpassen. Sie hatte schon mal versucht einem dieser Drecksinsekten zu Nahe zu kommen und sicherte sich dabei einen weiteren Besuch bei den Idioten der C-Sicherheit. Offenbar, so lernte sie an diesem Tag, standen die Keeper unter ganz besonderem Schutz und durften weder bei ihrer Arbeit gestört, noch anderweitig behindert werden. Wie sie später online herausfand, würden die Biester sich nach kurzer Zeit selbst zersetzen, wenn man sie in irgendeiner Weise verschleppen, untersuchen, wegzerren oder anderes wollen würde - wahrscheinlich wohl im Wissen darüber, dass diese Kenntnis solche kleinkriminellen Kids eher anstacheln als davon abhalten würde, sagte die C-Sec deshalb wohl nichts dazu. Schade. Ihr Plan, damit den Keeper nahe ihres Wohnhauses als Zwischensnack an Aliens zu verkaufen, scheiterte damit.
"Nichts wie weg hier..."
Sergio rümpfte die Nase bei ihrer sarkastischen Imitation des Erlebten. Er teilte Luceijas Spott gegenüber den beiden Fremden nicht, auch wenn er ihnen natürlich ebenso feindlich gesinnt war. Doch für ihn lag nichts Unterhaltsames darin, wie unprofessionell andere Ärzte der Zelle offenbar mit ihren Testsubjekten umgingen. Aber er ließ Luceija gewähren - er kannte ihre zynische Art nur zu gut und hatte dazu vielleicht selbst auch ein Stück zu viel beigetragen.
Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie ihre Kleidung nach Sendern absuchte und schließlich in der Batterieklappe der Stiefel fündig wurde. Für einen Moment war er in seinem südländischen Temperament geneigt, wütend zu reagieren auf Luceijas Unachtsamkeit, doch dann wurde ihm klar, dass er selbst sie in diesem Laden nicht gut genug beaufsichtigt hatte und er seinem Gefühl, verfolgt zu werden, mehr hätte trauen sollen.
"Was für ein gewieftes Biest", brummte er nur aus der verbleibenden Frustration heraus in seine vorgehaltene Hand. Als er dann sah, wie sie nach dem Rucksack des Keepers griff, wollte er beinahe schon eingreifen und sie aufhalten, denn würde dieser sich belästigt fühlen, wäre die C-Sec nicht weit gewesen. Doch in dem Moment, in dem der Peilsender unter die Lasche rutschte, schmunzelte er gehässig und auch ein wenig stolz auf seinen Zögling. Ein bewegliches Objekt war tatsächlich der beste Weg, den Sender loszuwerden - und dazu noch, da es sich im Idealfall in Gebiete begab, in denen die Verfolger riskieren würden, in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten. Nachdem er diesen Triumph kurz ausgekostet hatte, stimmte er Luceijas Aufbruchsstimmung übereifrig zu und schnippte zum Ansporn mit der rechten Hand zum Abmarsch.
"Ja, pronto - Nichts wie raus"
Erst, als sich das Shuttle wieder eine gute Minute im automatischen Flug befand und sich in die endlosen Verkehrsschlangen eingereiht hatte, atmete Sergio endlich auf. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, wie viel er hierbei riskiert hatte. Nicht nur, dass seine Konkurrenten mit Sicherheit mit Waffengewalt reagiert hätten, bevor sie die erste Frage stellten, sondern auch die Videoaufnahmen hätten für Sergio eventuell einen Sabotagevorwurf der Zelle bedeuten können - ein Schicksal, das er sich für sich selbst und vor allem für Luceija kaum ausmalen wollte. Und so konnte er, auch wenn es vorbei war, keine Konversation mehr führen, reagierte auf keine Ansprache und kaute stattdessen nur nervös auf seinen Fingernägeln, bis das Shuttle endlich wieder in der Nähe ihres Blocks landete. Erst die frische Luft machte Sergio wieder gesprächiger.
"Also gut. Was haben wir? Einen zweiten Forscher in meinem Alter mit einer Testperson, nicht viel älter als du, so würde ich schätzen. Ich habe ihre Testberichte und Videologs und ich habe Namen... Die Frage ist also: Wie überzeugen wir den Alten, dass die beiden schlechtere Ergebnisse liefern als wir?"
Im Unterton schwang etwas mit, von dem sich der Doktor selbst nicht sicher war, was es bedeuten sollte. Einerseits war er sich sicher, dass er für sich selbst, Luceija und die Organisation das beste tat, wenn er seine Konkurrenten ausschaltete. Doch was, wenn sie tatsächlich bessere Ergebnisse lieferten? Wäre es für seine Vereinigung, für seine Familie, wie er sie oft nannte, nicht das beste gewesen, zurückzutreten und sein Projekt aufzugeben? Man hätte ihm Luceija wohl weggenommen und sie für andere Projekte eingesetzt, das war sicher, doch er konnte nicht so egoistisch sein, in diesem Fall weiter Gelder für seine Sentimentalität zu verpulvern. Er ertappte sich dabei, wie er in Betracht zog, im Ernstfall die Ergebnisse zu fälschen, doch er verdrängte den Gedanken. Unmöglich konnte das andere Projekt seines übertreffen. Das vermeintliche Dilemma - seine Luci behalten oder seine Ideale verfolgen - war überhaupt keines. Er musste schlicht besser sein. Zähneknirschend und gedanklich kaum in der Gegenwart öffnete seine Hand mit der Chipkarte die Eingangstür zur eigenen Wohnung. Ob in seinem Schrank gerade auch jemand lauerte, witzelte sein zynischer Verstand innerlich mit ihm...
Kaum, dass ihr Ziehvater die Türe ihres Apartments geöffnet hatte, lies sich die Halbitalienerin kaum nehmen einfach an ihm vorbei zu rauschen. Sie schritt zielstrebig durch den Eingangsbereich in das Wohnzimmer, in welchem Zentral und sich schräg gegenüber zwei eckige Sofas standen und nichts weiter als einen kleinen Couchtisch einrahmten und passierte auch sie, ohne weiter über das Mobiliar zu staunen. Luceija bog direkt in den Raum ein, der eigentlich und zum größenteils das Labor war, zu einem kleinen Teil ihr eigener, alles andere als privater Rückzugsort. Die Türe, die sich dabei in die Wand zurückschob, beließ sie sogar offen und kümmerte sich auch gar nicht erst um eine intime Umgebung, als sie nach und nach ein Kleidungsstück auszog und penibel nach weiteren, ungeliebten Instrumenten untersuchte und direkt im Anschluss jedes Teil wieder anzog.
Ihr gefiel das Gefühl nicht, potenziell beobachtet worden zu sein. Kritisch beäugte sie dabei ihre Stiefel, als wolle sie ihnen stumm mitteilen, was sie es denn wagen konnten sie in eventuelle Schwierigkeiten zu bringen. Von sich aus gaben sie keine Antwort und diese Stille überzeugte sie davon, dass solche wundervolle Stücke mit Sicherheit nicht Schuld daran sein konnten ihr Leben zu erschweren. Nein. Es war dieses Blondchen, dass sie in ihrem Blick störte. Und die Stimme einer Person, die sie niemals sah, zu dem sie aber ganz genau ein Gesicht in ihrer Fantasie konstruieren konnte. Sie sah diesen Ulysses als älteren Mann, deutlich älter als Sergio es war, mit lichtem weißem Haar und einer kleinen, neumodischen Brille, die seine Augen noch ein wenig wahnsinniger werden ließen. Wahrscheinlich ein absoluter Trugschluss.
Luceija hatte sich einen Moment in ihren Gedanken verloren, als ihr aufgefallen war, dass ihr der Name des Forschers noch vertrauter war, als sie ursprünglich geglaubt hatte. Ihre schnellen Schritte hatten Sie schnell hier herein gebracht, als wären ihre Füsse schneller als ihr Denkprozess gewesen oder als hätten sie diesen gänzlich übernommen. Irgendwas dämmerte. Irgendwas wollte ihre Aufmerksamkeit, als sie aus dem Augenwinkel ein in der Wand eingelassenes Bücherregal erkennen konnte, in welchem verschieden dicke Wälzer mit ein und demselben Einband standen. Nahm man eines in die Hand glaubte man erst, alle zu kennen. Denn jeder Einband war schwarz und war mittig mit einem eingeprägten, weiß-grauen Cerberus-Logo versehen. Doch in der Tat waren alle Bücher unterschiedlich, aber alle absolute Klassiker, die entweder zur Allgemeinbildung oder zur erweiterten, höheren Bildung gehörten. Sicherlich aber nicht in das reguläre Bücherregal eines fünfzehnjährigen Mädchens. Und dennoch hatte sie jedes davon gelesen (mehr oder weniger aufmerksam) oder besser lesen müssen, weil sie schlicht zum Hausunterricht gehörten. Einem vollkommen Cerberus-bestimmten Hausunterricht. Und viele, insbesondere Bücher von Dante Alighieri, las sie zudem auch wirklich gerne und exzessiv. Als wie nützlich oder unnütz ihr Wissen sich erweisen sollte, erfuhr sie erst viele, viele Jahre später - und schaffte es selbst bis dahin nicht, das einzige Buch dass sie von Alighieri retten konnte, zu zerstören.
"Ulysses...", murmelte sie leise und suchte dabei mit ihren Augen die Buchrücken ab, die einheitlich aber nicht ganz gerade, ihr "Zimmer" schmückten. Relativ schnell griff sie nach dem Wälzer, auf dem in einheitlicher Schrift auf dem Cerberus-Einband "Odissea" stand und ging damit, abwesend darin blätternd, zurück ins Wohnzimmer. "Wenn es hiernach geht...und er seinem Namen treu bleibt, ist das, was du bei ihm gefunden hast, NICHTS wert." Damit legte sie das Buch vor Sergio auf die Küchentheke.
An der Kücheninsel sitzend hatte Sergio bereits damit begonnen, einige der Videologs und Datenreihen auf seinem Holopad zu überfliegen - zumindest hatte er ürsprünglich geplant, das Material vorerst nur oberflächlich zu sichten, doch dann hatte ihn Neugier dazu gezwungen, bis zu den Schultern in die Materie einzutauchen. Nach wenigen Augenblicken bereits hochkonzentriert, dauerte es einige Momente, bis er Luceija hinter der Theke überhaupt bemerkte und dann mit verengten, skeptischen Augenbrauen das Buch in die Hand nahm, das er nur viel zu gut kannte. Er hatte diese Werke natürlich mit ausgesucht, als es um die Erziehungsfragen der jungen Luceija ging. Und er wusste genauso gut wie Cerberus, dass dabei nicht nur schöngeistige oder lokalpatriotische Aspekte eine Rolle spielten. Diese oft stark kryptischen Werke der Mythologie hatten nicht selten mehr Realitätsbezug, als sie vielleicht ahnte. Dennoch überraschte es ihn doch, als sie den Zusammenhang zwischen der Odyssee und ihren Konkurrenten herstellte. Andererseits, so fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, war die Namensähnlichkeit zwischen Ulysses und Odysseus tatsächlich ein Marker, der einen stutzig machte. Dass Menschen hinter Zufällen immer so etwas wie Schicksal vermuteten, hatte er stets für puren Aberglauben gehalten. Es war genau das Gegenteil wissenschaftlich-rationalen Denkens jeden auffälligen oder ironischen Zufall sofort zum Beweis höherer Mächte zu erklären, aber die tausend zuvor eingetretenen unerwünschten Kausalfolgen als triviale Zufälle zu bezeichnen. An ein Schicksal glaubte Sergio nicht und daher auch nicht daran, dass der Name seines Konkurrenten Ulysses irgendeine Relation zu Odysseus haben müsse. Doch zumindest machte ihn der Zufall auf eine Eventualität aufmerksam, die er nicht bedacht hatte. War sein Antagonist Dr. Ulysses Everett vielleicht genauso ein Lügner und Täuscher wie Odysseus? Was wenn alle Ergebnisse in seiner Hand gefälscht waren und Everett nur bezwecken wollte, Sergio auf eine falsche Fährte zu locken?
"Danke, Luci... Daran hatte ich nicht gedacht", entgegnete er nur leise murmelnd wie aus einer Hypnose heraus und griff sie dabei kurz lobend an der Schulter, sah dabei jedoch nicht sie, sondern das Buch in seiner Hand an, dem er diesen Einfall verdankte. Dann versank er wieder in seine Meditation über den erbeuteten Datensätzen, die plötzlich allesamt den Geruch der Lüge an sich hatten. Die Daten waren hervorragend katalogisiert und geordnet, absolut lückenlos und kohärent. Und die Ergebnisse waren überwältigend gut, obwohl die Behandlungsmethoden und Medikamente denen von Sergios Projekt überraschend ähnlich waren. Es schien fast so, als würden Sergios Konkurrenten mit den selben Wegen höhere Ziele erreichen - etwas, das beinahe noch demütigender war, als wenn sie einfach einen völlig anderen Weg eingeschlagen und damit weiter gelangt wären. Doch seit seinem Verdacht begann der Italiener an der Sache zu zweifeln. Die Videologs waren allesamt Frontalaufnahmen von Everett, doch so gut wie nie sah man sein Testsubjekt und sogar kein einziges Mal eine seiner Behandlungen. Dabei würde man doch für eine vollständige und wissenschaftliche Dokumentation einer Experimentenreihe doch gerade die Aufnahme der Experimente erwarten statt nur eine mündliche Nacherzählung der Reaktionen. Auch bemerkte Sergio, dass in den Unterlagen stets von einem Experimentenbeginn vor rund 15 Jahren die Rede war, doch obwohl die Anzahl der Dokumente dies bekräftigte, schien Everett in den verschiedenen Videos kaum zu altern, wechselte sogar nie seine Brille, seinen Haarschnitt oder auch nur die Raumaufteilung seines Labors.
Einige Stunden später - während seiner Durchsicht war der Doktor von der Küche über das Wohnzimmer zu seinem Arbeitszimmer gewandert und lag dort nun recht krumm zurückgelehnt in seinem Bürosessel - hatte er die Analyse der Daten beendet und war mehr und mehr zu einem eindeutigen Schluss darüber gekommen.
"Der Scheiß ist ungefähr so echt wie das Drehbuch von Blasto", resümierte er zwischen Spott und Resignation, als er sich mit dem Ellenbogen in den Türrahmen zum Labor lehnte, in dem Luceija gerade auf der Bahndlungsliege entspannte - die bedrohlichen Geräte wie ein Mobile über ihr schwebend, ohne, dass sie ihnen große Beachtung schenkte.
"Everett hat gefälschte Daten abgespeichert. Keine Ahnung wieso. Entweder gibt er unwahre Testberichte ab, um die Zellenleitung zu täuschen, oder er hat diesen ganzen Kram aufgesetzt, um Spione zu täuschen. Vielleicht sogar gezielt für uns." Während er sprach betrat er das Labor mit einer Hand am Kinn und nahm beiläufig ein Medikamentendöschen aus einem der gekühlten Medizinschränke. Er setzte sich neben Luceija auf die Bahre, drückte ihr drei bläuliche Tabletten in die Hand, sah dann in das fast leere Röhrchen und schüttete sich die die übrigen vier Tabletten selbst in den Hals, um sie dann alle auf einmal zu schlucken.
"Aber jeder ernstzunehmende Forscher führt irgendwo auch Buch über seine Versuche. Er muss irgendwo die echten Ergebnisse verstecken... Die Frage ist nur wo"
Luceijas Blick fror auf der Oberfläche der kleinen, blauen Tabletten ein. Ihr Kopf hing nahezu kraftlos in dieser Position, die Schultern hatten jegliche Anspannung verloren und waren zu ebenso lockeren Anhängseln ihres Körpers geworden, die sie gar nicht mehr aktiv benutzen wollte. Sie war gänzlich in ihren Gedanken verloren. War Momente lang in einem Ereignis aus der nahen Vergangenheit verwoben, in welchem sie geglaubt hatte, nicht aufmerksam genug aufgepasst zu haben - doch jetzt offenbarte sich, dass sie wenigstens unterbewusst dennoch das ein oder andere aufgeschnappt und verarbeitet hatte. Doch innerlich schüttelte sie den Verdacht ab. Es schien im Moment zu weit hergeholt.
Erst, als sie einmal kurz für eine Sekunde die Augen geschlossen hielt, sah sie es für richtig an den Kopf wieder anzuheben und Sergio, der neben ihr Platz genommen hatte, zu betrachten. Er strahlte eine gewisse Wärme aus, die sie über die zufällige Berührung ihrer beider Beine auf dem beschränkten Platz in sich aufnahm und die junge Sizilianerin von einer gewissen väterlichen Zuneigung überzeugen wollte, die in ihrem Kopf die richtige Dosierung fand. Es waren kleine, sehr unscheinbare Momente, die das Mädchen in ihrem Alter als alles andere als hochwichtig betrachtete, aber an die sie viele Jahre später mit einer furchtbar schweren Wehmut zurückblicken würde. Ihrer fünfzehnjährigen Version hier war die Nähe bald schon zu viel, obwohl es im Grunde nichts war, und ohne ein Wort zu verlieren, nahm sie jenes Bein, dass an Sergios anlag, zu sich nach oben auf die Liege und stützte ihr Kinn auf dem eigenen Knie ab. Ihr schwarzes Haar floss neben ihrem Bein einem Vorhang gleich hinab als sie den Kopf weiter in die Richtung ihres Vaters drehte. Sie sah ihm lange nachdenklich von ihrer Seite in die braunen Augen und schob sich noch während sie in der Nachdenklichkeit ihres Nebensitzers mit reingezogen wurde, die Tabletten in den Mund und schluckte sie ohne einen Tropfen Wasser.
"Ich habs dir gesagt.", seufzte Luci leise und wirkte in ihrer jugendlichen Art unbewusst schnippisch. "Wären wir auf Palermo geblieben, hätten wir unsere Ruhe gehabt." Natürlich sah die fünfzehnjährige nicht, dass es eine absolute Notwendigkeit gewesen war, Palermo zu verlassen und auf die Citadel zu ziehen. Sie hatten, und mit einer solchen Antwort, die sicherlich schon das tausendste Mal kam, rechnete sie bereits fest, einfach keinen Platz in ihrem kleinen Haus für noch mehr Geräte, die sie unweigerlich brauchen würden. Nicht nur, dass die, die sie auf Sizilien stehen hatten unterdessen schon antik waren. Mit zunehmendem Alter und noch komplizierteren Verfahren, die mit Lucis beginnender Pubertät einhergingen, kamen sie nicht umhin anderes Equipment anzunehmen. Dabei war es Cerberus deutlich einfacher den beiden einen Umzug nahe zu legen, als unnötige Kosten aufzubringen um jede Gerätschaft auf die Insel zu schiffen. Abgesehen davon, welche Skepsis das bei den Nachbarn auslösen hätte können.
"Und was ist, wenn wir einfach wieder zu dem Typen hin gehen? Wir wissen doch jetzt, wo er wohnt. Er soll uns die Wahrheit sagen oder bekommt ein paar Schüsse zwischen die Augen. Und sollte die Blonde noch leben, hat sie vielleicht die Infos, die wir brauchen. Zwingen Sie, bei der Zellenleitung die Wahrheit zu sagen und das Problem wäre aus der Welt." Ihre Naivität berücksichtigte keine empfindlichen Details, die diesen Plan wieder aushebeln würde. Sie sprach einfach aus, was ihr zuerst in den Sinn kam, ganz gleich ob es ihren Vater verärgern würde oder nicht, und schob sich einhändig die Haare nach hinten, um gut genug zu dem älteren Sizilianer aufsehen zu können.
"Ich meine:", versuchte sie sich um eine Erklärung, "die gehen uns beide auf die Nerven. Wir werden sie einfach los und haben unsere Credits wieder." Genug Erziehungsarbeit seitens Sergio hatte dazu geführt wie halt- und pietätlos sie über das Ermorden realer Personen sprach, wie sie keine Miene des Ekels verzog. Und das, obwohl sie selbst bis dato niemanden selbst ermordet hatte und ihr daher jedwedes Gefühl dafür fehlte, wie es sein musste damit umzugehen. Auch wenn der Verdacht nahe lag, dass im Zuge ihrer Erziehung schon klar war, dass ein Mord von Konkurrenten kein wirklicher Mord oder gar eine Straftat war, sondern eher einer "Säuberung" gleich kam, die es nicht wert war zu betrauern oder zu bereuen. Im Gegenteil. Feinde von Cerberus waren auch persönliche Feinde. sie hatten sich ihr Schicksal selbst ausgesucht. Entweder sie schwammen mit dem Gedanken der Organisation, oder sie schwammen gar nicht mehr. "Dio, ich weiß es auch nicht."
Auf einer kleinen, holografischen Uhr, die auf dem metallernen Tisch neben dem Krankenbett-Behandlungsgerät lag, startete das Piepen eines sanftem aber vehementen Alarms.
Ein Stück weit war Sergio als Luceijas Erzieher hin- und hergerissen zwischen dem Drang, sie dafür zu loben, dass sie verstand, wie man mit Rivalen bei Cerberus umzugehen hatte, und sie dafür zu tadeln, als erstes an Mord zu denken. Schließlich war es bisher nur sein, wenn auch berechtigter, Verdacht gewesen, dass sein Konkurrenzprojekt Cerberus von innen heraus schaden würde, wenn man sie nicht aufhielt. Doch streng genommen hatten er und Luceija bereits zahlreiche Vergehen der Organisationspolitik begangen, als sie sich gegen ein genehmigtes Projekt richteten. Streng genommen waren er und seine Tochter die Saboteure, bis die Unfähigkeit der anderen bewiesen war.
"So einfach wird das leider nicht funktionieren", resümierte Sergio schließlich und umging dabei den moralischen Zwiespalt. "Sie suchen bereits nach uns und wären dumm zu glauben, dass wir nicht auch nach ihnen suchen. Sie sind auf uns vorbereitet. Außerdem riskieren wir Kopf und Kragen, wenn wir ohne Beweise ihrer Unfähigkeit Konkurrenten verschwinden lassen." Er rieb sich das stoppelige Kinn unter hörbarem Scharren. Obwohl er eben eindeutig widersprochen hatte, liebäugelte er doch mit dem Gedanken, die beiden einfach auf irgendeine Weise verschwinden zu lassen, ohne, dass jemand je etwas von den Beweggründen erfuhr. Es wäre die simpelste Lösung gewesen, aber das Risiko war hoch, dass die Sache der Zellenleitung bekannt würde. Einige Beweise in der Hinterhand würden nicht schaden - und seien sie noch so zweideutig.
"Es sei denn natürlich, wir finden doch noch seine richtigen Laborberichte.", verbalisierte er nun doch murmelnd seinen Gedanken. Und wie ein Blitz traf ihn kurz darauf die Umkehrung dieser Denkweise: Was, wenn Ulysses genau das gleiche plante? Unmöglich konnte er Sergio und Luceija ohne dieselbe Furcht vor der Zellenleitung ausschalten. Auch er müsste Beweise der Unfähigkeit oder gar der Infiltrationsversuche gegen Sergio vorbringen können, wenn er ihnen schaden wollte. Und da Sergio wusste, dass er sich nichts dergleichen zu Schulden kommen ließ, war es unvermeidlich, dass Dr. Everett die Testberichte Sergios erst fälschen musste, um sich die Lizenz zum Töten zu verdienen. Und für eine authentische Fälschung benötigte er erst Sergios Originale. Er sprang wieder von der Liege auf und begann unruhig zu werden, hielt die Hände hinter seinem Kopf verschränkt, während er rastlos im Zimmer umherging und versuchte, all die Ideen zu bündeln, die auf ihn einprasselten.
"Okay, Luci, pass auf...", leitete er ein, doch blickte er nur gen Boden oder Decke um sich besser konzentrieren zu können.
"Everett wird versuchen, an unsere Berichte zu kommen. Der Großteil davon ist absolut unzugänglich, sogar für mich selbst, auf einem verschlüsselten Datenträger gespeichert. Ich muss jeden Tag mehrere Codewörter eingeben und meine Retina scannen, sonst lädt sich der gesamte Dateninhalt über einen verschlüsselten Quantenverknüpfungskommunikator zu meinem Backup an einem geheimen Serverort hoch und überschreibt sich selbst auf dem Originaldatenträger. Natürlich kann ich das Backup auch bewusst selbst auslösen. Das ist Teil meines Notfallprotokolls, falls unser Projekt auffliegt, mir etwas zustößt oder irgendetwas anderes unsere Forschung kritisch gefährdet. Everett hat auch ein solches Notfallprotokoll. Er wäre ein Idiot, wenn er keines hätte. Wir müssen herausfinden, wie seines abläuft und wie wir die Originaldaten abfangen können, die er im Ernstfall in sein Backup hochlädt. Die Sache ist also ganz einfach: Er will an unsere Daten, wir wollen an seine Daten. Wir ködern ihn mit einer falschen Fährte zu einer Falle. Wenn ihm dort etwas zustößt oder er dort zu lange festgehalten wird, löst das wahrscheinlich sein Notfallprotokoll aus. Wir versuchen seinen Quantenkommunikator, oder was auch immer er für den Upload benutzt, in seiner Wohnung zu finden und warten darauf, dass sich das Backup auslöst, fangen es direkt an der Quelle ab und entschlüsseln es in den nächsten Wochen in aller Ruhe. Somit verhindern wir, dass sich irgendwelche Daten an seinen Terminals selbst zerstören, sobald wir versuchen, sie dort selbst direkt zu kopieren oder zu entschlüsseln. Sobald wir die Beweise gegen ihn schließlich entschlüsselt haben, vielleicht auch schon vorher, legen wir ihn um und verscharren ihn auf irgendeinem Eiswüstenplaneten. Sobald die Zellenleitung sich über sein Verschwinden wundert, präsentieren wir seine schlechten Originaldaten und waschen uns damit rein."
Zum Abschluss seiner Erklärung schlug er die Hand mit einem widerhallenden Klatschen zusammen und streckte sie dann in einer 'et voilà'-Geste aus.
"Zwei Plagegeister weniger - Und die Forschungsgelder wieder in den richtigen Taschen"
Sie beobachtete die Digitaluhr, die zu ihrer Rechten über dem Bett die Zeit präsentierte und sekündlich, in einem einschläfernden, tonlosen Takt, den stilisierten Doppelpunkt blinken lies. Ungewollt aber viel zu oft zählte sie die Zeit von Termin zu Termin rückwärts. Wusste, wann welcher Alarm auf eine Behandlung hinweisen würde und wusste in den meisten Fällen sogar, welche es waren ohne eine Ahnung davon zu haben, für welchen Zweck sie eigentlich waren. Und auch unabhängig davon, dass dieser Plan nicht in Stein gemeißelt war sondern stetig wechselte, von Jahr zu Jahr, Saison zu Saison angepasst wurde, um Luceijas Alter, dem Gewicht und ihrer Größe, sowie den hormonellen Veränderungen gerecht zu werden. Dabei hatte sie ebenfalls nicht mal die leiseste Ahnung, was für eine unwahrscheinlich gigantische Aufgabe es war, ein solches Projekt zu organisieren und zu planen. Wann welches Mittel das beste war, wann welche Therapie, wann Schlaf oder Regeneration sinnvoll war und welche Nahrung wann dafür sorgte, dass die Minderjährige zurück zu Kräften kam. Und all das, ohne sie einfach nur festzuketten wie einen Hund, sondern sie gleichzeitig noch zu einer brauchbaren, manipulierten Person zu machen, die Cerberus willen- und widerstandslos aus der Hand fraß. Ein bisschen musste man dafür wohl alles auf einmal sein, was Sergio den Einstieg in diese ganze Sache vor etwas mehr als zehn Jahren überaus schwer gemacht hatte. Wenn nun doch nur alles so gut laufen würde wie das, was sie bislang zusammen aufgebaut hatten..
"Ich hab kein gutes Gefühl dabei..", gab sie ehrlich zu und sah erst dann wieder zu Sergio zurück, der während seiner Erläuterung längst nicht mehr neben ihr sass, sondern unlängst vor ihr im Raum zum stehen kam. "Du willst nochmal in deren Wohnung? Nachdem wir mit Sicherheit schon die ein oder andere Spur da hinterlassen haben?" Sie schnaubte hörbar und lies beide Beine locker von der Liege herunter hängen, wo sie sie baumeln lies. Ihr wurde warm.
Einmal mehr besah sie sich den Raum - IHREN Raum - genauer und zuckte dabei leicht mit den Achseln. Die Theorie des Back-Up-Plans war genau die, die ihr selbst durch den Kopf geschwirrt war, sie aber schnell verworfen hatte. Man hatte sie dahingehend unterrichtet, alles noch in den regelrechten Kinderschuhen, aber es reichte, um in etwa den Sinn dieser Schutzmechanismen zu verstehen - auch wenn sie so vielfältig waren, dass es schwer bis unmöglich war, alles anhand exakter Beispiele zu erklären. "Der ganze Scheiß ist ziemlich durcheinander. Was ist, wenn die schon hier waren? Oder sie genau darauf warten, dass du denen hinterher gehst, wenn die genau WISSEN, was wir vor haben - schon mal nach Wanzen in der Wohnung gesehen? - was, wenn die uns nur einen Schritt voraus sind?!" Noch einmal verschränkte sie die Arme locker vor der Brust und besah sich Sergio dabei schon fast wieder von oben herab. Sie realisierte es nicht und war sich daher auch nicht bewusst, ob es nicht Beispielweise von der aufkeimenden Hitze in ihrem Inneren kam, die den Pillen geschuldet war. Aber je mehr sie über die Idee nachdachte, die er so herausposaunte, desto aufmüpfiger wurde die kleine Italienerin. "Hast du überhaupt 'ne vernünftige Idee, wie du die zwei Idioten ködern willst?! Mit mir?!"
Als sich sein Schützling selbst als Köder anbot, hob der mürrische Wissenschaftler seinen Blick vom Boden und schielte mit einem furchteinflößend analytischen Blick in ihre Augen. Der kühle Augenkontakt konnte vieles bedeuten - vielleicht war es nur ein stummer Blick, der vermitteln sollte, dass die Idee dermaßen abwegig war, dass man die Frage nichteinmal beantworten musste. Vielleicht war es aber auch ein Gedanke, den Sergio ernsthaft im Detail erwog, bis er nach wenigen Sekunden schließlich zu schmunzeln begann und dann seinen Zeigefinger auf Luceijas Haaransatz legte und dreimals auf ihre Stirn tippte. Er ließ Luceija im Unklaren darüber, was diese eigenartige Geste zu bedeuten hatte, stand stattdessen auf und lief zu seiner Holoprojektorfläche an der Wand des Labors, um dort mit einem digitalen Griffel die Namen von Everett, seinem Testsubjekt und allen beteiligten Orten und Personen aufzuschreiben. Grübelnd blickte er dann auf die angeschriebenen Namen und zog deren Hologramme mit den Händen herum an verschiedene Positionen der Tafel, verband sie mit Linien und Symbolen, schrieb unlerserliche Notizen daneben, ehe er dann den Namen des konkurrierenden Testsubjekts umkreiste: Goda.
"Die kleine von Ulysses...", brummte er zur Erklärung und vergewisserte sich durch einen kurzen Blick über seine Schulter, ob Luci ihm noch zuhörte.
"Sie ist der Schlüssel zu der Sache... Denk mal nach. Wie er sie vorhin vermöbelt hat. Die Art, wie er an ihr die letzten Jahre geforscht haben muss. Sie ist nur durch Angst an Everett gefesselt, nicht durch Loyalität. Das mit den beiden ist nicht das selbe wie bei uns, Luci. Wenn man nur ein bisschen Druck von außen auf sie auswirken könnte - sie würde sofort klein bei geben und Everett hinter sich liegen lassen... Wenn man nur an sie herankäme..."
Nachdenklich schabte sich der Italiener am stoppeligen Kinn und entblößte dabei die untere Zahnreihe. Dann wirbelte er herum zu seinem Computer am Schreibtisch am anderen Ende des Laborraums. Es brauchte nicht lange, um zu recherchieren, was er in den Cerberusdatenbanken auf seinem Rechner herausfinden musste, und doch musste es Luceija wohl wie eine Ewigkeit vorkommen, in der sie keine AHnung haben würde, wonach Sergio eigentlich suchte.
"Wusste ich es doch!", rief er dann aus, und klatschte in die Hände, ehe er mit dem Bürostuhl eine galante Drehung machte und den Bildschirminhalt auf die große Projektionsfläche verschob, sodass Luceija die großformatige Version von Godas Personalakte einsehen konnte - doch das abgebildete Gesicht war das eines dreijährigen Kindes.
"Jaja, ich weiß, die ist schon etwas älter. Ich habe zwar keinen Zugriff auf Everetts Testresultate der letzten Jahre, aber die Akte jedes angeworbenen Testsubjekts dieser Zellle ist für jedes höhere Zellenmitglied zugänglich. Die Akte stammt noch aus der Zeit, als man Goda eingeschleust hat. Hör dir das an: '2153: Subjekt geboren von Überlebender der Singapur-Eezo-Katastrophe. 2154: Blutwerte des Subjekts deuten auf biotisches Grundpotenzial hin. Subjekt durch Krankenaktenfilter entdeckt und von Cerberus deportiert. Mutter infiltriert. Offizielle Todesursache: Krebs, tatsächliche Todesursache: Cäsium-137-Vergiftung. 2156: Testsubjekt übertragen an Ulysses Everett im Rahmen der Ascension-Zelle'"
Sergio stieß sich mit den Füßen vom Boden ab, sodass sein Bürostuhl auf dem glatten Laborboden bis zu Lucis Liege hinüberrollte.
"Wenn wir es schaffen würden, dass sie sich mit uns trifft und wir ihr diese Beweise für den Mord an ihren Eltern zukommen lassen könnten, schaffen wir es vielleicht, sie auf Everett zu hetzen. Wir könnten noch den einen oder anderen Fakt fälschen, um Ulysses persönlich als den Mörder ihrer Mutter dastehen zu lassen. Dann versprechen wir ihr, dass sie entweder unverfolgt weiterleben kann, oder bei unsererem Projekt eingeschleust werden kann, wenn sie uns hilft, ihren Dok aus dem Weg zu schaffen. Vielleicht ist das nichteinmal gelogen. Wenn die Leitung die Daten von Everett sieht, wird man uns recht geben und Goda den kleinen Verrat verzeihen. Aber wen kümmert es schon, ob es wahr ist, sie wird es für wahr halten.... Nur wie kriegen wir Goda dazu, alleine mit einem von uns zu sprechen?", seufzte der Arzt angestrengt und lehnte sich mit verschränkten Armen in seinen Bürostuhl, stützte seinen Schuh dabei neben Luceije auf die Liege auf.
"Mit mir wird sie niemals reden wollen. Ich bin für sie im Moment nur noch so ein kerl wie ihr Peiniger Everett.... Aber vielleicht redet sie mit dir?... Nur wie stellen wir das an, ohne in eine Falle zu tappen?"
Als sich sein Schützling selbst als Köder anbot, hob der mürrische Wissenschaftler seinen Blick vom Boden und schielte mit einem furchteinflößend analytischen Blick in ihre Augen. Der kühle Augenkontakt konnte vieles bedeuten - vielleicht war es nur ein stummer Blick, der vermitteln sollte, dass die Idee dermaßen abwegig war, dass man die Frage nichteinmal beantworten musste. Vielleicht war es aber auch ein Gedanke, den Sergio ernsthaft im Detail erwog, bis er nach wenigen Sekunden schließlich zu schmunzeln begann und dann seinen Zeigefinger auf Luceijas Haaransatz legte und dreimals auf ihre Stirn tippte. Er ließ Luceija im Unklaren darüber, was diese eigenartige Geste zu bedeuten hatte, stand stattdessen auf und lief zu seiner Holoprojektorfläche an der Wand des Labors, um dort mit einem digitalen Griffel die Namen von Everett, seinem Testsubjekt und allen beteiligten Orten und Personen aufzuschreiben. Grübelnd blickte er dann auf die angeschriebenen Namen und zog deren Hologramme mit den Händen herum an verschiedene Positionen der Tafel, verband sie mit Linien und Symbolen, schrieb unlerserliche Notizen daneben, ehe er dann den Namen des konkurrierenden Testsubjekts umkreiste: Goda.
"Die kleine von Ulysses...", brummte er zur Erklärung und vergewisserte sich durch einen kurzen Blick über seine Schulter, ob Luci ihm noch zuhörte.
"Sie ist der Schlüssel zu der Sache... Denk mal nach. Wie er sie vorhin vermöbelt hat. Die Art, wie er an ihr die letzten Jahre geforscht haben muss. Sie ist nur durch Angst an Everett gefesselt, nicht durch Loyalität. Das mit den beiden ist nicht das selbe wie bei uns, Luci. Wenn man nur ein bisschen Druck von außen auf sie auswirken könnte - sie würde sofort klein bei geben und Everett hinter sich liegen lassen... Wenn man nur an sie herankäme..."
Nachdenklich schabte sich der Italiener am stoppeligen Kinn und entblößte dabei die untere Zahnreihe. Dann wirbelte er herum zu seinem Computer am Schreibtisch am anderen Ende des Laborraums. Es brauchte nicht lange, um zu recherchieren, was er in den Cerberusdatenbanken auf seinem Rechner herausfinden musste, und doch musste es Luceija wohl wie eine Ewigkeit vorkommen, in der sie keine AHnung haben würde, wonach Sergio eigentlich suchte.
"Wusste ich es doch!", rief er dann aus, und klatschte in die Hände, ehe er mit dem Bürostuhl eine galante Drehung machte und den Bildschirminhalt auf die große Projektionsfläche verschob, sodass Luceija die großformatige Version von Godas Personalakte einsehen konnte - doch das abgebildete Gesicht war das eines dreijährigen Kindes.
"Jaja, ich weiß, die ist schon etwas älter. Ich habe zwar keinen Zugriff auf Everetts Testresultate der letzten Jahre, aber die Akte jedes angeworbenen Testsubjekts dieser Zellle ist für jedes höhere Zellenmitglied zugänglich. Die Akte stammt noch aus der Zeit, als man Goda eingeschleust hat. Hör dir das an: '2153: Subjekt geboren von Überlebender der Singapur-Eezo-Katastrophe. 2154: Blutwerte des Subjekts deuten auf biotisches Grundpotenzial hin. Subjekt durch Krankenaktenfilter entdeckt und von Cerberus deportiert. Mutter infiltriert. Offizielle Todesursache: Krebs, tatsächliche Todesursache: Cäsium-137-Vergiftung. 2156: Testsubjekt übertragen an Ulysses Everett im Rahmen der Ascension-Zelle'"
Sergio stieß sich mit den Füßen vom Boden ab, sodass sein Bürostuhl auf dem glatten Laborboden bis zu Lucis Liege hinüberrollte.
"Wenn wir es schaffen würden, dass sie sich mit uns trifft und wir ihr diese Beweise für den Mord an ihren Eltern zukommen lassen könnten, schaffen wir es vielleicht, sie auf Everett zu hetzen. Wir könnten noch den einen oder anderen Fakt fälschen, um Ulysses persönlich als den Mörder ihrer Mutter dastehen zu lassen. Dann versprechen wir ihr, dass sie entweder unverfolgt weiterleben kann, oder bei unsererem Projekt eingeschleust werden kann, wenn sie uns hilft, ihren Dok aus dem Weg zu schaffen. Vielleicht ist das nichteinmal gelogen. Wenn die Leitung die Daten von Everett sieht, wird man uns recht geben und Goda den kleinen Verrat verzeihen. Aber wen kümmert es schon, ob es wahr ist, sie wird es für wahr halten.... Nur wie kriegen wir Goda dazu, alleine mit einem von uns zu sprechen?", seufzte der Arzt angestrengt und lehnte sich mit verschränkten Armen in seinen Bürostuhl, stützte seinen Schuh dabei neben Luceije auf die Liege auf.
"Mit mir wird sie niemals reden wollen. Ich bin für sie im Moment nur noch so ein kerl wie ihr Peiniger Everett.... Aber vielleicht redet sie mit dir?... Nur wie stellen wir das an, ohne in eine Falle zu tappen?"
Nach langer, stummer Beobachtung von Sergios Aufschrieben und seinen Thesen, die er auf Grund des recherchierten Materials zusammentrug und versuchte zu verbinden, hatte Luceija einige Fragen. Es war der Bruchteil eines Momentes indem sie ausdruckslos ihren Ziehvater verfolgte, in der sie abwesender wirkte als sonst, ehe sie zurückkam und ihm dann ins Wort fiel, noch ehe er "Falle" überhaupt mit seinen Lippen formen konnte. Luci schien emotional nicht getroffen zu sein, als sie aussprach, was sie dachte.
"Sie wird sich einen Scheiss für ihre Mutter interessieren."
Die Worte schienen einen Hall in einem Raum zu entwickeln, der keinen Hall zulies. Der für ein Labor nichtmal sonderlich kühl oder absonderlich schien. Und dennoch hatte ihre Aussage einen scheinbar eisigen Windzug in ihre vier Wände getrieben.
Luci sah Sergio lange an. Sah ihn direkt an, was sie viel zu selten tat. Verlor sich regelrecht in seinen braunen Augen und stellte eine stumme Frage, die sie niemals ausformulierte. Es war die Frage danach, woher sie eigentlich kam. Eine Frage, die sie zwar wirklich nicht sonderlich beschäftigte, weil die Tatsache, dass sie bei Sergio aufgewachsen war und ihn als Vater sah, keinen Schmerz an eine Vergangenheit zuliess. Noch nicht jedenfalls. Auch, weil sie sich nicht an ihre Zeit vor Sergio erinnern konnte. Warum, so fragte sie sich, hatte man ihr dann überhaupt gesagt dass Sergio nicht ihr leiblicher Vater war? Für die nötige Distanz? Und hätte sie sich eigentlich an irgendetwas erinnern müssen? Hätte sie die Chance gehabt, oder trieb man sie ihr aus? Und wenn ja, wie?
Aber keine Frage stellte sie ihm. Nicht eine einzige. Sie schüttelte nach einigen Sekunden nur langsam den Kopf.
"Weder für eine Mutter, noch einen leiblichen Vater. Man kann niemanden mit etwas ködern, dass man nicht kennt." Ein Teil von ihr wollte dennoch wissen, was in ihrer eigenen Akte stand. Doch die Loyalität zu Cerberus und ihrem Vater Sergio waren grösser, ebenso wie die Ehrfurcht vor beiden, sodass sie Neugier niemals siegen konnte. Zumindest nicht, bis sie, viele, viele Jahre später, auf Vigilio traf - der genau in diesem Moment in einer Studentenbude in London sass, sein Mitbewohner Enrico in Clubs unterwegs, und auf einem Holomodul durch die unscheinbare Keramikvase, die sie von Palermo hierher mitgenommen hatten, eben jenen Moment beobachtete wie ein perverser Voyeur.
