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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Selbst nachdem er es komplett durchgelesen hatte, dauerte es noch eine ganze Weile, bis er sich von diesem seltsamen Gedicht abwenden konnte. Sämtliche ihm noch zur Verfügung stehenden geistigen Kräfte waren dazu erforderlich, nur mit einem Akt psychischer Gewalt konnte er sich von den mutierten Worten losreißen, die diese wirren Verse bildeten. Verse, die wie befürchtet einen gewalttätigen Angriff auf sein Herz darstellten.
    Was war das für eine „sie“, der diese Unsinnszeilen gewidmet waren? Und war es wirklich nur Unsinn? Warum passte dann alles zusammen, wie eine Hälfte des Puzzles zur anderen Hälfte, wenn er die kaum verständlichen Worte mit seinen Gefühlen zu Ihr verglich? Was war dieses Glühen in seinem Herzen bei Schöpfungen wie Feurowiedlich, Tanzomal, Faswundierend und Umsumschwarmend? Sein Verstand konnte all diese Begriffe nicht erfassen, doch schien dies gar nicht nötig zu sein. Die Worte zielten direkt in sein Innerstes, und wie sein Herz auf diese Eindrücke reagierte, schien es sich selbst aus der Deckung gehoben zu haben. Er würde es schützen, mit all dem, was ihm noch geblieben war. Doch konnte er einer offenen Attacke des Professors noch standhalten? Oder würde der Wahnsinn erbarmungslos auf ihn einpreschen und ihn ohne jegliche Gnade zu Fall, zu seinem allerletzten Fall in die endlose Tiefe bringen?
    „Wir sind da“, durchschnitt ein kehliges Aufseufzen seine Gedanken, „Bist du fertig?“
    Mit gierigem Blick streckte der Professor seine Hand aus. Sein Besucher musste sich dazu zwingen, nicht reflexartig zurückzuschrecken. Vorsichtig gab er ihm den Zettel mit dem Gedicht zurück, welcher daraufhin rasch wieder in der Innenwelt des schmutzigen Kittels verschwand. In diesem kurzem Moment bemerkte der Gast einen Geruch, den er auch beim ersten Öffnen des Kittelstoffs wahrzunehmen geglaubt hatte.
    Es war kein Geruch, der ein wirklicher Gestank war. Auch wenn der Kittel aussah, als sei er noch nie gewaschen worden, verströmte er kein beißendes, atemberaubendes Aroma. Bis auf eine leichte Schweißnote, die wohl mehr vom Professor selbst als von seiner Kleidung ausging, spielten sich die Empfindungen, die sein Gast beim Aufnehmen dieses eigenartigen Odeurs erfuhr, auf einer übersinnlichen Ebene ab. Er spürte zwar, wie er die unsichtbaren Duftwolken unwillkürlich durch die Nase einsog, doch entfaltete sich die Wirkung erst viel später und woanders, während Mund und Nase keine Regung zeigten.
    Es war mehr als nur der Wahnsinn, das ahnte er. Viel zu banal wäre es gewesen, diese geistige Umarmung als bloßen wabernden Wahnsinn abzutun. Da war mehr. Versteckt unter dem Mantel des Chaos und des Irrsinns vegetierte ein zähes, träge wirbelndes Gemisch aus Hoffnung, Sehnsucht und Begehren. Unter der Haut des pulsierenden Wahnsinns lauerten Dinge, die ihn noch viel mehr erschreckten. Dinge, die er kannte. Die er mit dem Professor gemeinsam zu haben schien. Vielleicht deshalb konnte er seinem weißgrau gekleidetem Gastgeber nur diese eine Frage stellen, die sich wie fremdgesteuert ihren Weg aus seinem Mund bahnte.
    „Was heißt das, wir sind da? Sind wir jetzt doch schon bei Ihr?“
    Der Professor quittierte die Frage zunächst mit einem Gesichtsausdruck, der einem Grinsen nahekam, aber von einem tiefen Schmerz dunkel überschattet wurde. Gleichzeitig schien die Miene ihm einen Hinweis zu geben, einen kleinen, aber piksenden Wink, der vor weiteren Nachfragen dieser Art abraten sollte.
    Dennoch nahm der Grinsende in seiner Erwiderung das Thema kurz auf. Wenn Widersprüche leben konnten, so stand dort vor der Zellentür ein fleischgewordenes Exemplar von äußerster Vitalität.
    „Welche Sie meinst du? Oder gibt es nur eine? Was, wenn es dann aber mehr als einen gibt? Geht das auf, geht das gut, oder muss es angepasst werden? Denk einmal darüber nach. Hättest du etwas zu schreiben, dann könnte ich dir jetzt etwas diktieren. Ich würde es aber nicht tun. Weder an meiner eigenen, noch an deiner Stelle. Es ist gut, wir sind da. Alles Gesagte hat immer noch genauso viel Geltung wie vorher. Wäre ich zu weit gegangen, wäre ich jetzt nicht da. Wärst du zu weit gegangen, wärst du jetzt auch nicht da. Wären wir wohl zwischenzeitlich am da vorbeigekommen? Und ob wir am Ende noch da sind, und was dieses da ist, wen kümmert es denn jetzt schon? Die Zeit macht eine Pause, und wir könnten das auch tun. Nur darf man sich nicht zu viel erlauben, sonst läuft die Zeit irgendwann weiter, doch man selbst bleibt für immer stehen. Vielleicht wäre man gerne vorher schon stehen geblieben. Aber vielleicht konnte man noch nicht. Deshalb muss man manchmal auch springen!“
    „Ich verstehe nicht…“, bekundete der Besucher hilflos, obwohl sich der Verdacht, dass er einige der Andeutungen sehr wohl verstehen konnte, als ungebetener Gast in ihm eingenistet hatte. Der Gast im Gast, und was, wenn da noch ein Gast im Gast im Gast steckte und es ewig so weiter ging? Er kniff die Augen zusammen und spannte seinen Körper an, um seine Gedanken und Fantasien nicht wieder ausbrechen zu lassen.
    „Es gibt Wichtigeres als das Verstehen.“
    Mit diesen Worten öffnete der Professor unbeeindruckt die dicke, eiserne Tür. Sein Gast wollte sich weigern, den Raum zu betreten, doch wie von selbst, immer der Nase nach, sog es ihn dem Kittelmann hinterher.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Zelle sieben


