Breaking The Girl
inspiriert vom gleichnamigen Lied der Red Hot Chili Peppers

Langsam neigte sich die kalte Jahreszeit, der Winter, seinem unausweichlichen Ende zu. Erste, zarte Knospen erschienen vereinzelt auf den kahlen Ästen und so manches Mal blies der kühle Wind zaghaft ein kleines Loch in die dichte Wolkendecke, um dem wärmenden Schein die Reise hinab zu Pflanzen, Tieren und Menschen zu ermöglichen.
Noch immer war der eisige Griff des unerbittlichen Winters spürbar, doch wurde er nunmehr durch eine Wohligkeit aufgelockert, die sich nur durch den herannahenden Frühling erklären ließ.
Frühling!
Bloß ein einziger Mensch war an diesem Tag auf jenem langen Pfad unterwegs, der von der Hafenstadt aus bis hinauf auf die höchsten Ebenen der Insel führte, dort wo von Zeit zu Zeit ein wagemutiger Hirte, den Gefahren des Umlandes trotzend, sein Vieh weiden ließ.
Flea wusste, dass er niemandem begegnen würde, und aus eben diesem Grund hatte er besagten Weg gewählt. Er suchte die Einsamkeit, suchte die Ruhe des abgeschiedenen Weidenhügels.
Frühling, wiederholte er in Gedanken. Wie sehr habe ich den letzten Frühling genossen! Und wie groß war die Freude, den nächsten zu erleben…mit ihr an meiner Seite.
Er neigte den Kopf herab, hielt an. Kurz nur, denn obgleich ihn die Trauer schier zu ersticken schien, gab es da noch etwas, das ihn voran trieb. Weiter, immer weiter voran…stehen bleiben kam nicht infrage. Er wusste nicht, was dann geschehen, was dann mit ihm geschehen würde.
Der Weg wurde steiler und steiniger, die Vegetation gleichzeitig immer spärlicher. Ein einzelner, mächtiger Baum wuchs zu seiner Linken und hatte bereits einige hellgrün schimmernde Knospen geschlagen. Der angenehm harzige Geruch in der Luft ließ den Wanderer tief durchatmen, und für einen Augenblick verfing sich sein Blick in der majestätischen Gestalt der uralten Eiche.
Fest im Boden verwurzelt, so steht er da. Unvergänglich. Flea wandte sich wieder ab. Ebenso, wie es unsere Liebe einst zu sein schien.
Ein dumpfer, tiefer Schmerz durchfuhr ihn. Er wollte sich nicht erinnern! Er hatte sich geschworen, das letzte Jahr zur Seite zu schieben, als hätte es niemals stattgefunden – sich nur noch auf die schönen Dinge zu konzentrieren, die ihn in dieser Sekunde umgaben, sich ganz dem Jetzt hinzugeben – doch es war vergebens. Mit jedem schönen Gedanken, der in ihm aufkeimte, kamen auch unumgänglich Erinnerungen an die so unendlich schönere Zeit mit ihr zurück…eine Zeit, die er nie mehr zu sich zurückholen konnte.

„Loesha…es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.“
Nervös biss sich Flea auf die Unterlippe, ständig versuchte sein Blick den so wundervoll klaren, tiefblauen Augen Loeshas zu entweichen, nur um bloß wenige Wimpernschläge später wieder in ihren Bann zurückzukehren.
Doch auch in ihrem Gesicht lag etwas Besonderes…etwas Erwartungsvolles.
„Sag es mir bitte, mein lieber Freund“, forderte sie ihn lächelnd auf – und spätestens jetzt, als sie sanft seine Hand nahm, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab.
„So lange kenne ich dich nun schon, so viele Jahre bist du mir stets die beste Freundin gewesen, die es nur geben kann. Seit einiger Zeit jedoch spüre ich, dass mir unsere Freundschaft allein nicht mehr genügt…wenn ich abends mit der Spielmannstruppe in den Tavernen die Menschen mit unserem Liedgut erfreue, so begleitet mich doch immer eine seltsame Schwermut. Immer werfe ich sehnsüchtige Blicke in die Reihen der lauschenden Menschen und immer hoffe ich insgeheim, zwischen ihnen dein Antlitz zu erblicken. Wenn ich abends allein im Bett liege, so wünsche ich mir nur dich an meine Seite; wenn ich morgens erwache, so male ich mir jedes Mal aus, wie wundervoll es wäre, wenn doch dein sanfter Kuss mich auf dem Schlafe geholt hätte.“ Ein einziges Mal noch atmete Flea durch, bevor er die entscheidenden Worte sagte, die er so lange schon im Herzen trug. „Ich liebe dich, Loesha.“
Und dann geschah das Wunderbare, das Unglaubliche: sie lächelte nicht länger, nein, sie strahlte über ihr ganzes, herrliches Gesicht! Tränen des Glücks rannen ihre Wangen herunter, als sie Flea umschlang, und eine überwältigende Flamme der Freude erfüllte seinen bebenden Körper, als seine Lippen auf Loeshas stießen.
In inniger Umarmung küssten sie sich dort am See, und nie schien dieser eine, perfekte Moment zu Ende gehen zu wollen. Für immer wollten sie so zusammen sein, für immer jenen erhabenen Traum aus Zweisamkeit leben, für immer den Geist der Liebe teilen.