Das Thema wurde Sergio sichtlich unangenehm. Auch wenn er es zu verbergen suchte: Seine Pupillen schwirrten unfixiert um Luceijas Blick herum, als sie ihn so direkt ansah. In leichter Nervosität knetete er dabei seine eigenen Finger. Tatsächlich war es nicht mehr allzu häufig, dass er sich daran erinnerte, mit welcher Vergangenheit und unter welchen Umständen Luci damals bei ihm zum ersten Mal in seinem Labor gelandet war. Er hatte sonst stete Mühe, unter raffiniert durchdachten Formulierungen einen Ton zu finden, der es glaubhaft erklärte, wie Luceijas Eltern sie damals im Stich lassen und Sergio übergeben konnten, um damit Cerberus zu dienen. Natürlich war er selbst von der Richtigkeit dieser Entscheidung inzwischen überzeugt, was die Sache aber nicht weniger schwer zu rechtfertigen machte. Umso erleichterter war er, als Luceija selbst ihren Blick wieder abkehrte und sich somit ohne eine weitere Diskussion auf die Grundwerte der Organisation besann. Sergio war es recht. Der nervöse Mann wäre andernfalls wohl gerade nicht auf einen solchen Disput vorbereitet gewesen - zu viele andere Gedanken blockierten seinen Verstand. Doch sie hatte wahrscheinlich recht, was Everetts Zögling anging. Luceija konnte deren Psyche sicher besser nachvollziehen, als er selbst.
"Schön", resümierte er pragmatisch Luceijas ablehnende Haltung, wenn er danach auch leicht enttäuscht schnaubte, "dann also keine Psychospielchen mit seiner Laborratte..."
Wieder folgte das schabende Geräusch, mit dem sich Sergio an seinem Stoppelkinn kratzte und auf seinem Holobildschirm die Notizen verwischte. Stattdessen versuchte er, anhand von mobilen Extranet-Einwahlen, die Everetts Omnitool in der Vergangenheit auf der Citadel verteilt getätigt hatte, ein Bewegungsprofil zu erstellen. Die meisten Bewegungen waren willkürlich oder schlicht banal, stellte der Wissenschaftler bald fest, während sein Gesichtsausdruck darüber immer grimmiger wurde. Everett hatte es bisher offenbar bewusst vermieden, mit dem selben Omnitool den immer gleichen Besorgungen nachzugehen - eine sinnvolle Maßnahme, um der C-Sec durch die Lappen zu gehen, doch umso ärgerlicher für Sergio - den Spion aus den eigenen Reihen.
Erst kurz bevor er die Sache wieder hinwerfen wollte, fiel ihm eine Besonderheit auf. Alle zwei Wochen, exakt wie ein Uhrwerk, hatte Everett den Silversun Strip besucht. Und Casinos, Spielhallen und Clubs waren eine unübliche Location für einen Wissenschaftler fortgeschrittenen Alters, der nicht auffallen wollte. Noch bevor er Luceija, die immernoch bei ihm saß, über seinen Gedanken aufklärte, durchforstete er das Extranet nach einer Veranstaltung, die zu den Bewegungsdaten Everetts passend stattgefunden hatte. Und tatsächlich wurde er fündig. Auf der großen Projektionsfläche öffnete sich der flimmernde und audiovisuell überfordernde Auftritt eines Clubs namens 'Nightwind'. Und obwohl dieser High-Society Club mit seinem Namen offensichtlich auf irgendeine Asari-Mythologie anspielte, war der Besitzer ein Mensch. Eine Besonderheit, die man schon deshalb kaum übersehen konnte, da das schmierige Verführerlächeln dieses dunkelhaarigen und gut gekleideten Latinos einen aus jeder Rubrik des Extranet-Eintrags angrinste.
"Du hast doch sicher Lust, deinen Freitagabend morgen mal in einem Nobelschuppen zu verbringen, hm?", schmunzelte Sergio schließlich, während er sich in seinem Bürostuhl zu Luceija drehte und sich mit den Händen hinter dem Kopf nach hinten lehnte.
"Denn ich glaube, Ulysses ist ein größerer Partywolf als wir beide dachten. Könnte was mit unserem Projekt zu tun haben. Interessiert?"
Ungewollt deutlich musste die Sizilianerin schmunzeln und sah im Zuge dessen in Sergios Augen, die unweigerlich auf die gerichtet waren und eine Antwort forderten. Vorsichtig, die Antwort noch schuldig, folgte sie seiner körperlichen Ausrichtung auf dem Bürostuhl in die Richtung der Tafel, auf welcher die Extranetberichte projiziert wurden und von Sergios Handschrift teilweise verdeckt wurden. "Nightwind", prustete die Fünfzehnjährige übertrieben dramatisch. "Wieso wirkt bei dem Typen alles extra-schmierig?"
"Ich will nicht sagen, dass wirs nicht versuchen sollen", holte sie aus, hielt einen Moment die Luft und sah nochmal zwischen der Projektion und Sergio hin und her, zuckte dann aber mit der lebendigeren der beiden Schultern. "aber das sieht aus wie ein Hardcore-Nobelschuppen. Wird schwer da rein zu kommen ohne aufzufallen. Mal abgesehen von der Security und..", sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, zog noch einmal die Beine zu sich nach oben auf die Liege, umschlang sie mit ihren dürren Ärmchen und legte den Kopf in jenem Nest ab. Sie glaubte nicht, dass das reinkommen das grösste Problem war. Eher die Konfrontation könnte Schwierigkeiten bereiten. Oder auf Grund der Menge an Personen vielleicht sogar helfen?
"hm. Was machen wir, wenn wir ihn finden?"
Aufmerksam blickte die Schwarzhaarige über ihre Unterarme hinweg zu Sergio. Ihre Wirbelsäule schmerze noch immer.
"Keine Sorge", winkte Sergio die Bedenken seiner Ziehtochter direkt ab, schlenderte mit den Händen hinter seinem Rücken zu ihr an die Patientenliege und stützte sich dann nach vorne gebeugt und mit den Beinen nach hinten gestemmt auf das Liegepolster, sah von dort aus einem leichten Winkel von unten zu ihr hinauf und warf dabei unwillkürlich seine Stirn in Falten, als er sie etwas nachdenklich von oben bis unten musterte.
"Einen alten Mann, der gut angezogen ist, halten die hier auf der Citadel sofort für einen erfolgreichen Geschäftsmann. Zur Not noch etwas Großzügigkeit vortäuschen und das Lebemann-Image öffnet mir die Türen... Und was dich betrifft...", er musterte sie nun noch eindringlicher, "Vielleicht sollten wir nicht gemeinsam dort auftauchen. Wirkt unglaubwürdig, wenn ich als vermeintlicher Investor mit blutjunger Begleitung dort aufschlage. Aber ansonsten kriegen wir dich sicher sogar noch leichter in den Club als mich. Wir verpassen dir etwas mehr Make-up, lassen deine Haare lang und offen und verpassen dir ein aufreizendes Outfit. Ich besorg dir da einfach was aus dem Extranet. Und ein gefälschtes Alter für deine ID ist für mich ebenfalls kein Problem"
Irritierenderweise schien es Sergio wenig auszumachen, offen damit umzugehen, dass er sein Mündel so freizügig und aufgetakelt wie möglich in eine Partyhölle schicken wollte. Er sah es in seiner pragmatischen Art als einen nützlichen Vorteil an, dass Luceija in ihrem Alter einer erwachsenen Frau immer mehr zu ähneln begann.
"Sobald wir dann getrennt voneinander im Club sind, müssen wir nur Ulysses finden, ihn im Gedränge unauffällig sedieren und zur Toilette lotsen, wo wir ihm dann eine Überdosis einer gängigen Partydroge verpassen... Vielleicht gehen wir auch auf Nummer sicher und täuschen einen Selbstmord wegen eines Horrortrips vor. Überdosis und aufgeschlitzte Pulsadern - effektiv und die C-Sec sieht sowas sicher jede Woche."
Noch immer grübelnd, während die Details dieses Plans reiften, erhob er sich aus seiner aufstützenden Position, trat dann direkt vor Luceija, die mit angezogenen Beinen auf dem Polster saß und stützte sich dann mit den Händen rechts und links neben ihr auf die Liege, sodass er ihr unausweichlich nahe kam und ihr den Fluchtweg abschnitt und sogar nur die ihre Vermeidung seines Blickes verhinderte, als er sie mit den unangenehmeren Implikationen dieses Plans konfrontierte:
"Und ich glaube, das wirst du erledigen"
Er sah sie eindringend und ohne Lächeln an und beobachtete kurz ihre Reaktion, ehe er fortfuhr.
"Es wird Zeit, dass wir auch die schwierigeren Dinge üben, die du dennoch ohne Zögern für Cerberus tun musst. Und da wir nur bis morgen Abend Zeit haben, fangen wir mit der Lektion schon heute an"
Wieder starrte er sie an und prüfte, ob sie eine Ahnung davon hatte, wovon Sergio gerade sprach, doch als er nur weitere Verwirrung in ihren Augen sah, fragte er sie mit weiterhin festem Blickkontakt: "Stell dir vor, du müsstest mich hier und jetzt töten, Luci. Du hättest keine Wahl. Was würdest du tun? Wie würdest du das anstellen?"
Die Halbitalienerin hob den Kopf zögerlich an, als Sergio ihr den Blick auf ihre unmittelbare Umgebung vor ihr versperrte. Sie reckte das Kinn, blickte dem Älteren in die Augen und wirkte durchaus skeptisch, als sie in das Haselnussbraun ihres Gegenübers blickte und zuerst, ja, lachte. „Umbringen? Dich?!“ Das Mädchen ging erst noch von einem Scherz aus, wollte dem Doc aber den Spaß nicht verderben, der es ohne Zweifel auch sein musste, und driftete von seinen Pupillen ab und warf suchende Blicke um sich. Viel war hier nicht zu sehen. Zu ihrer Rechten nicht viel mehr als ihre persönlichen Utensilien, wie diverse Bücher, ein paar Datapads, ein Glas oder der Wecker. Diverse Armaturen hingen über ihren Köpfen, waren aber für einen direkten, filmreifen Mord eines Mannes im mittleren Alter nicht wirklich geeignet. „Keine Ahnung.“, zuckte sie mit den Schultern, wollte aber nicht ideenlos hervorgehen und antwortete schließlich salopp: „Ich könnte dir Alighieri über die Rübe ziehen wenns das ist was du willst.“
Als wäre es die Parodie auf die er gewartet hatte, nahm sie eines der benannten Bücher aus dem Regal, in dass sie problemlos greifen konnte und klopfte es spielerisch sanft gegen Sergios Kopf.
Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie dieser Aufforderung Sergios keine große Glaubwürdigkeit schenkte. Er war zwar um einiges älter als sie, aber mit dem ein oder anderen Giftcocktail oder einem präzisen Schuss aus einer seiner vielen Pistolen wäre es doch selbst für ihn ein leichtes, irgendwelche alten Säcke über den Haufen zu schießen.
„Aber keine schlechte Idee mit dem Eintritt, Doc. Du kannst dann den lästigen alten Sack loswerden, die Sache bei uns ist wieder im Lot und ich kann dann währenddessen ein paar anderen Scheintoten die Credits aus der Tasche leiern. Mit ein paar Drinks und Schlampenoutfits haben wir am Ende des Abends wenigstens keine Geldprobleme mehr. ‚Investoren‘ ist es scheiß egal wie jung man auf der ID ist.“
Es folgte ein leichtes Kopfschütteln, als die Reaktion seines Zöglings eher albern als ernst ausfiel. Im Grunde hatte er damit gerechnet, warf er sie doch gerade völlig ins kalte Wasser, doch einen etwas respektvolleren Umgang mit der Thematik hatte er sich dann doch erhofft.
"Hör zu, Luci, ich weiß das klingt alles nach einem reibungslos funktionierenden Plan, bei dem nichts schiefgehen kann. Aber du solltest nicht vergessen, dass es in der Theorie viel leichter ist, jemanden Angesicht zu Angesicht umzubringen, als in der Praxis. Selbst wenn man ganz genau weiß, was man tun soll, zögert man doch in letzter Sekunde. Und zögert man zu lange, ändert sich die Lage und man braucht eine neue Methode. Du magst vielleicht glauben, dass du gewissenlos sein kannst, wenn man es von dir verlangt, aber ein sauber ausgeführter Mord ohne Zögern erfordert bei den meisten viel Willensstärke"
Kurz ließ er diese Worte sinken, obwohl er wusste, dass diese Weisheiten ohne Demonstration nur leere Floskeln waren. Kurz rieb er sich nachdenklich die Schläfe, tätschelte Luceija dann zweimals das angezogene Knie, als ihm offensichtlich ein Einfall kam und er mit wehendem Arztkittel aus dem Zimmer marschierte.
"Lass mich kurz etwas abklären", war dabei seine gemurmelte Erklärung, bevor seine Stimme wenig später hallend aus dem Wohnzimmer tönte. Er sprach Englisch mit irgendjemandem am anderen Ende seines Commlink, das er auf dem Couchtisch platziert hatte. Doch so nah wie Sergio davor kniete und die Worte nur leise aussprach, war der Inhalt für Luceija kaum verständlich. Auf Nachfragen reagierte ihr Ziehvater nicht, streckte ihr stattdessen eine geöffnete Hand entgegen, mit der er sie wie mit einem Bannzauber von sich hielt und sie zum Schweigen brachte.
"Zögert die Sache noch etwas heraus", forderte er nun mit etwas lauterer Stimme seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Verbindung auf, "Eine Stunde mehr oder weniger, was macht das schon. Und es ist ja für einen guten Zweck", bat er die gesichtslose Männerstimme eindringlich. Sie stimmte widerwillig zu, forderte Sergio nur unter viel Murren dazu auf sich "gefälligst zu beeilen". Er nickte und legte wortlos auf.
"Zieh dich wieder an Luci", winkte er dann sein Mädchen zu sich, während er bereits den Kittel abwarf und sich eine unauffälligere schwarze Jacke anzog.
"Wir machen einen Ausflug"
Sie war ihm mehr oder minder unauffällig gefolgt, kurz nachdem er einfach aus der Praxis – ihrem Zimmer – geschritten war. Der Sizilianer schien nicht gescherzt zu haben in dem was er gesagt hatte. Das waren keine inhaltslosen Floskeln gewesen, die er da an sie gerichtet hatte, es war sein verdammter ernst gewesen. Ihr von Skepsis verzerrtes Gesicht passte sich nur noch weiter dieser Gemütslage an. Sie stand im Türrahmen, beobachtete Sergio von Weitem beim Telefonieren mit einem Unbekannten am anderen Ende der Leitung und genau jetzt, wo sie ihn so ansah, überlegte sie, welche Antwort für ihn wohl die Richtige auf seine Frage gewesen wäre. Mit einem Buch? Wohl kaum. Sie drehte sich noch einmal um, sah in ihren Raum hinein und überblickte kurz die Utensilien, die bereitwillig auf den Oberflächen lagen und machte sich für einen Augenblick tatsächlich Gedanken, welches Instrument alles für einen Mord hinhalten konnte. Viele Jahre später wäre die richtige Antwort gewesen: Jedes verdammte Utensil war potenziell für einen Mord geeignet. Man würde nur wissen müssen, wie man sie anwendet. Im Hier und Jetzt war sie sich allerdings noch reichlich unschlüssig und tendierte primär zu den Spritzen als ideale Mordwaffe – im Nachhinein gesehen eine bittere Ironie, wo Sergio doch selbst durch eine solche umkommen sollte.
"Zieh dich wieder an Luci", forderte er sie auf und sie hob stumm fragend beide Arme – dabei bemerkte sie, dass ihr Rechter, bislang tauber, allmählich wieder zu sich kam. „Wohin?“, wollte sie wissen, doch der Sizilianer antwortete ihr nicht, zog sich stattdessen seine schwarze Jacke an und warf ihr ihre eigene zu, die sie zögerlich anzog. Ihre darauffolgenden Schritte aus der Wohnung waren dann doch energischer, vor allem aber, weil sie mit Sergio schritthalten wollte und überaus neugierig über diesen plötzlichen Ausflug war. „Doc, ich weiß du stehst nicht besonders drauf mich in deine Pläne einzuweihen, aber es wär wirklich ganz interessant zu wissen, seit wann du so scharf auf so späte Ausflüge bist – und ob ich was für unterwegs hätte mitnehmen sollen.“ Luci bemerkte schnell wie dumm diese Aussage war – wirklich Dunkel wurde es auf dieser Station nicht. Zwar wurden zu gewissen Zeiten der Galactic Standard Time die Wards abgedunkelt, aber den Tag-und-Nacht-Rhythmus hatte sie noch immer von Palermo behalten. „Vergiss es. Is‘ ja nicht so als gäbs hier sowas wie Nacht.“
Sergio lief den sich windenden Gang nach unten, streifte dabei die künstlich angelegten Grünflächen der Wohnanlagen und folgte dem Weg, der in eine Art Balkon mündete und somit zum Shuttleplatz führte, der dieses Viertel mit den nahegelegenen Reisemöglichkeiten versorgte. Wie immer wartete das grau-schwarze Modell ebenfalls hier, welches Sergio sich zusammen zum Apartment gekauft hatte, als sie hier eingezogen waren. Schon während er auf es zuging öffnete sich die gesamte, vordere Klappe und wartete auf die sich nährenden Fahrgäste. Ebenso wortlos wie sie den Fußweg hinter sich gebracht hatten, war auch das Einsteigen von Statten gegangen und Luci war es schnell auch zu dumm, weiter nachzufragen was er denn vor hatte. So wie es aussah…würde sie das wohl schneller herausfinden, als ihr lieb war.
Während des Fluges sprach er nicht weiter mit ihr, aber seine Körpersprache verriet dennoch eine gewisse Nervosität. So trommelte Sergio fast die gesamte Zeit über mit den Fingern auf den Steuerhebel, wobei man sich überhaupt fragen musste, warum er beim aktivierten Autopiloten so angespannt das Steuer festhielt. Der Flug führte weit weg bis zur Spitze ihres Wards, wo in der Regel Lieferungen für die Bewohner der Citadel an einem riesiegen Raumhafen ankamen und weiterverschickt wurden. Gewaltige magnetische Andockarme, Unmengen an Waren, Kräne und allerlei herumschwirrende Transportroboter domierten die Szenerie, die sicher die Fläche von zehn bis fünfzehn Fußballfeldern hatte. Frachtcontainer füllten die Flanken der Fläche und genau dorthin steuerte Sergio nun per manueller Steuerung sein Skycar, da der Autopilot mit diesen Zielangaben nichts mehr anzufangen wusste. Offenbar verschlug es sonst niemanden soweit hinaus in das Warendock. Zwischen engen Containerreihen durschlängelnd landete ihr Vehikel schließlich an einer vermeintlich willkürlichen Stelle. Es waren Container so wie alle anderen rund um sie herum und der enge Gang aus Fracht, in dem sie sich befanden, ließ ohnehin keine Orientierung mehr zu. Sergio öffnete die Kanzel und sprang aus dem Wagen, schaltete ihn jedoch nicht ab, sondern beließ ihn in der gravitativen Schwebe.
"Ankunft", murmelte er nur kurz und Knapp in sein Omnitool. Nur eine Sekunde später öffneten sich die Türen eines der Container von innen und zwei blonde Männer, offenbar Zwillinge, zeigten sich - beide in seidig glänzenden, schwarzen Hemden mit hochgekrämpelten Ärmeln. Sie sprachen nicht, traten nur wortlos an Sergio und Luci heran und nickten beiden zu, ehe sich Sergio und seine zwei Gastgeber daran machten, das noch in der Schwebe befindliche Skycar zu dritt in den Frachtcontainer zu schieben. Dann winkte Sergio Luceija zu sich herein, ehe die beiden Männer die Türen wieder von innen verschlossen - nicht, ohne sich vorher nocheinmal nach ungebetenen Gästen umzusehen.
Der Container war dunkel und wurde nur von zwei kleinen Taschenlampen der Männer erhellt. Die engen Lichtkegel ließen jedoch für Sergio und Luci kaum eine Orientierung zu. Der Container war nicht leer sondern gefüllt mit allerlei Krempel; alte Möbel, Kisten, Kleidung und dergleichen. Eine der Lampen leuchtete auf den Boden hinter einer mannshohen Metallkiste, wo eine Luke mit einer Leiter nach unten zum Vorschein kam. Einer der Zwillinge ging wortlos voraus und kletterte hinab. Der zweite ließ Sergio und seiner Begleitung den Vortritt, ehe er selbst folgte. Kaum dass er bis zum Hals in die enge Bodenluke eingetaucht war, griff er ein Drahtseil neben sich, das mit dem Kistenboden verbunden war, und zog sie daran über sich, bis der Lukeneingang völlig von der Kiste verdeckt war. Zwei Sperrriegel arretierten die Kiste von unten mit dem Boden des Containers, sodass sie von oben niemand mehr verschieben konnte. Dan kletterte auch der zweite Gehilfe nach getaner Arbeit die Luke hinunter zu den anderen.
Sergio war selbst etwas klaustrophobisch und misstrauisch angesichts des perfekt versteckten und verriegelten Unterschlupfs, in den er hier gelockt wurde, doch er versuchte Luceija gegenüber Selbstvertrauen und Zuversicht auszustrahlen. Dennoch zuckte er kurz, als mit einem lauten, metallischen Knall eine Abdeckung zur Leiterluke zugezogen wurde, die den Weg durch den Schacht nach oben jetzt schall- und luftdicht verschloss. Erst jetzt schaltete endlich jemand das Licht an. Sie befanden sich alle in einem winzigen Vorraum, in den sie kaum alle passten. Rostige Wände umgaben sie und eine traurige, von einem Kabel hängende Leuchte war die einzige Lichtquelle. Neben ihnen war eine verheißungsvolle, runde Stahltür, verriegelt mit einer Drehachse wie der Zugang zu einem Uboot und gerade groß genug, um gebückt und mit einem Bein voran hindurchzutauchen. Angesichts der beängstigenden Enge, war es beinahe erleichternd, dass endlich jemand sprach.
"Dr. Vittore", begrüßte der linke Zwilling den Italiener und schüttelte ihm kräftig die Hand, "Ist uns eine Ehre, Sie einmal persönlich zu treffen", ergänzte der rechte und gab ihm ebenfalls die Hand. Der Dialekt verriet, dass die beiden offenbar Engländer waren. Sergio nickte nur, statt die Begrüßung ernsthaft zu erwidern.
"Meinerseits", antwortete er stattdessen einsilbig und kam dann zur Sache. "Das ist Luceija... Ascaiath", stellte er das Mädchen neben sich vor und legte dabei die Hand auf ihre Schulter. Erst beim Nachnamen zuckten plötzlich beide Komplizen wie gestochen zusammen und reichten jeweils auch Luci eifrig die Hand.
"Die Herren sehen also, dass der Erziehung hier eine gewisse Wichtigkeit zukommt. Die Zelle wird eine Änderung der Abläufe also angesichts ihres Namens gerne verschmerzen. Ich übernehme gerne die Verantwortung"
Die beiden blonden Männer tauschten kurz Blicke aus, nickten dann aber synchron. Die Situation wurde wohl immer rätselhafter für Luceija, je länger die Männer miteinander sprachen.
"Im Grunde sind wir froh darum. Der Kerl hält dicht wie ein Ventil. Je früher wir die Sache hier abhaken können, desto eher können wir neue Quellen suchen. Nur hätte ihn die Zelle gerne der Forschung gewidmet, statt ihn zu verschwenden"
Sergio winkte ab.
"Glauben Sie mir, meine Herren. Meine Forschungen sind relevanter für die Familie als alles, was man an seinem gewöhnlichen Fleisch ergründen könnte. Und Luceija hier ist eben essentieller Teil meiner Forschungen. Wie gesagt: Die Zelle wird es verstehen."
Beide nickten wieder. "Sollen wir also?", lud einer freundlich ein und deutete auf die Lukentür.
"Nach Ihnen", bestätigte Sergio.
Vier Hände waren nötig, um den metallenen Drehgriff in Bewegug zu setzen, bis sich die Tür quietschend nach innen öffnete. Licht blendete auf, nachdem alle durch das Loch geklettert waren, und strahlte aus zwei Flutlichtern rechts und links der Tür einem Mann ins Gesicht, der an den Armen von der Decke baumelte. Schon auf den ersten Blick sah er fürchterlich aus, war übersäht von Schnitten und Brandmalen auf seinem entblößten Oberkörper. Seine Beine baumelten kraftlos in einen großen Bottich voller Wasser. Es roch verbrannt und leicht süßlich. Eine kanistergroße Batterie war mit einem Pol an den Bottich angeschlossen, das andere Kabel schlängelte sich zu einem verklebten Klemmkontakt auf einem Werkzeugtisch daneben, der allerlei vertraute und skurille Gerätschaften auf sich hatte.
Der Mann zuckte kaum, als ihn das Licht blendete, doch er schien lebendig. Die Luke schloss sich wieder und mit einem erneuten Quietschen drehte einer der Komplizen den Drehverschluss hinter allen zu. Eine Weile standen alle vier nur um den Mann herum und ließen die Eindrücke auf sich wirken.
"Er redet einfach nicht", erläuterte dann endlich einer der Zwillinge. "Wir haben alles versucht. Vier Tage geht das schon. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo er körperlich keine weiteren 'Verfahren' mehr erträgt. Wir müssten ihn jetzt erst wieder aufpäppeln, bevor es weitergeht, aber je länger wir hier sind, desto höher das Risiko aufzufliegen. Und ihn lebend wegzuschaffen zu einem anderen Versteck, ist auf der Citadel immer riskant. C-Sec hat schon Tips bekommen, in den Warendocks zu suchen. Uns bleiben vielleicht noch ein oder zwei Tage."
"Aber tot lässt er sich leichter wegschaffen", beendete Sergio den Gedanken mit einem verstehenden Nicken während er kinnkratzend den Körper des Geschundenen betrachtete. Die Zwillinge nickten ebenfalls synchron.
"Wir dachten an Säure. Dann bringen wir ihn chargenweise in Farbeimern weg", erklärte einer trocken. Sergio nickte beeindruckt und lobte den Einfall. Der Geschundene an den Seilen schien im Delirium kaum zu verstehen, was gerade so morbide über sein Schicksal entschieden wurde.
"Geben Sie uns einen Moment", bat Sergio die Zwillinge, die sich verständnisvoll in eine Ecke des Raumes begaben und dort miteinander den weiteren Verlauf diskutierten. Inzwischen wandte sich Sergio wieder auf Italienisch an Luceija.
"Also Luci. Frag mich nicht, was er getan hat oder was er weiß, ich weiß es selbst nicht und es geht mich auch nichts an. Aber ich weiß, dass er es mit Sicherheit verdient hat, wenn er hier hängt. Er hat der Familie geschadet. Und jetzt soll er sterben. Cerberus will es. Die beiden könnten das auch selbst, das sind Profis. Aber ich will, dass du das übernimmst. Und ich will, dass du dir aussuchst, wie du es tust. Hier liegt alles, was man braucht. Es gibt schnelle und langsame Arten, aber für den Moment ist es mir gleich, welche du aussuchst."
Er griff Luceija bei den Schultern und drehte sie zu ihrem Opfer, zwang sie, ihn anzusehen.
"Schau doch - Er will es sogar. Er hat tagelang gelitten und jetzt kannst du ihn erlösen. Du tust damit also jedem einen Gefallen. Der Familie, den Zwillingen hier, mir und sogar ihm. Aber es ist mehr als nur ein Gefallen, Luci. Es ist deine Pflicht. Cerberus erwartet von dir, dass du hierzu bereit bist. Bedingungslos. Also je schneller du ein Werkzeug von dem Tisch dort greifst und die Sache zu Ende bringst, desto schneller kannst du mir und deiner Familie beweisen, wie loyal du uns wirklich bist. Und nur so, Luci, bist du auch bereit, Ulysses kaltzumachen."
Er nahm seine Hände von ihren Schultern und trat einen Schritt zurück. Mit verschränkten Armen beobachtete er sie nur und hielt dabei seinen eisernen Blick. Auch die beiden Zwillinge beobachteten Luceija aus der Ecke des Raumes genau. Es schien fast schon ein Ausdruck von Stolz in ihren Gesichtern zu liegen.
Thousand Eyes - Of Monsters And Men (https://www.youtube.com/watch?v=wylkSUS9Ofs)
Luceija stand inmitten irgendeines unterirdischen Bunkers, dessen rostige Wände sich wohl gerade so hielten und nicht allzu viel weiteren Platz zuließen als den, den sie aktuell einnahmen. Und dennoch war dieser Raum grösser und höher, als der Vorraum ihnen vorgaukeln wollte. Seitdem sie durch die Luke hindurchgekrochen waren und eine weitere, klaustrophobische Enge zurückließen, war es dieser schwitzende, geschundene Körper, der im Mittelpunkt stand und jegliche Aufmerksamkeit der Halbitalienerin auf sich zog.
Es war etwas völlig anderes, so etwas in Filmen zu sehen oder davon zu lesen. Niemand bereitete einen auf den süßlichen, modrig-stickigen Geruch vor, der sofort in ihrem Inneren den Drang in Gang setzen wollte, sich zu übergeben. Ihre Nase zuckte leicht, als sie den Hängenden betrachtete, Sergios Hand auf ihrer Schulter nicht einmal direkt wahrnahm und erstrecht nicht genau wusste, warum diese Personen, die dem baldigen Leichnam beistanden, so seltsam reagierten, kaum, dass sie ihren Namen erfuhren. Sie ließ sich die Hand schütteln, reagierte oder sprach ansonsten aber nicht. In ihrem Augenwinkel sah sie den Mann noch immer Baumeln, auch, wenn sie unlängst zwischen Sergio und den beiden Blonden hin und her sah. Bei allem was sie in ihren jungen Jahren bereits ausgesetzt gewesen war - Drogensüchtigen, die sich den letzten Schuss gaben, Leute, die nach einer Barschlägerei abgestochen wurden oder Selbstmörder, die sich in ihren Wohnungen den Strick geknüpft hatten – war diese Situation dennoch etwas, was sie zu beängstigen wusste. Sie wollte von der Szenerie absehen, sich auf Sergio und die Blonden versteifen und ignorieren, was sich sonst im Raum abspielte und weiter ruhig und hart bleiben. Auch, als der Doc sie bereits wieder auf Italienisch ansprach. Aber sie konnte nicht. Nicht nur, weil der Ältere ihre Schultern packte und sie unmittelbar zu ihrem Opfer drehte. Unlängst hatte sich dieses Bild in ihre Netzhaut gebrannt. Schon bevor Sergio erklärt hatte was er hier von ihr verlangte, hatte sie eine Ahnung, worauf das hinauslaufen würde und sie konnte sich nicht entscheiden, ob es ihr gefallen wollte.
Mehrere Seiten begannen in ihr zu kämpfen. Da war die, die Cerberus mit vollkommenem Umfang diente. Die willenlos gegenüber ihren eigenen Entscheidungen war. Die von einer Terrororganisation geformt und zurechtgebogen wurde, die von den Prinzipien wusste, die sie hatten, die Jahrelang mit ihren Methoden und ihrer Weltanschauung geimpft wurde. Luceija wollte sie stolz machen. Wollte der Familie helfen und dienen, würde sich selbst mit fünfzehn Jahren schon widerstandslos für die Organisation – für Sergio – in den eigenen Tod werfen, wenn es sein musste.
Aber andererseits war da noch die Seite des pubertierenden Mädchens. Der letzte Ansatz jedweder Unschuld, von der ohnehin nichtmehr viel übrig war. Schon weit vorher hatte die Halbitalienerin sich in den schmutzigsten Kneipen herumgetrieben, hatte Zugang zu Alkohol, Zigaretten und selbstverständlich Drogen gehabt (auch außerhalb der Reichweite Sergios) und die physische ‚Unschuld‘ weitaus früher an einen deutlich, deutlich Älteren auf Sizilien verloren. Dennoch konnte man nicht ignorieren, dass noch immer ein Quäntchen eines reinen Mädchens irgendwo in ihr steckte, dass jetzt gegen die Cerberusloyalität rebellierte, in der Angst aufkeimte und die eine Gänsehaut bekam. Die nicht zu dem Hängenden hinsehen wollte und dennoch musste. Der übel wurde. Die Seite, die ihre Familie vernichtet sehen wollte.
Kaum dass Sergio in ihrem Rücken etwas zurückgetreten war, stand sie selbst im Mittelpunkt dieses Raumes und überschattete selbst den Angeleuchteten. Sie spürte, wie die Blicke auf ihr hafteten, spürte den Druck, mit dem das Schweigen die Halbitalienerin zu dieser Tat zwingen wollte. ‚Es ist ganz einfach.‘, wollte sie sich selbst klarmachen. ‚Du hast das oft genug gesehen. Du musst nichts anderes tun als das, was du schon gesehen hast.‘
Luceija wollte nicht, dass man ihr die Unsicherheit ansah. Sie hatte das Gefühl, Sergio zu enttäuschen, wenn sie das nicht irgendwie hinbekommen würde und es gab kaum etwas, was sie mehr verunsicherte, als ihn enttäuscht zu wissen. Sie wollte mutig und entschlossen wirken, biss unsichtbar auf ihre Unterlippe und näherte sich der Person mit langsamen Schritten, die in dem metallenen Kubus von den Wänden hallten. Noch während sie auf ihn zuschritt versuchte sie sich zu überlegen, wie sie das hier beenden konnte und fand sich in einem Strang aus inneren Monologen wieder, die sie sich selbst nicht wiedererkennen ließen. Sie fragte sich, was sie sehen wollen würden. Ob die Wahl der Tötungsart sie irgendwie klassifizieren würde. Ob ihre Erlaubnis, bei Sergio bleiben zu dürfen, mit der Entscheidung ihrer Mordwaffe stand und fiel. Der schnellste Mord, ihn einfach zu erschießen und damit zu erlösen, war mit Sicherheit eine Option, die sie sich offenhalten wollte, aber sie glaubte zu wissen, dass es sie als Feigling auszeichnen würde. Dies hier war eine Prüfung wie so manch andere vor ihnen. In ihrem Zimmer, auf dem Behandlungsbett, hatte sie über Jahre hinweg unsagbar viele Behandlungen über sich ergehen lassen müssen, die ebenfalls einer Prüfung gleichgekommen waren. Sie erinnerte sich nichtmehr an die allerersten, aber die jüngsten, die in ihrer Erinnerung festhingen, waren verbunden mit vielen Tränen und Schmerzen. Aber heute lernte sie mit den Schmerzen umzugehen und sie nicht länger als einen Feind zu sehen, sondern ein Zeichen dafür, dass sie alles überstehen würde und bislang alles richtiggemacht hatte. Solange sie Schmerzen empfand, solange Sergio ihr Spritzen und andere Mittel verabreichte, solange sie darunter leiden durfte hatte sie alles getan was die Familie von ihr wollte. Sie waren alle Stolz auf sie und das, was sie schuf. Sie hatte geschafft, was andere nicht geschafft hatten. Wertvoll. Unersetzlich.
Sie musste zeigen, wie unersetzlich sie auch hier für Cerberus war und je mehr sie sich davon überzeugte, desto mehr konnte sie sich motivieren, auf den Unbekannten zuzugehen. Aus nächster Nähe roch sie das verkohlte Fleisch diverser, zu langer Elektroschocks. Hautfetzen, die sich unter der Hitze aufgebläht hatten und geplatzt waren. Schnitte, die nicht lebensbedrohlich waren aber tief genug um beißenden Schmerz hinzuzufügen. Hätte er das Glück zu überleben gehabt, wäre jede einzelne Schnittwunde an seinem Leib eine gut sichtbare Narbe auf einem hellen Leib. Es schien ironisch genug, dass sich die Schwarzhaarige genau hierauf fixierte und, noch bevor sie es wagte, zum Werkzeugtisch herüberzugehen, ihren Finger über eine tiefe, lange Schnittwunde führte, die ihm etwa auf Brusthöhe zugefügt wurde und sich geradewegs bis zur Hüfte zog. Das Blut darin war geronnen, sodass sie davon ausgehen konnte, dass es eine der ersten gewesen war.
In vielen ihrer Bücher hatte sie die Autoren Narben als eine Trophäe bezeichnen sehen. Als wichtigster Zeuge von Triumph aus einem Kampf, als unmittelbarer Beweis, wieviel Schmerz ein Mensch zu ertragen bereit gewesen war. Womöglich war diese Indoktrination der Grund, weshalb die Halbitalienerin selbst vierzehneinhalb Jahre später keine Einzige ihrer eigenen Narben entfernen ließ. Jede Einzelne war eine Lehre und dieser Mann war der – noch – lebende Beweis dafür, dass er sehr viel auszuhalten wusste, wo er noch immer atmete und unter ihrer Berührung zusammenzuckte. Ihre eigene Hand zitterte leicht und sie hoffte, dass Sergio das nicht sah. Niemand es sah.
Ihr Herz schlug heftigst gegen ihre Brust. Sie spürte, wie es gegen ihren Hals zu schlagen versuchte. Wie es zu groß für diese Position war und ihr die Luft abdrücken wollte und sie dazu trieb, sich von dem Mann zurückzuziehen. Sich umzudrehen, tief aber zittrig einzuatmen und dabei den ekelerregenden Gestank weiter in ihre Lungen zu führen. Halt fand sie erst an dem Tisch, der alles beinhaltete, um ein Lebewesen auf jegliche Art und Weise auseinander zu nehmen. Wirklich alles. Mehrere Arten von Pistolen, Werkzeuge, die eindeutig bereits gebraucht, weil blutig, vor ihr lagen. Sägen, verschiedene Kabel und ebenfalls Phiolen, die nahezu sorgfältig aufgereiht am Kopfende des Tisches standen. Zwischen allem lagen auch Messer. Einige davon bereits blutig, andere wiederum nicht. Die Halbitalienerin stützte sich mit beiden Händen auf der Platte ab, versuchte, den Würgereiz zurück zu halten und atmete stark durch die Nase.
Als sie wieder aufblickte und sich der tosende Magen wenigstens einen Moment beruhigt hatte, richtete sie sich auf, lies die Schultern kurz kreisen und entschied sich dann zuerst dafür, die Jacke auszuziehen die sie trug. Sie landete achtlos auf einigen der sauberen Gerätschaften. Daraufhin ließ sie ihre leicht zitternde Hand über die Gerätschaften fliegen und war von der schieren Auswahl überfordert. Die meisten Utensilien kategorisierte sie schlichtweg aus – es sollte eine Strafe für ihn sein, sein Tod durfte, so ahnte sie, keine Wohltat für den Mann sein, wenn er tatsächlich gegen die Familie gehandelt hatte. Also auch wenn es ihr am angenehmsten gewesen wäre, würde sie die Pistolen nicht nutzen. Dennoch musste sie beweisen, dass sie das hier konnte. Irgendwie schaffte. Und dementsprechend schnell griff sie zu einem der Messer, welches dort lag und umfasste es mit der Faust, sodass die scharfe Klinge nach unten zeigte und sie am meisten Kraft in einen Hieb setzen konnte. Es lag außerordentlich gut in der Hand.
Der Weg zurück zu dem hängenden Mann schien sich verlängert zu haben. Es waren so viele Schritte nötig bis sie endlich bei ihm war, dass sie glaubte, zwischendrin wieder den Mut zu verlieren, dass hier tatsächlich zu tun. Die Hand mit dem Messer zitterte erkennbar, aber sie versuchte es zu kompensieren, indem sie es stärker umfasste. Zur Seite blickte sie in Sergios Richtung, der ihr entgegenstarrte um sie zu beobachten, aber nichts tat um sie aufzuhalten oder das ganze nur als eine Scharade zu enttarnen. Ihre Augen brannten und die Strahler, die den Mann ausleuchteten und blendeten und ihm jeglichen Schlaf entzogen, schienen den Raum in eine ungeheure Hitze zu verwandeln. Wieder roch sie jeden Zentimeter der geschundenen Haut, roch den widerlichen Geruch von Erbrochenem und Unrat, von Brandverletzungen und geronnenem Blut und Fäulnis, die sich im kontaminierten Wasser zu seinen Füßen breitmachte. Ihre eigene Übelkeit kochte wieder nach oben, als sie seinen Körper absuchte als sei es ein Kunstwerk, dass sie zu zerstören hatte. Sie sah, wie der Mann schwach gegen das Licht blinzelte und ihrer niederen Position wegen direkt auf Luceija hinabsehen konnte. Für einen Moment sahen sie sich an. Luceija wurde nur noch übler. Die Jugendliche hob den Arm mit der Tatwaffe, noch unsicher, wo sie zustechen sollte. Ob es wahllos oder präzise geschehen sollte. Schnell oder langsam. „Bitte..“, keuchte der Gefangene mit übelriechendem Atem zu ihr hinunter und Luci glaubte zu wissen, was nun kam. Der Teil, in welchem er sie um sein Leben anbettelte, widerlich und jämmerlich um seine Existenz zu flehen begann, wo sie es war, die ihm die Absage erteilen musste. Gnadenlos mit ihm sein musste, wo Sergio in ihrem Rücken sie daran erinnert hatte, dass von Cerberus keine Gnade zu erwarten war. Doch stattdessen war er nicht darauf bedacht zu betteln – zumindest nicht um sein Leben.
„Töte - mich.“
Es war so, wie Sergio es gesagt hatte. Er wollte den Tod. Luci war nur diejenige, die ihm diesen endlich gewaehren wuerde. Es war nicht nur ein Gefallen, den sie hier irgendjemandem tun musste. Es war ihre Pflicht, diesen Mann zu toeten. Ihre Aufgabe. Ihr Gestaendnis an ihre Familie.
Und mit einem Mal geschah alles schneller, als ihr Geist es registrieren konnte: Ohne weiter nachzudenken hob sie das fest umklammerte, moderne Militärsmesser an, zögerte nur noch eine Sekunde, in der sie schwer atmend und die Lippen gegeneinanderpressend den perfekten Ort suchte und dann – unterhalb seiner Kehle, linksseitig, fest, begleitet von einem angestrengten, angespannten Stöhnen in das blasse Fleisch stach. Es traf gerade so, anatomisch erschreckend präzise, dass es ihn nicht sofort umbrachte, sondern sie langsam das Zittern überspielen konnte, indem sie das Messer in seinem Fleisch nach unten über die rechte Seite zog und damit noch einmal so tief und mit jeglicher Kraft des schmalen Mädchens das Fleisch durchschnitt, dass schon beim ersten Anstich weiteres Blut in den Raum und auch ihre eigene Richtung spritzte.