    Als der Professor die schwere Tür von innen zustemmte, tönte sie voll drohender Endgültigkeit. Bis jetzt war der Besucher noch aus jeder Zelle wieder herausgekommen. Dennoch surrte eine irrationale Angst um ihn herum wie eine Fliege um ein verfaultes Stück Aas, darauf lauernd, endlich ihre Eier ablegen zu können, aus denen irgendwann die Panik schlüpfen würde.
    Die Angst war fast greifbar, so verdichtet, dass sie den ganzen Raum auszufüllen schien.
    Und dann verstand er, dass es tatsächlich so war, und dass die Angst nicht aus ihm selbst heraus kam, sondern aus dem Bewohner dieser Zelle. Er war es, der diese Angst erschuf, sie in einer immer größer anschwellenden Masse produzierte, dass sie fast den grellen Raum zu sprengen schien.
    „Bitte… bitte… füll das Wasser nach. Ich darf nicht einschlafen! Ich will nicht, bitte! Bitte lass mich nicht einschlafen!“
    Der Gast erschrak, als er sah, in welchem Zustand sich der Zelleninsasse befand. Sein gesamter Körper war in eine Apparatur aus Metall eingezwängt, sodass er sich kaum bewegen, geschweige denn aus ihr ausbrechen konnte. Auf sein Gesicht, das durch die Vorrichtung um seinen Hals und Kopf leicht nach oben gedreht war, fielen in unregelmäßigen Abständen dicke Wassertropfen, die arhythmisch platschende Geräusche verursachten.
    Quelle dieser Tropfenkette war ein übergroßer, weißer Kanister, der wenige Meter über dem geneigten Kopf des Gefangenen angebracht war, mit einer leicht geöffneten Tülle, die dann und wann einen dicken Tropfen in die Freiheit entließ.
    Entschlossen durchmaß der Professor in wenigen Schritten den Raum und ergriff mit beiden Händen eine der großen, bauchigen Flaschen in der Ecke der Zelle. Sie schien schwer zu sein, denn er keuchte, während er sie die lange Leiter neben der Metallkonstruktion hochschleppte, um zum Kanister und dessen oberer Einfüllöffnung heranzukommen.
    Wie er seinen Gastgeber dabei beobachtete, verschwendete er keinen noch so dünnen Gedanken daran, ihm beim Nachfüllen – denn das hatte er offensichtlich vor – zu helfen. Er empfand in diesem Moment abermals einen Riesenabscheu vor diesem kranken Mann, der so hart und kalt mit seinen Patienten umging, sie erniedrigte und nur mit Blicken würdigte, wenn es darum ging, sie wie ein Forschungsobjekt zu untersuchen. Vermutlich war er innerlich schon so verdorrt, dass er nicht einmal die Angst spürte, die in beunruhigenden Wellen aus dem dürren Körper des Eingesperrten brach.
    Und doch waren da diese innerlich verborgenen Gemeinsamkeiten, die sich auf eine einzige Person zuspitzten…
    „Nicht zu viel, nicht zu viel! Es wird sonst zu regelmäßig…“
    Der Professor setzte die Flasche, aus der er behutsam das leicht bräunliche Wasser in den Kanister geschüttet hatte, wieder ab und kletterte recht behände die Leiter herunter. Wenige Momente später verriet ein gläserner Klang, dass er das Gefäß wieder in die Ecke zu den anderen gestellt hatte.
    Dies aber hörte sein Besucher bloß, denn seine visuelle Aufmerksamkeit war nun ebenso stark auf den Insassen fixiert wie dieser in seinem Metallgestell.
    Das Gesicht des hageren Mannes bestand vor allem aus zwei aufgequollenen, stark geröteten Augen und einem dünnen, blassen Lippenpaar. Der Rest war in sich zusammengefallen, fahle Haut spannte sich über die hervortretenden Knochen. Als er sprach, entblößte er seine fauligen Zähne. Die schwarzen Stumpen sahen aus wie ein verkleinertes Abbild der Mauern dieser Anstalt, und in ihrem Bröckeln und Abfaulen bildete sich die verzweifelte Vision nach Freiheit ab.
    „Ein… neues Gesicht!“, krächzte die Stimme, und er war froh, aus seinen abdriftenden Gedankengängen gerissen zu werden. Er durfte sich hier nicht verlieren. Er durfte sein Herz nicht verlieren. Er durfte Sie nicht verlieren.