„Weitergehen!“
Nicht zurückblicken, nein, bloß nicht zurückblicken! Weitergehen musste er, alles vergessen, was hinter ihm lag…war es denn nicht möglich, sich an diesem Frühling zu erfreuen, ohne an den Vergangenen denken zu müssen, und an jene drei nicht minder glücklichen Jahreszeiten, die ihm noch folgen sollten?
Ein Eichhörnchen tauchte unverhofft vor ihm auf dem Weg auf. Schnuppernd reckte es das kleine Köpfchen in die Luft, als wollte es die frische Frühlingsluft tief in sich aufnehmen.
Flea starrte das flauschige Tierchen an, wie es da hockte und sich ganz in den Düften der wiedererwachten Natur verlor, bis er sich wieder aufraffte und zum Weitergehen zwang.
Das Eichhörnchen huschte zurück ins hoch gewachsene Gras, während Flea die letzten Schritte zum höchsten Punkt des Hügels nahm.
Er war bereits hier gewesen, doch erneut war der Anblick, der sich ihm bot, wahrlich berauschend: Wälder, Flüsse, Seen, in der Ferne die Hafenstadt und ganz am Horizont das weite Meer – all dies lag ihm nun zu Füßen. Er spürte eine ungeahnte Freiheit in sich heranwachsen, glaubte bereits, schlussendlich zu sich selbst gefunden und all die Trauer beiseite geschoben zu haben, als es plötzlich nur noch heftiger und unvermittelter aus ihm hervorbrach.
„Loesha!“ Er schrie es heraus, ließ es aus seinem vertrockneten Mund herausquillen, als sei es heißes, salziges Meerwasser, das seine Lungen gefüllt hatte. „Loesha, verlass mich nicht!“

Da lag sie, regungslos und mit weit aufgerissenen Augen. Er hatte sie oft so gesehen, immer wenn sie sich gefreut hatte – wenn er sie mit etwas Schönem bedacht hatte, wenn ihm eine Überraschung geglückt war, mit der sie nicht gerechnet hatte. Wenn sie beide gemeinsam allein waren, wenn sie sich eng umschlungen beinahe zu erdrücken schienen.
Diesmal war es kein schöner Moment. Flea stand da, konnte sie nur anstarren, fassungslos in den leeren, toten Blick jener Frau blicken, die ein ganzes Jahr lang alles für ihn gewesen war.
Nun war sämtliches Leben aus ihr gewichen, hatte ihr einst rosiges Gesicht zu einer blassen und blutleeren Fratze entstellt, die Fleas Liebe zu verhöhnen schien. War sie schon immer so gewesen? Hatte er ein fauliges Stück totes Fleisch geliebt?
Er wollte nicht mehr denken. Er wollte nie mehr denken.

„Steh auf, Mörder.“
Ein harter Tritt in den Rücken ließ ihn den Halt verlieren, sein Gesicht schlug im nassen Schlamm auf. Er wollte nicht mehr aufstehen, nur noch liegen bleiben, bis er langsam im Morast der überfluteten Wiese versank, doch diese Entscheidung lag nicht bei ihm.
Einer der Milizen zog ihn hoch, schlug ihm roh ins aufgequollene Gesicht und schubste ihn vorwärts, auf den Mittelpunkt des Weidenhügels zu.
Ein undurchlässiger Vorhang aus kaltem Regen hatte den Hügel umhüllt, nichts war mehr zu erkennen von all der Pracht, die er einst mit Loesha genossen hatte.
Er konnte sich nichts mehr vormachen. Da war es, das Holzkreuz.
„Verfluchter Scheißdreck“, knurrte einer der Männer. „Widerlicher Tag für eine Hinrichtung.“
„Du sagst es“, pflichtete ihm ein anderer bei – eben jener vermutlich, der Flea vorhin erst in die durchnässte Erde getreten hatte. „Dieser beschissene Winter hängt mir zum Hals raus mit seinem ewigen Regen…wird Zeit, dass es endlich Frühling wird.“
„Worauf wartest du noch, Pablo? Nagel den Dreckskerl endlich an, damit wir verschwinden können.“
„Ich hasse sowas, verdammt.“ Pablo schüttelte seufzend den Kopf. „Selbst bei einem Arschloch wie dem da.“
„Der hats verdient, glaub mir. Hat seine Frau monatelang gewürgt und ihr schlussendlich das Genick gebrochen – der ist völlig krank, der Typ…wenn du dem nur einen Bolzen in den Schädel jagst, tust du dem noch einen Gefallen.“
„Schon gut“, murmelte Pablo. „Bringen wir’s hinter uns.“
Flea schloss die Augen, als er den Griff der Männer spürte.
Er wollte im Frühling sterben.