Erst jetzt zitterte ihre Hand richtig. Blutschwaden ergossen sich aus dem Hals des Mannes und flossen in asymmetrischer Linie über den gesamten Körper. Er röchelte, laut und angestrengt, und im Nachhinein fiel ihr erst auf, dass er vor Schmerz geschrien hatte, als sie die Klinge in ihm heruntergezogen hatte, als wolle sie ihn ausweiden. Etwas hatte geknackst und in ihm zerbrochen und sie wusste nicht einmal, dass sie wirklich so viel Kraft besaß das hier zu tun. Ihr Herz rammte gegen den Brustkorb, als wäre sie selbst diejenige gewesen, die man regelrecht ausgeweidet hätte. Kurze, schwere Atemzüge brachen zwischen leicht geöffneten, blutbeschmierten Lippen hervor. Sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte. Dass sie, selbst wenn sie ernsthafte Zweifel oder Mitleid empfunden hätte, keine Wahl gehabt hätte. Er war schuldig, so schuldig wie es nur eben sein konnte. Er hatte die Familie verraten und niemand verriet die Familie.
Luceija ließ die Waffe fallen, kaum, dass der überaus tiefe Schnitt vollendet war. Der Geruch von eisenhaltigem Blut überdeckte den anderer Nuancen. Sie sah weg, sofort und schnell, drehte sich, presste die Rückseite ihres Unterarmes gegen den Mund, erstickte damit ihre eigenen, schnellen Atemzüge und das aufkeimende Wimmern. Blockierte damit auch den Weg für den aufkeimenden Mageninhalt und stöhnte mit zusammengekniffenen Augen gegen ihre Haut.
Sie sah niemanden mehr. Nicht die Blonden. Nicht Sergio. Er würde sie für schwach halten.
Sie durfte nicht schwach sein. Niemals.
Ihr Ziehvater betrachtete das gesamte Geschehen zunächst beinahe regungslos. In seiner Ecke des Raumes faltete er die Hände hinter dem Rücken ineinander und blieb ein stummer Beobachter. Ebenso verhielt es sich mit den Zwillingen, die in der diagonal gegenüberliegenden Ecke in einer ähnlichen Pose Luceijas Zögern analysierten. Selbst, als Luceija nach einer Weile endlich ihr Gewissen überwand und mit dem Messer zustach, presste Sergio lediglich die Lippen leicht gegeneinander. Erst, als sie den Schnitt weit über den Körper des Opfers diagonal nach unten zog und das eben noch kraftlose Opfer einen Schmerzensschrei von sich gab, verzog er etwas angewidert das Gesicht, regte sich aber nicht vom Fleck. Der Schrei ging bald in ein Röcheln über und verstummte schließlich gänzlich, als der plötzliche Blutverlust den Mann bewusstlos hinuntersacken ließ. Skeptisch beäugte Sergio, wie Luceija das Messer fallen ließ und sich abwandte und Mühe hatte, sich nicht zu übergeben. Das gelegentliche Röcheln des ausblutenden Opfers hallte in dem kleinen Raum wiede. Zu diesem Geräusch gesellte sich nun das von Sergios Anzugschuhabsätzen, als er langsam auf Luceija zuging und ihr die Hand auf die Schulter legte. Erst wirkte es wie ein tröstender Griff, doch dann legte er auch seine zweite Hand auf ihre andere Schulter und drehte sie mit dem Gesicht zurück in die Richtung des Geschächteten. Er stellte sich hinter Luceija und hielt sie weiterhin fest, sodass sie sich nicht abwenden konnte, legte dann eine Hand unter ihr Kinn, griff ihren Kiefer und hielt ihren Kopf so, dass sie geradeaus sehen musste. Er schaute mit ihr nach vorne und sah dem Mann beim Verbluten zu, doch immer, wenn er bemerkte, dass Luceija die Augen zukniff, gab er ihr eine leichte Ohrfeige, stets begleitet von einem leisen "Sieh hin". Nach etwa einer Minute regte sich nichts mehr am baumelnden Körper. Blut floss weiterhin aus, doch das rhythmisch herausspritzende Blut suchte sich jetzt nur noch in geraden Bahnen seinen Weg am Körper des Mannes hinab, bis es das Wasser zu seinen Füßen dunkler und dunkler färbte. Eine weitere Minute später ließ Sergio endlich los, drehte nun selbst die beinahe paralysierte Luceija von der Blickrichtung des Toten weg.
"Gut gemacht, Luci. Glaub mir, der Kerl hat es verdient. Er hat unseren Leuten viel schlimmeres angetan. Ich bin stolz auf dich", brummte er leise zu ihr und drückte ihre Schulter leicht in einer Mischung aus Trost und Stolz, doch seine Worte klangen weit weniger enthusiastisch. Selbst für einen Mann, der alles gesehen hatte und der zudem als Arzt die pragmatische Körperlichkeit des Menschen eher akzeptierte als so manch anderer, war der Anblick eines Sterbenden immer etwas Auslaugendes - egal wie schuldig dieser sein mochte. Dann drückte er Luceija ein weißes Tuch in die Hand und deutete hinüber zu einem Handspiegel auf dem Werkzeugtisch.
"Wisch dir das Blut vom Gesicht - wir wollen draußen nicht zu sehr auffallen", forderte er sie auf und hoffte, ihr mit einer Aufgabe etwas die Fassungslosigkeit zu nehmen. Anschließend trat er wieder zu den beiden Gastgebern und schüttelte ihnen erneut die Hände.
"Ich danke Ihnen beiden für die Gelegenheit", brummte er trocken und robotisch.
"Wir haben zu danken. Das beschleunigt das Ganze erheblich", erwiderte der eine.
"Wir haben damals auch noch auf diese Art gelernt", ergänzte der andere. Sergio kommentierte es nicht, nickte nur höflich und begab sich dann Richtung Ausgang. Noch bevor er und Luceija den Raum auf sein Drängen hin verlassen hatten, rollten die beiden Blonden bereits ein gelbes Fass aus der Ecke des Raumes heran. Sergio warf einen Blick zurück durch die kreisrunde Luke. Die Männer stülpten sich Atemmasken über. Der eine löste die Seile an den Händen des Toten von der Decke, sodass dieser leblos wie ein Sack in den Bottich klatschte. Ein Arm hing über den Rand des Gefäßes. Achtlos schob einer mit dem Schuh den schlaffen Arm zurück ins Becken. Dann hoben beide das Fass gemeinsam an und leerten die Flüssigkeit darin in den Bottich. Dämpfe quollen hinauf und es zischte. Sergio schloss eilig die Luke mit einem Knall und drehte sie fest zu. Eine Verabschiedung gab es nicht. Diese Männer waren der Inbegriff von Effizienz.
Luceija und Sergio fanden allein den Weg durch den dunklen Geheimschacht nach oben und dann nach draußen, wobei Sergio peinlichst genau darauf bedacht war, alles wieder so zu verschließen, wie er es vorgefunden hatte. Das Skycar schob er ohne Luceijas Hilfe wieder nach draußen. Er war überzeugt, dass sie momentan eher Zeit für sich und ihre Gedanken brauchte und sprach daher auch nicht.
Erst nach etwa drei Minuten Flugzeit, als das Dockviertel außer Sicht war und sich ihr Skycar wieder in die geordneten Schlangen der anderen einreihte, durchbrach er die Stille mit einem ernstgemeinten: "Gut gemacht", doch sah er sie dabei nicht an, sondern beobachtete dabei den Verkehr vor sich.
Sie hatte ihren Kopf kaum bewegt. Obwohl sie schon längst erst den Raum mit ihrem Opfer verlassen hatten, wobei sie im Hintergrund noch das Kratzen des Fasses über den Boden und das Platschen der Person in den Bottich Wasser hörte, fühlte es sich noch immer so an, als hielte Sergio ihr Gesicht ausgerichtet an diesen einen Punkt. Entgegen den ersten Versuchen in denen sie wegsehen oder sich aus seinem Griff befreien wollte, saß sie nun regungs- und wortlos neben ihm im Shuttle und bewegte ihren Kopf keinen Zentimeter mehr in irgendeine Richtung. Nur noch der Rest ihres Körpers hatte reagiert, sie das Gesicht paralysiert reinigen und danach die Jacke nehmen lassen und sie letztlich durch die Luke und den Schacht wieder nach ‚draußen‘ gebracht. Sie blickte unlängst ins Nichts, beobachtete mit nach wie vor leicht zitternden Armen, wie die Shuttles sich um ihr eigenes reihten und sie auf dem Weg zurück in Richtung ihr Apartment knapp über diverse Dächer diverser Hochhäuser flogen.
„Gut gemacht“, sagte er, aber Luci erreichte dieses durchaus ernst gemeinte Lob nicht. Sie fühlte sich kalt und kraftlos, Müdigkeit war zurück in ihre Glieder gekrochen und ihr wurde ziemlich schnell klar: etwas in und an ihr - das spürte sie und war keine fantastische Interpretation eines bewanderten Autors - hatte sich heute verändert. „Mhm…“
Ihre Speiseröhre brannte furchteinflößend und ihr wurde heiß und kalt zur selben Zeit. Auch, wenn sie den Kopf nicht bewegte, fand sie Halt mit ihren ruhelosen Fingern an den Armaturen der Seitentüre, in die sie sich krallte und irgendetwas zu kompensieren versuchte, was man ihr nicht direkt ansah. Minutenlang ging dieses Spiel, minutenlang sah man, wie sie die Lippen gegeneinanderpresste, sie löste und es dann wieder tat und ihre Nüstern sich während tiefem Ein- und Ausatmen hoben und senkten. „Halt an.“, forderte sie, nachdem es sehr lange still gewesen war. Sie waren auf halbem Weg zurück auf ihren Ward, aber das hier konnte sie nicht kontrollieren oder gar bis dahin aushalten. „Halt – halt sofort an.“, forderte sie nochmals, krallte sich indessen so in die Seitenhalterung, dass sie Kratzspuren auf dem Material hinterließ, ehe Sergio im wahrsten Sinne einlenkte und das Skycar links aus dem Verkehr riss, indem er auf manuelle Steuerung wechselte.
Auf einer kleinen, künstlichen Allee, gebaut auf einem der riesigen Hochhausdächer, landete er kurzentschlossen. Noch ehe das Car richtig gelandet war, schlug die Sizilianerin auf die Entriegelung und fiel mehr nach draußen in das künstliche Gras als sie ausstieg, blieb auf den Knien und übergab sich krampfartig.
Erst ein Husten beendete einige Minuten später das ekelerregende Szenario, dem ein paar Abendspaziergänger nicht weiter zusehen wollten, sondern sich angewidert abdrehten.
Die Situation war dem Fahrer des Wagens in mehrfacher Weise sehr unangenehm. Einerseits fühlte er natürlich mit seiner Luci mit. Er selbst hatte damals nicht anders reagiert, als er seinen ersten Toten zu verantworten hatte, nur war das zu dieser Zeit noch im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung geschehen und er war eher durch Fahrlässigkeit als durch bloße Absicht zum Mörder geworden, doch noch heute erinnerte er sich, wie er damals aus dem OP-Saal gestürmt war und sich in des Desinfektionsbecken übergeben hatte. Die wahren Morde kamen erst viel später. Seltsamerweise waren diese dann viel leichter für ihn zu verkraften. Dann war er mit dem Umgang mit seinem Gewissen bereits viel geübter. Doch bei Luci sah es ganz anders aus: Sie war viel jünger als er damals und sie hatte gerade eben mit äußerster Härte erfahren, wie es sich anfühlte, ein Leben zu beenden, das in voller Blüte stand. Insgeheim bewunderte er sie, dass sie es überhaupt ohne weiteren Zwang geschafft hatte. In Anbetracht aller Umstände empfand er tatsächlich so etwas wie Stolz. Nicht für die Tat an sich - ein Menschenleben war viel zerbrechlicher, als die meisten glaubten. Er war stolz auf ihre unbedingte Loyalität und ihr Pflichtbewusstsein. Er war sich sicher, dass sie es in der Familie weit bringen würde. Doch dafür musste sie erst das dunkle Tal durchqueren, was sich ihr nun zurecht auftat. In einer Geste, die eher symbolisch Hilfsbereitschaft ausdrückte, hielt er ihr die Haare zurück, als ihr Körper versuchte, die Schuldgefühle wie ein Gift auszuschwemmen. Er hielt ihr die Hand auf den Rücken und stützte ihren Körper, damit sie nicht in ihr eigenes Erbrochenes fiel.
Dann wurde ihm die Sache auf die zweite Art unbequem. Einige der Citadelbewohner, die hier umhergingen - manche geschäftig, andere ziellos, zumeist Aliens, aber auch einige Menschen - blickten neugierig auf das ungleiche Paar hinüber, beäugten sie skeptisch, soweit es deren fremdartigen Mimiken verrieten. Nicht nur, dass es Sergio etwas peinlich war, die Aufmerksamkeit der Massen war schlicht eine Gefahr. Nichteinmal zehn Meter von ihnen standen zwei bewaffnete Turianer mit C-Sec Orden auf der Rüstung. Sie sahen die beiden Menschen abfällig an und wären sie von der noch recht unbekannten und durch den Erstkontaktkrieg verhassten Rasse nicht so angewidert gewesen, sie wären sicher näher gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Dann hätten sie vielleicht bei einem genaueren Blick den einen oder anderen Blutfleck auf Luceijas dunkler Kleidung entdeckt und die Sache wäre wohl schneller zu Ende gegangen als geplant. Doch die beiden Turianer gingen weiter, wollten sich das Würgen eines Menschen nicht länger anhören und verschwanden von der Bildfläche.
Als Luceijas Magen sich beruhigte, streckte er ihr ein Taschentuch entgegen, damit sie sich damit - erneut - das Gesicht säubern konnte. Während sie dies tat, eilte er noch kurz zu einem Tupari Sportsdrink-Automaten etwas weiter weg und kaufte Luceija die intensivste Geschmacksrichtung - eine fremdartige Beere, die in Reinform nur für Turianer und Quarianer genießbar war. Doch auch marktwirtschaftlich hatte sich durch das Ausbreiten der Menschheit viel auf der Citadel geändert. 'Jetzt mit linksdrehenden Aminosäuren', stand in Menschenschrift auf der Dose, die sonst nur Aliensymbole trug. Für den Moment störte sich der eher xenophobe Italiener nicht daran - für ein paar Elektrolyte und schon um den Geschmack loszuwerden brauchte Luceija etwas für die Fahrt.
Schon eine gute Viertelstunde später betraten beide wieder die Wohnungstür, durch die sie vor zwei Stunden so übereilt gehastet waren, nur damit Sergio rechtzeitig einleiten konnte, was er "moralische Präsupposition" nannte, was auch immer er damit auszusagen versuchte. Beide saßen zunächst still auf der Eckcouch und verarbeiteten das Geschehene schweigend. Nun hatte er nicht einmal zwei Tage, um nicht nur Luceijas Psyche zu stabilisieren, sondern sie zudem auch noch auf die Ausführung des eigentlichen Plans vorzubereiten. Eine Mammutaufgabe. Er begegnete dieser hoffnungslosen Situation mit der einzig richtigen Lösung.
"Ich hole den Wein", entschied er mit einem Tonfall, der so klang, als gäbe es tatsächlich nur diese logische Konsequenz. Er holte gleich zwei Flaschen - beide scheinbar uralt und sogar noch mit einem Narurkorken verschlossen. Luceija stellte er zudem ein Weinglas auf den Tisch, obwohl er wusste, dass sie es wahrscheinlich nicht benutzen würde, und platzierte ihre Flasche direkt daneben. Er selbst hingegen schenkte sich langsam etwas in das durch die Vibration singende Glas ein, leerte es mit einem Zug und füllte es dann mit einem zweiten Ausschank, den er dann zurückgelehnt im Sessel in der Hand behielt. Er seufzte still. Er glaubte nicht, für diese Situation tröstende Worte finden zu können., also schwieg er.
Luci erwischte sich dabei wie sie leise brummte, als Sergio zurück um die Ecke kam und vor sie die zwei Flaschen Wein auf den Tisch stellte, ebenso wie zwei dickbäuchige Weingläser, die auf ihre Befüllung warteten. Tatsächlich wusste er, was sie in diesem Moment am ehesten wollte – idealweise alles, was in ihr schlummerte und durch diese Tat aufgewirbelt wurde zu betäuben. Und sich ganz nebenbei auch noch den ekelhaften Geschmack aus dem Mund spülen, der so tief saß, dass kein Tupari Sportsdrink der Welt ihn hätte überdecken können. Sie sagte weiterhin nichts und saß einfach nur neben ihrem Vater. Ihr Blick haftete an der verstaubten Weinflasche, die er eben für sich geöffnet hatte, sein eigenes Glas befüllte, es komplett austrank, als habe er den Alkohol gerade am Nötigsten, und sich dann ein weiteres Mal einschenkte bevor er sich zurücklehnen wollte.
Es war ein Verhalten, dass für ihn nicht unbedingt üblich war – Wein zelebrierte der Sizilianer wie ein Kunstwerk, dass es eindeutig war. Sie hatte ihm immer gerne dabei zugesehen, wie er ihr von lokalen Weinreben und den Ernten erzählte. Wie er Freude daran entwickelte, dass es noch wenige, nostalgische Dinge gab, die mit Hilfe von Maschinen und übertriebener Modernität niemals so gut werden konnten wie durch die Handarbeit selbst. Dass es auf die Lage, auf den Boden, das Saatgut und die Sonne ankam, wie gut der nächste Jahrgang werden würde. Wie viel Mühe man sich mit dem pigiare l’uva gab. Wie lange er in Fässern nachreifen durfte.
Für Wein brauchte man Geduld, allem voran immer Geduld. Leidenschaft. Den besonderen Funken für das besondere Produkt. Luceija war dieses Verhalten eingebläut worden, da hatte Sergio ihr noch nicht mal den neapolitanischen Dialekt ausgetrieben, über den er herzog und hingegen über den Sizilianischen stets stolz „C'e' acchi cosa di cchiu' beddu p'un populu d' 'a lingua di so' 'ntinati?“ Was könnte wichtiger sein für ein Volk als die Sprache seiner Vorfahren? zu sagen pflegte.
Noch war es nicht Zeit für die junge Frau, Zusammenhänge zu der Kultur rund um den Wein und dem von Mord, Rache und der daraus resultierenden Erfüllung zu ziehen, aber es lag ihr im Blut und würde sich entwickeln, jetzt, wo sie den ersten, wichtigen Grundstein für diese Entwicklung gelegt hatten. Anstatt der Assoziation mit ihrer Tat fiel der Italienerin insbesondere das Etikett auf, auf welches sie leblos blickte und es las. ‚Cavallotti Maissala, Marsala Bena Vittore, Nerello Mascalese, DOC 2161’
Der Sizilianer hatte nicht viel über seine eigene Vergangenheit gesprochen. Zwar hatte Luci das eine oder andere Mal seine Verwandtschaft gesehen und auch kennengelernt, doch waren sie bis dato schon so alt, dass es zu keiner engeren Bindung hätte kommen können. Aber das hier war etwas, worüber sie Bescheid wusste: Sergios Mutter, Benedetta Vittore, hatte selbst recht früh ein Weingut geerbt und als Winzerin eine recht stattliche Summe Geld angespart. Heute war der Familienbetrieb auf Marsala verkauft, weil ihr einziger Sohn, Sergio, zwar den selben Faible für guten Wein hatte, aber sich für ‚mehr‘ als das Winzern geschaffen sah. Eine gute Sammlung Flaschen waren es aber noch immer, die in seinem Lager standen und die er offenbar gerne hier auf die Citadel hin mitgenommen hatte, allerdings etwas sparsamer öffnete, als Rotwein anderer, renommierter Winzer. Warum gerade heute diese Flaschen geköpft wurden? War es der angekündigte Stolz, den er ihr versichert hatte?
Sie beugte sich leicht nach vorne, nahm die Flasche in ihre schmale Hand und begutachtete sie sorgfältig. Ihre Fingerkuppen strichen den Staub von ihrem Bauch und studierten das brüchig wirkende Etikett, an dessen Ecken sie das Papier umklappen konnte.
„Die sind von deinen Eltern.“, stellte das Mädchen fest und sie bemerkte kaum, dass sich, als sie sich nach vorne lehnte um den Wein mit unsteten Fingern zu öffnen und ihr Glas damit zu füllen um den Wein für das zu ehren was er war, Wasser in ihren Augen sammelte. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken. Es gab keinen Anlass zur Sentimentalität. Und obwohl sie sich weiter einreden wollte, wie stark sie doch war, wie wenig sie Zuneigung, Liebe und Stolz interessierte, wie sehr sie glaubte, ohne all diese intimen Gefühle leben zu können, umso mehr bemerkte sie, dass es genau das war, was ihr gerade fehlte. Sie liebte die Familie – würde alles für sie tun. Stehlen. Leiden. Sterben. Morden. Aber sie kam nicht darum herum zu glauben, nicht gut genug für sie zu sein. Ganz gleich, was sie mit ihrer großen Klappe versuchte zu vertuschen.
Luci nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und spürte die leichte, sanfte Alkoholbetäubung auf ihrer Zunge.
"Oh, tatsächlich?", entgegnete Sergio in eindeutig gespielter Überraschung. Er schien etwas verlegen über die exlusive Wahl seines Weines zu sein und leugnete daher zunächst, überhaupt gewusst zu haben. was er ihr dort vorsetzte. Er streckte sich zu ihr hinüber und nahm ihr die Flasche aus der Hand, um in gefälschter Neugier das Etikett selbst zu inspizieren. Doch Luceija sah ihn mit einem Blick an, den er für Unglauben hielt - berechtigterweise. Er hielt dem Blick nicht lange stand, sondern räumte schnell seine kleine Verlegenheitslüge ein.
"Du weißt ja... Mein Kaffee und mein Wein... Das sind die zwei Dinge, die ich von der Erde hierher mitgebracht habe, um mich zwischen all den schuppigen und schleimigen Wesen hier und dem unechten Licht trotzdem heimisch zu fühlen. Der Wein von zu Hause... Das ist die Essenz, das Symbol der Erde und der Menschheit für mich. Und auch Symbol meiner Familie. Eben all dessen was mir wichtig ist", erklärte er mit einem leicht nostalgischen Ton, bevor er kurz den Blick von ihr abkehrte und tief Luft holte, als er versuchte, die richtigen Worte zu finden. "Wenn ich das hier also mit dir teile, dann hat das einen besonderen Grund. Nämlich den, dass du dich heute zu all dem bekannt hast. Du warst schon von Geburt an in diese Organisation hineingeboren, bist ihr gefolgt und hast sicher auch vieles für diese große Familie getan. Aber es war eben etwas, das du musstest. Nur ein Papierboot auf einem Fluss, der jeder Strömung folgt. Aber heute hast du bewiesen, dass du diesem Strom auch aus eigenem Willen weiterfolgst, selbst wenn dir vermeintlich unüberwindliche Hindernisse im Wege stehen. Heute hast du dich zu unserer Menschheitsbewegung und zur Familie bekannt. Stolz beschreibt nicht mal im Entferntesten, was ich darüber empfinde. Es ist mehr wie das Glücksgefühl, wenn man endlich in den ersten Apfel beißt, den der jahrelang gepflegte Baum dir schließlich schenkt. Jetzt sehe ich endlich, dass du hinter all dem stehst, was wirklich zählt... Was wäre da passender, als ein Tropfen vom irdischen Weingut meiner Eltern"
Sergio lächelte sie nocheinmal an und legte ihr eine Hand auf ihre Schulter. Dann stellte er die Flasche symbolisch an Luceijas Seite des Couchtisches und lehnte sich wieder zurück. Aus den Augenwinkeln betrachtete er Luceija genau und versuchte, ihre psychische Verfassung zu deuten. Natürlich war sie nervlich völlig überspannt, nachdem sie alles, was sie intuitiv über Ethik gelernt hatte zugunsten der Familie über Bord geworfen hatte. Doch sollte diese Anspannung zu abnormale Ausmaße annehmen, würde er sicher auch vor einer medikamentösen Unterstützung ihrer Psyche nicht zurückweichen. Doch für den Moment sollte es der Alkohol lösen - ältestes Psychopharmakon der Menschheit.
Der Wein war gerade erst über ihre Lippen herübergelaufen. Hatte eine sanfte, tiefrote Färbung darauf hinterlassen, die unsichtbar für den normalen Beobachter schien, sich aber wie samt auf sie legte und erst nach mehreren Sekunden, in denen sie den Geschmack aus der Flüssigkeit kostete, mit selbiger Geschmeidigkeit den trockenen Rachen hinablief. Sofort bildete sich der leichte Ansatz einer Gänsehaut und es vereinigten sich so viele Emotionen auf einmal in ihr, dass sie nicht wusste, ob sie deren Herr werden konnte.
Sergios Worte waren durch ihr Gehör direkt in ihr Herz gedrungen. Es war schwer für die Halbitalienerin zu glauben, dass er wirklich einen so starken Stolz für sie entwickeln würde. Zwar war es keine lieblose Beziehung zwischen ihnen beiden, in jedem Funken steckte tiefe Verbundenheit und Liebe, aber für sie war dieses Geständnis so selten so deutlich gewesen wie jetzt. Ihr Atem stockte für einen Moment. Jeden Tag, jede Sekunde ihres Lebens pushte der Sizilianer sie weiter. Trieb sie über den Rand ihrer eigenen Fähigkeiten hinaus, ging seinem Auftrag nach und formte aus ihr die gewünschte Perfektion, die sie erhalten wollten: Wissensdurstig, unnachgiebig und willig alles blind zu erledigen, was die Familie ihr auftrug. Natürlich war sie diesem Ideal noch nicht hundertprozentig gerecht geworden. Auch das war ein Nebenprodukt dieser Erziehung: Zu glauben, dass es niemals reichte um ihr anzutrainieren jedwede Grenzen zu sprengen, die sie hielten. Quasi mehr Peitsche als Zuckerbrot, aber dennoch ausgewogen genug um sie am Ball zu halten. Und wenn es ihre Überzeugungen nicht getan hätten, dann war es das langsam wachsende, unstete Verlangen nach neuer Medizin, dass sich in ihrem Blutkreislauf bewegen konnte. Doch jetzt war es wie der Abschluss eines Meilensteines, sie war einem Ziel so unfassbar nahe, fühlte sich aber dennoch irgendwie leer, auch, wenn das umfangreiche Lob ihr eine sehr seltene Art der Rührung ins innerste zu treiben versuchte. Innerlich redete sie sich ein, einfach nur verwirrt zu sein. Von außen war es das erste Zeichen einer irreparablen Zerstörung, dass beide nicht nur ignorieren würden, sondern es auch mussten. Alles zum größeren Wohl.
Der Geschmack ihrer Heimat lag ihr nun auf der Zunge. Fruchtige Nuancen von Heidelbeeren, die hölzerne Note der Reifung im Fass, eine liebliche Schwere die die Sprenkel von Sulfide direkt in ihren unsicheren Geist trieben. Als könne man die Heimat schmecken – wenn es irgendwie möglich war die Perfektion einzufangen, die Sizilien hergab, dann war sie hier und in dieser Flasche versammelt gewesen.
Schnell gesellte sich zu der einsamen, unentdeckten Träne ein ganzer Vorhang weiterer Perlen, die an ihren Wangen hinabliefen, ohne, dass sie zuvor eine andere, nennenswerte Reaktion gezeigt hätte. Doch ihre Haut schien übersättigt, kribbelte leicht und reagierte auf seine Worte und die Berührung ihrer Schulter mit so viel, dass sie es weder benennen noch einordnen konnte. Alles, was sie eindeutig fühlte, als sie Siziliens Geschmack in ihrem Mund hatte, sich einbildete, das Meer riechen zu können und die einzige, kontinuierliche Vertrautheit die sie kannte neben ihr saß, war: „Ich will nach Hause…“. Was sie weinen lies, ihren Körper ein wenig krümmte und dann…
Luci schien noch unsicher, selbst, als ihr Gefühlsapparat erstmalig jegliche Handlung und den Verstand übernahm. Das hier war nie auf diese Weise geschehen. Aber sie konnte den inneren Drang nach Nähe nicht blockieren, nicht jetzt, so sehr sie es auch wollte und so sehr sie glaubte, damit etwas zu tun, wofür sie den Stolz wieder komplett verlieren würde. Und dennoch bewegte sich ihr Körper wie eigenständig zur Seite, die Beine angewinkelt an sich gedrückt, so lange, bis sie Sergios Schulter an ihrer Wange spürte, den Geruch der gewaschenen Kleidung aufnahm und nicht anders konnte als leise zu weinen.
Sergio war es keineswegs gewohnt, dass Luceija weinte, doch es überraschte ihn auch nicht zu sehr. Wenn dies hier nicht als Ausnahmesituation zählte, was dann? Es war nach seiner Meinung keineswegs Zeichen der Schwäche, dass sie ihre Gefühle zeigte, denn würde sie es nicht tun, würde aus ihr in kürzester Zeit eine Psychopathin werden - und das war aus persönlicher, wie auch aus professioneller Perspektive absolut inakzeptabel. Was würde Cerberus eine geistesgestörte Killerin nützen, deren Stabilität man nicht einschätzen konnte? Leise flüsternd unterhalb dieser rationalen Gedanken gesellte sich eine zweite, immer lauter werdende Stimme in seinem Kopf dazu: Was würde vor allem er selbst tun, wenn er seine Luci nicht mehr hätte? Es war ein anderes Verhältnis als das von Vater zu Tochter. Spätestens, seit sie etwa neun oder zehn Jahre alt war, war sie eher so etwas wie eine Schülerin und mit jedem Jahr, das sie an Lebenserfahrung gewann und in dem Sergio sich von der Außenwelt isolierte, wurde sie zudem auch seine einzige wirkliche Freundin. Außer ihr traute er niemandem mehr - wenn er ehrlich zu sich war, nichteinmal mehr den anderen Zellenmitgliedern. Sicher stand er noch hinter dem Grundgedanken der Organisation und war bis in den Tod loyal, doch er selbst wusste wie jeder andere darin, dass jedes Mitglied oft eigene Auslegungen hatte, wie man Cerberus am besten dienen sollte - und wen man dazu auch nötigenfalls in den eigenen Reihen ausradieren musste. Nein - Vertrauen, das hatte inzwischen nur noch seine Luceija verdient. Und je länger dies so blieb, desto ambivalenter wurde sein Verhältnis zu ihr. Vater war er ihr nie wirklich, auch wenn sie es oft im Spaß oder in einer Notlüge so nannten. Doch auch Mentor war er ihr oft nicht mehr, wenn alle Pflichten erledigt waren. Dann war sie einfach eine sehr enge Freundin. Unerfahrender und jünger, aber dennoch gleichwertig. Und gerade jetzt, da auch ihr Körper reifte, musste er sich oft selbst erinnern, dass seine Arbeit Vorrang vor seinen Bedürfnissen hatte. Aber jetzt war er bedingungslos ihr Freund. Und so als sei es jemand anderes gewesen, der ihr dieses Leid heute zugefügt hatte - so als sei der Sergio, der sie vorhin noch gezwungen hatte, einen von ihr gemeuchelten ausbluten zu sehen, ein anderer Mann, als der, der sie nun tröstend umarmte und an sich zog, sanft ihren Rücken streichelte und ihren Hinterkopf hielt - so als sei der Mentor ein anderer Mensch als ihr Freund, der nun bei ihr saß, tröstete er sie geduldig und mitfühlend.
"Ich will auch nach Hause, Luci. Wenn Everett endlich von der Bildfläche verschwunden ist, machen wir beide einen Urlaub von all dem hier. Bräunen uns unter der echten Sonne, nicht unter diesem künstlichen UV-Licht zwischen Blech und seltsamen Aliens. Wir brauchen ohnehin bald neuen Wein aus der Heimat. Vielleicht keltern wir uns dort ein paar Trauben, wenn die Ernte gut ist. Ich schreibe uns einfach ein Gutachten - Muss doch auch Vorteile haben, einen Doktor zu kennen. Ich stelle mir selbst ein Attest aus und setze mich ein paar Wochen in einen schattigen Schaukelstuhl. Und dich nehme ich mit mir", murmelte er in entspannender Stimme in ihr Ohr, als er versuchte, sie zu beruhigen. Und trotzdem erlaubte er ihr zu weinen. Sie tat es viel zu selten.
Sie war so wenig eine normale Jugendliche wie sei ein normales Kind gewesen war. Jeder Schritt, den sie in ihrem Leben gegangen war, egal, ob nun durch wirklich gute oder richtig schlechte Zeiten, hatte Spuren an ihr hinterlassen und sie eben zu dieser jungen Frau geformt die sie nun war. Doch dass insgesamt etwas nicht mit ihr stimmte, wenn man sie in den Vergleich mit anderen Mädchen ihres Alters setzte, war nicht von der Hand zu weisen. Viele Faktoren spielten dabei in ihr Gesamtkunstwerk hinein. Die Drogensucht, die Versuche, die Disziplin, aber auch die unverhoffte Isolation aus einem regulären, sozialen Umfeld mit Freunden und anderen Bezugspunkten. Sie wurde immer gemahnt vorsichtig zu sein, wenn sie mit anderen sprach und so etwas wie Vertrauen außerhalb der Familie nicht aufzubauen. Das führte zu vielen temporären Bekanntschaften. Auch auf Sizilien kannte sie einige Mädchen und Jungen in ihrem Alter, war oft draußen, lebte ein scheinbar unbeschwertes Leben dort, aber wirkliche, permanente Freundschaften wollten sich nicht entwickeln. Bei ihrem eher offensiven und labilen Verhalten und vielen kleineren, kriminellen Machenschaften im Hintergrund die bei Kindern eher übersehen wurden, war das Resultat aus allem, dass ihr genauso wenig vertraut wurde. Mehrere Male führte man sie auch in Hinterhalte, lies sie die Scheiße anderer ausbaden bis sie alt genug war daraus zu lernen und sich zu rächen.
Letztlich waren es so viele Lücken in einem scheinbar perfekten Bild, dass man Ewigkeiten weiter darüber hatte philosophieren können welche unerkannten Traumata die junge Frau seelisch verstümmelt hatten. Zumindest oberflächlich wollte sie anderen weißmachen, makellos zu sein, mit ihrer großen Klappe, der zielsichersten Waffe. Doch grub man tiefer, schaute zwischen die verhärteten Fassaden und auch die Tatsache, dass sie für ihre wenigen Lebensjahre viel zu selten geweint hatte, erkannte man eben das: Etwas stimmte nicht.
Luci ließ sich halten und fühlte sich ungewohnt geborgen. Genoss es sogar, wie die Finger ihren Rücken streichelten, wie sie die Anwesenheit eines anderen Menschen riechen konnte, wie sie den heimischen Geruch des immer gleichbleibenden Waschmittels erkennen konnte. Sie weinte sich im wahrsten Sinn leer, schien immer kraftloser zu werden je mehr Tränen sie vergoss, aber sich dadurch auch wieder mehr und mehr zu entspannen.
Es war ihr nicht möglich herauszufinden wie lange sie so geweint hatte, aber die unter der Feuchtigkeit aufgequollenen Augen sprachen von einer langen Zeit.
„Tut mir leid...“, entschuldigte sie sich und versuchte sich, ausgelaugt und mit einem wiederkehrenden, leichten Zittern, die nassen Wangen mit der Hand zu säubern, aber es gelang nicht wirklich. Sie blieb nah bei ihm sitzen, richtete sich aber wenigstens ein Stück wieder zurück in eine sitzende Position. Zittrig griff sie nach dem Wein und wollte ihn wieder genießen, egal, wie viele Heimatgefühle er aus ihr herauslocken würde. Idealerweise wollte sie so betrunken werden, dass sie nie wieder aus der Illusion, noch immer auf Sizilien zu sein, ausbrechen konnte. „Kannst du mir irgendwas geben...?“, war ein nur noch deutlicheres Zeichen dafür, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Und es war auch das erste Mal, dass sie ihn bewusst um irgendwelche Arten von Drogen bat, nur, damit sie sich irgendwie abschießen oder sich zumindest zusammenreißen konnte. Dafür hatte sie gewöhnlich doch zu viel Angst gehabt oder es sich einfach besorgt. Jetzt aber war es wie ein neuer Schritt auf ihrer Vertrauensleiter.
Luci trank weiter, einen Schluck nach dem anderen, den sie aber nicht schlang, sondern versuchte immer etwas von ihrem Gaumen schmecken zu lassen, ihn zu würdigen.
Zu einem kurzen Lächeln konnte er sich dann doch noch durchringen, als ihre Tränen nach einiger Zeit versiegten und sie sich auf ihren Platz zurücksetzte. Er wusste genauso wie sie, dass die Sache damit nicht überstanden war, doch immerhin hatte sie den ersten Schritt der Verarbeitung bereits begonnen. Nachdem die seelische Wunde zum ersten Mal verarztet war, war es wenig überraschend, dass Luceija sogleich nach etwas fragte, das den Schmerz linderte. Er war es gewohnt. Zwischen all den Chemikalien, mit denen er Luceija täglich vollpumpte war es unvermeidlich, dass sie gewisse Toleranzen, Gewohnheiten und Suchtverhaltensweisen ausbildete. Sergio sah seine Medikamente dennoch als eine Notwendigkeit an. Etwas, das wie Nahrung nötig war und das erst in der Überdosis krank machte. Entsprechend antwortete er ihr auf ihre Frage zunächst mit einem tadelnden Gesichtsausdruck, so wie man einen Menschen ansah, der einfach zu viel Süßes aß oder zu viel trank. Dann nickte er angesichts der Ausnahmesituation schließlich doch, nahm noch einen Schluck aus seinem Weinglas und ging dann hinüber ins Labor, um dort aus dem Medikamentenschrank ein orange-transparentes Döschen zu holen, das er Luceija im Vorbeigehen und Hinsetzen auf den Schoß warf. Er hatte die Pillen nichtmal abgezählt, denn die Dose war randvoll mit glasig-durchsichtigen Glücklichmachern, die in ihrer Konsistenz eher Gelatine ähnelten als Pillen.
"Mindestens zwei Mal zwei am Tag und höchstens... naja, sagen wir an schlechten Tagen nicht mehr als insgesamt zwanzig. Hör einfach auf deinen Körper, du wirst schon merken, wenn es zu viele waren", appellierte er an ihre Vernunft und wusste dabei doch ganz genau, dass er damit ein Risiko einging. Immerhin trank sie zu ihrer ersten Dosis gerade Alkohol.
"Wenn du halluzinierst, war es wahrscheinlich zu viel... Und niemals plötzlich absetzen - dir wird es sonst richtig beschissen gehen, glaub mir", erklärte er locker, obwohl der Inhalt alles andere als unwichtig schien. Unterdessen legte er ein Bein auf der Couch nach oben und schaltete auf dem Holoschirm über das Extranet eine italienische Telenovela ein. Die Schauspieler waren grauenhaft, der Plot löchrig wie ein Schweizerkäse, doch es beruhigte ihn, dass die Leute zumindest so ähnlich parlierten, wie er es von Kind auf kannte. Und er vermutete, dass es Luceija ebenso helfen würde - vom Unterhaltungswert der unterirdisch schlecht produzierten Sendung einmal abgesehen.
Die kleinen Gelatineartigen Pillchen schlugen geräuschvoll an die Wände des orangefarbenen Röhrchens in dem sie steckten, als sie der jungen Sizilianerin in den Schoß fielen. Sie seufzte beinahe erholt - schon beim Anblick der Mittel und dem Gedanken daran, gleich etwas einnehmen zu können, dass ihr diesen Druck im Inneren nahm. Es wurde nur besser während sie die kleine Dose in die Hand nahm, zittrige Hände den Deckel umfassten und sie mehrere Anläufe brauchte um ihn langsam und behäbig abzuschrauben. "Alles klar...", murrte sie nur, hatte auch registriert welche Dosis er empfohlen hatte, legte den Fokus aber erstmal darauf, eine unmittelbare Heilung auf ihre Schmerzen zu bekommen. Luci tat es Sergio damit gleich die Pillen nicht abzuzählen, sondern führte direkt den Zylinder an ihre Lippen, stürzte ihn um und füllte den Mund direkt mit mehreren Antidepressiva. Sie erfühlte mindestens 4 auf der Zunge, tatsächlich aber waren es 5, die sie mit dem perfekten Wein hinunterschluckte.
Das Zittern wich, langsam aber sicher, obwohl die Pillen keine so schnelle Wirkung zeigen konnten. Es war eher schon ein leichter Plazeboeffekt, der sie in einen wohligen Zustand versetzte. Die kleine Schwarzhaarige schraubte den Deckel wieder sorgfältig zu - diesmal mit deutlich ruhigeren Händen - setzte das Döschen vor sich auf den Tisch und ahmte einmal mehr Sergio nach indem sie die Beine in einer gemütlicheren Haltung zu sich hinauf aufs Sofa nahm.
Nun war der Fernseher das Zentrum jedweder Aufmerksamkeit und zeigte mehrere junge Männer und zwei Frauen an einem großen Tisch, an welchem sie gemeinsam zu Abend aßen und sich über das lächerliche Verhalten ihrer Nachbarn beklagten. Die Diskussion an sich hangelte sich an jedem Klischee entlang, aber auch wie die Szene inszeniert wurde, lies dabei in nichts nach: Es war laut, sie gestikulierten allesamt wild zum unterstreichen ihrer Argumente und man hätte das Temperament aus der Luft greifen können, so stark waberte es über den Schauspielern. Weder Sergio noch Luceija hatten Probleme dem Plot zu folgen und dem Gewirr an Stimmen Einzelheiten zu entnehmen. Doch wirklich aufmerksam war sie dennoch nicht, denn was sie gesagt hatte, entsprach der absoluten Wahrheit: Sie wollte nach Hause. So dringend wie noch nie. Und jede Szene, auch, wenn die Telenovela an einem komplett anderen Eck Italiens gedreht wurde, erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie wieder dort sein könnte. Sitzend am Strand. Salzhaltige Meerluft einatmend. Aber sie konnte kein Salz riechen. Sie konnte nicht mal richtig atmen. Der Sender vor ihren Augen verzog sich, Kopfschmerz pulsierte in ihren Schläfen und sehr schnell war es soweit, dass die junge Frau nicht einmal mehr ein Wort verstand. Alles klang auseinandergezogen in ihren Ohren und enthob sich jedem Zusammenhang. Schwäche hüllte sie weiter ein und trieb sie dazu, sich in die andere Richtung des Sofas, rechtsseitig hinzulegen. Das Rotweinglas, dass sie gehalten hatte, entglitt ihr, fiel auf den Boden, blieb aber ganz und verteilte einfach nur den Rest des Weines, vielleicht einen Schluck, auf dem sauberen hellgrau. Sie wusste nicht, woran es lag. An den Pillen? An etwas anderem? Stress? Heimweh? Was auch immer es war, es knockte sie aus.