    „Ja, Englund“, kommentierte der Professor in seiner kalten, nüchternen Art, die er vor allem in den Zellen vor den Patienten an den Tag legte, „Du könntest ihm ein bisschen von dir erzählen. Das hält wach.“
    „Ja, ja, es hält wach! Ich will nicht einschlafen… nie mehr, nie, nie mehr! Sie finden mich sonst, sie suchen mich heim, sie…“
    In diesem Moment ging Englunds Stimme in einem explosionsartigen, ohrenbetäubenden Kreischen unter.
    Der Lärm schien von überall aus dem Raum zu kommen. Erst nach ein paar Sekunden, als das mechanische Krachen schon langsam wieder am Abklingen war, entdeckte der Besucher die Maschine an der linken Zellenwand. Für ihre Lautstärke – und genau das war offenbar ihre einzige Bestimmung: laut sein – war sie verhältnismäßig klein. Mit ihren dunklen Rohren, Zahnrädern und Kolben sah sie aus wie ein exotisches, überdimensioniertes Insekt, welches dort an der Wand klebte.
    Als das Spektakel vorbei war, klingelten dem Besucher die Ohren, ebenso breitete sich ein flaues Schwindelgefühl in ihm aus, das ihn ganz benommen machte.
    „Was war das?“, hörte er sich selbst sagen.
    „Der Gott aus der Maschine…“, seufzte Englund erleichtert.
    „In zufälligen Abständen geht die Lärmmaschine los, um Englund vorm Einschlafen zu bewahren“, referierte der Professor, „Zur Sicherheit, falls die Tropfen mal ihre Wirkung verfehlen. Bis jetzt hat es blendend funktioniert. Er hält sich wacker.“
    Der Gast versuchte den Mann im Kittel zu ignorieren. Dessen herabschauende, gönnerhafte Anerkennung weckte wieder die Wut in ihm. So ein Gefühl konnte verletzlich machen. Deshalb konzentrierte er sich auf Englund, trotz des Wissens, wieder einmal Ablenkung im Leid anderer zu suchen.
    „Wie lange bist du schon wach?“
    Beim letzten Wort fing der eingezwängte Patient an zu strahlen, sah dabei aber trotzdem nicht viel lebendiger aus als im Normalzustand. Falls er überhaupt noch so etwas wie einen Normalzustand haben konnte.
    „Sehr, sehr lange. So lange, dass ich mein Zeitgefühl verloren habe. Ich schlafe nicht mehr… endlich quälen sie mich nicht mehr, endlich lassen sie mich in Ruhe, sie kommen nicht mehr an mich ran… sie dürfen nie wieder an mich herankommen! Bitte, nie, nie wieder!“
    „Wen meinst du?“, fragte der Besucher, der sich schon vorstellen konnte, was gemeint war, „Träume?“
    „Albträume!“, jaulte Englund, und klang dabei so verzweifelt und verängstigt, dass der Besucher sein Herz mit einem Rammbock bearbeitet wähnte. Wenn er doch nur wieder auf seinen Verstand, zumindest auf dessen zersplitterte, verwirbelte Reste zurückgreifen konnte…
    „Sie haben mich fast mein ganzes Leben lang gequält. Sie haben mich gefoltert, mir die schlimmsten Schrecken aller Welt vorgeführt, mich geschlagen, gepeinigt und gedemütigt, sie haben mich beinahe zerstört! Doch sie werden mich nie wieder kriegen, nie mehr werden die langen Klauen der Schatten mich ergreifen können, nie wieder muss ich in diese brennende Hölle voller Schmerz zurückkehren, in den Traumstacheln liegen und mir vom heißen Feuer der Furcht die Seele verbrennen lassen! Ich werde wach bleiben, und ich werde nie, nie wieder einschlafen! Ich darf es nicht! Niemals mehr… denn sie lauern… sie lauern… und wenn sie mich kriegen, dann… dann werden sie mich nie mehr loslassen, ich will nicht, ich…“
    In diesem Augenblick fiel ihm ein besonders dicker, brauner Wassertropfen direkt in den geöffneten Mund. Englund brach ab und ergab sich in einen langanhaltenden, tödlich klingenden Hustenanfall. Seine Augen quollen hervor, und dann und wann schnappte er mit seinem schiefen Mund nach Luft. Erschrocken wandte der Besucher sich von ihm ab.
    „Ich denke, das reicht“, stellte der Professor klar.