Zunächst bemerkte Sergio gar nicht, dass Luceija allmählich wegdriftete, schaute stattdessen weiter auf den Fernseher, oder besser gesagt, halb durch diesen hindurch, denn wirklich auf diese schwachsinnige Serie konzentriert wirkte er nicht. Erst das Scheppern des Weinglases auf den Bodenpanelen riss den Italiener wieder aus seinen tiefen Gedanken. Luceija war nun völlig weggetreten und hatte, als sie sich auf das Sofa gelegt hatte, das Weinglas einfach fallen lassen. Da das kostbare Glas nicht zerstört war, ärgerte sich sein Besitzer auch nicht zu sehr darüber, und da er auch keine Teppiche in dieser Wohnung hatte, machte er sich auch über den Wein auf dem Boden wenig Gedanken. Er würde den Fleck dem Putzroboter überlassen, der hin und wieder hier herumsauste. Stattdessen betrachtete er Luceija eine Weile während sie dort lag und schlief und auch wenn er sich nach wie vor um ihre Psyche sorgte, wirkte sie gerade so friedlich, als wäre nichts von all dem heute geschehen. Sicher eine Viertelstunde lag er so da, bis er bemerkte, dass die Sendung, die er angewählt hatte, inzwischen vorbei war. Etwas widerwillig erhob er sich aus seinem Polster und hob das Weinglas auf, das inzwischen halb unter das Sofa gerollt war. Da er dabei weit unter das Möbel greifen musste, lehnte er sich mit seinem Gesicht etwas näher an das von Luceija, die durch das blockierte Licht und Sergios Atem auf ihrer Haut offenbar leicht erwachte und die Augen ein kleines Stück öffnete. Dieser sah ihr kurz etwas überrascht in die halboffenen grünen Augen und war kurz vor ihr kniend regungslos geblieben, bis sie die Lider wieder senkte. Dann stellte er das Weinglas auf dem Couchtisch ab, griff Luceija unter Kniekehlen und Nacken, um sie vom Sofa zu heben und zum Labor zu tragen. Bedingt durch die Wirkung der Medikamente gemeinsam mit dem Wein, war ihr Schlaf nicht wirklich tief, sondern mehr etwas wie ein halbbewusste Sedierung, in der alles um sie herum langsamer wirkte und sich auf Grund ständiger sich einmischender Halluzinationen schwer von einem Traum unterscheiden ließ. Entsprechend trafen sich auf dem Weg den Flur hinunter wieder die Blicke der beiden, wobei Sergios Mimik wohl beruhigend genug auf Luceija wirkte, dass sie sich bedenkenlos tragen ließ. Vorsichtig hob er sie durch die Labortür und legte sie sanft auf ihrem Behandlungsbett ab. Er half ihr in ihrer Schwäche halb aus der Jacke, die sie noch immer trug sowie aus ihren neuen Stiefeln, mit denen diese ganze Sache doch erst angefangen hatte. Dann nahm er ein Fläschchen und eine Spritze der üblichen Medikamente aus dem Medizinschrank in der Ecke des Raumes, setzte sich auf seinen Stammplatz, den Rollhocker neben ihrem Bett, und zog mit einer gewissen Routine die Spritze mit der leicht violetten Flüssigkeit auf. Er entschloss sich, die Dosis heute etwas zu reduzieren, da die Mittel ungünstig mit den Antidepressiva und dem Alkohol interagieren könnten. Er wollte bereits in der gewohnten Weise ihren sonst kurzen Topärmel hinaufrollen und die Spritze an ihrem Oberarmmuskel ansetzen, bis er bemerkte, dass sie heute ein langärmliges Shirt trug. Also legte er die Spritze kurz auf dem Nachtschrank ab und half der wachen, aber etwas benebelten Luceija, das Top auszuziehen, wobei sie ihm eher wenig behilflich war, sondern nur ihr Körpergewicht beim Liegen etwas umverlagerte, um es Sergio leichter zu machen. Erst jetzt konnte er die Kanüle an ihrem Arm ansetzen und die Flüssigkeit im Kolben langsam injizieren. Gerade wollte er aufstehen und das Labor, das sie ihr Zimmer nannte, verlassen, als sie ihn im halben Delirium am Handgelenk griff. Etwas irritiert setzte er sich wieder und sah Luceija in die glasig wirkenden, grünen Augen, deren Pupillen stark geweitet waren und die beinahe durch Sergio hindurchzuschauen schienen. Er wusste nicht, was sie gerade sah, doch er wusste, dass er sie so nicht alleine lassen konnte. Also blieb er noch eine Weile bei ihr.
Einige Stunden später trat Sergio aus dem Labor heraus, richtete sich die Haare und legte sich seinen Arztkittel wieder an. Es gab noch einiges an Arbeit zu tun, bevor er sich selbst Schlaf gönnen würde.
Viel zu warm glaubte sie den Raum vorzufinden, als sie irgendwann, mitten in der Nacht, wie sie anhand des Weckers unweit ihres Kissens erkennen konnte, aufgewacht war. Sie war zugedeckt worden und obwohl der Stoff der Decke wirklich dünn war, klebte er regelrecht an ihrem Körper. Dass sie schlecht geschlafen hatte konnte sie allerdings nicht sagen, die übliche Gute-Nacht-Spritze war betörend wie immer und wiegte sie in einem wohligen Bett aus freien Gedanken. Wenigstens einige Momente lang hatte sie nicht an den Mord denken müssen, der sie sicherlich heimgesucht hätte, wenn es diese wundervollen Medikamente nicht gegeben hätte. Selbst diese Neuerungen ihrer abendlichen Routinen ließen sie zwar mit einem ungewohnten Gefühl zurück, aber sicherlich keinem schlechten. Nur leichte Schmerzen die sie nicht als solche bezeichnet, sondern für unwichtig oder sogar eher einen Triumph gehalten hätte, verteilten sich über ihren Körper, insgesamt aber fühlte sie sich erschreckend erfüllt. Welcher Teil von Euphorie-Nachwirkung ihr auch immer gerade den Kopf verdrehte schaffte es erstaunlich gut, ließ sie ihr Gesicht mit der Nase voraus gegen ihren ausgestreckten Oberarm drücken und einen längst getrockneten Schweißfilm erkennen, der ihrer Haut einen wundervoll neutralen und zudem heimatlichen Duft verlieh.
Sie lag einige Zeit ruhig so da ohne wieder einzuschlafen und hörte ihrem minimalst beschleunigten Herzschlag dabei zu wie er gegen ihre Brust pulsierte. Ihr Atem war ausgeglichen aber ebenfalls lauter als sonst, intensiver und länger, sodass sie jegliche Empfindung in den Luftstrom legen konnte, der tief in sie hinein und wieder herausfuhr. Erst später, als ihr trockener Mund nach Flüssigkeit bettelte war sie dazu bereit die Position aufzugeben, sich langsam aufzurichten und die Decke mit ihren Füßen ans untere Ende der Liege zu knautschen. Prompt fror sie, als sie die sichere Wärme aufgegeben hatte und mit ihr einher kamen dunkle Gedanken zurück in ihren Kopf. Sie hörte, als leises Echo, die jämmerlichen Schreie des eigens von ihr Gequält- und Geschächteten, hörte, wie er immer leiser wurde und verinnerlichte das, was sie dabei gefühlt hatte in sich. Ebenso wie das was sie gefühlt hatte, als Sergio sie zurück in Richtung des Opfers gedreht hatte und sie zugesehen hatte, wie Liter um Liter Blut aus ihm heraus quoll, von seinem Leib rann und schließlich in das Becken tropfte, in welchem er zum Teil hing.
Luci rieb sich die Schläfen und tastete regelrecht blind nach den Mitteln, die ihr Vater ihr gestern noch gegeben hatte. Davon, zwanzig Einheiten am Tag nicht zu überschreiten, war sie noch sehr weit entfernt und deshalb empfand sie auch kein Risiko dabei den Behälter aufzuschrauben, zwei Pillen herauszunehmen und sie direkt zu schlucken, als sie sie endlich fand.
Das Mädchen rutschte von ihrem "Bett", ging wenige Schritte, bis sie an ihrem Schrank angekommen war und öffnete diesen um sich ein ziemlich großes Tanktop über die nackte Haut zu werfen, bevor sie kehrt machte und aus ihrem Zimmer in Richtung Kühlschrank trat. Sie fand ihn mittlerweile ohne irgendein Licht anschalten zu müssen, trottete zielsicher an das Objekt ihrer Begierde heran und öffnete ihn, bis ihr das gleißende Licht im inneren entgegenstrahlte und sie kurzzeitig blendete. Ihr zweites Objective war schnell gefunden: Die bereits vorangerührten und einzeln abgefüllten, etikettlosen Drinks in der Plastikflasche schienen nun genau richtig und schon der erste Schluck löschte den massiven Durst und spülte den salzigen Geschmack ihre raue Kehle hinunter. Noch während sie Schluck für Schluck trank und dabei ziemlich leblos im Apartment herumsah, traf ihr Blick den Ausgang in Richtung Terrasse, auf die sie langsam zu lief. Müde Augen sahen nach draußen, konnten aber nur die obersten Apartments sehen, die sich schüppchenweise hochreihten. Wenige hatten noch Licht an, an einem Fenster sah sie eindeutig, dass jemand einen Film sah und der Rest schien entweder nicht da zu sein oder tief und fest zu schlafen. Sie hingegen blieb weiter schlaflos, drückte am rot leuchtenden Panel um die Terrassentüre zu öffnen und trat heraus auf das nur bedingt kühlere Steinimitat. Sie vermisste einmal mehr die Meeresluft und vorallem auch die Wetteränderungen an sich. Hier gab es nur das selbe, klinische Klima und die selben, langweiligen Bedingungen, die sie akzeptieren musste wie sie waren. Luci setzte sich auf eines der Gartenmöbel, bemerkte, dass auch diese Sitzposition gewisse Schmerzen verursachte und nahm dann die Beine zu sich nach oben und betrachtete das, was die Citadel in Sachen "Sternenhimmel" zu bieten hatte. Wenigstens das, der Blick aufs weite All, lediglich getrübt von Masseneffektfeldern zur eigenen Sicherheit, stimmte sie für den Moment milde und übertünchte das Bild der Leiche, eingebrannt in ihrer Netzhaut.
Der Arzt und Hausherr erwachte erst mit den ersten vom Witwe-System eindringenden Sonnenstrahlen durch sein Fenster. Es war noch früh am Morgen, und dennoch war er nicht der erste, der zumindest kurzzeitig vorher durch das Haus gespukt war. Sergios erste Wahrnehmung war die von pochenden Kopfschmerzen hinter beiden Augen, die er, wie üblich, vorhatte mit ein wenig Espresso zu kurieren. Er erhob sich von der Wohnzimmercouch, auf der er eher versehentlich genächtigt hatte, und schlurfte durch das zu weiche Polster bucklig in Richtung Küche, um dort seine achteckige Espressokanne mit Kaffeepulver zu füllen. Erst nach dem dritten Löffel bemerkte er, dass Luceija draußen vor dem Fenster in einem Liegestuhl auf der Terrasse lag, leicht zusammengekauert, und dort die hinter einem gegenüberliegenden Wardflügel aufgehende Sonne genoss wie ein Salamander.
Mit zwei dampfenden Tassen Espresso trat Sergio bald darauf ebenfalls nach draußen und stellte Luceijas Tasse vor ihr auf dem Terrassentisch ab. Er sprach nicht, weckte sie nicht auf, sondern überließ dem Kaffeeduft diese Aufgabe, als er sich nachdenklich am Geländer in seinem Wohnviertel umblickte und dabei ab und an aus seinem Tässchen schlürfte. Noch immer trug er die Kleidung vom Vortag und seine Haare waren struppig, doch in Gedanken war er bereits wach und bei der Arbeit.
"Hast du dir schon ein Kleid ausgesucht?", rief er nach einigen Minuten hinter sich, als er Luceijas erste Regungen hörte.
"Bestell dir irgendwas kurzes im Extranet. Sieh zu, dass es etwas ist, worin du älter aussiehst. Make-Up schadet sicher auch nicht... Premiumversand. Immerhin sind wir heute Abend auf einer Party - nicht viel Zeit zum Aussuchen", erklärte er ruhig und langsam, während er den Rest seiner Tasse austrank und einen verbleibenden Kaffeetropfen in seinem Tässchen herumrollen ließ. Als unter seiner Terasse drei Salarianer vorbeiliefen, folgte er seinem kindischen Instinkt und leerte den Tropfen über das Geländer aus, woraufhin der unten getroffene Salarianer sich konfus umblickte. Schmunzelnd kehrte sich Sergio vom Geländer ab und setzte sich auf einen Stuhl neben Luceija.
"Wie gesagt, der Plan ist im Grunde ganz einfach, Luci. Everetts Zellenkontaktmann zum Alten ist ein Clubbesitzer auf dem Sunstrip. Er schaut dort jede Woche vorbei um Pläne abzusprechen und Schwarzgeld abzugraben. Es würde mich zwar auch interessieren, was sie weiteres vorhaben, aber am sichersten ist es wohl, wenn wir keine Gelegenheit verstreichen lassen. Ich denke, er weiß nicht wie du aussiehst - er kennt nur meine steinalten Akten, da bin ich mir sicher. Deine Aufgabe ist es deshalb, ihn mit einem Betäubungsmittel zu sedieren. Am besten gebe ich dir ein paar Alternativen mit - Brausetabletten für Cocktails, Klebepflaster, eine Fingerkuppenkanüle und ein getränktes Atemtuch. Entscheide einfach je nach Situation, was du benutzt. Dann gibst du mir über Funk das Signal, ich warte bis das Mittel wirkt und schnappe mir dann Everett, so lange er noch stehen kann. Dann schleppe ich ihn zur Toilette, behaupte, er habe zu viel getrunken, wenn jemand fragt, und verpasse ihm in einer Toilettenkabine eine Drogenüberdosis. Ein bisschen Schmiergeld bei der C-Sec und sie gehen der Sache nicht weiter nach. Ärzte mit Zugang zu Rauschmitteln gibt es Dutzende auf der Citadel... Das ist der Plan. Wenn alles glatt läuft, musst du heute also nicht die Drecksarbeit machen", spielte er auf ihren Mord vom Vortag an und wollte sie somit wohl beruhigen...
"Ach und was das Reinkommen betrifft... Leicht bekleidete Frauen haben in diesem Club wohl besondere Vorzüge, um genug Tanzmaterial für die reichen Säcke dort zu bieten. Am besten gehst du einfach ohne mich zu einem der Türsteher und fragst ihn, ob sie noch Frauen für die VIP-Lounge brauchen. Die lassen dich sicher durch, da habe ich keine Zweifel. Wir sehen uns dann in der Lounge, bevor sich der Laden füllt. Und hey, wenn noch Zeit ist, hätte ich nichts gegen einen Drink einzuwenden", grinste Sergio leicht und schloss, so verriet es sein Blick, damit wohl auch einige Drinks für Luceija mit ein.
Die halbe Nacht hatte sie hier verbracht. Auf der Terrasse des schuppenartig angeordneten Apartments, geschützt von den Blicken oberer Anwohner, aber als letztes Gebäude auf dem Treppchen nach unten, mit der einzigen Möglichkeit, unten auf die Wege zu sehen. Dort, wo ein Salarianer erschrocken zusammenzuckte, sich den Kopf rieb und derartig perplex gen Himmel sah, dass man ernsthaft glauben konnte, dass er sich überlegte, ob es hier regnete. Sie sah und hörte ihn nicht, sondern konnte nur aus halbgeöffneten Augen das verschmitzte Grinsen des Sizilianers erkennen, der sich nun zu ihr umdrehte und auf sie zu kam. "Mmm-mmm..", brummte die Halbitalienerin nur und verneinte damit die Frage ihres Adoptivvaters nach dem Kleid. Sie hatte sich ernsthaft noch keine einzigen Gedanken über den weiteren Plan machen können. Alle Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, hatten immer mit diesem einen Moment zu tun. Mit diesem grellenden Schrei, dem Tropfen von Blut und dem Gestank von verbranntem Fleisch in ihrer Nase. Ihr wurde permanent übel wenn sie daran dachte, gab sich aber Mühe, es nicht zu tun. Immerhin übertünchte der frische Espresso die unweigerlich prägende Erinnerung an diesen Moment. Also griff sie nach ihm, beugte sich gerade so vor wie es ihr Rücken erlaubte, der selbst in ihrem zarten Alter schon unter der ungewöhnlichen Liegeposition gelitten hatte und angelte in mehreren Versuchen nach der Tasse, die sie zu sich nahm, als wolle sie sie nie wieder hergeben. Ihre schmalen Beine hatte sie eng an sich gezogen. Kühle Klimaluft lies ihre Haut erzittern und generierte eine leichte Gänsehaut. Sie raunte unwohl, ehe sie ihre Nase regelrecht in die Tasse tunkte und sich ähnlich wie bei einer Grippekur von dem heißen Aroma einhüllen ließ. "Gott riecht das gut..", seufzte sie und wusste, dass das hier wahrscheinlich der einzige Geruch sein konnte, der ihr dem verbrannten Fleisches austreiben konnte. Sie begann an ihrem Getränk zu nippen und verbrannte sich leicht die Zunge. Es war ihr egal.
"Alles klar.", sagte Luceija nach einer Weile, in der sie mit langsamem Nippen an der kleinen Tasse nach und nach ihren Espresso geleert hatte. Jeder Tropfen machte sie etwas wacher, aber die Monotonie war nicht wirklich aus ihrer Stimme verschwunden. Viel eher machte sie einen beinahe mechanischen, abgeklärten Eindruck. Sie riss keine dummen Witze, sie murrte nicht oder kam mit sinnlosen Gegenargumenten - nein, sie nickte den Vorschlag des Sizilianers einfach nur ab und fügte seiner Aufforderung sogar noch nahezu folgsam hinzu: "Ich werd' gleich was bestellen."
Wahrscheinlich wollte sich Luceija selbst einreden, dass der gestrige Abend keine Spuren an ihr hinterlassen hatte. Aber das wäre eine genauso große Lüge gewesen wie die zu behaupten, sie hätte nicht äußerst eigenwillig geträumt. Sie hatte im Traum diesen Kuss auf ihren Lippen gefühlt und war verwirrt und angetan zugleich gewesen. So eine Art Traum, bei der man nicht glauben konnte, dass es wirklich einer war. Aber das war er wohl. Musste er sein. Alles, was wirklich real war, war diese Änderung, die in der Schwarzhaarigen einen Sturm ausgelöst hatte. Einen, den sie erstmal verkraften musste und dafür Zeit brauchen würde. Zeit, in der offensichtlich wurde, was alles in dem einstigen Kind zerbrochen war und darunter eine bereits angeknackste Frau zum Vorschein kam.
"Machst du mir noch was kleines zu Essen? Irgendwas zum Mitnehmen, ich muss für heute Abend noch ein paar Sachen besorgen." Das war nur teilweise richtig. Tatsächlich würde sie ihr Makeup-Arsenal etwas aufstocken müssen, aber es war nicht so, dass sie keines besaß. Sie hatte sich schon manche Drinks erschlichen, indem sie sich älter stylte als sie war. Man sah zwar, dass sie verdammt jung war, aber man fragte nicht mehr, WIE jung. Den meisten war es ohnehin egal. Nein - sie wollte weg. Musste raus. Sich bewegen, irgendetwas anderes sehen als diese Wände. Sie hatte Angst davor, hier Wahnsinnig zu werden. "Bitte..?", seufzte sie.
Bei dieser Bitte betrachtete Sergio die offensichtlich noch immer verstörte Jugendliche etwas genauer. Es war klar, dass sie nicht nur irgendwelche banalen Besorgungen machen wollte, sondern lediglich Freiraum brauchte, um die Ereignisse der letzten Tage zu verarbeiten. Ihr Adoptivvater blinzelte mehrfach mit einem eindringlichen, analytischen Blick in ihre Augen. Dann nickte er schließlich leicht und schmunzelte dabei etwas schief.
"Habe sowieso noch viel zu tun", brummte er etwas mürrisch und erhob sich wieder von seinem Liegestuhl. Das Abräumen der Tassen überließ er Luci, auch wenn er wusste, dass sie es wahrscheinlich vergessen würde.
Er schlurfte direkt in die Küche und zog aus dem Kühlschrank die bereits am Vortag gekochten und gefüllten Arancini - kleine, gefüllte, italienische Reisbällchen. Er hatte nicht geknausert: Circa zwei dutzend hatte er vorbereitet, beinahe, als hätte er Gäste erwartet. Tatsächlich war es nur schlicht ein Problem, die importierten Gebindemengen, die man ihm zur Citadel lieferte, in vernünftige Portionen zu verwandeln. Es schadete dennoch nicht, in diesem unüblichen Zwei-Personen-Haushalt viel Essen im Haus zu haben. Luceija aß nicht genug, das war eine Folge der zahlreichen Medikamente, die er ihr verabreichte, und zudem war ihr zunehmend mit Eezo angereichertes Nervensystem über die Jahre immer energiehungriger geworden. Allerdings hatte er in den letzten Jahren festgestellt, dass man Luceija am besten zum Essen brachte, indem man entweder ständig kochte, um sie durch die Gerüche und Geräusche anzulocken, oder indem man zumindest immer etwas Vorbereitetes und Warmes in ihre Nähe stellte. So verteilte Sergio nicht selten dutzende Schokoriegel in der ganzen Wohnung, stellte zu jeder Tageszeit fertige Teller mit Essen in die Küche oder ins Labor und hatte stets einen üppig gefüllten Kühlschrank für seine Ziehtochter bereitgehalten. Ein weiteres Erfolgsrezept war es, ihr etwas zu kochen (oder zu bestellen), das sie unterwegs essen konnte. Arancini waren dabei Sergios erste Wahl. Zunächst noch mürrisch beim Kochen, hob sich seine Laune durch den meditativen Panierprozess und das knusprige Geräusch der frittierenden Bällchen, bis er irgendwann fröhlich und nahezu virtuos zu pfeifen begann.
Die Reisbälle mit den Lieblingsfüllungen Luceijas rollte er in kleine, silbrige Folienbeutel ein und vakuumierte und verschweißte diese im heißen Zustand. Dann legte er sie, beinahe liebevoll, in eine Pappschachtel und stellte sie Luceija auf den Küchentisch, um sie wie mit einer Mausefalle herzulocken. Er selbst legte sich vier der Bällchen auf einen Teller und begann am selben Tisch etwas lustlos zu essen, obwohl es ihm durchaus gut schmeckte. Es gingen ihm selbst eindeutig viele Gedanken durch den Kopf. Als Luceija dann irgendwann wieder in die Küche kam, um sich ihre Ration abzuholen, zog Sergio die Schachtel in letzter Sekunde vor ihren gierigen Händen zurück und sah ihr von unten ernst in die Augen.
"Die waren viel Arbeit. Wenn du nicht mindestens vier davon isst, bring ich dich um", brummte er. Der Scherz war ihm nicht als solcher anzusehen, trocken wie er dabei blieb, doch er wusste, dass seine Luci seinen eigenwilligen Humor verstand.
"Ich muss nachher selbst noch aus der Wohnung. Wir sehen uns später vor Ort. 'Nightwind'. Sieben Uhr vor dem Club", fasste er knapp zusammen und nahm dann einen weiteren Bissen von seinem eigenen Essen. Es war noch viel zu heiß - der übrige Ball dampfte noch in seiner Hand, doch offenbar verkniff er sich, diesen wieder auszuspucken, um die Wichtigkeit der Aufforderung nicht abzuschwächen.
Gerade hatte sie nach dem Essen greifen wollen und einfach verschwinden, doch der Ältere schien gegen dieses Vorhaben zu arbeiten, hielt sie auf und blickte mit diesen durchdringenden, mysteriös-dunklen Augen in ihre. "Die waren viel Arbeit. Wenn du nicht mindestens vier davon isst, bring ich dich um", lies sie eine Weile Reaktionslos zurücksehen. Nichts sagen, einfach nur in seine Richtung zu sehen und irgendwann, als schon zu viel Zeit verstrichen zu sein schien, nur kurz mit dem Kopf zu nicken, ein „Gut.“ zu antworten und sich nicht gegen die Aussage, wenngleich spaßeshalber, zur Wehr zu setzen, wie sie es sonst getan hätte. „Wir sehen uns dort.“, kommentierte sie knapp und entfloh nicht nur ihm, sondern gleichzeitig, mit der Schachtel Essen unterm Arm, dem unendlich guten, frischen Geruch von Arancini, die die kleine Wohnung ausgefüllt hatten. Alles was sie sonst noch mitgeführt hatte war die Schlüsselkarte, die ihr mitsamt einem Code Zugang zu diesen Räumlichkeiten verschafft hätte.
Luceija hatte allerdings nicht vor allzu schnell zurückzukehren. Sie war ziemlich froh darum, dass sie noch so viel Zeit übrig hatte um sich weit von allen Ereignissen abzusetzen, den Geist auszuschalten und sich zu isolieren. Von Blicken und Fragen Sergios, von der Besprechung eines Plans, an dessen Durchführung sie nicht scheiterte…und diese gespielte Normalität hinter sich lassen. Mit diesem einen Abend war alles, was sie hier zwar als ungeliebt aber Normal bezeichnet hätte, wie weggeblasen. Sie hasste die Citadel nun wahrlich, würde sie so behandeln, wie sie behandelt wurde und wusste sehr wohl wie wenig Chancen hatte, dem hier zu entfliehen. Allerdings hatte sie darüber nachgedacht, als sie längst über alle Berge ans andere Ende des Wards gegangen war um dort, auf dem Dach eines der hohen, weniger stark frequentierten Gebäude am Ende des Wards, einen Sitzplatz zu suchen und das letzte bisschen Italien, dass sie regelmäßig schmerzlich an ihre Heimat erinnerte, die Arancini, sorgfältig auszupacken und zu essen. Sie waren tatsächlich köstlich. Sie liebte, dass sie von außen so knusprig waren und dann der cremige Reis eine schützende Schicht um die Füllung bildete, die unter anderem aus etwas Fleisch, Tomatensauce und Erbsen bestand. Und natürlich jeder Menge Käse, der sich beim abbeißen als lange Fäden von ihrem Mund bis zu jenem Bällchen zog.
Die junge Sizilianerin hatte vielleicht drei, vier Stunden dort gesessen, gegessen, geruht und sich ernsthafte Gedanken darüber gemacht, wie sie sich als blinder Passagier von der Anlage stehlen konnte und ob sie die Fähigkeiten besaß, sich nötigenfalls auch ohne Sergio weiter zu therapieren und einfach alleine auf Sizilien weiter zu machen. Sie kam zum Schluss, dass es nicht funktionieren würde, was in einer nur noch stärkeren Frustration resultierte, als die, von der sie ohnehin schon geplagt wurde.
Als sie sich sicher gewesen war, dass sie sich allmählich Gedanken machen sollte, welche Utensilien sie für den Abend noch brauchte, verließ sie ihre Sitzgelegenheit und das hohe Gebäude gleichermaßen. Auch, wenn die junge Frau es zutiefst hasste, überwand sie sich um ein paar MakeUp-Accessoires zu besorgen, die mittlerweile ausgegangen waren und den gewünschten Effekt hinterlassen würden, den Sergio anstrebte: Sie so zu tarnen, dass sie nicht länger wie eine Fünfzehnjährige, sondern in etwa eine Zwanzigjährige aussah. Jung genug um noch Blicke auf sich zu ziehen und Ulysses nötigenfalls mit weiblichen Reizen zu überzeugen wie eine viel zu junge Nutte – vorausgesetzt, es ging wirklich alles schief. Dazu würde sie es aber wohl nicht kommen lassen wollen. Ihr Plan war, ihm schon vorher ans Leder zu gehen, ihn vielleicht auch schon innerhalb der sehr gefüllten Location, mittendrin, zu vergiften. Was auch immer kommen würde, sie hielt sich nicht für diesen Schlampen-Typ und sie war sicherlich auch nicht extraordinär genug um sofort jegliche Blicke auf sich zu ziehen. Wahrscheinlich nicht mal besonders hübsch. Aber es war ihr auch egal. Ein paar Idioten gab es immer. Ein paar Vorteile konnte man ebenfalls immer herausschlagen. Und solange das Selbstbewusstsein hoch genug war – oder man zumindest das Talent dazu besaß, es so aussehen zu lassen, dann kam man auch irgendwie an sein Ziel.
Mehrere Stunden später war Luceija doch nach Hause zurückgekehrt und ziemlich froh über die Tatsache, dass Sergio wie angekündigt nicht dort war und vermutlich von einer anderen Location aus in Richtung Nightwind fuhr. Das gab der jungen Frau die Gelegenheit, das bereits gelieferte Paket, welches sie im Laufe des Tages von einem einschlägigen Label hier auf der Citadel erhielt, an sich zu nehmen, es aufzuschneiden und mit einem schräg gelegten Kopf dabei zuzusehen, wie ihre Hände das Kleid (https://abload.de/img/2dbdbd1695273e1b329bd89sur.jpg) entfalteten, dass darin gelegen hatte. Es war…anders. Ganz anders, als sie erwartet hatte aber für ihre Zwecke sicherlich kein Fehler. Der dünne Stoff lies kaum Spekulationen zu dem zu, was darunter lag, zeichnete aber mit dem fließenden Gewebe, diversen Schlitzen, einem eher asaritypischen Gürtel und langen Handschuhen eine flüssige Kombination, die nur noch durch die Kette komplementiert wurde, die, angezogen, wohl über eine Schulter und mehrere, kleine Ketten zusammenführte, als sei es nochmal ein separates Kleidungsstück. Ihre Nüstern zuckten, als sie den Stoff betrachtete. Das hier würde eine Spur zu sexy werden, aber wie man dieses Spiel spielte wusste sie auch in ihrem Alter schon zu gut.
Es brauchte Zeit und generierte ein vollkommen zugestelltes Badezimmer. Aber nach einer gefühlten Ewigkeit war die Halbitalienerin nicht nur damit fertig sich mit einer Menge Makeup, schwarz-umrandeten, stechenden Augen und ein paar Farbnuancen hier und da deutlich erwachsener zu schminken, sondern sich auch genau so anzuziehen, wie man es von Besuchern eines Clubs wie dem Nightwind auch erwartete (sie hatte bei Sergios Präsentation gut aufgepasst). Anstatt jedoch zu den Oberschenkelhohen Strümpfen nun auch entsprechend Hohe Schuhe zu tragen, schlüpfte sie entgegen jedweder Vernunft in ihre gesäuberten Magnetsohlenstiefel. Erschreckenderweise passte der Stil verdächtig gut zusammen und lies trotz allem noch etwas von ihr selbst durch das blendende Outfit schimmern. Noch auf dem Weg nach draußen schob sie sich die langen Handschuhe nach oben und richtete ihr Haar, indem sie die langen, allglatten und tiefschwarzen Strähnen lediglich über die rechte Schulter nach vorne nahm. Mehr musste man bei diesen Haaren ohnehin nicht machen.
Jetzt hieß es auf zum Club…die Zweifel über Bord zu werfen, und wenn auch nur für einen Moment, und die Rolle der Frau einzunehmen, die ab heute wirklich zu Cerberus gehörte. Die ein fester Bestandteil dieser Familie geworden war. Und alles – wirklich alles – für sie tat.
Sergios Abendvorbereitungen sahen im Vergleich natürlich beinahe schon trivial aus. Er selbst hatte weder ein psychisches Trauma zu verarbeiten, noch ein aufwendige Abendgarderobe zusammenzustellen. Statt für den momentan modischen asymmetrisch geschnittenen Anzug entschied er sich für ein Modell mit symmetrischer Knopfleiste, aber in Anlehnung an neuere Trends ließ er sich dennoch zu einem geometrisch geschnittenen Stehkragen und einem ebenso rechteckigen, aufgeknöpften Hemdkragen hinreißen. Schwarz-weiß blieb er dennoch - er hatte nie diese Clowns verstanden, die sich in allerlei quietschbunte Outfits stecken ließen, in der Hoffnung, so mehr aufzufallen. Er selbst war immer noch der Ansicht, dass man am meisten Selbstbewusstsein ausstrahlte, wenn man nicht zu sehr versuchte, sich von der Masse abzuheben. Nachdem seine Sachen also zurechtgehängt waren, bestand der restliche Tag für ihn aus mühseligen Recherchen über die bisherigen Korrespondenzen zwischen Everett und dem Clubbesitzer. Einige Fragmente hatte das Extranet hie und da noch aufgefangen und auch ein kurzer Ausschnitt aus den Sicherheitsaufnahmen des Clubs hatte er gefunden, sodass Sergio nun sicher wusste, welchen Ablauf die üblichen Treffen der Männer nahmen - und wie er sich Einlass verschaffen konnte. Dennoch war es wichtig, früh im Club aufzuschlagen, um nicht den passenden Moment für eine Ablenkung zu verpassen, wenn Everett den Laden betrat. Es würde nur schwierig werden, nicht aufzufallen, wenn man nahezu als erster in einen noch schläfrigen Club einkehrte. Doch glücklicherweise bot die Extranetpräsenz des Etablissements die Möglichkeit, für einen nicht unerheblichen Geldbetrag eine halboffene Sitzzelle vorab zu reservieren - ironischerweise jedoch ohne dann auch eine Garantie auf Einlass zu bekommen.
Einige Recherchen, Reservierungen und Vorbereitungen später hatte sich Sergio mehrere alternative Pläne zurechtgelegt, um Everetts vorzeitig das Licht ausgehen zu lassen. Auch die täglichen Laboranalysen und die angepassten Medikamentierungen für seine einzige Patientin hatte er ausgearbeitet und für die nächsten Wochen zurechtgelegt. Er wusste nicht, wieso er diese so genau und so weit im Voraus ausgearbeitet hatte, doch eine Ahnung in ihm reifte mit jeder Stunde heran, dass sein Plan vielleicht weniger glimpflich ausgehen und er selbst als Toter im Nachtclub zurückbleiben könnte. Er wollte darüber nicht sentimental werden, es war lediglich ein möglicher Ausgang von vielen, doch auch für diesen Fall der Fälle hatte er ein nichtssagendes Post-It auf die Behandlungspläne geklebt, auf dem nüchtern "im Falle meines Todes hiermit fortfahren" geschrieben stand. Genug Behandlungspläne für ein paar Wochen, bis Cerberus (hoffentlich) Luceija einen neuen Arzt und Aufseher zuweisen würde. Doch das alles war keine ernsthafte Alternative zu Sergios eigener Erfahrung mit Luceija. Es schwang sicher auch ein Funken Eifersucht bei dem Gedanken mit, jemand anderes könnte sich ihrer annehmen, aber er redete sich zudem auch ein, der einzig kompetente Partner und Arzt für Luceija zu sein.
Vielleicht waren es diese Gedanken, die Sergio verleiteten, heute tatsächlich auch ein teures Parfüm für den Abend aufzulegen und sich allgemein etwas gründlicher herauszuputzen, als er es sonst getan hätte. Erst als er sich selbst in seinem hervorragenden Outfit vor dem Spiegel betrachtet hatte, verließ er seine Wohnung, um die Utensilien für die Durchführung des Plans bei Händlern seines Vertrauens aufzutreiben. Ein wenig abgedroschen fühlte es sich schon an, wie er perfekt gekleidet Schließfächer, Hintergassen und Kontaktmänner abklapperte, um dort Rauschgiftampullen, Miniaturkanülen und andere Mordwerkzeuge aufzutreiben, die er in Schuhsohlen, Uhrengehäusen und solchem versteckte. Ein Sizilianer im Anzug kauft Waffen und Drogen für seinen nächsten Coup - er musste auf seinem Weg mehrfach über sich selbst schmunzeln.
Der Abend rückte dabei schneller heran als erwartet und so befand sich der Italiener nur kurze Zeit später vor dem Seiteneingang des Clubs, wo sich, obwohl er erst jetzt öffnete bereits eine kleine Schlange gebildet hatte. In selbstbewusstem Trott ging Sergio an der Schlange vorbei zum Türsteher, der in diesem Moment nicht damit gerechnet hatte, angesprochen zu werden, da die Schlange ja bereits wusste, dass sie noch zu warten hatte. Entsprechend ging der bullige Mann in ärmelloser Kampfweste und einem Haarschnitt, nach dem man die Uhr stellen könnte, direkt auf Konfrontationskurs.
"Hey, hinter die anderen, Lackaffe. Wir öffnen erst in einer Viertelstunde und die anderen hier warten schon länger als du", brummte der Türsteher lallend und verschränkte demonstrativ in breitem Stand die Arme vor der Brust.
"Sicher, amico mio, weiß ich doch alles", entgegnete der Arzt trocken und kam dem Mann etwas näher, sodass die Wartenden in der Schlange das Gespräch nicht mithören konnten.
"Sagen Sie, hätten Sie zufällig ein Streichholz für mich?", fragte Sergio in gedämpftem Ton und sah dem Türsteher dabei auffällig tief in die Augen. Der Mann antwortete nicht, wurde aber ganz offensichtlich hellhörig.
"Jetzt sehen Sie mich doch nicht an wie eine Ardat-Yakshi. Ich wollte nur hinein, um meiner Großcousine ein paar Chrysanthemen zu bringen"
Der zweite Türsteher neben seinem Kollegen blickte völlig verwirrt, beinahe schon wie ein geistig behinderter zu Sergios Gesprächspartner.
"Was redet der da für einen Uns-"
"Lass ihn rein", unterbrach ihn der bullige Mann in der Kampfweste. Der erste blickte nun umso verdutzter abwechselnd seinen Kollegen und Sergio an, bis dieser die Aufforderung lauter wiederholte. Völlig perplex nickte der dünnere von beiden und öffnete Sergio die hydraulische Schiebetür, bevor dieser mit einem unauffälligen, überlegenen Grinsen in den Club trat, verfolgt von den neidischen Blicken der Warteschlange. Die Tür schloss sich hinter Sergio und momentan nur leise aufgedrehte Clubmusik empfing ihn, als er erleichtert seufzte. Es war gar nicht so einfach gewesen, die Codewörter in einen halbwegs vernünftigen Satz einzubauen, doch auf diesem Wege bevorzugte man hier seine VIPs einzulassen, ohne dass man die Security über deren Identität aufklären musste. Ohne Umwege begab sich Sergio zur Bar und lehnte sich mit dem Rücken daran, während ein überraschter Barkeeper, der noch keine Gäste erwartet hatte, dessen Bestellung aufnahm. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Luceija tatsächlich eingelassen würde.
'Nightwind. Was für ein beschissener Name.', dachte die junge Sizilianerin abermals, als sie einige Stunden nach Cluböffnung - und etwa zwei Stunden als die mit Sergio vereinbarte Zeit später - aus einem Shuttle gestiegen war und dem Fahrer einen Creditchip in die Hand gedrückt hatte, der zuvor noch mehr am Rückspiegel hing um die minderjährige Italienerin zu begaffen, die eindeutig nicht ihrem Alter entsprechend gekleidet war. Im Gegenteil hatte sie alles genau so organisiert, wie ihr Vater es in Auftrag gab und führte noch unterwegs die letzten Handgriffe zur optischen Perfektion durch, indem sie ihre schmale Oberweite mit einem sehr unweiblichen, direkten Griff so richtete, dass der dünne Stoff die Blöße wenigstens ausreichend mit Stoff überdeckte. Die Strümpfe richtete sie auf eine ähnliche weise und zog als letztes den mokkafarbenen Lippenstift nach, der perfekt auf ihre ohnehin leicht getönten Lippen passte. Den verrieb sie nun leicht, als sie zu Fuß in die Gasse umbog und dann den Schriftzug des Clubs betrachtete, als wäre an dem dazugehörigen Gebäude irgendetwas spannendes zu entdecken. Tatsächlich war es einfach nur ein Citadel-Bau wie jeder andere. Weiss. Klinisch. Klar strukturiert und mit einzelnen Lichtern versehen. Hätte man von Außen nicht die basslastige Clubmusik gehört und einige Scheinwerfer und die Türreklame auf das teure Etablissement aufmerksam gemacht, hätte man dort vermutlich ebenso eine Verwaltung oder einen weiteren Hangar vermuten können.
'Scheiß Name, scheiß Leute, scheiß Musik.', hakte sie alles andere als Vorurteilsfrei in ihrem Kopf ab, da hatte sie nur den äußeren Warteschlangenbereich inspiziert und war noch nicht mal im Inneren des Ladens angekommen. Wenigstens, so wurde sie sich beim Blick auf die Leute um sie herum sicher, war sie weder over- noch underdressed. Und ihr viel zu geringes Alter fiel bei der Kombination aus Make-Up und Kleid auch nicht weiter auf. Man sah zwar, dass sie blutjung war, aber niemand würde ihre ID kontrollieren. Und wenn doch, hatte sie gefälschte Papiere parat.
Luceija, die sich mit einem distanzierten Blick unauffällig in die Warteschlange einreihte, senkte den Kopf ein wenig um in der mitgebrachten, ziemlich kleinen Handtasche nach etwas zu kramen und hatte dabei außer Acht gelassen, dass ihr langes, lediglich über die Schulter gelegtes Haar ungehindert nach vorne rutschte und ihr die Sicht auf das Objekt ihrer Begierde beinahe genommen hätte. Da war sie: Die Schachtel Zigaretten nach der sie gesucht hatte. Schnell klappten ihre schlanken Finger die dünne Plastikverpackung auf die das Label der Glimmstängel verdeckte, zog eine davon der Länge nach heraus und klemmte sie sich zwischen die Lippen, wobei ein paar Abdrücke der Mokkafarbe auf dem Filter zurückblieben. Sie knurrte leise bei der vergebenen Suche des dazugehörigen Feuerzeugs. Ihre Nüstern blähten sich genervt auf. Letztlich schien es aber grundsätzlich egal ob sie jemals finden würde wonach sie suchte, denn schon kurze Zeit später flackerte eine kleine, bläuliche Flamme vor ihren Augen auf, die einem Feuerzeug gehörte, welches in einer fremden Hand lag. Ein unbekannter Mann bot ihr Feuer an. Von unten herauf warf sie grünäugige Blicke in die Augen ihres Gegenüber und musterte seine haselnussbraunen. Er sagte nichts und verwies stattdessen nur auf das dargebotene Feuerzeug. Luci beugte sich mit der Zigarette jener Flamme entgegen, lies das Endstück entzünden und zog sanft am Filter, bis der Tabak zu glimmen begann. "Grazie.", raunte sie knapp, musterte ihr gegenüber eine Weile und schmunzelte letztlich.
"Du...du...du und du." Einer der Türsteher lief an der Schlange entlang und pickte scheinbar gezielt einzelne Leute heraus. Er deutete auf Einzelpersonen, ganz gleich ob sie in einer Gruppe anstanden oder nicht und entschied, welche Art von Clientel im Inneren benötigt wurde, damit ein gewisses Niveau erhalten blieb und sich auch die Geschlechter die Waage hielten. Und keinesfalls zuletzt, damit es genug Fleischbeschau für die ganzen Bänker und Diplomaten gab, die hier verkehrten und sich eher im VIP Bereich des Clubs aufhielten. "Du auch Schätzchen.", winkte der Türsteher Luceija zu, die sich gerade erst den zweiten, tiefen Zug ihrer Zigarette genehmigt hatte und nahm dabei dem Typen zu ihrer Seite die Chance, nach ihrem Namen zu fragen, was sie wirklich nur zu gerne in Kauf nahm. Viel lieber wandte sie sich dem Türsteher zu, grinste verhalten und verabschiedete sich von dem Fremden, in dem sie einen letzten Zug von ihrem Glimmstängel nahm, ihn mit dem Zeigefinger und Daumen von ihren Lippen zog und stattdessen zwischen die des Mannes mit dem Feuerzeug klemmte. Er reagierte verdutzt genug, hatte aber keine Möglichkeit mehr um zu antworten. Luci lies sich seitlich aus der Schlange führen und über den VIP-Eingang in den Club abfertigen. Schnell und problemlos. Mit genügend Blicken seitens der Angestellten aber keiner einzigen Frage bezüglich ihres Alters. Oder auch nur den Hauch eines Verdachts, was sich innerhalb der winzigen Magnetsohlenbatteriefächer ihrer Schuhe befand. Sie liebte diese Treter. Wirklich.
Kurze Zeit später wurde Luceija von Clubmusik umhüllt. Eingängige Lieder bekannter Szenemusiker wurden in Remixversionen aufgearbeitet, in eine Endlosplaylist aneinander angehängt und animierte diverses Publikum zum Tanzen. Die Beleuchtung glich sich den Bässen an und wechselte in ausgeglichenen, übergangsarmen Wellen von Blau-Gelb zu Grün-Violett, zu Orange-Rot und so weiter und kreierte viele, angenehme Szenarien in einem alles andere als hektischen Tempo. Von Außen betrachtet wirkten die Tanzenden ausgeglichen und anders, als die aufgekratzten Teenager, die in den gewöhnlichen Clubs eingelassen werden wollten. Man bemerkte sehr wohl dass dieser Ort die perfekte Kombination bot aus geschäftlichem und Vergnügen. Mit teuren Drinks, ansprechendem, qualitativ hochwertigen Interieur, diversen, teuren Holoeffekten und einigen, bezahlten Tänzerinnen, die in knappen, aber alles andere als billigen Outfits mit einer Menge Klasse ihre Zweisamkeit boten. Die Sizilianerin hatte allerlei damit zu tun sich hier umzusehen und selbst unter ihren analytischen Blicken entgingen ihr einige Details. Darunter auch der Aufenthaltsort von Sergio, OB er überhaupt hier war und eingelassen wurde, aber auch, wo sie Zugang zum VIP-Bereich erschleichen konnte, für welchen man ihr eine entsprechende Card am Eingang ausgehändigt hatte. Ohnehin entschied sich die Südländerin erstmal für den Gang an eine der vielen Bars, wo sie sich auf einen Hocker setzte, die Beine Luci-untypisch und ladylike übereinanderschlug und die Lederjacke, die sie darüber trug, auszog. Das ansprechende, knappe aber doch klassische Outfit lies sie sich ausgezeichnet in diesen Club integrieren und die offenen, langen Haare dazu verliehen der blutjungen Frau ebenso einen mysteriösen Touch wie das dunkle Makeup um ihre stechend grünen Augen. Beim Barkeeper orderte sie einen Longdrink, widmete ihm aber keinen Blick, sondern ging dazu über, den Messenger mit ihrem Armband anzusteuern und Sergio entspannt eine Nachricht, natürlich in Sizilianisch, zukommen zu lassen.
'Haben die hier guten Rotwein?'
Ungeduldig wippte der Italiener mit dem Fuß, den er über sein Bein geschwungen hatte, während er auf der zugegebenermaßen äußerst bequemen Couch in einer der VIP-Booths saß. Er beobachtete den Club gelangweilt, und das obwohl der Schuppen sogar gar nicht mal minderwertig war. Ein Lichtspiel unterschiedlichster Farben des Regenbogens zog sich im Rhyhtmus der Musik wellenartig über die durchgehend beleuchteten Decken und Böden, wobei sich die Farben hin und wieder zu abstrakten Formen zusammenfügten und dann wieder in das Chaos aus Lichtern verschwanden. Hologramme, Lichtstrahlen und Stroboskoplichter unterstrichen die klimatischen Momente jedes Songs, ein Dutzend Tänzerinnen und Tänzer jeder Spezies und jedes Typus animierten auf einer leicht erhöhten Bühne um den DJ des Abends herum zum Tanzen, während sich schon jetzt am frühen Abend die Tanzfläche selbst schnell füllte. Ebenfalls leicht erhöht von dieser war die elliptische Tanzfläche umgeben von den surrealen Strukutren, die sich als die VIP-Zellen erwiesen. Dort wo über dem Tanzparkett gläserne Zapfen wie Stalaktiten die Decke zierten, die rhythmisch von den Farbewellen durchzogen wurden, verbanden sich Bündel der filigranen Zapfen am Randbereich mit Stalakmiten aus dem Boden von gleicher Struktur. So ergaben sich organische und doch seltsam geometrische Bündel aus Glas, in deren hohlen Innenräumen sich die halb einsehbaren Sitzbereiche befanden, zu denen jedoch nur reservierte Gäste wie Sergio Zugang hatten. Dabei umgaben ihn die blickverzerrenden Glasstrukutren nicht gänzlich, sondern in unregelmäßigen Streifen wie ein um ihn herum gefrorener Wasserfall, durch den die Lichtwellen waberten. Umso leichter war es, von hier aus unbeobachtet dennoch die gesamte Besucherschaft des Clubs im Auge zu behalten. Wie erwartet war bisher weder der Besitzer des Clubs, noch sein Geschäftspartner Everett eingetroffen und so war Sergio beinahe erleichtert, als ihn wenigstens eine eingehende Nachricht auf seinem Omnitool etwas zerstreute. Sie war von Luceija, die nach dem richtigen Getränk fragte. Sergio bemühte sich gar nicht erst zu antworten - er hatte lange genug herumgesessen und wollte nun nicht weitere zehn Minuten mit einem Wechsel aus vagen Textnachrichten verbringen.
Es war nicht schwer, Luceija ausfindig zu machen, und dennoch traute Sergio seinen Augen kaum. Natürlich musste es unter den wenigen Gästen des frühen Abends seine Luci sein, die seiner Erwartung entsprechend an der Bar saß, doch mit diesem doch extrem freizügigen Kleid, dem offenen Haar und dem äußerst betörenden Makeup wirkte sie so gar nicht wie die Luci, die er kannte. Nachdem er sie eine Weile aus der Ferne ungläubig angestiert hatte, war er sich jedoch sicher und schüttelte mit einem sich langsam entwickelnden Grinsen den Kopf und achtungsvoller Fassungslosigkeit.
"Guten Rotwein hat kein Club auf der Citadel", beantwortete er ihre Frage von zuvor nach langer Verzögerung, indem er sich ihr von hinten annäherte und ihr direkt in ihr Ohr sprach. Dann griff er sie sachte an der Schulter, um sie samt dem Drehpolster, auf dem sie saß, zu sich umzudrehen. Er kam nicht umhin sie kurz aber ausgiebig zu mustern und dabei beeindruckt zu lächeln.
"So sparen sich die Securitys zumindest das Abtasten - man sieht ja ohnehin fast alles von dir", neckte er sie etwas und hob dabei kurz die Brauen. Es fiel ihm schwer die Blicke von ihrer Kleidung und dem was dahinter war zu lassen und so war der neckische Spott wohl nur ein Mittel, von seiner eigenen Unfähigkeit zum Taktgefühl abzulenken. Eine willkommene Ablenkung war daher der Barkeeper, der den bestellten Longdrink neben Luci stellte und den Sergio prompt für sie zahlte, indem er einen Creditchip zum Hüter der Theke schnippte. Nicht nur, weil es sich gehörte, sondern weil er natürlich den Eindruck eines Liebhabers machen wollte, der nur aus niederen Instinkten heraus ein Gespräch mit der vermeintlich fremden Schwarzhaarigen begann.
"Wie gefällt dir der Laden bisher?", hakte er nach, während er dem Barkeeper mit einer kurzen Geste andeutete, dass er selbst den gleichen Drink bestellte.
“Das soll wahrscheinlich lustig sein..?”, hob Luceija nicht nur in einem extrem zu ihrer Aufmachung passenden, schnippischen Art die Augenbrauen, sondern auch den Kopf an. Auch, wenn es nur eine übliche Retoure auf Sprüche seinerseits war, lächelte sie dazu nicht. Nicht mal eine halbe Minute später, als er längst versuchte von ihr abzusehen und sich den selben Drink geordert hatte wie sie. Ein Verhalten, welches sie nicht ganz verstand. Was sie bestellt hatte zeugte nicht wirklich von Ahnung im Spirituosensortiment und war viel eher eine pappsüsse Plörre, die sie vor hatte mehr zu halten als zu trinken. Der Barkeeper hatte das Getränk als Illium Sunrise betitelt – und auch wenn es optisch durchaus was hermachte, wie zwei Flüssigkeiten unterschiedlicher Dichte einen feinen Übergang zwischen Blau und Rot bildeten und in der Sanduhrform des Cocktailglases wirklich wie die Sonne eines Alienplaneten anmutete, war das, was sie roch und probierte, alles andere als genüsslich. Dennoch reckte sie den Kopf und saß weiterhin gerade, aber nicht steif, auf dem Barhocker, mit diesem Hauch an Seriosität und perfekt integriert in eine Rolle, die man von diesem Dauerberauschten Teenager nicht erwartete. Es war eine Art, die sie in Sergios Beisein kaum zeigen musste, weil er niemals zuvor gleichzeitig zusammen mit ihr in einem Club war und der Anreiz dazu hatte bislang noch sehr gefehlt. Aber zumindest in diesem Moment schien die apathische Fünfzehnjährige wie ersetzt. Selbstsicher, ja, sogar arrogant und viel zu schnell viel zu erwachsen.
Sie hob das Cocktailglas, dessen Stiel langsam zwischen die schlanken, behandschuhten Finger geglitten war, an ihre Lippen und lies sich, im stetigen Blickkontakt mit ihrem Ziehvater, nicht anmerken, wie angewidert sie von dem Mix in ihrem Glas war. Stattdessen linste sie einfach wie ein Raubtier über den Rand des Gefäßes hinweg und antwortete nach mehreren Sekunden mit einem kühlen „Könnte besser sein.“. Ihr Akzent schwang distanziert unter ihrem Auftritt wie die Bass Line des Tracks zum Rest. Sie lächelte dann, viele Augenblicke später erst, ganz leicht und halbseitig, als sie von Sergio ab und in die Ferne in Richtung der Tanzfläche sah und den Stil der Leute aufmerksam beobachtete und dabei ihr Getränk schwenkte, als hoffe sie, dass es besser wurde, wenn sie das tat. Das Lächeln verschwand so schnell wie es kam und machte der schieren Ausdruckslosigkeit Platz, wären da nicht ihre mit tiefdunklem Makeup eingefassten, grünen Augen, die bereits wortlos sprachen. „Hast du meinen Stoff dabei?“, fragte sie Sergio ohne ihn anzusehen und flüsterte ihre Frage nicht mal, sondern stellte sie geradewegs heraus. Sicher war, innerhalb eines Clubs wie diesem war das Herumreichen von Drogen ohnehin nichts Geheimes mehr. Schon beim bloßen Überfliegen der Tanzenden waren ihr Leute aufgefallen, die ganz offensichtlich auf einem Trip waren und hatte einen sogar direkt angesehen, als er sich eine Ladung schnupfte. Dass IHR Stoff tatsächlich medizinischen Zwecken diente, zumindest denen von Cerberus, überließ sie Sergio zu schlussfolgern und ihn bis dato hier stehen zu lassen, als sei er nur hier um seinen Stammkunden Drogen zuzuspielen. „Dann gib es mir gleich, ich hab‘ vor Tanzen zu gehen.“
Ein weiterer Schluck des ‚Sunset‘ folgte den Weg ihrer Kehle nach unten. Dann stellte sie das Glas ab, kramte in ihrer Tasche um, mit einer neuen Zigarette zwischen ihren Lippen und einem Feuerzeug in ihrer Hand, direkt nach dem Anstecken des Glimmstängels ihren Kopf wieder rollengerecht anzuheben und betont von Sergio wegzusehen, als sei sie zu gelangweilt auf jeden ihrer Verehrer einzugehen. Sie zog an der Zigarette, bis das Ende aufglimmte, nahm sie dann zwischen ihren umhüllten Zeige- und Mittelfinger und klopfte mit dem Daumen einschläfernd langsam den abgebrannten Tabak in einen nahen Aschenbecher. Der Rauch, den sie dabei eingesogen hatte, entließ sie, ohne bewusst an Sergio vorbeizielen zu wollen, linksseitig aus ihrem Mundwinkel. Trüb-Weiße Wolken waberten über ihre mit mokkafarbenem Lippenstift bemalten, vollen Lippen.
Tatsächlich hatte Sergio sich den Drink etwas wohlschmeckender vorgestellt, bevor er daran nippte. Unmerklich verzog er das Gesicht bei dem widerlich süßen Geschmack, doch im Grunde hatte er den Drink auch nicht zum genuss bestellt, sondern einfach, da nichts auffälliger war als ein Gast, der weder trank noch tanzte. Aus dem selben Grund war er auch froh, dass Luceija das Spiel verstand, dass er hier spielte, sich bewusst abweisend ihm gegenüber gab und ihn im Anschluss sogar nach Drogen fragte. Natürlich meinte sie damit ihre tägliche Medikamentierung, aber es machte die Tarnung der beiden komplett: Sie ein junger, euphorischer Szenegast, er ein alternder Drogendealer. Unauffälliger konnte man sich hier kaum geben. Sergio glaubte sogar aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich bei der zweiten Bar einige Meter entfernt beinahe die gleiche Szene zwischen einer Asari und einem Batarianer abspielte. In betont unauffälliger Auffälligkeit schob Sergio seiner vermeintlichen Kundin daher ein kleines Döschen mit den vorbereiteten Pillen in der richtigen Dosis zu, tauschte dies gewissermaßen gegen die Zigarette in ihrer Hand, die er sich im unachtsamen Moment der Übergabe dreist stahl und ebenfalls einen Zug davon nahm.
"Mein Abteil ist das da", erklärte er noch beiläufig, während er zu einem der seltsamen Glasgebilde drüben an der Tanzfläche deutete. Damit schien alles gesagt zu sein. Er wollte ihr den Spaß mit Sicherheit nicht verbieten, zumal er zu ihrer Verkleidung beitrug und zudem war er überzeugt, dass seine Luci genau wusste, wann der Moment gekommen war, dem eigentlichen Auftrag nachzugehen. Auch sie würde mit Sicherheit ihre Augen offen halten. Beiläufig gab er Luci ihren Tabak zurück, stieß sich dann von der Theke ab und trottete zum Takt kopfnickend in Richtung seiner Privatzelle. Auf dem Weg dorthin sprach ihn eine Asari an, die er nicht wiedererkannnte. Die Musik war zu laut, um genau zu hören, was sie sagte, aber er war sich sicher, dass sie das Scheingeschäft an der Bar mitbekommen hatte und nun auch ihren Anteil zu erhandeln versuchte. Sergio beachtete sie kaum, winkte mit der Hand nur beiläufig ab und sah sie nicht an. Diese blauen Aliens waren ihm besonders suspekt - da waren ihm sogar die amphibienartigen Salarianer lieber. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen wandte er sich von ihr ab und begab sich zu seinem Separee, in dessen kristallenen Zugang er sich stellte und mit einer Schulter seitlich daran gelehnt seinen Drink 'genoss', während er das Geschehen im Club weiter beobachtete.
Luceijas Lächeln hatte sich unauffällig geweitet, als der Sizilianer durch die Menge der Clubbesucher hindurch in die Richtung verschwunden war, die er zuvor mit einem Wink angedeutet hatte. Ihre glimmende Zigarette klemmte wieder zwischen den mokkafarbenen Lippen und nahmen die Farbe am Filter auf wie ein Schwamm. Sie schmeckte ihn unbewusst zwischen den einzelnen Zügen im Gemisch ihres Speichels. Er schmeckte künstlich und billig. Stellen ihrer Zunge reagierten mit der Weiterleitung des aufgenommenen Geschmacks, bitter, und sandten den Befehl weiter an ihr Hirn. In derselben Hand, die die Zigarette nun aus ihrem Mund zog um einmal mehr den Rauch ins neblig-feuchte Nichts des Clubs zu blasen, hielt sie nun eine kleine Metalldose, die sie locker mit den schmalen Fingern umschließen konnte. Fragen würde ohnehin keiner stellen. Weder dazu, was man ihr da in die Hand gedrückt hatte, noch, wieviel es gekostet hatte und womit sie die Pillen zu zahlen gedachte. Der Barkeeper warf zwar einen kurzen Blick in ihre Richtung, aber als sie es war die diesen Blick aufgriff, schien er sich erwischt zu fühlen und widmete sich schnell wieder dem zu mixenden Getränk eines anderen Clubbesuchers.
Luci rutschte nach einer Weile, in der sie sich gemächlich umgesehen hatte, die Atmosphäre des Ladens auf sich wirken lies, von ihrem Hocker, zurück auf die festen, neuen Stiefel, die paradoxerweise ein exzellentes und beinahe wildes Bild einer Person zeichnete, die hier ein und ausging. Sie fiel nicht im Ansatz negativ auf und so war es für sie auch gänzlich egal, wie das gewagte Kleid saß nachdem sie an der Bar Platz genommen hatte. Mit jedem Schritt den sie ging und der leichte Stoff um ihre mit hohen Strümpfen versehenen, dürren Beine glitt und stellenweise nicht mal die Unterwäsche im Geheimen hielt, entwirrte sich das empfindliche Material selbst und umhüllte sie wieder wie zu Beginn, in dem Moment, in dem sie stehen blieb. Es war einer der wenigen Momente dieses Abends, an denen sie stillstand. Jetzt, alleine, gerade verlassen von zwei aufgetakelten Damen, vor dem breit gezogen und mit kühlem, vibrierenden Licht versehenen Spiegel der Damentoilette. Schon jetzt waren Spuren der Clubgänger gut sichtbar: Der Spiegel war stellenweise mit Wasser (oder ähnlichem) bespritzt, Reste von Einwegtüchern klebten in fetzigen Ausläufern in der Suppe des Handwaschwassers und eine Person hatte wohl geschafft sein pudriges Makeup in seiner Gänze im Waschbecken zu versenken. Reste waren über die gesamte Laenge der ersten beiden Waschbecken verteilt. Überall klebten Bronzefarbene Krümel oder verschwammen in helleren und dunkleren Nuancen tröpfchenartig miteinander. Es stank nach mehreren Arten Parfüm die den Geruch der Hinterlassenschaften in den Parzellen hinter ihnen übertünchten. Mehr oder weniger gut. Eine Commnummer war mit weinbeerenfarbenem Lippenstift am östlichsten Winkel des Spiegels notiert worden. Weitere Botschaften, diese allerdings mit herkömmlichen Stiften unterschiedlicher Arten, fanden ringsum an den Wänden Platz. Insgesamt war es ein teures Ambiente und dennoch schreckte das besoffene oder berauschte Publikum nicht vor Vandalismus zurück. Luci, die vor dem Spiegel stand und sich einen Moment lang die Nachrichten ansah anstatt sich selbst, empfand diese Art „Kunst“ nicht als störend, sondern recht sympathisch. Hätte sie einen Stift bei sich gehabt hätte sie dem Haufen Idioten vermutlich noch einen semi-weisen Alighieri-Spruch hinterlassen und sich dabei gleich zehnprozentig überlegener gefühlt. Sie schnaubte leise. Zwischen diversen „(…) was here“ entdeckte sie einen am oberen Rand der Parzellentür. Dort stand (https://www.himemer.com/t/dontbeammeupscotty): ‚Don’t beam me up Scotty, I’m taking a ShI‘, wobei das eigentliche I nach oben bis zum Ende der Tür gezeichnet wurde. So viel Kreativität hätte sie den Leuten hier kaum zugetraut. Sie sah es mit einem tatsächlichen Lächeln und widmete sich dann dem eigentlich wichtigen zu. Auf dem Waschtisch stellte die Halbitalienerin das erhaltene Döschen in eine der zahlreichen Pfützen. Schraubte es auf. Sah mehrere Pillen im Inneren liegen, inklusive einem kleinen Zettelchen, auf dem nur ein einziges Wort, in Sergios Handschrift, stand: ‚Alle.‘
Im Nu hatte sie diesen Teil erledigt, insgesamt sieben verschiedenfarbige Pillen gleichzeitig in den Rachen geworfen und im unabgezählten Zweierpacks nacheinander mit etwas Wasser aus dem Hahn geschluckt. Bis in einer halben Stunde würde sie merken was es heute war. Mal wieder hatte sie nicht auf den Plan gesehen, der ihr diese Frage beantwortete, aber die Pillenform verriet ihr bereits, dass es weitere Tabletten sein würden, die kontinuierlich ihr System vergifteten um ganz bestimmte Strukturen ihres Hirns dazu anzuregen sich selbst zu zerstören. Danach kamen all die Bestrahlungen, das Eezo, stundenlanges Kotzen, unruhige Nächte, Nebenwirkungen, Herzstillstände…eben alles, was man für gewöhnlich nicht so leiden konnte. Die Notwendigkeit allerdings allein brachte die Halbitalienerin dazu die Pillen ohne zweiten Gedankengang zu schlucken. Das Vertrauen ebenso. Sie hatte zwar in Wirklichkeit nie eine Wahl gehabt, aber sie traute Sergio schon seit Jahren blind. Genauso, wie sie ihm gestern blind vertraut hatte und selbst die niedersten Instinkte auf seinen Wunsch hin belebt oder begraben hatte. Das bedeutete aber nicht, dass sie generell keinen eigenen Willen mehr zeigte. Das war mit der Grund, weshalb sie bei den Pillen, deren Wirkung sie in der Gänze noch gar nicht kannte und vielleicht auch etwas komplett anderes hätten sein können, nicht stoppte. In ihrer Tasche fand sie ein kleines Tütchen mit weißem, pulvrigen Inhalt. Nur Grob wischte sie mit einem Tuch die Wasserreste von der Theke, um das Tütchen am oberen Rand aufzureißen und einen grob bemessenen Haufen davon auf der Oberfläche zu verteilen. Neue Frauen betraten die Toilette, manche giggelten, eine verschwand direkt in der Parzelle hinter ihnen und quatschte mit der Freundin dennoch weiter über einen ‚Sven‘ oder so, der besonders viel Trinkgeld gegeben hätte. Alle drei Mädels, die zwei die sich neben Luci an den Spiegel stellten und ihre Taschen nach Makeup zum Nachziehen öffneten, waren beide braunhaarig und hatten eine beneidenswert ebenmäßige, dunkle Haut, aus der die bildschönen, dunkelblauen – und bei der anderen braunen – Augen plakativ hervorstanden. Eine davon hatte sich offenbar mit aller Mühe den Afro zu glatten Haaren stylen lassen. Sie zog den Lippenstift nach und grinste sich frech selbst zu, als sie über den Umweg des Spiegels Luci dabei beobachtete, wie sie das Koksähnliche Pulver weiter ungestört und professionell mit ihrem Creditchip in vier, etwa gleich große Lines aufteilte. „Die richtige Party geht also hier ab“, stellte die unbekannte Frau fest und Luci reagierte verzögert und mit nur kurzem Blickkontakt. „Richtig erkannt.“ Die Halbitalienerin warf ihre langen, aalglatten, schwarzen Haare über die Schulter, beugte sich ein wenig nach vorne, nur, um sich ein Nasenloch zuzuhalten und sich ziemlich rasch zwei der Lines in jeweils ein Nasenloch zu schnupfen. Sie atmete mehrere Male kurz stoßweise ein um die letzten Reste von ihrer Nase in Richtung Hirn zu treiben, sah dann zufrieden und mit halbgeöffneten Augen in den Spiegel und richtete einhändig wieder die Frisur, ohne es damit zu ernst zu nehmen. „Gibst du was ab?“, fragte die mit den ungezähmten Haaren, die ihre Klo-Freundin gerade nicht mit Gerüchten versorgte. Luci zuckte gleichgültig mit der Schulter, schmunzelte leicht und nickte in Richtung des Stoffes. „Bedien dich.“ Alles, was sie noch bei sich hatte fand in einem kleinen, Schlüsselanhängergroßen Gefäß (http://www.bongobong.de/images/product_images/popup_images/201138.jpg) Platz, in welchem eine Art Kralle steckte, mit der man problemlos ‚on the go‘ das ein oder andere Näschen nehmen konnte. „Hey, danke Kleines. Vielleicht tanzen wir nachher mal? Ich geb‘ dir nen Drink aus.“, lächelte die Dunkle zuckersüß, Luci erwiderte dieses und gab ein ‚Ich komm drauf zurück.‘ an. „Ist ‚n hübsches Kleid übrigens.“ So ganz wusste die Halbitalienerin mit dem Kompliment nicht umzugehen und lächelte daher nur wieder einseitig. Bedankte sich mit ihrem berauschenden Dialekt in der Stimme und verließ das Bad dann wieder.
Ihre deutlich ambitionierteren Schritte führten sie zurück nach draußen.
Unterwegs entsorgte sie Sergios nun leeres Döschen, behielt das kleine Pulvergefäß aber für die restliche Party noch bei sich direkt in der Hand. Zunächst wirkte die junge Frau noch deutlich ziellos, lief nur langsam durch die Menge und schob hier und da das Oberteil ihres Kleides zurecht, wenn es etwas mehr präsentierte, als es der sehr dünne Stoff ohnehin schon tat. Meist immer dann, wenn sie die eindeutigen Blicke bemerkte, wie der des anderen Barkeepers, bei dem sie mit den Drinks nun ein weiteres Mal ihr Glück versuchte, aber hier eher zu etwas stärkerem Griff und sich einige Spritzer mehr Tequila in ihren Tayseri Iced Tea – eine angepasste Version des Long Island Iced Teas – geben. Auch der war nicht besonders gemischt, aber das fluoreszierende, hohe Glas machte zumindest optisch einen guten Eindruck. Damit passte das Getränk nur zu gut zum Rest des Clubs: Alles reduziert auf Äußerlichkeiten. Ein Umstand, den die junge Frau aber noch längst nicht so interessierte wie später und ihr nicht die Gelegenheit entzog, sich mitsamt Drink in die Mitte der bereits tanzenden Menge zu quetschen und mit der Masse im Rhythmus des Basses und der Lichter ihre Bewegungen zu finden. Von Minute zu Minute wurde der Moment berauschender. Ob es an ihrem Koksähnlichen Zeug lag, welches sie mitgeschleppt hatte oder aber an einer der vielen Pillen oder der Kombination allem mit dem Alkohol..war so egal wie wahrscheinlich. Alles was die Italienerin für den Moment noch interessierte war sich inmitten dieser Leute auszuleben. Farben intensiver wahrzunehmen, fitter zu werden. Wacher. Aufmerksamer. Und scheinbar jede Bewegung um sich herum um ein vielfaches intensiver zu empfinden. Jeder Atemzug dieser Menschen und Aliens. Jeden Bass.
Wie lange sie hier schon feierte, wusste sie nicht. Das Glas war schon lange von einer unbekannten Person wie auf ‚magische Weise‘ ersetzt worden durch irgendein Energydrink-Spirituosen-Gemisch und immer wieder schnupfte sie hier und da noch eine weitere Line aus dem kleinen Behälter, ohne diese Male von der Tanzfläche zu gehen. Ihr gefiel, wie sich die Bilder um sie herum verzerrten. Mochte, wie der Kontrollverlust einzusetzen drohte, sie sich aber glaubhaft versicherte, diese noch immer zu haben. Immer wieder warf sie während dieser langen Zeit Blicke in die Richtung, die Sergio ihr zuvor genannt hatte und wohin er irgendwann verschwunden war. Und irgendwann, nach zahlreichen Blicken in diese Richtung, bemerkte sie andere Blicke. Blicke, die sie verfolgten... .
Der 'Dottore' am Rande des Geschehens versuchte die Sache ganz im Gegensatz zu seinem Zögling etwas professioneller zu handhaben. Zwar gönnte auch er sich eine Zigarette, was er sonst eigentlich nur im Beisein seiner Kontaktmänner tat, die allesamt rauchten. Aber abgesehen von einem leichten Kopfnicken zum dröhnend-dumpfen Klang der Musik ließ er sich kaum von der Stimmung des Abends mitreißen, sondern scannte weiterhin die Umgebung. Natürlich ließ er auch seine Luci nie wirklich aus den Augen, so sehr er ihr auch ihre Freude gönnte. Er selbst wusste es eigener Erfahrung, wie sehr man es nötig hatte, außerhalb des Labors ein zwischenmenschliches Ventil zu finden, wenn man eine weitere Woche immer die selben Räumlichkeiten sehen musste. Von dem Trauma des Vortags nicht zu reden. Er würde ihr das Tanzen und trinken nicht verbieten - war es doch sogar ihrer Tarnung nur zuträglich. Doch je länger er sie beim Tanzen beobachtete - anfangs aus Fürsorge, bald aus niedereren Instinkten - desto mehr fiel ihm auf, wie sie immer ausgelassener und wilder wurde und sich gänzlich dem Moment und ihren Sinnen hingab. Es war eindeutig, dass es nicht nur der Einfluss seiner regulären Medikamentierung oder des Alkohols war, der sie enthemmte. Hin und wieder, er war sich nicht sicher, glaubte er sogar zu sehen, wie sie bei dunklerer Beleuchtung und versteckt in der tanzenden Menge hin und wieder etwas schnupfte. Einerseits missfiel es ihm anfangs. Dass sie tanzte und ein wenig trank störte ihn nicht. Doch angesichts der Tatsache, dass sie später noch eine essentielle Rolle in ihrem Plan gegen Everett spielte, war es wenig hilfreich, ihre Zurechnungsfähigkeit weiter zu senken.
Wahrscheinlich war es ihr Anblick, der Sergio dazu brachte, sich die Sache schönzureden. Sollte sie tatsächlich heute einen weiteren Menschen töten müssen, würde sie dies besser unter Drogeneinfluss verkraften, so dachte er. Und so lange sie nur typische Aufputscher schnupfte und ihr High sich lange genug zog, konnte er sogar mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit ihrerseits rechnen, die sie heute gut gebrauchen konnte. Sich selbst beschwichtigend lehnte er sich daher weiterhin qualmend mit der Schulter an den Eingang seiner Parzelle und sah einfach nur zu, wie sie sich bewegte und der dünne Stoff an ihrem Körper in Wellen mitschwang, gelegentlich ihren Körper für den Bruchteil einer Sekunde fast gänzlich entbößte und dann wieder notdürftig verhüllte. Nach einer Weile fasste etwas in ihm plötzlich einen Entschluss.
Er drückte die nur halb gerauchte Zigarette in einer Mulde an der Wand aus, die vielleicht kein Aschenbecher war, die er aber spätestens jetzt zu einem erklärte. Dann leerte er seinen Drink in einem Zug, stellte diesen auf seinem Sitzplatz hinter sich ab, zog ein Jackett zurecht und ging selbstbewusst auf die Tanzfläche zu, wo er sich, wie selbstverständlich, einreihte. Nachdem er sich, leicht zum Takt wiegend, irgendwann zu Luceija vorgekämpft hatte, näherte er sich ihr rückwärtig an, legte in der abgedunkelten Masse aus Tanzenden seine Hände auf ihre Oberarme und bewegte sich mit ihr zur Musik. Erst, als sie sich seinen Bewegungen angepasst und die Annäherung somit implizit akzeptiert hatte, drehte er sie zu sich herum und schmunzelte leicht, als sie sich erkannten. Ohne ein Wort zu sprechen führte er den Tanz fort, bei dem er sie immer wieder komplett aber beiläufig musterte.
Das Geheimnis, weshalb dieser lächerlich benannte Club seine Beleuchtung wellenartig über die Einrichtung, sowie die Tanzfläche und die Wände schickte, war Luceija spätestens jetzt offenbart. Die Wahl fiel offensichtlich nicht einfach auf diese Art der Atmosphäre, weil es nur schön aussah. Sondern jede Bewegung, die sie wie automatisiert zur Musik tat, jeder Centimeter ihres schlanken Körpers, der sich zwischen der dutzend anderen, ständig im Rhythmus befindlichen Körpern bewegte, schwitzte und sich verausgabte, nahm diese wellenartigen Bewegung wieder auf.
Alles hatte sich anfänglich noch ungewohnt und eigenartig angefühlt, sodass sie einen Moment überlegt hatte, ob es nicht sinnvoller war, einfach nur zuzusehen und sich als ‚zu gut‘ für die tanzende Menge zu deklarieren. Aber über diese Schwelle hatten ihr die Pillen und das koksähnliche Pulver geholfen, dass sie sich während flüssiger Tanzbewegungen einmal mehr zuführte, dazu den kleinen Zylinder aufschraubte und den winzigen Spatel hineinführte um das Häufchen des Pulvers an ihre Nase zu führen und schnellstmöglich weg zu schnupfen. Es drängte sie alles regelrecht dazu, sich der forcierenden Bewegungsbeleuchtung anzupassen. Ihre Kleidung schien sich perfekt an diesen Tanz anzugliedern. Unerwartet Perfekt mitzufließen, sich um ihre erhitzte, olive, mediterrane Haut zu spielen, sie einzuhüllen und gleichzeitig zu offenbaren. Ihr Bewegung zu ermöglichen, zu locken und mit Umstehenden und ihren Blicken zu spielen, aber niemals zu viel gleichzeitig zu enthüllen. Es war einer der besten Highs dass sie in letzter Zeit genießen durfte. Es stieg ihr zu Kopf, machte sie leicht und unbeschwerter als die Antidepressiva, die sie schon auf dem Weg hier her gekippt hatte. Mit einem Mal schien die gesamte Schwere der Welt nichtmehr auf ihren Schultern zu lasten. Es schien egal, dass nun Blut an ihren Händen klebte, dass sich nichtmehr abwaschen lies. Nein…sie ging allmählich sogar in dem Gedanken auf, dass sie es selbst verursacht hatte. Dass sie in der Lage war Dinge zu tun die andere nicht konnten. Dass sie nicht nur von einer besseren Zukunft der Menschheit sprach, sondern dass sie es war. Dass SIE alles herbeiführte. Dass sie…zu einer Perfektion geworden war.
Viele Drogen hatten bereits den Weg durch ihre Blutbahn gefunden. Einige Glaeser Alkohol, die mit ihren Tabletten und dem Koks zu konkurrieren versuchten. Mischungen, an die ihr Körper sich gerade erst gewöhnte und nach ihrer Pubertät zu einer Selbstverständlichkeit wurden. Insgesamt enthemmte sie sich so wie jetzt immer wieder. Sie konnte unbeschwerter Tanzen, klarer Denken, sorgloser Leben und baute so schon seit Jahren auch jegliche Hemmungen ab, die andere in ihrem Alter sicherlich noch hatten. Dazu gehörte, sich nicht nur in einer unwahrscheinlichen Enge zwischen diversen anderen Tanzenden so zu bewegen, sondern auch nicht als weiteren Rausch dabei zu spüren, wenn sie wie jetzt angetanzt oder berührt wurde. Just in dem Moment indem sie spürte, dass sich ihr ein Körper hinterrücks aufdrängte wollte sie gar nicht wissen, wer es war der hinter ihr stand. Es hätte in diesem Moment Everett persönlich sein können (und das hätte ihrem Plan durchaus geholfen), der ihre Oberarme berührte, daran mit den Händen nach unten glitt und sie schließlich an der Hüfte umfasste, bis er sie komplett umgreifen konnte und sich enger an sie zog. Luci bewegte sich weiter zur Musik. Lehnte sich zurück gegen die Person, die sie im ersten Moment kaum identifizieren konnte, aber eine Vertrautheit vermittelte, die sie sehr vermisst hatte. Ihre Stirn berührte das Kinn des Fremden und so war sie dem Hals nah genug um das Aftershave oder Parfum zu erreichen, dass ihr immer bekannter erschien. Unter dem Kopf des Mannes hinweg hatte sie einen Blick auf die etwaige Richtung der Parzelle, die Sergio angemietet hatte. Sie war leer. Und ein zugedröhntes Lächeln ihrerseits ließ sie den Kopf zurück gegen die Brust legen und noch etwas unbeirrter weitertanzen. Ihr war schnell klar, wer das hier war. Und auch, wie stark ihr Herz zum Beat des Clubs schlug. „Vuoi qualcosa? Willst du was..?“ spielte auf ihre Drogen an und sprach dabei gegen seinen nahen Hals in Richtung des Ohrs.
Er wahrte den Schein. Während er in rhythmischen Seitwärtsbewegungen des Beckens weiter zur Musik schwang und dabei Lucis Körper beim Tanzen an seinen hielt, konnte er sich nicht zurückhalten, auch seinen Kopf seitlich an ihren zu drücken und den Geruch ihres Shampoos und Parfums aufzusaugen, zusammen mit der leichten Restnote von Tabak und dem Wasserdampf, der zu Effektzwecken in der Luft waberte. Es dauerte einige Momente nach ihrer Frage, bis er tatsächlich wieder zu sich fand, sich an den Zweck seiner Annäherung erinnerte und endlich auf sie reagierte. Nur zur Täuschung stimmte er tatäschlich ihrem Angebot zu, nahm sich das kleine Gefäßchen von ihr und deutete an, mit der Kralle ein Gramm der Droge zu entnehmen und zu schnupfen - doch tatsächlich blieb die Kralle leer. Dann gab er ihr in betonter Unauffälligkeit die Ampulle zurück und führte seinen Tanz fort
"In der nächsten halben Stunde sollte Everett spätestens eintreffen", sprach er ihr möglichst leise aber dennoch gegen den Lärm der Musik ins Ohr, während er nach außen hin jedoch durch das Fortführen seines Tanzes die Tarnung aufrechterhielt, Luceija nicht zu kennen, sondern sie nur gerade auf der Tanzfläche 'näher kennenzulernen'. Um diesen Eindruck zu bestärken, zog er sie etwas enger an sich und legte seinen linken Arm diagonal um ihren schmalen Oberkörper, bis er von der linken Körperhälfte aus ihre rechte Schulter fassen konnte, wobei sein Unterarm ihren Brustkorb kreuzte und dort die freiliegenden Stellen ihrer Haut berührte. Ihr Schlüsselbeinknochen fühlte sich unter seinen Fingerkuppen dünn und zerbrechlich an. Für eine Weile driftete er unbewusst in seine Arbeitsmentalität ab und diagnostizierte ihren derzeitigen Ernährungs- und Gesundheitszustand, wie er es sonst tat, wenn sie im Labor bar unter seinen Händen lag. Und doch war etwas an dieser Situation völlig anders als die tägliche Laborroutine - und dazu zählte er nichteinmal die laute, bunt flackernde Umgebung. Vielleicht war der Drink doch stärker gewesen, als er dachte und er war weit weniger zurechnungsfähig, als er sich eingestehen wollte. Beim Gedanken an die eigene mangelnde Professionalität fand er ruckartig zurück zu den Worten, die er Luceija schon vor einer halben Minute zuflüstern wollte.
"Nicht, dass ich dir den Spaß verderben will - aber halt dich mit deinem Pülverchen zurück... Komm in ein paar Minuten zu meiner Parzelle... Und jetzt stoß mich weg - am besten mit einer Ohrfeige", forderte er sie auf, während seine Griffe um ihren Körper absichtlich grober und einnehmender wurden, um ihre geforderte Abfuhr plausibel zu machen. Dabei besaß er sogar die Dreistigkeit, mit den Fingern der einen Hand ein Stück unter den Taillengürtel und mit der anderen Hand in den tiefen Ausschnitt ihres Kleides zu fahren, stoppte aber bewusst nach einigen Zentimetern, um ihr das Signal zu geben, ihn an dieser Stelle abzuweisen.
“Mhm…”, war es eine völlig verklärte Antwort auf seine Aussage, ohne umstehenden zu verraten, welche die war. Sie reagierte anders als er sie aufgefordert hatte. Blieb an ihm, eng, und bewegte sich weiter zur Musik, während er das so gut wie gar nicht tat, sondern besonders eindeutig, und eigentlich auch initial nur zum Schein andeutend, seine Hände unter den Stoff ihres ohnehin schon dünnen Kleides stahl. Anstatt sich jedoch zu wehren, lehnte sie sich weiter gegen ihn und seine Schulter zurück und genoss den Klang seiner sizilianischen Worte in ihrem Ohr. Auch das zog sie zurück in ein unbeschreibliches, zufriedenes Heimatgefühl. Dem gesamten Gegenteil dessen, was sie empfand, seitdem sie auf der kühlen Citadel angekommen war, die rein Garnichts für die Halbitalienerin bereitgehalten hatte. Ihr Kopf lag unlängst an seiner linken Schulter, sie legte ihn sogar sanft in den Nacken, sah aber weder ihn an noch in sein Gesicht, sondern hatte die Augen einige Momente lang geschlossen. Sie schien es fast schon zu genießen, was er da tat, ohne recht zu wissen, warum überhaupt. Es mussten die Drogen sein. Solche Reaktionen sprachen doch sonst ausschließlich dann aus ihr, wenn sie Aufträge abarbeiteten, lernten, die Forschungen vorantrieben… . Aber gerade waren diese üblichen, nahezu dienstlichen und Fremden Dinge wie ausgestorben. Er offerierte ihr stattdessen eine Nähe, die sie voneinander nicht gewohnt waren. Sie weder erwartet noch voraussichtlich benötigt hätten und doch – jetzt schien es ihr so, als brauche sie genau das. Genau dieses Gefühl von Heimat und Geborgenheit. Genau diese Sicherheit, die ihr hier fehlte. Die keine Citadel ihr jemals geben konnte. Und Drogen nur temporär.