    Diese Worte waren es, die ein unmittelbares Anschwellen der Angst im Raum zur Folge hatten. Englund fing an zu zittern – wobei seine Bewegungen vom Gestell, in dem er fixiert war, gnadenlos erstickt wurden – und zu den Wassertropfen auf seinem Gesicht gesellten sich nun auch Schweißtropfen, die verzweifelt sein Kinn herunterrutschten, um sich dann auf den abgemagerten Körper fallen zu lassen.
    Dann wandte sich der Professor wieder an seinen Besucher. An die Stelle des Wahnsinns in seinen Augen war nun wieder diese ignorante Sachlichkeit ohne jegliches Mitgefühl getreten.
    „Du magst denken, es sei grausam. Vielleicht ist es das, doch es ist das kleinere Übel. Wir bewahren ihn vor der wahren Grausamkeit, die ihn sonst heimsuchen würde. Dort fixiert, mit ständiger Beschallung und Betropfung, wird er nie mehr einschlafen. Er führt ein Leben ohne Schlaf. Ein glückliches Leben, das ihm bisher verwehrt blieb.“
    Wie abgesprochen ließ Englund daraufhin zwischen zwei Hustern ein seeliges Seufzen ertönen. Es überzeugte den Gast nicht. Es hätte vermutlich nicht einmal seinen eigenen Urheber überzeugt, wäre dieser bei Sinnen gewesen. Statt von Albträumen verfolgt zu werden, lebte er nun in einer ewig währenden, ebenfalls albtraumhaften Welt. War es nur Mitleid, was der Besucher fühlte? Oder hatte er auch ein kleines Quentchen Verachtung für diese Existenz übrig, welches ihn wieder in die Nähe des Irrenarztes rückte? Hatte er seine Deckung schon wieder unbewusst aufgegeben? Wie würde es seinem Herzen, seiner Seele hiernach gehen? Wenn an ihr Schritt für Schritt, Stück für Stück gemeißelt wurde, bis sie irgendwann einfach in sich zerfiel und nichts mehr zurückließ?
    „Wir sollten jetzt gehen.“
    Englund reagierte mit einem urplötzlichen Verstummen seines Hustenanfalls.
    „Gehen? Aber… warum? Es ist so erheiternd, so ermunternd, mit jemandem zu reden! Es hält mich wach, es bewahrt mich vor dem tiefen Fall in die…“
    Abermals wurde Englunds Stimme vom mechanischen Kreischen der Lärmmaschine geschlagen. Mit einem ekelhaft zufriedenen Grinsen schritt der Professor, vom unbändigen Krach nicht im Geringsten angegriffen, zur Zellentür. Sein Gast, die Hände auf beide Ohren gepresst, folgte ihm willig, fast schon ergeben. Er musste hier raus, da ihn nicht nur der Lärm, sondern auch die Angst zu ersticken drohte.
    Wenige Augenblicke später standen sie wieder im kalten, nun beinahe angenehm ruhigen Gang, und die schwere Eisentür war wieder verschlossen.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Noch lange, nachdem sie Englunds Zelle verlassen hatten, hallte das eiserne Kreischen der Höllenmaschine in seinem Kopf nach und verwirbelte so die wirren Eindrücke, die ihm aus der Begegnung mit dem Schlaflosen verblieben waren. Statt Worte waren es fast nur noch Bilder, deren sich sein Hirn bediente, um die komplexe, verästelte Welt um ihn herum irgendwie fassbar zu machen. Er konnte nicht sagen, dass ihm das gefiel, denn so waren es Gefühle, die über sein Innenleben bestimmten. Gefühle, die mit denen der gefangenen Patienten in den Zellen vermischt wurden. Jede neue kranke Kreatur, die ihm vom Gastgeber präsentiert wurde, lieferte ein weiteres kleines Steinchen im Mosaik des Grauens, welches sich quälend langsam zusammensetzte. Nur war es kein Mosaik, das, wenn es endlich fertiggestellt war, in vollendeter Gestalt bestehen bleiben würde. Nein, es würde mit Einsetzen des letzten Teils augenblicklich in noch viel kleinere, zahlreichere Teile zerspringen. Lange, spitze Splitter, welche sich in seinen Kopf und seine Eingeweide bohren würden und die es endgültig unmöglich machen würden, jemals wieder zurückzukehren, jemals wieder in geistiger und körperlicher Freiheit leben zu können.
    Der Gast versuchte, das Kreischen in seinen Ohren endlich ausklingen zu lassen, konzentrierte sich zu diesem Zwecke auf den wie immer flatternden Kittel seines unaufhaltsamen Führers, doch immer und immer wieder brandeten die Schrei der kalten Mechanik in seinem Geiste auf. Sie waren deutlich hörbar, dabei aber gerade leise genug, um nicht den Rest der Kellergeräusche zu übertönen.
    Denn jeder Schritt auf dem dunklen Hallenboden weckte nun ein Flüstern, welches aus den Ritzen und Fugen des Gesteins zu kriechen schien. Vorher hatte es sich still im feuchten Moos zur Ruhe gebettet, doch nun war es erwacht und umkreiste den Besucher wie Motten das Licht.
    Es waren verführerische Verlockungen, die ihn umschmeichelten, gleichsam mit durchdringenden Drohungen verknüpft. Ein Wunsch stehe ihm frei, so flüsterte es dem Gast aus dem kalten Mauerwerk entgegen, und er müsse wählen, sonst würde er es sein, der neben dem Moos in die Steinspalten gepresst würde.
    Er wollte Widerworte geben, sich wenigstens dem Professor bemerkbar machen, selbst an ihn hätte er sich nun geklammert, wenn er nur gekonnt hätte. Stattdessen blieb er stumm und alleine mit dem Flüstern, welches nun schon die Steuerung seiner Beine übernommen hatte, damit er ja nicht den Anschluss zum Mann in Weiß verlor.
    Der Zwang zu einer Entscheidung schlug sich körperlich in ihm nieder, er spürte richtig, wie seine Hirnmasse vom Flüstern angepeitscht wurde, um ihn zu einem klaren Wunsch zu drängen. Dabei war Klarheit gerade etwas, was ihm schon seit der gefühlten Ewigkeit, die er hier unten verbrachte, vollkommen fehlte. Dennoch bemühte er sich, seinen einen Wunsch zu finden, doch wie er sich dabei auf seine Gefühle verlassen musste, spalteten die eingebrannten Bilder der Zellen seinen Wunsch entzwei.
    War es vorher noch das Verlangen nach Ihr gewesen, welches seinen Wunsch geprägte hatte, war es nun die Suche nach den fehlenden Teilen des Mosaiks. Auch wenn er fühlte, dass die Vollendung des Splitterbildes seinen Geist ein für alle Mal abtöten würde, so konnte er sich dem Willen, es wenigstens für einen Augenblick zu vervollständigen, nicht entziehen. So war es zwar ein gespaltener Wunsch, der ihn beherrschte, doch war er nicht endgültig zerteilt, sondern baute auf einem gemeinsamen Kern auf. Es war wie ein dunkler Seuchenstrunk, von dem aus sich die beiden Wege rankten, die er gehen mochte. Wie die beiden Teilwünsche in ihm heranwuchsen, bemerkte er, dass sie sich irgendwann zu kreuzen schienen, und dann wusste er, was er wirklich wollte: Das Ende. Er wollte, dass diese Folter endlich aufhörte. Entweder, indem er Sie fand und Sie mit hier rausnahm, oder indem er weiter von Patient zu Patient zog, ihre Schrecken aufsog und somit das Mosaik zusammensetzte. Mit dem Bewusstwerden dieser Gleichgültigkeit gegenüber den Wegen, kam ihm eine weitere Erkenntnis: Er war schon längst gebrochen. Die Entscheidung, die er nun getroffen hatte, war dem Grunde nach eine bloße Nichtentscheidung, ein Abdelegieren der tatsächlichen Entscheidung an eine höhere Macht. Doch dem Flüstern schien es zu genügen, diebisch zischend kreiste es um ihn herum und nahm den Wunsch auf.
    Wenn es lediglich das Ende war, was er sich wünschte, so war der Weg dahin dem Zufall überlassen. Er würde sich nun einfach treiben lassen, mal in die eine Richtung gezogen, zu Ihr, mal in die andere Richtung gezerrt, zu Ihnen. Die Strömung bestimmte nun, wo er ankam. Oder derjenige, der diese Strömung heimlich lenkte…
    „Du sagst so wenig“, sagte der Kittelträger vor ihm, stampfte zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß auf und blieb schließlich vor einer weiteren Tür, diesmal weniger dick, stehen.
    „Das passt dann ja gut zu unserem H.“
    Er zückte seinen großen Schlüsselbund, deren einzelne Glieder sich beim Drehen im Schloss aneinander rieben. Das metallische Klirren, das dabei entstand, war gleich einem leisen, gehässigen Lachen.
    Geändert von John Irenicus (04.03.2012 um 19:00 Uhr)