Sie reagierte viel zu verspätet, als dass irgendeine der nachfolgenden Aktionen noch allzu viel Glauben gebracht hätten. Und dennoch legte sie, nach einigen Minuten, in denen quasi nichts geschah, außer, dass sie glaubte, dass sich die Finger winzige Zentimeter weiter nach vorne gearbeitet hatten und diese erfühlen können würden, wie sehr ihr Herz gegen die Brust schlug. Ihr Kopf, dessen lange, glänzenden Haare an ihm entlang hinabhingen, senkte sich wieder und löste sich von ihm, so, wie ihre behandschuhten Finger nun auch nach seinen Handgelenken griffen und ihn den Weg zurück wieder, und etwas widerwillig, von ihrer Haut hob. Sie riss sie gespielt von sich, drehte sich bestimmt um und lies ihre Rückhand ohne irgendwelche Rücksicht gegen seine Wange schlagen und die Handschuhe den Aufprall akustisch dämpften. Weil die Traube um sie ohnehin eng genug war, gab es einige, die den Schlag mitbekamen, sich kurz umdrehten, lachten, oder Sergio sowas wie „Die hat dich ordentlich abblitzen lassen!“ zuriefen. Doch er nahm es fast schon wie ein Gentleman, drehte sich ab, grinste ihr sogar noch zu, und hob die Hände beschwichtigend an, als ein paar Buhrufe folgten und er der Security klarmachte, dass er die Frau nicht weiter belästigen würde. Und so löste sich alles auch sehr schnell wieder auf. Sergio ging zurück in Richtung der Parzelle, Luci hatte auf der Tanzfläche sogar das Mädel von der Toilette wieder getroffen und direkt ihre Hand auf ihrer Schulter, die sie fragte, ob alles okay sei und ob sie Hilfe gegen den Typen brauchte. Luci lachte nur schwach auf, beugte sich zu der hübschen Frau und flüsterte ihr gegen die Musik ins Ohr, dass es ihr Dealer war, sie nicht auf diese Weise ranlassen wollte, er aber ansonsten ziemlich niedlich sei. Im Grunde keine Unwahrheiten, nur ein bisschen modifiziert. Und immer wieder, ab dem Moment an dem sie jetzt mit ihr, Amelia, tanzte, sah sie wieder in Richtung Sergios Parzelle. Aber ihr Blick war nichtmehr derselbe wie vorher. Und der, der permanent zu ihr, durch die Leute hindurch, zurückkam, ebenfalls nicht.
Einen Moment lang stand er dort wie angewurzelt und völlig verunsichert. Nicht etwa, dass er nicht genau gewusst hätte, was seine Hände nun gerne tun würden. Nein, es war nur schwierig die Sache nach außen hin plausiblel zu machen, wenn er sie weiter anfasste und sie sich dagegen nicht wehrte, sie sich anschließend aber doch trennen würden. Für endlose Augenblicke wartete er nur wie eingefroren ab, was sie tat und fluchte innerlich bereits über die beobachtenden Blicke einiger anderer auf der Tanzfläche, bis sie endlich seiner Aufforderung Folge leistete und ihm eine keineswegs gestellte Ohrfeige verpasste.
"Wenn du's dir anders überlegst, weißt du ja wo du mich findest", lächelte er nach einem Zurücktaumeln Luceija noch gespielt zu, während er sich die Wange hielt, und entfernte sich von ihr in Rückwärtsschritten. Die Blicke der Menge beachtete er gar nicht, als er sich unauffällig schmunzelnd zurückzog und mit einem aggressiven "Was glotzt ihr so - kümmert euch um euren Scheiß!" das Image seines Dealer-Alter-Egos komplett machte. Dieses Bild machte es auch umso glaubwürdiger, dass er am Großteil der Party nicht teilnahm, sondern sich in seine Parzelle zurückzog - denn in den Szeneclubs der Citadel war es nicht unüblich, dass sich am Tanzflächenrand irgendwo ein Händler wie ein König einnistete und von dort aus Sonnenschein in Tütchen portioniert ans Volk verteilte.
Als er sich gerade in seiner Parzelle niedergelassen hatte, wurde klar, dass das Schauspiel beinahe schon zu gut gewirkt hatte. Ein etwas aufgedrehter, sehniger Kerl mit einem durchsichtigen Tanktop streckte plötzlich seinen Kopf zwischen den gläsernen Kristallwänden hindurch und sah sich neugiierig um, ehe er Sergio mit einem kurzen "Hey!", zum umdrehen aufforderte. Dieser hatte inzwischen sein noch kühles Glas von seinem Sitzplatz genommen, um es an seine aufgeplatzte Lippe zu halten und so dem Anschwellen vorzubeugen.
"Mh?", brummte Sergio mürrisch und ahnte schon, wohin das führte.
"Ist das die Bar?", fragte der junge Bursche mit einem auffälligen Unterton und schaffte es dabei kaum, Sergios Augen zu fokussieren. Stattdessen blickte er sich schreckhaft wie ein Nagetier bei jedem neuen Instrumentenklang der Musik in alle Richtungen um. Etwas verdattert blickte Sergio selbst im Inneren seines Abteils umher, das nun so gar keine Verwechslungsgefahr mit einem Bartresen barg. Zusammengenommen mit der übermäßig energetischen Art des Fremden erschloss sich dem Doktor schnell, worum es hier wirklich ging. Offenbar war dieser Satz hier so eine Art Codephrase.
"Was brauchst du. Hab nur die Basics - nichts abgefahrenes", schwadronierte Sergio beinahe schon etwas zu hollywoodartig daher, als er in seine Jacketttasche griff und dort tatsächlich eine kleine Schatulle mit diversen Medikamenten bereit hatte.
"Vielleicht ein paar Vids?", fragte der Junkie gierig und wagte sich weiter ins Innere des gläsernen Gebildes, um sich die Auswahl näher anzusehen. Sergio folgerte, dass mit Vids wohl kaum Unterhaltungsmedien, sondern Videlicet gemeint war. Die Sucht war hier nicht selten - viele nahmen es anfangs nur als Stim zur besseren Leistungsfähigkeit und drifteten dann schnell in die Abhängigkeit. Auf Parties war es zudem beliebt, um die Musik intensiver zu erleben und ein verlangsamtes Zeitgefühl zu empfinden. Tatsächlich hatte Sergio es bei sich - er selbst nahm es in Ausnahmefällen zur Leistungssteigerung in langen Nächten ein und auch Luceija hatte schon die eine oder andere Dosis eingeflößt bekommen. Der Sizilianer entschied sich, den Handel einzugehen - nichts des Geldes wegen, sondern um erneut seiner Glaubwürdigkeit beizuhelfen.
"Du warst noch nicht bei mir oder? Neukundenrabatt. Zweihundert Credits für ein Blisterpack", schlug Sergio vor und hielt dem zitternden Hamster von einem Mann die eingeschweißten Pillen entgegen. Der Austausch geschah kommentarlos und ohne Zögern und ohne ein Wort des Abschieds war der Kerl wieder verschwunden. Eine Sekunde blickte Sergio den Creditchip in seiner Hand an und fragte sich, ob er nicht doch in diese Branche hätte wechseln sollen. Dann rückte er seine Kleidung zurecht, verstaute seine Schatulle und das Geld wieder und wartete am Eingang des Abteils auf Luceija, die nicht weit von ihm gerade Bekanntschaft mit gutaussehenden Frauen zu machen schien. Dann sah er auf die Uhr. Wo blieb Everett bloß?
music:
Jóga (Björk) (https://www.youtube.com/watch?v=BBju9Sdh94k)
In For The Kill (LaRoux Cover by Billie Marten) (https://www.youtube.com/watch?v=XaenkxdqPFw)
Irgendetwas war in ihr vorgegangen. Luci verstand es selbst nicht. Es war ein Rätsel, dass sie nicht in der Lage war zu lösen. Ebenso wenig wie die Blicke der Frau die mit ihr tanzte. Sie war älter als Luci, deutlich, und schien auch zu wissen, dass die Halbitalienerin nicht hierhergehörte. Sie war ausgelassen, frei, wild. Warum sie das war? Ihretwegen. Wegen ein paar Drogen in einer Toilette. Sie war bildschön, hatte jede Note der Musik mit ihren Bewegungen im Griff, was niemandem hier entging. Luci konnte sie riechen, den Schweiß auf ihrer Haut und die Nuancen darin, die das koksähnliche Pulver auslösten. Sie hing an ihren Lippen, daran, wie sie die Italienerin ansah und sie zweifelsohne auf irgendeine Weise bezauberte. Aber Luceijas Gedanken waren nicht hier. Sie waren längst Abseits einer Tanzfläche wie dieser und auch, wenn sie gerade ihre grünen, herausstechenden, mysteriösen Augen auf Amelia richtete, sah sie durch sie hindurch und ihre eigenen Bewegungen, sie selbst noch dieses befreite und leichte an sich hatten, wurden immer weniger. Von wildem Tanz zu ausgelassenen Bewegungen, fließendem, leichten Wiegen und letztlich…stand sie Minutenlang da. Regungslos und leer. Direkt vor der eng an ihr Tanzenden. Alles, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte kroch unauffällig zu ihr zurück. Zwischen den Lücken, die die Drogen nicht schließen konnten, sondern nur überdeckten. Minutenlang stand sie weiter hier und beobachtete die Ältere, in einer bislang nicht dagewesenen Unsicherheit die sie auseinander brach. Die grünen Augen fanden keinen Halt an den Dunkelblauen ihr Gegenüber, sondern suchten sie ab, als läge hier eine Antwort in denen der Fremden, die ihr erklären würde, was mit ihr passierte. Warum sie so Unsicher war, warum sie sich seit diesem Tag so anders, viel zu verletzlich und leer fühlte, obwohl sie sich sicher gewesen war, auf diese Tat vorbereitet gewesen zu sein. Und auch, warum sie die Wärme seiner Hand noch immer auf sich spürte, als wäre es ein Mal gewesen, dass er dort gesetzt hatte. Sie überlegte lange. Zu lange, als dass das, was sie nun tat, irgendeinen Sinn ergeben hätte. Vielleicht wäre es noch irgendwie zu erklären gewesen, weshalb Luci einen sehr kleinen und beinahe unnötigen Schritt auf die andere Frau zugetan hatte, nur, um ihre behandschuhten Finger in einer einzigen Bewegung an ihre Wange zu legen und sie zu küssen. Auch das war wunderbar auf Drogen zu schieben und zu erklären. Emotionen kochten auf, wenn man so viel einwarf wie sie. Wahrscheinlich war die Hälfte ihrer ohnehin pubertären Gedanken und Gefühle reinste Illusion. Also war dieser Schritt nicht gänzlich unerklärlich. Auch ohne Drogen hätte sie das sicherlich irgendwann einmal gewagt. Aber entgegen der sehr entgegenkommenden Reaktion Amelias, war es nicht die Antwort, die sie gesucht hatte. Alles, was sie mit diesem Kuss feststellte war das, was sie nun flüsterte, als sie ihre Lippen von den Weichen der anderen löste. „Non lo è… Das ist es nicht… .“ „Was…?“, fragte ihr Gegenüber atemlos, aber eine Antwort erhielt sie ebenfalls nicht…
Luci lief rückwärts und unbewusst gegen einen tanzenden Salarianer, den sie gekonnt ignoriert hatte. Ihre Hand senkte sich von der Wange der nahezu Fremden und sah von ihr ab. Die Proteste von hinter ihr erdrückte sie so einfach wie die vor ihr. Der Kuss hatte nichts bewirkt und war sinnlos gewesen. Hatte weder eine sexuelle Fantasie entfacht noch ihr irgendeine innere, körperliche oder geistige Genugtuung verschafft, die diese Unsicherheit bekämpfen konnte. Somit war eindeutig, dass Amelia nur eine weitere, gesichtslose Person in einer Suppe aus vielen weiteren, gesichtslosen Gestalten war. Sie wandte sich ab und lief von der Tanzfläche. Nur noch einmal blieb sie stehen, schnupfte ein weiteres Mal weißes Pulver in ihr linkes Nasenloch und war mit etwas zu zittrigen Fingern und einem tauben Gefühl durch die langen Handschuhe nicht so recht in der Lage die Spuren ihres Konsums zu verwischen. Ihre Augen waren durchsetzt von leichtem Rot. Und doch sah sie ihr Ziel genau – besser vor ihrem inneren Auge als den tatsächlichen. Sehr gezielt verließ sie den Tanzflächenbereich komplett. Ihr Herz schlug ihr so heftig gegen die Brust, dass sie sich sicher war, dass das ein nahender Herzinfarkt sein musste. Und dennoch stoppte sie nicht. Nicht mal, als ein hagerer, viel zu aufgedrehter Typ im weißen Tanktop, dass nahezu keinen Halt an dem gemergelten Körper fand, ihr entgegen aus der nur spärlich abgeschirmten Lounge Sergios kam, sie ansprechen wollte und die Halbitalienerin quasi direkt abschirmte und ihm laut zischend mit einem „Verpiss dich!“ aus ihrem Weg verscheuchte. Sie ließ den eindeutigen Junkie hinter sich zurück und war sich für einen Augenblick nicht sicher, ob die vielen Mittel in ihrem Blut diese Person hier nicht hingesetzt hatte wie die Inkarnation ihres zugedröhnten Selbst. Ob es ein Mahnmal dessen war, wozu sie über Jahre langsam wurde. Wozu sie ohne ihn wurde, auf den sie zuschritt. Der dort wartete, zu der Italienerin aufsah, als sie eingetreten war und hier noch einen Moment stand. Verharrte, atmete, Sergio ansah, wie sie Amelia vorhin angesehen hatte, mit dieser Frage in ihrem Blick, der Verzweiflung in ihren Augen. Der Unfähigkeit, sich zu finden. Mit dieser Frage, die sie stumm stellte, und den Sizilianer direkt unterbrach, als seine allzu bekannte, tiefe Stimme sprechen wollte. Everett. Sein Projekt. Der Mord. Irgendetwas zur Sprache kommen musste, was sie im Augenblick weder hören konnte noch wollte. „No. Non ora. Nein. Nicht jetzt.“, war sie schnell ihm ins Wort zu fallen und verbarg eine wackelige Stimme.
Einen Sinn hatte diese zweite Tat vermutlich nicht gehabt. Es war nicht zu erklären, weshalb sie das tat und warum es sie dazu trieb. Mit einem Mal schloss sie zu Sergio auf und wartete keinen Protest ab, lies ihn nicht mal zu, als sie vor ihm stand und sich ohne eine erneute Verzögerung umweglos auf seinen Schoss setzte, ihre Hände schneller schienen als ihr Verstand, die sein Gesicht umfassten und ihre Lippen noch viel schneller waren, als sie sich auf seine legten und das endgültige Ende des mokkafarbenen Lippenstiftes besiegelten. Sie würde niemals in Worte fassen können was sie hier tat, was mit ihr geschah und was sie fühlte. Sie war verwirrt und brauchte diesen Halt und diese Nähe. Dieses letzte bisschen Heimat und das letzte bisschen Vertrauen.
Klopfen. So schnell, dass es den Bass des Clubs um Längen schlug. Es ging nicht unter. War lauter. Reflektierte den Schall seines Krachs von den Wänden. Dirigierte ihren Atem.
* * *
Sein Geruch erfüllte die Luft. Erstmalig. War niemals so präsent wie jetzt und doch triumphierte der Geschmack seiner Lippen. Speichel des jeweils anderen klebte auf den eigenen und blieb zurück, als stummer Zeuge moralischer Zerrissenheit.
* * *
Atem wurde sichtbar und farbig zwischen ziellos gerichteten Scheinwerfern und Hologrammen unterschiedlichster Nuancen.
* * *
„Lo ucciderò per voi. Io ucciderò assolutamente chiunque si vuole morto.. .
Ich werd ihn für dich töten. Ich werde absolut jeden für dich umlegen, den du tot sehen willst…“
Lippen, verschmierter, mokkafarbener Lippenstift nahe seines Ohrs.
* * *
Eine einzelne Hand. Milchglas unter ihr. Jeglicher Versuch, sich Halt zu sichern scheiterte. Kurze Nägel rutschten am halbtransparenten Material ab und hinterließen kaum sichtbare Furchen.
* * *
Ein Wimmern? Ein Seufzen? Ein Schrei? Oder der gescheiterte Versuch einer heraufbrodelnden, hitzigen Phrase?
Luceija hatte sich längst an den etwas härteren Untergrund der Sitze in jenem Separee gewöhnt. Zumindest genug um hier sitzen zu bleiben, fast schon friedlich an einer von marijuanaähnlichem Stoff getränkten Zigarette zu ziehen, nachdem sie sie sich wieder aus dem Mund ihres Adoptivvaters zurückerobert hatte und sich allmählich an einen entspannteren Atem zu gewöhnen. "Posso gestirlo. Ich krieg das schon hin.", versicherte sie, dass sie den erdachten Plan, hier zu warten bis Sergio sich von ihr entfernt und Everett aufgesucht hatte, verstanden hatte. Sie atmete etwas Rauch aus dem Mundwinkel in die entgegengesetzte Richtung Sergios und wischte sich einhändig schmierige Reste ihres Lippenstiftes weg. "Vuoi il resto? Willst du den Rest?", hielt die Sizilianerin ihm den mittlerweile heruntergerauchten Stummel der Zigarette hin und streckte ihm dafür die Hand hin, zwischen dessen schlanken Finger der Glimmstängel klemmte. Sie wartete kurz ab, als der Ältere jedoch nicht reagierte und stattdessen sein Hemd wieder in Ordnung brachte, zuckte sie mit einer Schulter, klemmte den Stummel in die Schneise des Aschenbechers und durchwühlte im Anschluss daran ihre kleine Tasche. Trotz dem benebelten Geist der dank Euphorie und Adrenalin etwas gemildert und von dem Joint wieder aufgestachelt wurde, beherrschte sie es erschreckend gut, sich den Lippenstift nachzuziehen, der ihr Bild von projizierter Perfektion wieder komplettierte.
Der Bass kroch zurück in ihre Ohren und endlich schenkte sie diesem auch wieder Aufmerksamkeit. Sie schien das Lied zu erkennen, dass nun abgespielt wurde und lächelte benebelt. Ihre Zehen - blank, nachdem sie einen der Schuhe ausgezogen und neben dem Tisch achtlos zurückgelassen hatte - krallten sich an den Rand des kleinen Tisches, während sie ihre Beine überkreuz überschlug. Sie nickte sacht zum Beat der Musik und fragte sich kurz, ob die Frau von vorhin noch da war oder ob sie sich genervt zurückgezogen hatte oder sie vielleicht schon kotzend über der Schüssel hing. Es war der einzige Gedanke, der abseits des Auftrages, Everett loszuwerden, noch Platz in ihrem Kopf fand. Immer wieder wenn sie es wagte, an Letzteres zu denken und gedanklich abzudriften, kam der Mord vom Vortag zurück vor ihr inneres Auge. Anstatt durch die Leere des kleinen Separees hinweg, durch den kaum verdeckten Eingang hindurch in Richtung Tanzfläche zu starren und weiter Erinnerungen hervorzurufen, die sie womöglich bei der Ausführung ihrer Tätigkeit beeinträchtigt hätten, sah sie zurück zu Sergio.
Stroboskopartiges Licht drang durch die kristallinen Wände.
Die Finger berührten sich am anderen Ende, als sie das zerbrechliche Handgelenk umfassten.
Riesige, grüne Augen fokussierten ihn fest, doch er wandte seinen Blick nicht ab.
Die vertraute, junge Stimme erklang in unbekannten, gierigen Klängen.
Ein Eckzahn vergrub sich in der fülligen, dunkel geschminkten Unterlippe.
Sein Name hallte in seinem Kopf wieder und übertönte alle Zweifel.
* * *
Vor seinen Augen winkte der Rest der Zigarette hin und her. Erst als seine Augen dem Filter folgten, hinab über die Finger, die ihn hielten, und den dünnen Arm hinauf bis sie schließlich bei Luceijas fragendem Blick angelangten, verstand er, dass sie gerade auf seine Reaktion wartete, dann aber ungeduldig die Augen rollte und den Zigarettenstummel ausdrückte. Ihr Blick riss ihn aus seinen Gedanken, doch um sich zu fangen widmete er sich seinem etwas schief in die Hose gestopften Hemd, richtete sein Jackett und stand auf, auch wenn sein Blick noch kurz an ihrem Lippenstift haften blieb. Nicht ohne sich auch einige weitere Male umzudrehen, stellte er sich in den Kabineneingang und beobachtete von dort aus das Geschehen im Club. Und tatsächlich: Nicht einmal zwei Minuten später fiel Sergios Blick mitten auf Everetts Glatze, als dieser eilig mit den Händen in den Taschen und in der Begleitung eines Türstehers auf das andere Ende der Halle zuging. Eine dichte, tanzende Menge bremste sie aus. Es war Sergios Gelegenheit. Noch ein letztes Mal schaute er zu Luceija zurück und deutete ihr mit einer Geste auf sein Ohr an, in Bereitschaft zu bleiben. Dann atmete er tief durch und verließ das Separee.
Everett kannte natürlich Sergios Gesicht nur zu gut und so sollte er es trotz der anonymisierenden Masse aus Clubbesuchern und des fahlen Lichtes vermeiden, sich in der direkten Blickrichtung seines Konkurrenten zu bewegen. In einem leichten Bogen näherte er sich daher den beiden von hinten an. Der Türsteher war ein Problem, wenn der Plan der überraschenden Sedierung Erfolg haben sollte, doch etwas Derartiges hatte er kommen sehen. Noch etwa fünf Meter von Everett und seinem Begleiter entfernt, von denen der Türsteher gerade versuchte, sich mit Griffen an die Schultern der Besucher den Weg hindurch zu bahnen, suchte Sergio nach irgendjemandem mit einem vollen Getränk in der Hand. Er fand das perfekte Opfer nicht weit von ihnen entfernt: Ein schlaksiger, aber riesiger blonder Kerl balancierte fünf Gläser gleichzeitig in beiden Händen durch die Menge. Zielstrebig bewegte sich Sergio von hinten auf diesen zu und rempelte ihm mit viel Kraft, aber dennoch möglichst unauffällig für die unbeteiligten, in den Rücken. Wie erwartet ließ er die Getränke nicht nur fallen, sondern schleuderte sie nahezu in die Arme eines anderen Clubbesuchers, dessen aus dem Hemd gekämmte Brusthaare daraufhin reichlich von Cocktails gegossen wurden. Die Sache nahm danach schneller als geplant ihren Lauf. Noch bevor der schlaksige Unglücksrabe sich für seinen unverschuldeten Ausrutscher rechtfertigen konnte, bellte er kleinere, aber bullige begossene Pudel zahlreiche Beleidigungen und schlug daraufhin mit der geballten Faust von unten unter das Kinn des blonden Riesen. Dieser taumelte rückwärts, fing sich erst in der mitgerissenen Menge anderer Besucher und schnellte dann wie ein zurückgeprallter Gummiball mit derselben Geschwindigkeit brüllend zurück auf den Angreifer. Ehe sich Sergio versah und noch bevor die Scherben der Getränke auf dem Boden zur Ruhe gekommen waren, waren die beiden bereits in einen Faustkampf verwickelt. Ursprünglich hatte er vorgesehen, die Provokation durch seine Schläge aus dem Hinterhalt weiter anzufachen, um den jeweils anderen glauben zu machen, der jeweilige Kontrahent sei unabbringbar auf einen Kampf aus - aber die beiden hatten bereits das Missgeschick selbst als Anlass genug gesehen, sich gegenseitig grün und blau zu prügeln. Der kleinere, der die Schlägerei begonnen hatte, unterlag zunächst schnell, als der Hühne breitbeinig auf ihm saß, ihn am Kragen packte und immer wieder wie wild auf ihn einschlug. Doch dann endlich zeigte die Ablenkung Wirkung. Der Türsteher, der Everett ursprünglich begleiten wollte, machte diesem mit einer kurzen Daumengeste klar, dass er sich um die Schlichtung des Kampfes kümmern musste, kehrte um und schritt in die Prügelei ein. Everett rollte unter seiner großen Brille nur mit den Augen und scheuchte seinen Bodyguard davon, ehe er sich selbst weiter durch die Menge kämpfte, um zur VIP-Lounge des Clubbesitzers zu gelangen. Sergio nickte zufrieden und schickte mit einer kurzen Bewegung zu seinem Handgelenk das verabredete Signal über sein Omnitool zu Luceija. Ein kurzer Alarmton würde sie an ihrem Ende darauf aufmerksam machen, dass es an der Zeit war, Everett zu folgen und diesen möglichst unauffällig zu sedieren. Erst im Anschluss würde es Sergio wagen, sich diesem auf Sichtweite anzunähern und die Sache zu Ende zu bringen. Zufrieden schmunzelnd sah er zu, wie der Plan seinen Lauf nahm und Everett sich von ihm entfernte, während Luceija in einiger Entfernung die Kabine verließ. Dann tauchte er vorerst unter und begab sich auf Umwegen in Richtung der Toiletten, wo er selbst auf sein Signal warten wollte.
Auf den Toiletten war es nicht weniger laut, dunkel und voll als im Club selbst, mit dem Unterschied, dass die Musik hier nur noch aus Bässen bestand und das Licht nicht mehr wie ein Gewitter flackerte. Es war nicht schmutzig, dafür sorgten zwei herumirrende Putzdronen auf dem Boden, die geschickt den Schritten der Toilettengänger auswichen und dennoch deren Urin, Schmutz, Müll, Blut und Exkremente beseitigten. Und dennoch waren viele hier dermaßen zugedröhnt oder auf dem sicheren Weg dorthin, dass man sich schon wegen ihnen schmutzig fühlte. Eilig drängte sich Sergio am Getümmel im Waschbeckenraum vorbei, um sich eine der Kabinen für später zu sichern. Da der Plan war, den benebelten Everett später zu einer der Kabinen zu bringen, um ihm dort eine tödliche Drogenüberdosis zu verpassen, wollte Sergio dafür sorgen, dass dann auch eine frei war. Die Kabinen waren keine Ställe, sondern eigenständige, elektronisch abschließbare Räume mit aufwärts schließenden Schiebetüren, doch da sie nicht als schützenswerte Räume zählten, war ihr Schutzmechanismus äußerst rudimentär. Sergio betrat daher eine freie Kabine, die offenbar keiner der anderen, die sich bereits im Vorflur sammelten, gesehen hatte, schloss die Tür und widmete sich direkt der Umprogrammierung des Panels, sodass dieses später, sobald er die Kabine wieder verließ, die Zelle als besetzt anzeigen würde, bis Sergio wiederkommen und diese mit einem einfachen Code wieder öffnen konnte. Das bereits vorbereitete Umschreibprogramm begann direkt zu arbeiten, als er das Omnitool mit dem Panel verband. Ungeduldig beobachtete er den Fortschrittsbalken auf seinem Omnitool, der sich langsam füllte. Dabei gingen ihm tausend Dinge durch den Kopf: Ob Luceija ihren Teil des Plans einhalten konnte. Die Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Stunde. Der weitere Verlauf, sollte der Plan erfolgreich sein. Die Alternativen, sollte etwas fehlschlagen. Seine Gedanken endeten abrupt. Er fühlte einen stumpfen Schlag in seinem Nacken, gefolgt von einem weiteren in den Hinterkopf, den er hingegen bereits kaum noch spürte. Er verlor das Gleichgewicht, sank jedoch nicht zu Boden, sondern wurde von zwei schlanken Armen aufgefangen. Er roch Frauenparfüm und spürte Locken auf seiner Nase kitzeln. Dann verlor er das Bewusstsein.
Sie sah ihm zu, wie er das Separee verließ. Beobachtete seine Schritte und schmeckte den Rauch auf ihrer Zunge nach. Er war ziemlich schnell in der Masse der Personen untergegangen und Luceija hatte ihn darin verloren. Als sei er Teil eines Matsches aus Lebewesen geworden, diese homogene, breiige Masse, die sie auch vorab schon auf selbige Weise beobachtet hatte. Lichter und Hologramme tanzten stattdessen auf und über den etlichen Köpfen, hüllten sie in Kokons aus rhythmischen Impulsen und anonymisierten jeden einzelnen von ihnen. Sie genoss das Gefühl, dass sich in ihr breit machte. Den Drang, sich in dieser Masse verlieren zu wollen. Wie ein Schlund der sie anzog.
Leere Minuten vergingen mit dem Rauch der Zigarette - und letztlich ließ sie sich ziehen. Zurück auf die schmalen Füße, zurück in ihre Stiefel, die sie nicht gänzlich schloss, sondern die Senkel mehrmals um den Schaft zog bis sie einigermaßen fest an ihren Fesseln saßen und ihren Körper vor bis zum Eingang des Separees, an die Stelle, an der eben noch Sergio gestanden hatte. Pünktlich gab ihr der kurze Alarmton das erwartete Signal. Gerade als sie den Blick erneut durch den Club gleiten ließ und ihre Aufmerksamkeit jeden Moment einer erneuten Dosis ihres koksartigen Mittels widmen wollte. Sie beeilte sich, angelte aus der metallernen Kuppe nur wenig Pulver, schnupfte es rasch, und wischte die Überreste an ihrem Unterarm ab.
Es war soweit: Das war ihr Moment Sergio wirklich zu beweisen, dass sie vieles bei ihm gelernt hatte. Everett zu fokussieren war garnicht so schwer wie sie dachte. Von hieraus hatte sie einen guten Überblick über den Club und wenn man den Blick auf die Schlägerei, die weiter hinten ausbrach, fokussierte, war Everett weniger unauffällig als er sich das wohl vorgestellt hatte. Luci erinnerte sich noch gut an sein Bild im Labor und schließlich die wenigen Ausschnitte, die sie aus seinem Terminal entwendet hatten und war sich sicher, dass er es war der gerade durch tanzende und herumstehende Massen in Richtung der Treppe gelangen wollte. Sein Bodyguard war perfekt durch den Tumult der Schlägerei abgelenkt und Luceija wurde bewusst, WIE schnell sie nun reagieren musste – und was für eine gute Arbeit Sergio geleistet hatte.
Ihre jungen Füße trieben sie zügig durch den Club. Der direkte Weg der Tanzfläche schien nüchtern betrachtet der hinderlichste zu sein, tatsächlich waren ihre rücksichtslose Natur und ihre schmale Statur in diesem Fall ideal: Sie grub sich wie ein Schwimmer durch Wassermassen, schon Leute beiseite und quetschte sich zwischen Körpern hindurch. Durch Licht, Nebel und sich bildende und wieder schließende Lücken erhaschte sie immer wieder einen Blick auf Everett und seine langsamen Bewegungen. Schon jetzt malte sie sich genauenstens aus, wie sie ihn überwältigen würde. Seine pulsierende Ader an seinem Hals die ideale Stelle war um ihn in die düsteren Wolken des Rausches zu ziehen, hinein in ihre Welt, in der sie sich ihm haushoch überlegen glaubte. Doch egal wie detailiert sie sich ausmalte, dass sie ihn ausschaltete und betäubte, egal wie sehr sie glaubte, seiner Herr zu werden: Ihre Vorstellungen endeten abrupt.
Das hier passte nicht in ihren Plan. „Was tut er hier?!“, fragte sie sich skeptisch, als sie stehen blieb und sowohl Everetts langsamen Weg durch die Massen verfolgen konnte, als auch genau ihn sah, der in diesen Plan nicht passte: Sergio. Sichtbar und eben nicht wartend auf ihr Signal in den WCs. Er lief langsam. Luci stellte sich auf die Zehen um ihn besser beobachten zu können: Bildete sie sich das nur ein oder wankte er? Unsicher, so viel anders als noch Momente zuvor. Und viel zu früh. Was sie an allem aber wohl am meisten irritierte war, dass er in Begleitung war. Er ging nicht selbst, sondern hielt sich mehr schlecht als recht einseitig an den Wänden und griff primär ins Leere, während seine andere Seite von einer Brünetten, jungen, eher schlacksigen Frau gestützt wurde.
Die Sizilianerin verharrte Sekunden wie angewurzelt. Auf der einen Seite war es Everett, der den Treppen immer näher kam und damit ihrem Griff eindeutig entglitt. Aber auf der anderen war Sergio, der, ungeachtet jedes Plans, viel zu früh aus seinem Versteck kam, ihr kein weiteres Zeichen oder einen Anruf gegeben hatte und eindeutig nichtmehr alleine laufen konnte. „So viel und so schnell hat er niemals gesoffen…“, war sie sich sehr schnell bewusst. Und somit drängte sich die Frage auf: Ging sie Everett nach und erledigte ihre eigentliche Aufgabe…oder…
Es gab keine andere Option als diese. Nicht nach heute. Selbst nicht nach Tag 1. Entgegen all ihrer Probleme, entgegen der Startschwierigkeiten, Sergio war ihr verdammter Vater und würde es bleiben. Egal wieviel Emotion sie wirklich bereit waren einander offen zu legen, egal ob ihr Familienverhältnis üblichen Normen entsprach oder nicht: Was sie verband war mehr als jeder toter Everett jemals aufwiegen konnte. So folgte sie beiden und versuchte sie einzuholen. Zu erreichen, bevor sie eine Chance der Flucht hatten und ihr Weg führte sie aus dem Club hinaus: Definitiv kein Weg den Sergio von sich aus gegangen wäre – noch nicht zumindest. Und nicht so.
Panik begann in ihr aufzukeimen und ließ Blut in ihren Kopf steigen. Bei jeder Person, die sich ihr in den Weg stellte und ihr die Sicht auf Sergio und diese Person nahm, bei jedem Hindernis, dass sie weiter trennte, stieg ihr Puls weiter an. Sie hatte sich nicht ausgemalt was sie tat, wenn sie beide einholen würde, aber ihr Instinkt verbat ihr zu gehen. Sie musste irgendetwas tun, sich wehren, sich auf das besinnen, was man ihr beigebracht hatte. Cerberus ist deine Familie – schütze deine Familie. Sergio ist deine Familie. Schütze deine Familie. Schütze Cerberus. Schütze Sergio.
Sie liess alles zurück. Den Club. Lautstärke. Lasershows. Hologramme. Security. Und sie zitterte. Vor Panik und blanker Wut, als sie das Skycar sah, auf welches die Brünette mit Sergio zusteuerte. Sie wollte fliehen. Für eine Sekunde fragte Luci sich, ob es niemals einen Plan gab. Ob er sie loswerden wollte, ob er sich einfach eine junge Schlampe angelte und von hier abhaute. Eine zweite Welle Adrenalin schäumte in ihr auf und verdrängte diesen Zweifel, immer mehr, je deutlicher sie sah, dass die Frau Sergio gängelte. Hinfort war auch noch der letzte Zweifel, als sie ihn ins Skycar setzte wie einen Besoffenen.
Jegliche Überlegung, was sie wie tun sollte erstickte sich im Keim: Luceijas Hände schienen fremdgesteuert und übernahmen die Kontrolle über ihren Geist. Und ehe sie sich versah oder diese sie auch nur realisierte, packte Luci die Brünette, die eben noch die Last Sergios an das Skycar abgegeben hatte, grob an ihren Haaren und schlug ihr im Affekt den Kopf so hart wie es ihr möglich war gegen die metallerne Fahrzeugkanzel. „Pensi che sia stupido! Denkst du ich bin bescheuert?!“, schrie sie die Fremde an, die sie ziemlich schnell wiedererkannte: Es war die selbe, die ihnen in dem Laden auflauerte. Die selbe, die bei Everetts Labor mit ihm auftauchte. Everetts Testsubjekt. „Non stai andando da nessuna parte! Du gehst – nirgendwo hin!“
Es war bereits schwer genug gewesen, den Mann halbwegs in der Benommenheit zu halten. Der erste Schlag auf seinen Nacken mit dem Griff der Pistole hatte nicht genügt, erst beim zweiten war er zumindest zu Boden gegangen, wenn auch nicht völlig bewusstlos. Doch die Schwierigkeit bestand darin, den Mann möglichst unter eigenem Zutun aus dem Club zu schaffen, damit niemand eine Entführung vermutete, sondern Alkohol oder Drogen für den Zustand des taumelnden Mannes verantwortlich machte. Und dies wiederum würde Goda nur wie eine besorgte Freundin wirken lassen, die den Suffkopf nach Hause begleitete. Doch bevor sie einen Fehler machte, nahm sie per Omnitool Verbindung mit Everett auf.
"Doktor, ich hab' Vittore erwischt. Ich hab' ihn auf der Toilette abgefangen und ausgeknockt, aber ich glaube, der kommt gleich wieder zu sich. Was jetzt?"
Es dauerte einen kleinen Moment bis Everett antwortete. Die Geräuschkulisse machte klar, dass dieser wohl noch dabei war, sich durch den Pöbel zu kämpfen. Entsprechend nah ging er deshalb ans Mikrofon und sprach dort so leise es ihm möglich war, sodass niemand den Inhalt mithörte.
"Tatsächlich? Nun, ich dachte nicht, dass er hier wirklich rumstreunt, aber das bringt die Sache früher als erwartet zu Ende... Das Betäubungsgas sollte reichen. Nicht zu viel, lass ihn nur ein oder zwei Atemzüge nehmen. Führ ihn unauffällig raus, ich bestell dir ein Skycar. Steck ihn da rein und lade ihn bei uns im Labor ab. Ich komme später dazu. Mein Termin heute kann nicht warten... Vittore wird etwas geduldig sein müssen. Ich muss Schluss machen"
Die Verbindung riss ab. Goda wunderte sich nicht, warum Ulysses die Sache so beiläufig behandelte, denn Vittore war nur einer von vielen Konkurrenten, von denen sie beide bereits einige ausgeschaltet hatten. Die ständige Paranoia, das Fallenstellen und das Wegschaffen wurden fast schon zur Routine. Ohne weiteres Zögern zog sie eine kleine Phiole unter ihrem Gürtel heraus und öffnete sie, hielt sie dann unter Sergios Nase, der in der Ecke der Kabine zusammengefallen war, und ließ ihn zwei Atemzüge daraus nehmen.
Er war in der Tat gerade wieder dabei, zu sich zu kommen, sah nur verschwommen und verstand nicht, wo er war. Doch noch bevor er die Schnipsel seiner Erinnerung vollständig zusammensetzen konnte, erfasste ihn ein brennender Gestank in seiner Nase. Er fühlte sofort, wie seine Muskeln begannen zu kribbeln und binnen Sekunden fast taub wurden, als wäre das Blut aus ihnen gewichen. Er sah um sich nichts, hatte keinerlei Orientierung und verstand nicht, ob der Arm, der ihn unter den Achseln umschloss und anhob ein fremder oder ein vertrauter war. So gut er konnte versuchte er nur, nicht wieder in sich zusammenzufallen und schlurfte mit dem letzten Gefühl in seinen Beinen einfach mit der Person mit, die ihn führte - denn einen anderen Anhaltspunkt hatte er schlicht nicht.
Ulysses hatte wie versprochen alles vorbereitet. Goda hatte keine Schwierigkeiten, den Mann, der sogar etwas kleiner war als sie, zügig und glaubwürdig an den Clubbesuchern und Sicherheitsbeauftragten vorbei zu geleiten, aber diese wenigen Minuten über die Tanzfläche auf die Straße vor dem Club waren bereits genug Zeit für das automatisierte Miet-Skycar, um etwa dreißig Meter weiter mit offener Kanzel auf seinen Piloten zu warten. Hier draußen war das seltsame Paar natürlich umso auffälliger und ungeschützter, sodass sich Goda bei dem ein oder anderen Passanten vor dem Club sogar noch um Erklärungsversuche wie "Der hat ganz schön gebechert!" bemühte. Angesichts des erhöhten Risikos zählte sie nahezu schon die Schritte bis zum Ziel, fühlte, wie ihr Herzschlag ihr bei der körperlichen Anstrengung des Mannes auf ihren Armen und der Aufregung bis zu den Ohren pochte. Erst als sie es dann endlich geschafft hatte, den doch recht schweren Mann über den Rand der Karosserie in die Kanzel zu heben, erlaubte sie sich, kurz durchzuatmen und sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Gerade holte sie noch Luft, da zerrte sie plötzlich etwas in den Haaren. Sie griff noch nach den Händen an ihrem Zopf, fühlte, dass es Frauenhände waren und wollte sich wehren, doch ausgelaugt und überrascht wie sie in dieser Sekunde war, konnte sie kaum ernsthafte Gegenwehr leisten. Mit einem Ruck schleuderte man ihre Stirn an die Karosserie und als dies nicht genügte noch ein zweites und ein Drittes Mal, ehe alles gänzlich schwarz wurde.
Sergio öffnete die Augen wieder und fühlte sich wie nach dem schlimmsten Kater seines Lebens - und das sollte etwas heißen. Alles drehte und neigte sich und Farben verschwommen um ihn. Oder war das gar kein Kater? Die pochenden Schmerzen in seinem Hinterkopf waren echt, keine Frage, doch je mehr seine Sicht sich schärfte, desto mehr bekam er den Eindruck, dass er sich tatsächlich bewegte. Dann nahm die Gestalt neben ihm plötzlich Formen an. Luceija saß bei ihm in einem Skycar-Sitz und bediente den Autopiloten.
"Fanculo...", brummte er mehrfach und versuchte verzweifelt zwischen den Kopfschmerzen und den flackernden Verkehrslichtern irgendetwas Brauchbares aus der Umgebung zu deduzieren, was geschehen war. Wieder waren die einzigen Bilder, an die er sich erinnerte ganz anderer Natur - von nackter Haut, Schweiß und Schuldgefühlen. Doch sie ergaben keinen Sinn und überhaupt klaffte zwischen diesen und der Gegenwart eine gewaltige Lücke.
"Waren wir... Tanzen?", fragte er verwirrt, als er Luceija freizügiges Outfit erkannte. Erst dann bemerkte er, dass der bestiefelte Fuß einer weiteren Person zwischen ihren Sitzen lag und erschrak. Auf der Rückbank lag eine junge Frau, um die achtzehn, der man das Gesicht so zugerichtet hatte, dass sich das linke Auge kaum noch öffnen konnte, so angeschwollen war es. Zudem war ihr Gesicht aus einer Platzwunde an der Stirn mit Blut überströmt. Die Arme und Beine waren - und das nicht gerade sparsam - mit Gepäckgurten umwickelt, sodass ihr in ihrem nahezu mumifizierten Zustand keine Bewegung möglich war, selbst wenn sie bei Beuwsstsein gewesen wäre. Einen Moment überlegte Sergio, ob die Frau ihm bekannt vorkam, dann sprang plötzlich ein Funke über und eine Kette von Erinnerungen verfestigte sich wie eine sich auflösende Gleichung zur Klarheit.
"Fuck - Everett. Das ist Everetts Laborratte. Was ist mit Everett?!", löcherte er nun seine Ziehtochter und hatte Mühe, sich zu zügeln, sie nicht dabei zu schütteln.
Es tat unendlich gut, was sie da getan hatte. Nicht genug, dass sie den Schädel der achtzehnjährigen nur ein einziges Mal gegen die Fahrzeugkanzel des Skycar geschlagen hätte - nein. Es hätte ihr zwar schon gut genug zugesetzt, sie ausgeknockt, wenn auch nur für einige Minuten. Aber in Luceijas Schlag lag mehr als die bloßen Überreste der Kraft in ihren Muskeln. Primär lag darin jedwede Wut, jede Angst und jeden Terror, den sie in den letzten Stunden und den letzten Monaten empfand. Alles hatte sich in diesem Schlag entladen. Und in einem nächsten. Ebenso wie einem dritten und schließlich vierten, als die Blonde schon längst K.O. gegangen war und an der Karosserie entlang zu Boden rutschte. Im Hintergrund umrahmte die Szenerie eine Geräuschkulisse zusammengesetzt aus dem Brüllen des bulligen Security, sowie geschockten, angewiderten oder entsetzten Gästen die am Club anstanden, die selbstverständlich, so ohne Kontext, nicht begreifen konnten was dort gerade geschah und entsprechend akustische Aufforderungen an die Halbitalienerin ausriefen. 'Ruft doch jemand einen Krankenwagen!', forderte da einer auf. Der Security hingegen schien sich nicht im Klaren, ob man die Strasse und der Bordstein nun zu seinem Gebiet gehörte oder eben nur C-Sec Gebiet war und zwar in Angriffsstellung, aber noch nicht auf dem Weg zum Geschehen. Luceija hingegen hörte nicht, was es war was sie riefen, warum oder wer es tat. Für einen kurzen Moment stand sie einfach nur da, atmete schwer aus und besah sich ihrer blutbefleckten Hände.