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    Zelle acht


    Die Perversität seiner Gefühlswelt erreichte eine neue, grausame Stufe, als sich der Gast inmitten der Bücherregale, einem braunen Sessel und einem wuchtigen Schreibtisch einer drückenden Behaglichkeit ausgesetzt sah. An der Wand zu seiner Linken war mit farbiger Kreide ein kleiner, brennender Kamin aufgemalt. Direkt geradeaus markierte der riesengroße Schreibtisch das Zentrum der Zelle, in dem ein akkurat gekleideter, älterer Herr auf einem geradlinig gezimmerten Stuhl saß und ihm freundlich schweigend entgegenblickte. Alles wirkte so ruhig, geordnet und diszipliniert, dass der Gast wie nach langer Tauchfahrt verzweifelt nach dem bisschen Klarheit japste, das ihm diese Umgebung vorführte. Je länger er es versuchte, desto mehr wurde ihm jedoch bewusst, dass die Klarheit eine vergiftete war, nicht mehr und nicht weniger als ein perfides Lockmittel zur Öffnung seines Geistes, um den letzten Rest Wahnsinn hineinzupressen und schließlich sein Hirn zu sprengen. Reflexartig verschloss er sich wieder. Sein Gastgeber sog daraufhin tief Luft ein.
    „Darf ich vorstellen?“, begann er mit einem Tonfall, dessen Kälte mit dem kahlen Kreidekamin einherging, „Himmelbert von Pfanneheiß. Genannt fortan nur noch H.“
    Das Zentrum zog seinen Besucher ein wenig näher zu sich heran, als der Mann namens Himmelbert ihm begrüßend zunickte.
    „Nicht so schweigsam“, schwebte die Stimme des Professors vorbei am rechten Ohr des Gastes auf den Zellen- und Zentrumsbewohner hinzu, welcher so unmittelbar wie eine kurzstrippige Marionette gehorchte.
    „H! H!“, ertönte es in zwei unartikulierten Lauten und lieferte dem Gast die Erklärung, die ihn lieber nie erreicht hätte: Himmelbert schwieg, weil er schlichtweg kaum anders konnte. Dort, wo eine Zunge sein sollte, offenbarte sein offener Mund ein verkümmertes Nichts. Unwillkürlich ließ der Gast seine eigene Zunge durch seinen Mundraum gleiten, als machte sie sich selbstständig um sich ihrer eigenen Existenz bewusst zu werden. Geradezu triumphal sprang sie einige Male auf und ab, bis sie sich wieder beruhigte und der Gast Kontrolle über sie erlangte. Mit einem Schlucken blickte er zu seinem Gastgeber, der zu allem Überdruss erst die Zähne bleckte und dann mit der Zunge schnalzte, bevor er sich zu seinem Besucher wandte.
    „Er hat zu viel geredet“, beantwortete er dessen Frage, noch bevor sie sich in der köpfernen Nebelwelt überhaupt geformt hatte.
    „Doch wie du siehst“, sagte er und wies auf die dunklen Regale links und rechts an den Wänden, „Wie du siehst hat ihn selbst das nicht endgültig zum Verstummen gebracht. Wenn man ihm endlich die Hände abschneidet, wird er wohl noch mit den Füßen weiterschreiben. Und immer so weiter.“
    Himmelbert schwieg weiter und blickte so freundlich drein, dass sein Besucher geneigt war zu glauben, er fühle sich wohl. Selbst wenn, war etwas falsch daran? Es erschauderte ihn, sich die Lage Himmelberts als schweigenden aber zufriedenen eingekerkerten Kranken als etwas Erstrebenswertes auszumalen. Die Vergleiche mit den anderen Insassen durchfluteten seinen Kopf und wären geradezu aus seinem Mund herausgespritzt, hätte seine Zunge nicht den rettenden Stutzen im Mundloch gegeben. Ein Gefühl von Überlegenheit breitete sich in ihm aus, als er sich versehentlich auf die Zunge biss.
    Sein Blick wanderte von Himmelbert weg hin zum linken der Bücherregale. Manche der Buchrücken waren schlichtweg Attrappen, alle echten Bücher waren jedoch mit Himmelbert von Pfanneheiß als Autor ausgewiesen.


    Gizpiel Wege zum Kadavergehorsam.
    Frau Taubenschwanz schneidet den Lachs.
    Sabbernde Hunde der Ruinen.
    Auszug 3: Über die ökonomische Analyse der neoliberalen Staatspolitik des 11. Jahrhunderts.
    Abhandlung über die kirchlichen Traditionen und Riten des Volks der Urkhmer.
    Mama hat gesagt…
    Die (N)e(u)rotik öffentlicher Toiletten.
    Tote Spinnen auf dem Fensterbrett.
    Die Familie Nierensteine.
    Die beste Möglichkeit zu zitieren ist das Zitat – wie uns eine mittelmäßige Philosophenelite zugrunde richtet.
    Eden schnupfen.
    Das Surren der Kälber.
    Dialoge mit Kratzinger.
    Der Augenschinder sprengt den Raum.
    Finstere Schwarmdichte in Träumen.
    Irre Wanzen.



    Hätte der Besucher nicht zu viel Angst gehabt, auch nur einen einzigen Gegenstand in dieser Zelle mit den Händen zu berühren, er hätte sich am Regalbrett festgehalten. Schwindel ergriff ihn beim Lesen der Titel und wollte ihn zu Boden werfen. Lange rang er mit sich und seinen Füßen, die er in einen festen Stand zwingen wollte. Doch waren es nicht sie, die sich bewegten, vielmehr schien der Boden unter ihm wegzukippen, nur um dann in seine Ausgangsposition zurückzukehren, immer und immer wieder, unzählige Male sah der Gast sich auf den harten Steinboden zurasen, nur um zu bemerken, dass er immer noch – oder schon wieder? - auf der selben Stelle stand.
    Mit einem Mal spürte er eine Hand an seinem Arm und wollte zurückschrecken, lediglich seine innere Kraftlosigkeit verhinderte dies. Das Gefühl geführt zu werden wurde erträglicher, als ihm bewusst wurde, dass es nicht etwa der Professor, sondern Himmelbert war, der ihn jetzt in den braunen Sessel schob. Vom Kreidekamin her knisterte ein erfundenes Feuer zu ihm rüber, und nach zwei-, dreimaligem Blinzeln lag ihm ein Stoß Papier im Schoß, Blätter, deren Worte in seine Augen sprangen und sich von dort aus ihren Weg in seinen ungeschützten Geist bahnten.
    Geändert von John Irenicus (29.03.2013 um 20:25 Uhr)

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    Khorinis. Die altgediente Hafenstadt ist im Herbst ihres langen Lebens. Welke, eintönige Bewohner schlurfen durch die Gassen, nur wenige junge Sprosse treiben hie und da aus. Es ist ein heißer Herbst, die Frauen tragen Hauben und den Greisen verbrennt die Glatze. Die Wasserpumpen an den Brunnen quietschen um Gnade, und jede noch so kleine Windböe wird von den Hafenstädtern so ehrfurchtsvoll empfangen wie die Tränen Innos’.

    Es war ein gutes Frühjahr gewesen. Der tobende Krieg auf dem Festland war versiegt. Hin zum Sommer hatten auch die Orksöldner verstanden, dass sich der Kampf nicht mehr lohnte, und strömen seitdem in alle Himmelsrichtungen, um neue Arbeit zu finden. Wenn es keinen Krieg mehr gab, der sie ernähren konnte, so mussten sie eben irgendwo anders einen neuen anfangen.

    Doch auch Händler und deren Karawanen sind es, welche die pendelnden Schiffe zwischen Festland und Inseln mit ihrer Person und ihren Waren beschweren. Selbst an der Festung Irdorath machen sie Halt, einem Ort, der bis vor wenigen Monden noch Anlaufstelle für windige Schnapsbrenner und die skrupellosesten Maquereaus der ganzen Wüste Varants war. Seit die Inselfestung von Frauen bewohnt wird, kommen stattdessen Bauern, Bäcker, Fischer, Gärtner, Schneider und Goldschmiede, um die schon zweite Neuentstehung Irdoraths innerhalb der letzten Jahre gebührend auszukosten. Schwarzbrenner und Fuselkrämer sind nur noch dann eingeladen, wenn die verbliebenen Sklavenhalter aus der Wüste, die nun ihrerseits ein Leben in Knechtschaft leben, in den Zellen der Festung ruhiggestellt werden müssen.