* * *
"Fanculo.. . Waren wir... Tanzen?" Sie erschrak sich, obwohl sie wusste, dass Sergio neben ihr sass und durchaus noch lebte. Dass er allerdings so schnell wieder zu Bewusstsein kommen würde, während Luceija etwas unbeholfen am Steuer des Skycars sass und sich darin versuchte die Autopilotsnavigierung zu regulieren und noch den Verkehr im Auge zu behalten, ließ sie tatsächlich zusammenzucken. "Scheiße - Nein.", antwortete sie, angespannt und aufgekratzt, mit den Fingern so stark um den Lenker, dass ihre Fingerknöchel weißlich hervortraten und sie noch skelettartiger wirken ließen. "Wir waren nicht tanzen. ICH war tanzen. Wir waren-", sie brach ab, gestikulierte willkürlich mit einer Hand und starrte dabei sichtlich überfordert aus der Frontscheibe und beobachtete den Verkehr, in den sie zwar eingereiht war, aber deutlich schneller fuhr als der Rest. Und obwohl die Verunsicherung teil ihrer Gesichtszüge war und es fraglich war, wie sicher sie als Fahrerin eines Skycars ohne Führerschein wirklich war, sah sie sogar noch über die Schulter, an der verpackten Goda vorbei und aus der Heckscheibe, wo der primäre Grund für ihre Geschwindigkeit und die Anspannung war: Ein anderes Shuttle folgte ihnen in einiger Entfernung. Mit Blaulicht und Sirene. "Wir waren..beschäftigt.", knallte sie heraus, aus Mangel treffenderer Beschreibungen, drehte sich wieder nach Vorne, fluchte, und drehte scharf ab und gerade so an einem voranfahrenden Skycar vorbei, auf welches sie beinahe gebrettert wäre. "Und natürlich ist die Automatik aus - das macht alles nur noch einfacher.", warf sie zusammenhangslos ein und bretterte weiter geradeaus durch den Verkehr, von dem sie sich hoffte in der Menge anonymisieren lassen zu können.
"Fuck - Everett. Das ist Everetts Laborratte." "Verdammt gut erkannt.", antwortete Luceija sarkastisch. "Was ist mit Everett?!" "Der hat sich dazu entschieden unseren scheiß Plan zu versauen! Ich hab ihn gesehen und bin ihm gefolgt - im Club. Wie du gesagt hast. Er war auf dem Weg nach oben in diesen VIP Bereich." Erst jetzt, im Licht des beleuchteten Tunnels durch den sie flogen, erhellte sich das Car stark genug, um Lucis blutige Hände erkennen zu können. "Ich musste mich entscheiden.", gab sie ehrlich zu und ihr Herz schlug heftig gegen die Brust und ihren Hals. Sie war sauer auf sich selbst und darauf, wie diese Mission eskaliert war. Ihre Augen wurden glasig, ohne, dass sie es zugeben wollte, aber sie blieb hart. Da gab es nur eine Aufgabe für die Schwarzhaarige und anstatt den Mord auszuführen und Everetts Kopf präsentieren zu können, rettete sie Sergio. Geblendet von Emotionen.
Sie brachte Sergio auf den aktuellsten Stand.
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"Fick - dich!", schrie sie die am Boden Liegende an (diesmal in Englisch, damit sie es wirklich verstand) und war froh um ihre Magnetsohlenstiefel, als sie wahllos gegen ihren Körper trat, bevor sie verachtend auf sie spuckte und dann ruckartig mit einem Schlag die Seitentüre des Shuttles oeffnete. Dann, als sie die Brünette wieder anpackte und sie an den Haaren auf die Knie zog wie eine Marionette, hörte sie endlich was hinter ihr geschah und Leute zu ihr auf den Weg waren. Schritte schwerer Stiefel klapperten auf dem Citadel-Metall. Jetzt wurde sie, Luceija, zum Täter erhoben. Ohnehin bereits auffällig bei der C-Sec stand ihr Sinn nicht danach den Cops nochmal Futter für ihre Ermittlungen zu geben und musste daher schnell handeln. Sie hievte die Brunette rücksichtslos auf den Rücksitz und rannte im nächsten Moment um den Wagen herum, auf dessen Fahrerseite sie stieg und sehr eilig die Zündung betätigte, durch die auch die Türen automatisch geschlossen wurden. Beinahe hatte der Security, in Kooperation mit einem Clubgast, ihren Wagen erreicht, doch im richtigen Moment hoben die untersten Düsen den Wagen in die Lüfte und ermöglichten einen schnellen Start außerhalb der Reichweite und die beiden Männer mussten zurückweichen um von dem Eezo-Strahl nicht geröstet zu werden.
Noch recht benommen hatte Sergio Schwierigkeiten, den Details des Updates zu folgen und rieb sich daher nur umso kräftiger den Hinterkopf, von dem noch immer ein dröhnender Schmerz ausging. Er sah sich etwas mühsam um, da sein Nacken mindestens ebenso sehr schmerzte, und erkannte, dass ein C-Sec Skycar direkt hinter ihnen die Verfolgung aufgenommen hatte und dass Luceija sichtliche Schwierigkeiten hatte, diese abzuwimmeln. An sich war es schon beeindruckend genug, wie gut sie das Vehikel überhaupt steuern konnte, dürfte sie doch im Grunde keinerlei Erfahrung damit haben. Doch Sergio machte sich keine Illusionen darüber, dass sich sein Zögling in den Abendstunden anderweitig die Zeit vertrieb und dabei sicher auch schon das eine oder andere Mal den Steuerknüppel eines Skycars bedient hatte.
"Du kriegst das schon hin", brummte er nur wenig aufgebracht und schien, trotz des holprigen Flugs, tatsächlich ganz in ihr Können zu vertrauen, während er sich nach hinten beugte, um den Kopf der bewusstlosen Goda abzusuchen. Unter der lockigen Frisur fand Sergio einen Kopfhörerknopf in ihrem linken Ohr, zog diesen heraus und betrachtete ihn kurz. Offensichtlich hatte Everett bei Goda auf ein Omni-Implantat verzichtet - wohl um eventuellen Konkurrenten oder der C-Sec die Überwachung zu erschweren. Zu diesem Kopfhörer gehörte also ein externes Omnitool. Sergio beugte sich weiter nach hinten über Goda und rollte ihren regungslosen Körper auf die Seite, sodass er ihre hinter dem Rücken zusammengebundenen Arme erreichen konnte und tatsächlich am linken Handgelenk ein Omni-Armband entdeckte.
Obwohl die Innenkabine bereits stroboskopartig von den bunten Warnlichtern des verfolgenden C-Sec-Wagens beleuchtet wurde, steckte Sergio ohne rechte Nervosität oder Eile den Kopfhörer in sein eigenes Ohr und wählte sich mit Hilfe des Omni-Armbands durch die Commlink-Logs der letzten Stunde. Zielstrebig suchte er die Aufnahme heraus, als Sergio gerade die Toilette des Clubs betreten hatte - das letzte, woran er sich erinnerte. Und tatsächlich fand sich um etwa diese Uhrzeit ein aufgezeichnetes Gespräch. Mit unmerklich durch Zorn verschobenem Ausdruck lauschte er, wie Goda mit Everett über sein Schicksal verhandelte, doch noch im selben Moment formte sich in seinen Gedanken ein Racheplan und die Wut wich dem süßen Gefühl der Vergeltung.
In derselben Sekunde wurde das bunte Licht der Verfolger heller, erschien direkt Neben Sergios Wagenseite neben dem Fenster, wo sich das C-Sec-Skycar neben sie schob - doch keiner der beiden Insassen blickte zu ihnen hinüber. Das fremde Vehikel beschleunigte, sauste an Luceija und Sergio vorbei und tauchte in den Verkehr ab, offenbar auf der Jagd nach einem anderen Wagen.
"Ich glaube, die beiden haben plötzlich etwas Wichtigeres zu tun, als Clubschlägereien aufzuklären", bemerkte Sergio trocken und legte dann seine Hand auf die von Luceija, die sich am Steuerknüppel verkrampfte.
"Luci - ganz ruhig. Wir haben die Sache wieder unter Kontrolle", beruhigte er sie, sank dann aber mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder in seinen Sessel zurück.
"Flieg zu Ulysses Wohnung", ergänzte er dann während er sich die Nasenwurzel und Augen rieb. "Er bekommt heute unerhofften Besuch"
"Wie komm ich dorthin?", keuchte die Jüngere in angespanntem Sizilianisch. Ihre Hand hatte sich längst so sehr verkrampft, dass sie eine unangenehme Spannung in ihrem Gelenk spürte. Das flimmernde Blaulicht des sie überholenden Skycars war dabei keine große Hilfe. Kurz hatte Luci sogar vermutet, sie müsse sich auf ein gewagtes Manöver seiten der Cops gefasst machen, die ihren Wagen rammen würden wie in einem Actionstreifen. Erst als sie Sergios Hand auf ihrer spürte realisierte sie wirklich, dass da keine Cops mehr waren die sie verfolgten. Sie drosselte die Geschwindigkeit, drückte sich zurück in den weichen Sitz und gönnte ihren Muskeln langsam nach und nach die nötige Entspannung. Der Autopilot, der nun übernahm, justierte die Geschwindigkeit und die Fahrweise des Wagens wieder auf die gesetzlichen Vorschriften herunter und gab der Schwarzhaarigen die kurze Gelegenheit, die Augen für ein paar Sekunden zu schließen und letztlich tonlos zu seufzen.
Ihr Kopf drehte sich zur Seite und sie sah ihren Adoptivvater lange an, so als sei es nur aus der bloßen Ungeduld heraus, die sie bei der Beantwortung ihrer Frage auf sich nehmen musste. Tatsächlich aber bemerkte sie gerade, wie sie unbewusst tatsächliche Angst bekommen hatte. Vielleicht war es der harte Kontrast zu der zuvor geteilten, äußerst intimen Nähe, in einer Beziehung die aus so viel Nähe nie bestanden hatte und direkte Konfrontation mit der Gefahrensituation gesucht hatte. Aber vermutlich wurde ihr irgendwo in ihrem Inneren einfach bewusst, wie wichtig ihr diese einzige, wirkliche Bezugsperson war, obwohl sie sich in ihrer jungen Sturheit und später auch ihrem Egoismus immer wieder weiß machen wollte, dass sie andere Personen nicht brauchte. Ein Stück weit war das auch ihrer Erziehung geschuldet. Dennoch: Die Frage nach seinem Befinden blieb aus. Stattdessen räusperte sie sich nach einer Weile und wandte sich zum Boardcomputer zurück. "Die Adresse? Der Ward?", hakte sie nochmal nach und sah von ihm ab. Ihr Finger blieb abwartend ausgestreckt, bereit zur Eingabe, und war blutig bis unter den Nagel. Sie rümpfte in gedämpftem Ekel die Nase.
Der Sizilianer musste sich zunächst selbst etwas sammeln und gegen seine Kopfschmerzen und seinen Schwindel ankämpfen, bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte. Die nüchterne Routine, mit der er in den letzten Minuten mit der Situation umgegangen war, war eher der verringerten Denkleistung geschuldet, sodass er bisher noch keinen Gedanken an die Implikationen des ungeplanten Kidnappings verschwendet hatte. Was zu tun war, war für ihn schnell entschieden, doch was dies tatsächlich bedeutete, das keimte erst langsam in ihm auf und hemmte jede strukturierte Planung.
"Bachjret-Ward", antwortete er knapp nach einem tiefen und langen Stöhnen, mit dem er versuchte, die Benommenheit abzuschütteln. Zum Glück war er bereits wach genug, um sich an die Notreserve zu erinnern, die er sich in ein Täschchen in der Ärmelinnenseite eingenäht hatte. Nach etwas Gefummel zog er aus dem linken Ärmel kurz darauf eine kleine Kapsel, die er sich ohne Zögern in den Mund warf und ohne Wasser schluckte. Es war ein Aufputschmittel. Die Vergangenheit hatte bewiesen, dass er sehr viel öfter in den Bedarf derselben kam, als ihm lieb war.
"Du weißt schon, so wie wir letztes Mal reinkamen. Peil den Wolkenkratzer an der Wardspitze an und halt dich an der linken Flanke, dann siehst du ihn schon."
Nach diesen Worten legte Sergio den Kopf in die Nackenlehne und legte die Hand auf den Augen ab, um die noch empfindlichen Sehnerven vor den flackernden Verkehrslichtern zu schützen. Er vertraute seiner Luci, so angespannt sie auch war. Sie hatte in den letzten Tagen mehrfach bewiesen, wie kompetent sie bereits als Partnerin war, sodass Sergio sich erlaubte, zumindest so lange die Kontrolle abzugeben, bis das Aufputschmittel wirkte. Erst, als hinter ihm die bisher reglose Goda merfach zusammenzuckte und dabei unwillkürlich gegen die Innenwand des Skycars trat, erwachte er aus einem Sekundenschlaf und wurde sich auf diese ungemütliche Weise sofort dessen bewusst, welche Aufgabe ihnen noch bevorstand.
"Du... Hast Sie am Leben gelassen?", stellte er nüchtern fest, auch wenn er es bereits zuvor erkannt aber nicht ausgesprochen hatte.
"Was hätte ich denn tun sollen?!", giftete sie ihn sofort und mit einem längst zu schnell schlagenden Herzen an. Ihr blutiger Finger, der die Eingabe des Zielortes bis jetzt erwartet hatte und nur darauf wartete bis ihr Hirn das signal zum Tippen gab, reagierte nun und weisten einen groben Weg in Richtung des Bachjret-Wards. Sie war ehrlich. Für sie sah hier auf der Citadel bald alles gleich aus. Diese scheiß Wolkenkratzer ohnehin. Die Wohninseln die sich daraus ergaben hatten ein kaum für sie nachvollziehbares System und das dachte sich die Frau, die Jahre später ihr Dasein auf Omega verbrachte und sich dort bei Weitem besser zurecht fand. "Ich hätte ihr den verdammten Schädel natürlich noch ein paar Male mehr gegen das Shuttle schlagen können, aber dann wären wir nicht auf halben Weg zu diesem Wichser sondern ich vermutlich schon bei irgendwelchen C-Secs!" Sie verkrampfte sich weiterhin am Lenkrad. Und bleib einige Zeit still. So lange jedenfalls, bis sie hörbar schnaubte und "Ich hätte sie direkt umlegen müssen. Wird mir nicht nochmal passieren.", gab sie kleinlaut in ihrem Sizilianisch zur Kenntnis. Sie blinzelte unruhig und wischte sich mit dem Handgelenk etwas unsichtbares aus den Augen. Dabei verschmierte sich wieder dieses Blut an ihren Fingern.
Das Mädchen versuchte sich so gut wie möglich zu konzentrieren, aber dass sie zitterte war kaum vermeidlich. Es war die Anspannung die abfiel und sie dennoch wie bestellt und nicht abgeholt zurückließ. Irgendwann aber, nach einigen Schwenkern, die etwas zu rasch von Statten gingen und ihre Naivität am Steuer belegten, sah sie den Wolkenkratzer und hielt sich an Sergios Anweisung. Und bald schon kamen sie an. Und Luci heilfroh darum, dass diese Shuttles selbst landen konnten..
"Schon gut, schon gut, Komm wieder runter", beschwichtigte er die zurecht völlig aufgebrachte Luceija und unterstützte diese Worte mit einer besänftigendedn Geste der Hände über seinem Schoß, ehe er sich die Schläfen rieb. Ihre Panik und ihre erhobene Stimme stachen wir Nadeln in sein bereits schmerzendes Hirn.
"Keine Sorge, du hast alles richtig gemacht. Wir können Sie noch brauchen", vereinfachte er seinen Plan in kurze Worte, wohl auch, da er fürchtete, dass Goda bereits wach sein und ihre Gespräche mithören könnte. Dies hätte wohl nur unnötigerweise zu ihrer Nervosität beigetragen.
Wieder auf dem Dach des Wolkenkratzers angelangt, ließ er ihren gefesselten Körper vorerst im Skycar, stieg ohne sie aber mit Luceija an seiner Seite aus und begab sich zum Treppeneingang auf dem Dach, den die beiden erst wenig vorher schon einmal betreten hatten. Sergio öffnete die bereits entriegelte Tür zunächst nur einen Spalt breit, schielte hindurch und vergewisserte sich, dass ihnen nicht wieder ein Keeper oder jemand anderes im Wege stand. Der Korridor war frei.
"Hilfst du mir mit dem Gepäck?", murrte Sergio nur kurz und deutete mit dem Kopf in Richtung des Skycars, in dem sich immernoch Goda befand.
Kaum hatten sie sie herausgehievt - Sergio mit den Händen unter ihren Achseln und Luceija am Fußende die Knöchel anhebend - betätigte der Doktor einige Knöpfe am Bedienfeld des Skycars, welches sich dann selbsttätig schloss und ohne sie abhob. Sie würden später den unauffälligeren Vorderausgang nehmen und konnten so ein verdächtiges Vehikel auf dem Dach vermeiden, das Everett hätte alarmieren können.
Sie schleppten das Mädchen weiter wie einen nassen Sack. Zwar wog sie für ihre Größe nicht allzu viel, doch wieviel ein Mensch wirklich wog, unterschätzten die meisten schnell, die noch nie einen Körper beseitigen mussten. Mit dem gleichen Code wie einen Tag zuvor öffnete Sergio das Labor. Dass man ihren vorigen Einbruch nicht bemerkt hatte, kam ihnen jetzt zu Gute. Kaum war die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen, ließ er Godas Körper einfach im Garderobenbereich fallen und ließ sich dann selbst keuchend an die Wand gelehnt auf dem Fußboden nieder. Mit beiden Handballen drückte er sich gegen die Schläfen, fuchtelte dann aber als Signal zu Luceija, dass sie die Sache übernehmen solle.
"Zieh Sie zum Sofa. Ich mache gleich den Rest", forderte er sie auf und starrte dabei auf den Boden. Seine Kopfschmerzen waren nicht der einzige Grund, dass er sich hier sammelte. Viel mehr bereitete er sich auch mental auf das vor, was nun zu tun war und hoffte nur, dass Luceija verstand, worum es ging, ohne dass er das unaussprechliche aussprechen musste.
Zum Glück war der Weg vom Dacheingang bis zur Wohnung nicht besonders lang - auch, wenn Luceija in diesen Momenten alles so vor kam, als seien sie schon Stunden unterwegs. Der sperrige Menschenkörper, den sie drapiert und unter höchster Anstrengung ins Innere der fremden Wohnung trugen, raubte selbst der Schwarzhaarigen längst nötigen Atem und ließ sie kurz hinterrücks gegen das nahe Sofa lehnen, wo sie sich hielt und das längst angetrocknete Blut auf ihren Fingern unbewusst in winzigen Mengen auf dem Stoff zurückließ. "Kommst du klar?", fragte sie, fing ihren Atem deutlich schneller wieder als Sergio es tat, der noch von den Nachwirkungen der Drogen geschwächt schien. Sie beobachtete ihn genauestens und fluchte schließlich einen sizilianischen Fluch ins Wohnzimmer, den sie zu lange gehalten hatte. Diese Wichser. Was hatten sie ihm da gegeben? War es ein Gift? "Was hat die Schlampe dir gegeben? "Nur" ein Opiat?", wollte sie wissen, wartete aber kaum auf eine Antwort, sondern stieß sich von ihrer Lehne ab und trat kurz und plötzlich und wie aus einem Reflex heraus gegen die schmale Schulter des leicht älteren Mädchens, sodass sie sich wand und einen Schrei ausstieß. Luci verriet zu viel über ihre Medikamentenkenntnisse. Etwas, dass auf andere Vaterfiguren vermutlich abscheulich und abstoßend wirken musste, dem Älteren aber sichtlich nicht missfiel. Die Sizilianerin schnaubte stattdessen mit ihrer Restnervosität, rieb sich mit dem Handrücken ein paar juckende Blutreste aus dem Gesicht und ging ein paar Schritte rückwärts bis sie sich abwandte und sich in die Küche begab. Die war offen und sehr klein, aber so klinisch rein, dass es unwahrscheinlich war, dass hier IRGENDJEMAND kochte. Entsprechend erwartete sie auch kein grosses Equipment im großzügigen Kühlschrank, stellte beim Öffnen dessen aber dennoch fest, dass zumindest etwas Wasser in kleinen Flaschen kalt gestellt war. Sie griff es sich und ging zu Sergio zurück, dem sie die Flasche entgegen hielt, wissend, dass etwas zu Trinken für ihn nun wohl alles andere als ein Fehler war. "Hier.", äußerte sich das Mädchen kurz angebunden, bevor sie mit einem Knurren auf Goda hinab sah, und diese todbringende Blicke sie durchlöcherten ehe sie sie an den Fesseln packte und mit kleinen, angestrengten Schritten zum Sofa zog. So wie angegeben und ohne auch nur eine Sekunde zu hinterfragen, was sie da tat. Oder wozu es unweigerlich führen würde - etwas, was ihr nach Godas Aktion garnicht mehr so sehr missfiel.
Schweigend nahm Sergio die Flasche entgegen, die Luceija ihm reichte, nickte dabei zwar zum Dank, aber sah sie nicht an. Sein Blick galt stattdessen der reglosen Goda, die allerdings schon hin und wieder flackernd die Lider öffnete und den Anschein machte, als würde sie bald aus der Bewusstlosigkeit erwachen. Der Doktor verschränkte einen Arm vor der Brust, während er nachdenklich an der Wasserflasche nippte und zusah, wie Luceija die mindestens ebenso schwere, wahrscheinlich sogar schwerere Goda über das Parkett zog und schließlich auf das Sofa hievte. Er unterstützte sie dabei nicht, obwohl es die Sache wohl beschleunigt hätte, doch im Augenblick schien er gänzlich damit beschäftigt zu sein, sich mental auf das vorzubereiten, was er als seine Pflicht ansah.
"Danke, du kannst rausgehen, wenn du willst. Du musst das nicht ansehen", murmelte er viel mehr als er sprach, nahm dabei aber immernoch keinen Blickkontakt auf. Eine gute, endlose Minute stand er einfach nur da hinter dem Couchtisch und betrachtete die auf dem Sofa liegende junge Frau, die immer wieder die Augen kurz zu öffnen versuchte, dabei aber nur pupillenlose Augäpfel entblößte und dann wieder ins Delirium driftete. Dann endlich regte sich der Italiener wieder, stellte die Wasserflasche auf dem Couchtisch ab und zog seine Jacke aus, die er sorgsam auf den Sessel ablegte. Daraufhin schlug er seine Hemdsärmel nach oben, griff zu seiner Seite nach dem Kabel, das die Steckdose mit dem Holobildschirm verband und zog das Ende aus dem Gerät und dann mit einem Ruck am Kabel, um es auch aus der Steckdose zu ziehen. Langsam ging er mit dem Kabel in der Hand um den Sitzberich herum, schleifte es dabei auf dem Boden hinter sich her, bis er hinter der Rückenlehne des Sofas stand. Die gefesselte Goda griff er unter den Achseln und hob sie in eine schlaff sitzende Position. Diese schien dadurch langsam aus ihrem komatösen Zustand zu erwachen, denn zunehmend gab sie nun unruhige, brabbelnde Laute von sich und zuckte mehrfach unwillkürlich in den Fesseln. Sergio griff nach ihren Haaren und formte sie zu einem improvisierten Zopf, zog ihren Kopf daran in den Nacken, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. Er zögerte, als sie ihn aus müden, halboffenen Augen direkt ansah. Doch dann raffte er sich doch zusammen, schlang plötzlich fast schon routiniert das Kabel unterhalb ihres Kieferknochens um ihren Hals, griff es an den Enden mit beiden Fäusten, stemmte einen Fuß auf die Rückenlehne und zog es mit aller Kraft und seinem Körpergewicht nach hinten. Das dünne, aber reißfeste Kabel schnitt sofort in den Hals der jungen Frau, grub sich dort tief in ihr Fleisch und schnitt ihr Luftröhre und Halsadern ab. Sofort riss diese die Augen weit auf, obwohl sie kaum bei Bewusstsein war und begann instinktiv mit den Beinen zu treten und ihren Körper schlängelnd in den Fesseln zu winden, sich gegen das Sofa aufzubäumen, um nur irgendwie dem Griff des Italiener zu entkommen, doch sie hing im Grunde mit ihrem gesamten Körpergewicht an dieser Schnur. Sergio sah sie nicht mehr an. Stattdessen fokussierte er seinen Blick ins Leere, hatte dennoch aber sichtliche Anstrengung dabei, den Griff am Kabel festzuhalten. Es schnitt sich auch in seine Finger, um die er das Kabel an beiden Händen gewickelt hatte. Seine Muskeln brannten von der Anstrengung und das gedämpfte Ächzen des geknebelten Mädchens, das um ihr Leben rang, setzte ihm psychisch zu, obwohl er sie nicht ansah, während ihre weit aufgerissenen Augen fast schon hervortraten. Mit einem Ruck zog er das Kabel noch einmal fester zu, was wohl die letzte Blutzufuhr zu ihrem Hirn abklemmte, denn plötzlich wich ein großer Teil des Widerstandes aus ihrem zappelnden Körper. Nach etwa einer Minute hing sie immer schlaffer am Draht, gab keine Laute mehr von sich und nur hin und wieder versuchten ihre Beine noch einmal auszutreten. Doch erst, als sie fast drei Minuten lang keine Regung von sich gegeben hatte, ließ er das Kabel endlich los. Godas Körper sank zusammen, blieb jedoch aufrecht sitzen. Sergio zeigte ihr zumindest die Würde, ihre weit geöffneten und blutdurchströmten Augen zu schließen und ihren Kopf nach vorne zu neigen. Dann ließ er das Kabel auf den Boden fallen, ging zum Panoramafenster der Wohnung hinüber und sah schweigend hinaus, während er sich die abgeschnürten Finger rieb. Minutenlang stand er dort und sagte oder tat nichts.
Naiv wäre es gewesen anzunehmen, Luceija wäre noch nie mit dem Tod konfrontiert worden, abgesehen vom gestrigen Tag. Das wurde sie. Mehrmals und auch ungeschönt hatte sie unmittelbar vor Leichen gestanden und die Berührungsängste weitestgehend verloren. Vielleicht aber auch, weil ihr Bezug zum Tod vielleicht auch ein anderer war, weil sie ganz anders dazu genötigt wurde, auf diesen zuzugehen. Da war der obligatorische Besuch jedes Palermitaners in der halbverfallenen Kapuzinergruft vermutlich die seichteste Konfrontation mit einem Thema wie diesem. Immerhin war die Gruft längst ein Touristenmagnet für nicht nur halb Europa sondern die halbe Erde geworden und die Hemmungen der Besucher vor den seit Jahrtausenden Verstorbenen, von denen nur noch komplett erhalten und präpariert waren, mittlerweile stellenweise sogar mit Eezo-Schilden, quasi nicht mehr vorhanden. Aber ein, wenn man es so nennen wollte, ziemlich organisches Museum war nicht mit der Konfrontation vergleichbar, frische, gerade noch lebende Leichen vor sich zu sehen. Welche, die noch warm waren, deren Tiefrotes Blut noch die Umgebung zierte, die teilweise entstellt waren. Nochmal etwas anderes, quasi der Sprung zur nächsthöhereren Liga, war es, zu sehen, wie eine Person dabei war zu sterben. Ermordet wurde und nicht einfach nur wegen einer Überdosis Pillen friedlich einschlief. Es ließ die junge Sizilianerin stehen bleiben, obwohl die Option seitens Sergio für sie da war, einfach zu gehen. Sie ging nicht. Stand wie angewurzelt in unmittelbarer Nähe des Szenarios und beobachtete mit diesem trübenden, unangenehmen Schauer über ihrem Rücken wie von einem nassen Cape bedeckt, was Sergio hier tat. Und wie er es tat. Sie wusste, dass sie hier lernte und lernen musste. Diese Tatsache hatte sie aus all den Lehren bereits herausziehen können. Aber es schützte sie kaum vor der eigentlichen Realität, in der sie nun leben würde. Der, die sie selbst zur Mörderin werden ließ. Und noch so viele weitere nach sich zog.
Sie zeigte ganz unbewusste Regungen zu dem, was Sergio mit diesem Flittchen tat. Ihr Atem schien schwerer, ihr Puls stärker, die wenigen Bewegungen träge und zäh, sodass sie nicht voran gekommen wäre, selbst, wenn sie es gewollt hätte. Ein schwerer Schluck folgte, ihre unruhigen Augen zogen sich zusammen und verfolgten die heraustretenden ihrer Gegenspielerin. So lange, bis sie zu ihr sahen, vielleicht als letzten Schub von Hoffnung Luceija fokussierte, aber sich nicht hätte äußern können, selbst, wenn sie es gewollt hätte. Und hätte Luceija sie verschont? Wäre sie auf die junge Frau, die ihrer eigenen Bestimmung so ähnlich war, zu gegangen und hätte ihr geholfen? Sie gerettet und wäre geflohen? Nein. Denn sie stand nicht auf ihrer Seite. Die Schwarzhaarige stand schon längst, schon auf der Schwelle vom Baby zum Kind, unter der erzieherischen Hand von Cerberus. Bis ins Mark geimpft mit jeder Drohung und jeder warnenden Metapher. Doch selbst wenn das Mädchen berührte, wie grausam Goda hier um ihr Leben bangte und wild strampelte bis ihr Körper einfach nur noch leblos an diesem Kabel hing und nach einem letzten Zucken endlich aufgab, konnte sie, im Reinen mit sich selbst, sagen, dass sie es verdient habe. Und in ihren Augen hatte sie das wirklich, denn sie hatte versucht Sergio auszuschalten. Niemand tat Sergio irgendetwas an.
Luceija schnaubte zittrig, als es vorbei war. Sie sah ihrem Vater nach und sah ihm einige Momente dabei zu, wie er dort stand. Wortlos. Nach draußen sah und sich von der Anstrengung erholte, die der minutenlange Überlebenskampf mit sich gezogen hatte. Ihr war für einen Moment unwohl, die Übelkeit des Vortags kroch zurück und setzte das Mädchen schließlich in Bewegung. Sie lief um das Sofa herum. Sah Godas Kopf und wie er leblos nach oben sah. Von dieser Perspektive war es falsch. Viel zu offensichtlich, dass sie nicht nur eingeschlafen war, sondern nicht mehr lebte. Und sie wollte vermeiden, dass es Everett, wenn er denn zurück kam und nicht bereits wusste, was hier passiert war, so sah. Vermutlich direkt die Lunte roch. Mehrere, kleine Schritte ließen sie auf die Tote zugehen und Luci packte ihren Kopf so, dass er gerade war und als Hilfsmittel diente, den Körper tiefer zu drücken. Zügig ging sie abermals um das Sofa herum bis sie vor ihr stand und sie so ausrichtete, dass von hinten nur der halbe Kopf sichtbar war und es den Eindruck machte, sie sei beim Fernsehen eingeschlafen. "Wenn er sie sieht, wird er es nicht sofort merken.", erklärte sie ihre Tat als sie den Körper zurecht positionierte und die Fesseln mit einem Messer löste. Sie war ebenfalls noch warm. Täuschend warm. Und der Eindruck, sie schlafe, war selbst für Luceija, bis auf die Strangulationsmale, täuschend echt. "Ich hätte es selbst getan.", widmete sie der Leiche ein abschätziges, leises Flüstern und musterte sie aus der Hocke. "Niemand bringt meinen Vater um.", flüsterte sie, aber in der Stille hörte es Sergio vermutlich doch. Und ihr war klar wie wenig ihm gefiel, dass sie ihn als Vater betitelte. "Aber dafür muss deiner dran glauben."
Seine Starre endete erst, als hinter ihm das Schnappen der Gepäckgurte ertönte, die Luceija von der Leiche losschnitt. Er zuckte dabei kurz zusammen, fand aber dann direkt in seine Rolle zurück und ging langsam zurück zum Sitzbereich, wo seine Ziehtochter bereits den leblosen Körper unauffälliger positionierte. Er überließ ihr die Arbeit, half nicht mit, sondern beobachtete nur mit einem zufriedenen Nicken - etwas Ähnliches wäre auch sein Plan gewesen. Wenn Everett nach Hause kommen würde, wäre Goda die erste, nach der er suchte, und die Illusion von ihr auf der Couch würde zumindest in den ersten Momenten genügen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Als Luceija fertig war, gab es nicht viel zu korrigieren. Lediglich die dunklen Strangulationsmarken an Godas Hals waren auf ihrer hellen Haut selbst von Weitem zu deutlich, weshalb Sergio ihr offenes Haar vorsichtig nach vorne über ihre Schultern legte und so die Wunden verdeckte, zudem noch ihr leichenblasses Gesicht verhängte. Nun wirkte sie tatsächlich, als sei sie einfach vor dem Fernseher eingenickt. Als nächstes hob er seine Mordwaffe wieder auf, ging zum Fernseher hinüber, woher er es genommen hatte und schloss diesen damit wieder an. Mit einem Erfrischungstuch aus seiner Hosentasche wischte er noch einmal der Länge nach darüber, als er Luceija hinter sich murmeln hörte.
"So sehr ich deine Loyalität schätze, Luci - aber hier geht es nicht um Rache. Sie musste verschwinden, so wie auch Everett. Sowas darf nie zu persönlich werden. Dann beginnt man Fehler zu machen. Man sollte nie zögern, einen Feind umzubringen, wenn es nötig ist, aber man sollte es auch nie leichtfertig oder gar aus Zorn heraus tun. Schlecht fürs Geschäft und einfach nicht professionell. Verstanden?"
Der recht neutrale Klang seiner Nachfrage ließ offen, ob er sich nach dem Verständnis erkundigte, oder hier vielmehr ein Machtwort sprach.
"Räum auf", forderte er sie dann trocken auf und deutete auf die zerschnittenen Gurte auf dem Boden und die noch recht aufgewühlt aussehende Sitzecke, "Ich mache mich oben an die Arbeit"
Im inzwischen altbekannten Labor des Konkurrenten fand sich Sergio schnell zurecht und auch das bereits zugängliche Sicherheitsystem war inzwischen für Sergio leicht zu bedienen. Innerhalb weniger Minuten hatte er nicht nur die letzten Minuten ihrer Ankunft mit Leermaterial überschrieben, sondern auch die laufenden Aufnahmen mit dieser Dauerschleife versehen. Im Anschluss an diesen Stichpunkt auf Sergios Plan, ging er direkt zum nächsten über - auch wenn hier die Improvisation begann. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er nach den Kontrollen im Club in Everetts Wohnung noch einmal eine Waffe brauchen würde. Doch es war klar, dass sein Konkurrent als Mitglied von Cerberus mit Sicherheit nicht nur eine hier lagerte. Er ging zunächst alle Schubladen im Raum durch, fand jedoch nichts. Erst, als er die letzte Schublade schloss und er eigentlich bereits aufgeben wollte, bemerkte er beim Zuschieben, wie der Schubkasten sperrte und ein Klackern zu hören war. Skeptisch wiederholte er die Bewegung, hörte wieder das gleiche Geräusch und zog daher den Kasten aus der Schiene heraus. Unterhalb der untersten Schublade war in deren Fach eine Schraube auf dem Sockelboden des Tisches eingebohrt, die nicht ganz ins Gewinde gedreht war und daher an der Schublade gekratzt hatte. Sie war so lose, dass Sergio sie mit den Fingern herausdrehen konnte. Sie hatte offenbar einen Deckel im Fachboden festgehalten, die die Öffnung zu einem doppelten Boden im Tischsockel bedeckte und die er nun öffnete. Vorsichtig tastend griff Sergio hinein - und nebst einiger Medikamente, die Everett hier wohl für den Eigenbedarf vor seiner 'Mitbewohnerin' versteckte, lag hier tatsächlich auch eine kleinkalibrige Schusswaffe. Er nahm sich dieser an und verschloss das Versteck wieder so, wie er es vorgefunden hatte, ehe er sich wieder zu Luceija in den Wohnbereich begab.
"Und um zu beweisen, dass du verstanden hast, was ich meine", führte er seine Lektion von vorher weiter aus, während er auf Luci zuging und die Pistole auf seiner Handfläche hielt, "wirst du dem alten Hausherren einen angemessenen Empfang bereiten. Nicht vergessen: Nur drohen, nicht schießen, wenn es nicht sein muss. Er soll an einer Überdosis sterben, klar?", machte er mit erhobenem Zeigefinger deutlich, als er ihr die Waffe überreichte.
"Du hast die Drogen doch noch?"
In Luceija kochte und brodelte etwas, dass sie nur schwer im Zaum halten konnte. Ihr Mundwinkel zuckte in einer unzufriedenen, vielleicht missmutigen Weise, aber dennoch nickte sie klar ab, dass sie verstanden hatte was er sagte. Es war jedoch keine Neuigkeit. Sie hatte schon oft davon gehört und gelesen, vielleicht gedachte Cerberus auch es sei sinnvoller, bei temperamentvollen Süditalienern wie ihnen sogar zusätzlich deutlich zu machen, wie wichtig es war, Ruhe im richtigen Moment zu bewahren. Dennoch war es unsäglich schwer für das Mädchen sich daran zu halten und biss sich ins Innere ihrer Unterlippe. Sie schnaubte, als er nach hinten verschwunden war und entließ ihre Wut an allem außer der Leiche selbst. Nicht, dass sie der Toten nicht noch gerne zusätzliche Schläge ins blau angelaufene Gesicht mitgegeben hätte, aber es hätte die Illusion, dass sie hier vor dem Fernsehprogramm eingeschlafen war, zerstört und ihren Plan gefährdet. Dementsprechend professionell versuchte sie sich zu verhalten, richtete das Sofa wieder in einen recht unangetasteten Zustand, klopfte den getrockneten Schmutz, der von Sergios Schuhen stammte, von der Rückseite der Couch und sammelte schließlich die Gurte auf, die sie so eng wie möglich zusammenrollte und in ihre kleine Tasche drückte.
Zum richtigen Moment, wie sie vermutete, als Sergio zurückkehrte und ihr die Waffe unter die Nase hielt um im nächsten Moment nach den Drogen zu fragen. Sie hielt sie auf Grund des Platzmangels bereits in zwei dünnen Spritzen aufgezogen in der linken Faust und wedelte hinweisend damit. Erst dann erlaubte sie es sich die Pistole anzunehmen. Sie sagte es nicht, aber es war ein erschreckend erhabenes Gefühl. Jedes Mal, wenn sie eine Pistole in der Hand halten durfte, damit drohte, gegebenenfalls auch schoss, meist in unwichtigere, nicht lebensnotwendige Gliedmaßen, zumindest bis zuletzt, dann fühlte sie sich so mächtig wie sie sich in ihrem ständig schwächelnden Körper selten fühlte. Denn auf eine Waffe schien immer Verlass. Sie funktionierte unabhängig von Versuchen und Mitteln.
„Weißt du, wann er zurückkommt? Oder warten wir jetzt einfach..?“, fragte sie und blickte von Sergio ab, durch den Raum, drehte sich langsam, während sie sich umsah und erhaschte dieses Detail noch, welches nicht stimmte. Der Fernseher.
Ihre bestiefelten Füße drehten sie zu jenem um, bevor sie umständlich die beiden Spritzen längs zwischen ihre Lippen klemmte um eine Hand frei zu haben, an einem Omni-Modul die Flimmerkiste zu verknüpfen und einzuschalten bis er Rahmen das holographische Bild wiedergab und eine Serie zeigte, die der Sizilianerin unbekannt schien. Die Klänge aber durchfluteten in angenehmer, nicht zu hoher Lautstärke die kleine Wohnung und zauberte prompt eine fast wohnliche Kulisse in den leblosen Citadel-Container.
Die Frage war nicht ganz unberechtigt. All dies hier war längst nicht mehr Teil des ursprünglichen Plans. Aber dennoch war Sergio zuvor im Nachtclub ein nicht unbedeutendes Detail aufgefallen: An der Decke befangen sich Kameras, die, so hatte er beim Warten auf Luceija festgestellt, einen dauerhaften Livestream der Tanzfläche ins Extranet übertrugen. Was eigentlich als Marketingelement geplant war, konnte sich der Arzt anderweitig zu Nutze machen. Sergio hob kurz den Zeigefinger, um Luceija um Geduld zu bitten, während er die Übertragung auf seinem Omnitool aufrief und auf Luceijas Gerät spiegelte.
"Achte auf die Treppe im Hintergrund zum VIP Bereich", bat er Luceija, während er die Übertragung schrittweise zurückspulte bis irgendwann tatsächlich Everett im Zeitraffer rückwärts die Treppen hinaufging und Sergio, auf Luceijas Geheiß hin, die Wiedergabe stoppte.
"Ja, das ist er", bestätigte er mit einem Fingerzeig auf die Holoprojektion Everetts Identität.
"Um 01:20 Uhr war sein Gespräch beendet und er verließ den Club. Das heißt, wenn er sich nicht allzu sehr beeilt, dürfte er in etwa ... sieben Minuten hier sein", schlussfolgerte er und wirkte dabei gleichzeitig positiv überrascht, wie auch etwas erschrocken. So wenig Zeit, die man warten musste, aber doch so wenig Zeit, sich vorzubereiten.
"Ich schlage daher vor, dass ich die letzten Spuren beseitigen, falls wir überhaupt noch irgendwas vergessen haben. Du versteckst dich im Putzschrank neben der Eingangstür, und ich mich hier hinter der Trennwand am Eingangsflur", er deutete auf die Stelle, wo die Trennwand des Eingangsbereiches offen im Raum endete, positionierte sich dann an der Tür, um Everett zu verkörpern.
"Er kommt hinein, geht an deinem Schrank vorbei und sieht Goda von hier aus auf dem Sofa sitzend im Wohnbereich. Wenn er abgelenkt ist, öffnest du deine Schranktür hinter ihm und kommst heraus. Du folgst ihm nah, aber leise mit der Waffe im Anschlag. Wenn er etwa hier ist...", er demonstrierte den Gang bis fast zum Ende der Trennwand, "...komme ich von vorne um die Ecke und greife ihn an. Du überwältigst ihn von hinten und hältst ihm die Waffe an den Kopf. Versuch keine Wunden zu verursachen, aber tu was nötig ist, wenn es nicht anders geht. Sobald er die Hände hoch nimmt oder wir ihn am Boden haben, fessle ich ihm die Hände und du gibst ihm beide Spritzen in die linke Armbeuge. Wir ziehen ihn aufs Sofa, wo er sich selbst einkotzen kann und lassen ihn dort verrecken. Die Frage ist nur, was wir dann mit seiner Laborratte machen.. Aber das entscheiden wir später. Wenn du was hinzufügen willst, ist jetzt der Zeitpunkt, ansonsten ab auf deine Position"
Luceija begann zu koordinieren. Sie hörte aufmerksam dem zu, was Sergio ihr sagte und verfolgte nochmals die Überwachungskamera, dessen Loop über ihr Omnitool lief. Der Plan war nicht besonders schwer, aber erschien ihr solide. Bereits jetzt nahm sie langsame Schritte rückwärts, drehte sich im letzten Moment und steuerte auf den besagten Putzschrank zu. Ließ ihn automatisch zur Seite öffnen und fand darin einen Wasserdampfsauger und einen Bodenroboter, der in seiner Befestigung Problemlos und ordentlich an der Seitenwand hing. Für den Moment war es schwer abzuschätzen ob sie wirklich darin Platz fand - ein Sergio mit Sicherheit nicht, deshalb hatte sie es so oder so sein müssen. Und immer noch war sie ungewöhnlich angespannt beim Gedanken, was sie da zu tun hatte. Der letzte, also, ihr erster Mord, hatte ihr sichtlich zugesetzt und ihre Nerven überlastet. Irgendetwas in ihr zerstört, dass nicht recht zu definieren war. Und das war 'nur' ein Verräter gewesen, der längst präpariert worden war. Ausgelaugt. Schon, wie ihr Vater sagte, beinahe froh darum, endlich getötet zu werden. Everett hingegen war alles andere als erpicht darauf, das zeitliche zu segnen. Also war es nichts ungewöhnliches, dass sie Bedenken plagten. Aber sie musste sie abschalten. Jetzt. Auf jeden verdammten Fall.
Ihr dürrer Körper quetschte sich endlich in den Schrank, nahm die Pistole aus ihrem hinteren Hosenbund und hielt sie zur linken bereit. Längst nicht ungelenk, sondern recht gewohnt. Sergio hatte in der Vergangenheit bereits die ein oder anderen Schießübungen - zum 'Spaß' - mit ihr durchgeführt. Selbstverständlich hatte er dabei das langfristige Ziel schon im Kopf, während Luci sehr unbedarft an die Sache herangegangen war. Sie war eben ein verdammtes Kind gewesen. Und nun vielleicht gerademal ein Teenie, mit tonnenweise Blut an ihren jungen Händen und schwer schluckend, schwer atmend, wartend mit gezückter Waffe, bis der Verräter zurück in seine Wohnung schlich. "...ich glaube mir wird schlecht.", sagte sie, tief atmend, über das Omnitool zu Sergio, der am anderen Ende der Wohnung auf seinen Einsatz wartete.
Während sich seine Komplizin bereits positionierte, ging Sergio noch einmal die gesamte von Ihnen betretene Fläche ab, um sich zu vergewissern, dass nichts Everetts Verdacht erwecken würde. Er schloss das Kabel wieder an den Holobildschirm an und schaltete diesen ein, gab Godas leblosem Körper makabererweise sogar noch die Fernbedienung in die Hand, schenkte vor ihr auf dem Couchtisch ein Glas halb voll mit Wasser ein, das dort schon auf der Glasfläche bereit stand. Als sich währendessen Luceija über ihr Unwohlsein äußerte, zögerte er eine Weile mit seiner Antwort, funkte dann aber mit leiser Stimme zurück, während er noch ein paar Dinge drapierte.
"Du tust das nicht nur für Cerberus", leitete er ein, "Ich weiß nicht, was dich mehr motiviert, aber du tust das für deine Famiglia und für uns beide gleichermaßen. Aber du bist nicht die, die entscheidet. Ob heute bei Everett oder in Zukunft: Wenn du an etwas zweifelst, dass du für Cerberus oder mich tun musst, denk daran, dass du es nicht bist, der die Entscheidung trifft. Sei ein Werkzeug, Luci. Funktioniere. Und sei dir bewusst, dass die Last der Schuld auf den Anderen liegt, nicht auf dir"
Die Aufnahme seiner Stimme knirschte und klopfte in Luceijas Ohren, als er mit den Lippen direkt am Mikrofon des Omnitools fast flüsterte, was auf diese distanzierte Weise doch ein ganz eigenes Gefühl der Nähe und Fürsorge vermittelte. Derweil positionierte sich Sergio selbst auf der anderen Seite der Trennwand, lehnte sich mit der Schulter dagegen und war somit im Grunde, wenn auch durch den Beton und Stahl getrennt, nur wenige Zentimeter von Luceija entfernt, die in ihrem Versteck kauerte.
Nur einige Minuten später, sogar ein bis zwei Minuten früher als von Sergio geschätzt, tat sich etwas auf dessen Tool. Die Kameras der Rezeption, in die er sich eingewählt hatte, zeigten, wie der erwartete etwas gebeugte Mann mit der anthrazitgrauen Kleidung durch die Glastüren eintrat und eilig, offenbar fast schon wütend, so verriet seine Körpersprache, den Aufzug betrat.
"Okay Luci, er kommt. Er fährt gerade den Aufzug hoch. Greif ihn nicht zu früh an, sondern genau an der Stelle, die ich dir gezeigt habe. Ab jetzt kein Wort mehr", befahl er flüsternd, obwohl Everett sie beide jetzt natürlich unmöglich schon hören konnte. Die Wohnung war still, doch die Stimmen der Holoübertragung im Wohnzimmer hallten leise hindurch. Dann, eine weitere Minute später, raschelte es vor der Schiebetür der Wohnung, als Everett seine Keycard herauskramte und über den Scanner zog, zusätzlich dazu dann noch mit einigen piependen Tastendrücken einen Code eingab. Dann glitt die Tür auf. Nicht unweit von Luceijas Wandschrank schlurften knarzende Schuhe vorbei und ein Husten ertönte. Direkt neben der Schranktür hing Everett seine Jacke an den Haken, während er bereits zum Wohnzimmer lugte und von dort Goda auf dem Sofa sitzen sah.
"Was zum Teufel", keuchte er mit seiner reibeisenartigen Stimme angestrengt.
"Ich suche dich überall im Club und hier sitzt du vor der Röhre, du faule Nutte?", schimpfte er, als er, jetzt da er sich sicherer fühlte, seine eigene Pistole, die er offenbar immer bei sich hatte, aus dem Gürtel zog und in die Tasche seiner aufgehängten Jacke stopfte.
"Ich dachte, du hättest Vittore irgendwo gesehen. Hast du mir das nicht noch geschrieben?", ergänzte er, sichtlich etwas verwundert, dass Goda ihm nicht antwortete, nicht bereits um Verzeihung bat. Er drehte sich von den Kleiderhaken weg und ging langsam näher zum Wohnzimmer, war nun fast an dem Punkt, den Sergio für Luceija beschrieben hatte.
"Sag mal, schläfst du? Was ist denn nun mit Vittore? Ist er im Club gewesen oder was?", bohrte er gröhlend nach, ging aber keinen Schritt mehr voran. Sergio fürchtete das Schlimmste, roch bereits, dass Everett etwas vermutete. Er sah sich kurz nach einer Ablenkungsmöglichkeit um, sah ein Steuerdisplay für die Wohnung neben sich an der Wand und wählte dort die Jalousiesteuerung an. Tatsächlich wollte sich Everett gerade umwenden, als er glaubte, einen Schatten neben sich zu erkennen. Als sich die Fenster milchig umfärbten und sich die Rollos automatisch langsam hinunterzogen, lenkten diese seine Aufmerksamkeit wieder zurück zum Wohnzimmer und er ging noch einen weiteren Schritt nach vorne bis zum abgesprochenen Punkt. "Was zum...", hörte Sergio ihn noch sagen, als dieser auf das erste Anzeichen von Luceijas Zugriff wartete und dann blindlinks um die Trennwand herumwirbelte und ihm die behandschuhte Hand auf den Mund drückte, um den ersten Schrei des Schocks zu unterbinden. Er konnte nur hoffen, dass Luceija schon bereit stand, ihn auch von hinten zu überwältigen.
Sie konnte gut spüren wie ihre Hand zitterte, auch dann, als sie die Pistole in eben die andere legte, die zweifelsohne favorisierte Waffenhand. Schwerer Atem presste sich durch die Lungen des Mädchens und machte nur spärlich etwas besser. Mit einem Mal, als sie die Schuhe über den Boden kratzen, die Jacke rascheln und den alten Sack sprechen hörte, spürte sie ihren Herzschlag millionenfach. Dieser Mann würde bald nicht mehr reden. Und nicht mehr atmen. Spritzen mit der Sicherheitskappe nach oben klemmten in ihrer Hosentasche und ragten weit heraus - bereit, sie einzusetzen, nur dieses Mal nicht an sich selbst. Sie geriet in diesen Tunnel den man betrat, wenn Angst die Überhand nahm. Oder Überlebenswillen.
Die freie Hand der Fünfzehnjährigen setzte sich an den Rand der Schiebetüre und öffnete sie zögerlich und vorsichtig. Sie wollte nicht herausspringen und auch nicht stürmen. Sie wollte die alles verändernde Karte in diesem Spiel sein. Sie wollte erst erkennbar werden, wenn die Sache schon beschlossen war. Dementsprechend langsam setzte sie die dicken Sohlen ihrer Stiefel aus dem Schrank und gab sich grösste Mühe, nirgendwo anzustoßen oder zu rascheln. Vorsichtige Schritte setzte die Italienerin voran, bis sie ihn unweigerlich sah: Everett. Auf den sie diesen Hass massivst projizierte, der plötzlich in ihr hoch kochte wie pure Lava. Er hatte ihrer beider Existenzen bedroht. So massivst, dass es einer Erholung glich das bislang sehr kryptische Gesicht nun tatsächlich vor sich zu haben. Es eben nicht nur Bilder oder Aufnahmen waren mit denen man Everett verband, sondern dem Übeltäter nun tatsächlich in die Augen blicken konnte. In Luceijas Angst griff diese Wut und dieser Hass ein. Mischte sich zu einem unheilvollen Cocktail, gab ihrem Körper die Anweisung den Herzschlag weiter zu maximieren. Luci brauchte keine Aufforderung, die Waffe zu ziehen. Ihren dürren Arm auszustrecken, an dessen Ende sie die Waffe sicher hielt und ihren Zeigefinger über den Abzug setzte. Und so langsam und schrittweise näher kam, dass es noch ein paar quälende Sekunden brauchte, bis Everett schließlich, von unten herauf, den Lauf der Pistole an seinem Hinterkopf würde spüren können.
"Wehr dich nicht.", sagte sie einzig. Der Daumen glitt über die Sicherung der Waffe. Und diese lud sich mit dem typischen Surren bedrohlich auf.
Das Timing war nahezu perfekt gewesen. Kaum hatte Everett die Pistole in seinem Nacken gespürt und Luft zum Aufschrei geholt, als sich im halben Umwenden bereits Sergio von vorne auf ihn stürzte und seinen Laut unterdrückte. Instinktiv schlug das Opfer dennoch um sich, griff hinter sich nach Luci, als er noch nicht begriff, dass das kalte Gefühl an seinem Nacken eine Waffe war. Sergio fing die ungezielten Bewegungen ab, griff mit der freien Hand nach dessen Handgelenk.
"Ein Mucks und du bist tot", stellte er klar und Everetts weit aufgerissene Augen zeigten, dass er nun verstand, dass er nur eine Fingerbewegung vom Tod entfernt war.
"Wir wollen nur deine Passwörter für die Datenbanken und dann siehst du uns nie wieder. Also spiel schön mit klar?", sprach er möglichst leise zu ihm, um Mithörer auf dem Flur zu vermeiden, und drehte ihn dann mit dem Gesicht zur Wand. Der verstörte, alte Mann nickte und Sergio wagte es, die Hand von dessen Mund zu nehmen. Er muckste sich nicht, zitterte jedoch am ganzen Körper, als Sergio dessen Hände hinter dem Rücken zusammenhielt und die Ärmel hinaufzog, während Luceija weitherin mit der Waffe spürbar in Everetts Nacken drückte.
"Wir fesseln dich jetzt und dann sagst du uns die Passwörter. Und schon in einer Minute sind wir wieder weg", sprach er zu Everett, nahm dabei aber Blickkontakt zu Luceija auf und sah zuerst auf die Spritze in ihrer Hand, dann auf die freie Stelle am Arm ihrer Geisel und nickte Luceija bedeutsam zu.
"Ich kann euch alle sagen, kein Problem... Stehen alle oben auf einem Zettel. Ich hol ihn euch wenn ihr wollt"
"Nanana, Opachen, bleib erstmal schön hier an der Wand. Mein Komplize hier hat nämlich nicht so gute Laune auf dich, weißt du? Wir geben dir jetzt ein Beruhigungsmittel und dann dann gehen wir gemeinsam ganz langsam nach oben, In Ordnung?"
Everett schwieg. Widerstandslos ließ er seinen linken Arm von Sergio nach hinten ausstrecken und den Ärmel hochrollen.
Mehrere Male tauschte Luceija die Blicke mit Sergio. Beließ den Arm hartnäckig ausgestreckt am Hinterkopf von Everett und drückte sogar noch etwas mit Nachdruck zu, als wolle sie ihn zu einer Kooperation zwingen, die schon längst begonnen hatte. Ihr Waffenarm zitterte nicht so stark wie ihr anderer, mit dessen Hand sie den Plan in die Tat umsetzen sollte, wo Sergio den Arm des Feindes schon präpariert hielt. Sie zog an einer der dünnen Spritzen, die nebeneinander in ihrer vorderen, linken Hosentasche prangten, aber ihre Hand hatte jede Feinmotorik verloren. Neben der einen Spritze die sie zog, rutschte die Zweite mit heraus, fiel auf den Boden und gab ein leises Plastikklappern von sich. Schleifenförmig rollte es aus ihrer Reichweite und zwischen Everetts Beine hindurch. Hinter ihm erklang ein sizilianisches Fluchen.
Damit wurde Everetts Angst deutlich geringer. Er witterte offensichtlich seine Chance weil er ziemlich schnell erkannte, dass Vittore so naiv gewesen sein musste, sein Testsubjekt in diesen lächerlichen Angriff einzubinden. Er lachte stokkatoartig und, als sich ihm eine kurze Gelegenheit bot, sich aus dem Griff des Sizilianers zu reißen, bückte er sich und griff den beiden das Mittel ab. Drehte sich um, zog die Kappe des Mittels und hielt sie wie eine Waffe vor sich, nun umgekehrt. Wieder lachte er. In einer verzweifelten, aussichtslosen Weise. Er hatte noch immer keine Ahnung, dass man einer seiner dutzenden Forschungsobjekte bereits den Hahn zugedreht und sie nicht nur betäubt hatte, aber das war im ersten Moment egal, wo er nichts wolle als nur sein eigenes Leben retten. Lucis Waffe zielte weiterhin auf ihn. Everett sah in den Lauf, dann zu Sergio. "Du steckst ziemlich in der Scheiße wenn du glaubst, dir meine Forschungen aneignen zu können!", japste er. "Du steckst in der Scheiße wenn du denkst, wir lassen uns weiter verarschen!" "Seit WANN genau ist es Laborratten erlaubt das Maul aufzureißen, geschweige denn eine Waffe mit sich rum zu tragen?! Was soll der Scheiß, Vittore, bist du wirklich so lächerlich weich und hast sie nicht längst eingestampft? Sie hat noch schlechtere Ergebnisse erzielt als Goda, und die ist bereits, wie du sicher schon herausgefunden hast, eins der schlechtesten der Reihe. Der Alte lässt dich die kleine Ratte persönlich hinrichten wenn er davon erfährt."
Vor diesem Ausgang der Situation hatte sich Sergio gefürchtet, aber ihn eben auch als Eventualität mit einberechnet. Dass Everett dabei auch noch die Spritze als Druckmittel in der Hand hielt, war ungünstig, aber es schien für Sergio kaum etwas an der Lage zu ändern. Völlig abgebrüht blieb er mit verschränkten Armen vor seinem Widersacher stehen, ließ ihn ausreden und schüttelte dann nur leise lachend den Kopf. Dann wählte er auf seinem Omnitool ein Dateiverzeichnis an und projizierte vor Everetts Augen ein Video. Die Szenerie war für Luceija sicher schnell zu erkennen: Es war der rostige, vergammelte Container-Unterschlupf, in dem man ihr erstes Mordopfer gefoltert hatte. Und nicht nur das, es waren genau die Sekunden, in denen er sein Leben aushauchte. Das Video zeigte, wie Luceija skrupellos auf den gefesselten Mann zuging und ihm scheinbar ohne zu zögern die Kehle mit einem tiefen Schnitt durchtrennte, bei dem nicht mehr viel zur Enthauptung gefehlt hätte. Blut spritzte und das so unscheinbare Mädchen badete nahezu darin. Aus dem entfernten, angehobenen Kamerawinkel, der sie von schräg hinten einfing, wirkte es, als sei sie dabei völlig unberührt. Der Moment wiederholte sich in Endlosschleife, doch Sergio sah an dem Holobild vorbei in Everetts Augen. Nach einigen Wiederholschleifen klappte er das Omnitool wieder ein.
"Ihr Initiationsmord. Sie ist so stark wie ihre Familie, Ulysses", sprach er ruhig während er eine Hand auf Luceijas Schulter legte, die noch immer auf die Geisel zielte.
"Goda hat sie auch schon über den Styx geschickt - deine Kleine wollte uns die Passwörter nicht geben. Luci hat mit ihr ohne zu Zögern kurzen Prozess gemacht. Schien ihr sogar richtig Spaß zu machen", fasste er zusammen und deutete mit dem Kopf zu der Sitzecke, in der Everetts Testsubjekt reglos mit dem Kopf nach vorne geneigt auf dem Sofa saß.
"Dein Projekt haben wir hiermit frühzeitig beendet. Wir wollten urspünglich zwar noch deine Forschungsdaten, bevor wir uns absetzen, aber wenn wir die nicht bekommen und du uns Probleme machst, dann nehme ich gerne eine Leiche mehr in Kauf, bevor wir ohne deine wertlosen Tabellen verschwinden"
"Das lässt der Alte dir niemals durchgehen! Er wird dich jagen wie eine Hirschkuh", bellte Everett nur als Antwort, fing sich aber wieder, als er dabei in den Waffenlauf blickte. Dennoch fuchtelte er weiter mit der Nadel vor sich herum.
"Wird er nicht. Aber ich scheiße auf den Alten und auf Cerberus. Wir wollten nur dein Projekt auf Eis legen und dann kehren wir der Familie den Rücken. Als Söldnerin oder Auftragskillerin irgendwo in den Terminus-Systemen hat Luci bessere Chancen und mir bringt es mehr Geld ein. Seien wir ehrlich, die hätten uns beide früher oder später doch ohnehin kaltgestellt. Ich wollte bevor wir verschwinden nur dafür sorgen, dass dein Schoßhund uns dort in ein paar Jahren keine Probleme macht. Aber deine Forschung lässt sich trotzdem gut verkaufen. Und wenn ich dich dabei Leben lasse, wird uns die Familie weniger streng verfolgen. Also mach es uns doch allen einfacher, geh mit uns nach oben und rück die Passwörter raus. Denn glaub mir, ich muss nur einmal mit der Wimper zucken und ich kann dir beweisen, wie willensstark Luceija jetzt schon ist."
Eine Sekunde durchbohrte Sergio sein Gegenüber noch abwartend mit seinem Blick. Doch als dieser noch zögerte, gab Sergio Luceija per Kopfgeste das Zeichen zu schießen.
"HALT - Nein!", keifte Everett plötzlich mit unerwartet hoher Stimme. Mit einer kurzen Geste der Hand zügelte der Sizilianer seinen Zögling wieder.
"Also. Leg die Spritze weg und rück die Passwörter raus, oder ich demonstriere Luci stattdessen, wo man mit Massenbeschleunigern hinschießen muss, damit dein Schädel platzt wie ein überreife Wassermelone"
Erstaunlicherweise, und obwohl der Drang kurz da war, fuhr Luceija Sergio nichts ins Wort. Sie klemmte sich hingegen die andere Spritze zwischen den kleinen Finger und den Ringfinger ihrer linken Hand und führte diese zur Unterstützung ebenfalls an die Pistole. Damit sie ruhiger zielen konnte, die Waffe, auf Kommando, andeutend hob und anstalten machte nun abzudrücken und diese erst wieder minimal locker lies, als Sergio ein zweites Mal ein Zeichen gab. Sie funktionierte wie eben das Werkzeug, dass er angedeutet hatte und ihr schneller Atem und die Scham darüber, den Plan initial versaut zu haben, schwoll kontinuierlich und mit zunehmender Schnelligkeit ab. "Ich bin nicht SIE.", machte sie mit einem Nicken gen Goda klar und verzichtete dem korrupten Forscher gegenüber auf ihr Sizilianisch, obwohl der Akzent unheimlich stark durch ihr Englisch drang, sehr ähnlich zu Sergio, der aber mehr Routine hatte.
"Schon gut! SCHON GUT!", hob er zumindest eine Hand mit dem Signal, er gebe auf. Die Hand mit der Spritze senkte sich, aber viel langsamer. Immer wieder ging sein Blick zu seinem ehemaligen Testsubjekt. Nur war der Blick etwas, was sie Sergio, wenigstens ihr gegenüber, nie gesehen hatte. Es war der Stapel der Eventualitäten die der Forscher durch ging. Die Summe des Verlustes die ihn überrollte. Nicht, weil er in Godas Fall eine Art Tochter verloren hätte, nein. Weil seine Forschung hiermit über den Jordan ging. Das Potenzial, dass für ihn bei rabiaterer, weiterer Forschung vielleicht einem Ziel hätte Nahe sein können. Oder zumindest ein Stein hätte sein müssen auf diesem langen Weg durch den Sumpf weiterer Experimente und potenziellen Subjekten. "Setzen.", kommandierte das italienische Mädchen in gebrochenem Englisch und fuchtelte entsprechend mit der Waffe zum Sofa. Everett folgte langsam und streckte das Mittel von sich, behielt es jedoch weiterhin in seiner geschlossenen Faust. Langsam und mit Augenkontakt zu Luceija setzte er sich. Neben Goda. Die immer wieder kurz in seinen Fokus geriet und bereits steif war. "Gib ihm die Spritze." Everett tat nichts dergleichen. Er grinste dieses verzweifelte und doch schäbige Lächeln zu Luci. "Glaubst du ernsthaft, was er dir sagt? Er würde mit dir irgendwohin fliehen?! Du bist die nächste Goda, Kleines, stimmt doch, Sergio?", benannte er den Arzt nun ebenfalls bei seinem Vornamen wenn diese Hürde schon gebrochen war. "Oder weshalb genau steht bei dir die übliche Vorbereitung für das sichere 'Beenden' der 'Versuchsreihe' neuerdings so weit oben in deinen Plänen? Ich hatte lange genug Zugriff auf deine Systeme um zu wissen, dass du sie darauf vorbereitet hast."
War das nun ein üblicher, verzweifelter Versuch sich in letzter Sekunde aus der Scheiße zu ziehen und dem Tod von der Schippe zu springen? Oder nicht? Luci sah zu Sergio. Der Anflug eines Zweifels lag darin, als sie zurück sah. "Er hat deine Dosen nicht aus Creditmangel gekürzt. Er wollte dich austrocknen, Schätzchen."
Sergio folgte den beiden mit weiterhin verschränkten Armen zur Sitzgruppe hinüber und setzte sich im Gegensatz zu seinem Gastgeber zunächst nicht. Als Ulysses es wagte, nun auch noch ein Lügengespinst aus Anschuldigungen zu spinnen, um so Luceija gegen ihn aufzubringen, schwand auch noch das letzte bisschen Respekt vor ihm. gerne hätte er nun Luceija die Waffe aus der Hand gerissen und das Thermomagazin auf den alten Sack leergeballert, doch er wusste, dass er seinen Plan einzuhalten hatte. Er bemerkte den misstrauischen Blick Luceijas zu ihm, sah sie ebenfalls an und verengte die Brauen.
"Schon dass du mich überhaupt so ansiehst, Luci, ist eine Beleidigung. Du weißt, ich verlange bedingungsloses und absolutes Vertrauen. Gegen solche Spinnereien von einem Angsthasen werde ich mich nicht verteidigen - du kennst die Wahrheit", schloss er die Beweislage ohne eine wirkliche Aussage ab. Für ihn war es, wie er es sagte. Wenn Luceija ihm nicht uneingeschränkt vertraute, so wäre ihr gesamtes Experiment als gescheitert anzusehen. Uneingeschränkte Loyalität und Vertrauen waren seine schon immer klar genannten Grundbedingungen - ohne diese würde er sie ohne zu zögern verstoßen.
"Also Ulysses. Damit hätten wir geklärt, dass Luci und ich Partner sind. Im Gegensatz zu deiner Haussklavin neben dir. Wir sehen also, welches Verhältnis mehr Früchte trägt. Und langsam reißt mir der Geduldsfaden. Ich sage es nur noch einmal: Leg die Spritze weg und wir verhandeln. Alternativ bläst dir Luci erst deine schrumpligen Eier und dann deine Rübe weg.
Wem der Geduldsfaden riss, war klar Luceija. Sie zögerte nicht länger, sondern setzte um was umgesetzt hatte werden müssen, holte aus, bevor er reagieren konnte und klatschte ihm mit der Waffe gegen die Schläfe. Nichts davon war unermesslich stark - aber es reichte um den alten Mann anzuhalten, nochmal nachzudenken, bevor er etwas weiteres dummes sagte. "Du hast ihn gehört. Mach dein Scheiß Maul zu, alter Sack und leg die Spritze weg."
Um zu verdeutlichen, WIE ernst sie es meinte, drückte sie Everett den Lauf der Waffe nun äußerst zielgerichtet direkt zwischen seine buschigen und drahtigen Augenbrauen. "Glaubst du ich tus nicht? Denkst du ernsthaft, ich bring am einen Tag einen Typen um und hätte dann nicht die Eier es am nächsten nochmal zu tun? Du beleidigst meine Familie. Meinen V-...Doc UND mich. Ich verspreche dir, das tust du kein zweites Mal."
Die flache Hand streckte sich ihm auffordernd entgegen. Und viel zu spät, aber endlich, legte er sie auf ihrer ab. "Du bist die nächste. Warts ab.", drohte er nochmals. Dieses Mal jedoch nicht, ohne dass das Mädchen endlich - zu spät aber endlich - handelte. Die Kappe mit dem freien Daumen von der Spritze schnippte und ihn den Arm präsentieren ließ. Er reagierte zu langsam. Aber schnell genug damit Luceija die Spritze an seinen Arm ansetzen konnte. Dazu brauchte sie kaum einen genauen Blick auf den Arm zu richten, als sie seine Haut durchstach und die Vene traf. Den Kolben drückte.
"DU...bist der nächste."
Die Geisel war völlig perplex und angesichts des Alters ohnehin schon nicht reaktionsfreudig genug, mit diesem plötzlichen Angriff umgehen zu können. Der Hieb auf die Schläfe setzte ihn lange genug außer Gefecht, dass bereits eine Nadel in seinem Fleisch steckte, bevor er wieder die Orientierung zurück gewann. Erst als er die Wut in Luceijas Augen sah und sie ihn dann auch noch wissen ließ, dass er die nächste Laborratte sei, erkannte er, dass es sich bei den Spritzen wohl kaum nur um Beruhigungsmittel handelte. Die beiden wollten ihn umbringen. Viel zu spät begann er zu zappeln und sich zu wehren, doch da war Sergio bereits zur Unterstützung herbeigerannt und hielt Everetts linkes Bein mit seinem Knie auf der Sitzfläche und sein Handgelenk am Rückenpolster, während Luci das gleiche auf der rechten Körperhälfte tat. Von zwei Personen fixiert und innert Sekunden bereits unter Drogeneinfluss, dauerte sein Widerstand nur wenige Augenblicke. Sergio hielt ihm den Mund gegen die Schreie und Ächzen zu. Schon nach etwa dreißig Sekunden wurden seine Hilferufe leiser und seine Bewegungen schlaffer, ehe er mit einem sachten Lächeln auf den offenen, trockenen Lippen in ein Delirium abdriftete.
"Okay", war schließlich alles, was Sergio nach einer weiteren Minute kraftlos herausbrachte, als sich wirklich nichts mehr an Everett rührte außer dessen Atmung und willkürlichen, verdrehten Pupillenbewegungen.
"Das war die erste. Drapier ihn anders - es muss wie bei einem gewollten Schuss aussehen. Gürtel, Aufkochlöffel... Jetzt sieh mich nicht so an, ich weiß genau, du hast das schonmal irgendwo gesehen. Ich gehe nach oben und installiere den Empfänger. Sobald du ihm die zweite Ladung verpasst, geht er mit Sicherheit den Trip bis zum Ende. Sein Tod löst seinen Notfall-Backup-Upload aus, ich fange es ab und entschlüssle den Kram zu Hause. Also, an die Arbeit, der kann hier erstmal schmoren..." Er stand auf und überließ den reglosen Ulysses und Luceija sich selbst, eilte die Treppen hinauf zum Labor des Widersachers. Der Quantenverschränkungskommunikator, den Everett für seinen Notfallupload nutzte, war für Sergio leicht zu finden, nutzte er und andere Forscher dieser Zelle doch das gleiche Prinzip. In der Nähe des Computers, den Sergio bereits schon einmal durchforstet hatte, stellte er nun ein kleines, unscheinbares Gerät auf, das im Grunde nur aus einer Schaltplatine und einem Kabel bestand und schloss dieses an einen großen, schwarzen Würfel an, hinter dessen Verkleidung sich tatsächlich auch nur diese eine Schnittstelle befand und dessen restliche Technik komplett im Kern verborgen verbaut war. Dann funkte er Luci wieder über sein Omnitool an:
"Ich bin bereit. Wie sieht's aus, Luci? Bereit dem Bastard den Rest zu geben?"
Die Fünfzehnjährige stand über Everett. In dieser Situation, sowie auch in diesem niemals wirklich entfachten Zweikampf. Die Jugend hatte über das Alter gesiegt, war es nicht so? Nicht ganz. Ulysses war für sein Alter noch ziemlich gut beieinander gewesen, obwohl er um einiges älter war als Sergio. Jetzt blickte die Italienerin von oben auf den sabbernden, alten Mann hinunter, verzog dezent angewidert ihren Mund. "Ekelhaft..", knurrte sie leise auf Sizilianisch. "Was?", kam zurück, im selben, gewohnten Dialekt. Es ließ die Schwarzhaarige den Kopf heben. "Nichts..", bestätigte sie. "Ich bin bereit."
Die Sicherheitskappe der Spritze hob Luci einfach ab und warf sie auf den Boden. Ein leises Geräusch kündigte dessen Weg an, bevor es unter dem Sofa verschwand.
Luci ging nicht vor ihm in die Knie, sie beugte sich stattdessen zu ihm. Die langen Haare fielen ihr über die linke Schulter, generierten einen Schleier der Intimität als der Atem des dahinsiechenden Arztes an ihr Ohr drang und etwas säuselte, dass sie erst nicht recht verstand. Dann zog sie die Falten auf seinem Arm glatt. Setzte die zweite Spritze an, durchstach dazu die dünne Haut und versenkte die Nadel in einer Vene. Dann drückte sie den Kolben hinunter und injizierte ihm den Stoff.
Einen Moment lang sah sie zu bei dem, was hier passierte. Wie Everett noch schlapper wurde, nach vorne sackte und ein Speichelfaden über seine Unterlippe hinwegtropfte. Erst dann blickte sie an seinem Körper hinab und setzte ihre schlanken Finger an seinem Gürtel ab, den sie ihm öffnete. "Nicht ganz das was du dir vielleicht zum Ende erhofft hast..", sagte sie zu ihm, unwissend, ob er es noch hören konnte oder sich vielleicht tatsächlich noch ein Abschiedsgeschenk erhoffte? Anstatt sich an der Hose darunter zu vergreifen zog sie nämlich an der Schnalle des alten Mannes, zog das Leder aus den ösen seiner Hose und wickelte diesen dann, unnatürlich stark, um seinen Oberarm, wovon er sicherlich kaum noch etwas merken würde. Sie hakte den Gürtel nicht ein, nahm aber das andere Ende des Leders zur Hand, stopfte ihm dieses in den sabbrigen Mund und ließ es dann, so in etwa in natürlicher Fallrichtung, auf seinen Schoss fallen. Dass er hierauf gebissen haben würde kaufte man ihnen nun ab.
Der Löffel musste folgen. Dazu begab sie sich kurzerhand in die Küche, nahm einen zufälligen Löffel hervor, den sie am unteren Ende mit dem Feuerzeug auf dem Beistelltisch ankokelte um eine Russ-schicht zu hinterlassen. Oben verteilte sie Schlieren des Mittels, dass noch in der Spritzenkanüle fest hing. Ein paar Momente später lag alles um ihn herum drapiert. Bereit für den Dummen, der das hier finden sollte.
Sie hatte geglaubt, dass es ihr schwerer fallen würde. Unbändige Angst kurz zuvor gehabt. Aber so erstaunt, wie leicht es dann am Ende doch war.
Eine Sekunde lang bereute Sergio, dass er diesen denkwürdigen Moment hier oben im Labor verbringen musste, doch er musste unbedingt sicherstellen, dass dieser Aufbau ansprang und funktionierte - dies war die einzige Chance, die sie hatten, die Daten in dieser Form abzugreifen. Es ging ihm auch nicht darum, dass er Luceija gerne kontrolliert hätte - in ihre Fähigkeiten und ihren Willen hatte er inzwischen vollstes Vertrauen. Er wäre einfach nur gerne dabei gewesen, wenn sein Konkurrent den letzten Atemzug tat.
Einige Momente später schien alles abzulaufen wie geplant. Der Monitor von Ulysses Rechner schaltete sich selbst ein und zeigte die schneller und unrhythmischer werdende EKG-Kurve seines Besitzers.
'Lebenszeichen kritisch. Protokoll 989 steht bevor' - blinkte dort in roten Lettern auf. Auf der angebrachten Platine drückte Sergio den einzigen vorhandenen Tastschalter, um den Abfangprozess einzuleiten - dann wartete er, starrte abwechselnd auf das Quaderförmige Objekt vor sich und die immer zittrigere Herzkurve Everetts.
"Du weißt, dass wir streng genommen gerade die Familie hintergehen oder?", leitete er über Funk ein, wohl wissend, dass Luceija gerade dem alten mann beim Sterben zusah, während Sergio in gewisser Weise mit der EGK-Kurve dasselbe tat.
"Ich meine - natürlich sind wir im Recht und die Zelle wird das später einsehen... Aber was wenn wir einmal wirklich fliehen müssten? Du und ich nach Omega? Alles was wir getan und geopfert haben, haben wir nur für Cerberus gegeben. Ich habe mein Herzblut in dich und dieses Projekt gesteckt, weil ich mein Herzblut in die Familie stecken wollte. Doch irgendetwas hat über die Jahre eine Eigendynamik entwickelt. Und wenn ich wählen müsste... Ich wüsste inzwischen nicht mehr, ob mir Cerberus wichtiger ist oder... dieses Projekt"
Er ließ den Comchannel offen, sprach aber trotzdem einige Momente lang nicht, stattdessen war nur Funkrauschen zu vernehmen.
"Ein Glück dass ich nicht wählen muss"
Luceija lachte ein schwaches Lachen in die Commverbindung. Das Mädchen, der diese gehörte, hatte sich auf den Beistelltisch vor dem Sofa gesetzt und gemächlich, ein weiteres Mal, dabei zugesehen, wie ein Mann Stück für Stück sein Leben aushauchte. Sie genoss den Anblick nur zum Teil, denn es hatte noch immer einen gewissen Schrecken an sich. Zu sehen, wie er manchmal noch zitterte, zu sehen, wie Schaum aus seinem Mund tropfte, er die Augen verdrehte und immer lebloser wurde. "..du würdest dich immer für die Familie entscheiden.", stellte sie fest, ohne es ihm als Vorwurf zu machen. Es war vielmehr eine Tatsache, die sie zu wissen glaubte, weil es Teil ihrer Doktrin, Teil ihres Lernens, ihres Lebens war, dass Cerberus immer und zu jeder Zeit an erster Stelle zu stehen hatte. "Und alles dafür tun, um sie zu schützen.", hängte sie an, im Glauben, dass er auch sie opfern wuerde, wenn es denn sein musste und einen erstaunlichen Frieden mit dieser vermeintlichen Tatsache hatte. "...richtig?", fragte sie nun und es war die Frage einer längst indoktrinierten, die die Liebe ihres Adoptivvaters vielleicht spürte, ja, aber Worte der Zuneigung selbst im Grunde nicht bekam. Nicht auf die übliche Weise.
Ein tiefer Atemzug verließ Everetts Mund. Und dann wurde es still. Fürchterlich und endgültig still. Und sie bestätigte leise, was Sergio sicher schon wusste: "Er ist tot."
Wieder folgte auf Luceijas Fragen lange Zeit nur dieses beunruhigende Rauschen der Funkstille, bevor Sergio dann endlich mit gesenkter Stimme antwortete:
"Ich würde mich immer für die Familie entscheiden. Nur leider sind die Dinge nicht immer schwarz und weiß. Oft weiß unsere Führung nicht, was gut für uns ist. Manchmal muss man jemandem schaden um der größeren Sache zu dienen. Und manchmal auch einem von uns... Ich bin dankbar für jeden Tag, an dem die Entscheidungen einmal eindeutig sind."
Er war sich sicher, dass seine Worte im Augenblick für Luceija, sein wichtigstes Projekt, nur wenig Sinn ergeben würden. Gerade weil er sie eben so erfolgreich mit den Grundwerten der Organisation geimpft hatte, war es oft schwer, die oft sehr vereinfachten Grundsätze wieder zu relativieren. Doch er war sich sicher, dass sie es mit den Jahren besser begreifen würde.
Lucies nächster Funkspruch unterbrach seine ethischen Überlegungen mit der Botschaft über Everetts Tod. Er nickte langsam, obwohl sie es nicht sehen konnte, warf einen Blick auf den Quader, dessen Kanten nun zu leuchten begannen, um die einsetzende Funktion anzuzeigen. 'Protokoll 989 eingeleitet', gab der Rechnermonitor nüchtern an, obwohl dieses Notfallverfahren nur im Todesfall des Besitzers eintrat und damit alles andere als trivial war. Der Minitor zeigte unmissverständlich Everetts flache, unbewegte EKG-Linie. Wie erwartet entsperrte das Programm die erste Verschlüsselungsebene der Daten, ehe es diese zum Quantenverschlüsselungssystem geleitet wurden. Hier griff Sergios Gerät die Daten ab, die nun eigentlich an einen sicheren Serverort im nirgendwo übertragen worden wären. Sein Aufbau funktionierte und meldete nach einigen Minuten die erfolgreiche Speicherung. Schon Sekunden später fuhr der Rechner automatisch auf einen Fehlerbildschirm herunter, als er offensichtlich seine eigenen Daten komplett entfernt hatte. C-Sec würde bei der Wohnungsdurchsuchung nie erfahren, was der schrullige Eigentümer in diesem Labor all die Jahre erforscht hatte.
Nachdem der Doktor die Spuren seines Zugriffs beseitigt und das Labor wieder versiegelt hatte, ging er bedächtig die Treppe zu Luceija hinunter, die irgendwo zwischen Beunruhigung und Genugtuung Everetts leblosen, ehrlos verkrümmten Körper anstarrte. Er legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie aus ihren Gedanken zu holen und zeigte ihr mit einem kurzen befriedigten Schmunzeln das Speichermedium in seiner Hand. Es war ein eigenartiges Gefühl, einerseits triumphiert zu haben und endlich wieder Licht zu sehen, auf der anderen Seite jedoch mit dem desillusionierenden Nachhall der Schuld oder zumindest der Beklemmung des Todes konfrontiert zu werden. Dennoch überwog im Augenblick die Erleichterung und er konnte nicht anders, als Luceija kurzerhand die Finger ins Nackenhaar zu legen und ihren Kopf sacht an seiner Schulter zu ziehen. Er wusste nicht, ob er sie mit dieser halbseitigen Umarmung loben wollte oder selbst einfach Nähe suchte, doch schon im nächsten Moment löste er sein Mädchen wieder von sich und konzentrierte sich auf die noch nicht ganz gelöste Situation.
"Okay... Als nächstes müssen wir noch Goda hier raus schaffen. Am besten ist es, C-Sec erfährt nie, dass es sie überhaupt gab. Glücklicherweise wiegt sie nicht viel, also... Ich würde sagen wir schleppen Sie ins Skycar, laden sie ein paar Kilometer von hier im Industriegebiet in einem Lüftungsschacht ab und... Lassen den Lüftungsrotor den Rest machen. Nach den Duct Rats und ein paar ihrer Leichen in den Schächten fragt bei der C-Sec schon lange keiner mehr. Greif sie unter der rechten Schulter, ich unter der linken. Feiern können wir zu Hause... Nichts wie weg bevor wir noch nach dem alten Sack hier und seiner Snobwohnung zu riechen beginnen", bemerkte er noch abfällig, während er bereits Godas linken Arm anhob und sich an die Arbeit machte.
Tatsächlich wog das Testsubjekt des bereits über den sinnbildlichen Jordan gesprungenen Everett nicht sonderlich viel. Genug um für Luceija alleine eine Belastung im klassischen Sinne zu sein, weshalb es sinnvoll war, dass Sergio ihr aushalf. Nachdem sie die Spritzenkolben von ihren Fingerabdrücken befreit und Everetts hinzugefügt hatten, obwohl er in seinem Zustand nichts mehr halten konnte, waren sie schnell verschwunden. Raus aus dem Gang, der glücklicherweise gerade frei war, nach oben über den Zugang der sich durch die Shuttleverbindungen anbot und mit der Eingesunkenen so im Schlepptau, dass es auf den ersten Blick so wirkte, als schleppe man eine vollkommen besoffene Freundin nach Hause. Der Eindruck half ihnen das zu tun, was noch nötig war um den Plan zu vollenden. Ein weiteres Mal fuhr Goda damit Skycar, ein weiteres Mal bekam sie davon nichts mit. Lucis Hinweis folgend schleppten sie den Körper wie von Sergio empfohlen weiter Weg an einen Schachtzugang, wo sie schließlich mit vereinten Kräften verschwand. Rotorblätter flappten laut und machten hörbar, was er aus dem toten Körper am Ende des Rohres anstellte.
Viel über die Sache sprachen die beiden nicht mehr. Nicht heute. Alles raste an ihnen vorbei, erst Orte, dann die Zeit, als sie längst zu Hause angekommen waren, die Dusche Blut und Anstrengung von ihren Körpern wusch und schließlich ein recht opulentes Abendessen den Tag krönte, von dem Luci wie immer kaum etwas aß.
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