    Die Lumpenhändler, Souteneurs, geheimen Destillateure und Waffenhehler konzentrierten sich nach dem Niedergang des Armeestützpunktes Irdorath schnell wieder auf ihre alte Liebe, die Hafenstadt. Es tut Khorinis gut: Mit der Gefahr im Nacken ist jeder Bewohner der Insel wieder froh, einen Tag ohne Betrügereien, Erpressungen und Attentate zu durchleben. Und wenn es soweit ist, dann kauft er, der Bürger Khorinis’, ganz im Rausch die Stände der Markthändler leer, wie um dem Pack, was sich hier einnisten will, die Lebensgrundlage zu entziehen. Nicht selten kommt es dabei zu offenen Wortgefechten zwischen Einheimischen und Zugereisten. Die Orksöldner stehen währenddessen am Rande des Marktplatzes unter den Bäumen und Mauervorsprüngen im kühlenden Schatten und warten darauf, dass sich die Fronten endgültig formen und sie Partei ergreifen können.

    Genau auf jenem Marktplatz, der zu heutigem Sonnenwetter Zentrum des Geschehens in der Hafenstadt ist, treffen sich zwei in etwa gleich alte Herren, von denen der eine einheimisch, der andere zugereist ist.




    EINHEIMISCHER: Ho! Bleibt stehen, guter Mann, ich glaube, Ihr habt dort etwas aus Euren Taschen verloren!

    ZUGEREISTER: Ach sagt bloß, ist denn diese Naht schon wieder…
    (er blickt nach unten) Ja, tatsächlich, Ihr habt Recht! Vielen Dank, mein Herr! Lasset sie mich eben wieder aufheben, meine kostbaren Denare aus den südlichen Landen. Nicht wenige Tagediebe statt Eurer hätten klammheimlich die Straße hinter mir gekehrt und die Münzen mirnichtsdirnichts aufgeklaubt! Ihr müsst ein wahrer Ehrenmann sein, Herr, stadtbekannt und wohlgeliebt!

    EINHEIMISCHER: Wertvolle Münzen aus den heißen Wüstenländern? Herr, Ihr beliebt zu scherzen! Hätte ich das vorher gewusst, Ihr würdet mich jetzt nicht so preisen, hätte ich doch vermutlich anders gehandelt! Aber nein, wartet, jetzt habe ich gescherzt. Mit Verlaub, doch mit Eurer einfachen Kleidung seht ihr nicht gerade aus wie jemand, dem das Gold in den Taschen klingelt!

    ZUGEREISTER: Nun, hättet Ihr eine tagelange Schiffsreise hinter Euch, ich sage Euch, selbst Euer feines Hemd wäre nicht viel mehr als der graue Lumpen, den ich hier trage!

    EINHEIMISCHER: Nein, Ihr stammt gar nicht von hier? Ihr seid ein Zugereister! Das hätte ich bei einer so feinen und wohlklingenden Sprache, wie Ihr sie sprecht, gar nicht vermutet!

    ZUGEREISTER: Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment nehmen soll.

    EINHEIMISCHER: Tut dies, tut dies! Aber sagt, Ihr kommt mir trotzdem irgendwie bekannt vor… Ihr kommt vom Festland, sagt Ihr?

    ZUGEREISTER: Gesagt habe ich es nicht, aber Euer scharfer Verstand kam wohl nicht umhin, dies aus meiner Schiffsreise zu schließen! Und Ihr habt Recht, sage ich Euch! Auch kann ich Euch verraten, Ihr wirkt mir ebenfalls seltsam vertraut.

    EINHEIMISCHER: Welch glücklicher Zufall, habe ich nun etwa einen alten Bekannten vor mir?

    ZUGEREISTER: Wie geschickt Ihr die ebenso meinige Frage von meiner Zunge stibitztet! So lasst uns doch zusammen nach der Antwort suchen…

    EINHEIMISCHER: Wenn ich nur wüsste, wie! Ein Fischen im Trüben ist es, was wir vorhaben, kann ich Euch doch nicht in eine der vielen Abteilungen meiner Rumpelkammer, die sich Gedächtnis schimpft, stecken. Sagt, habt Ihr immer schon auf dem Festland gewohnt?

    ZUGEREISTER: Passt nur auf, ich beiße schon an den Köder an, den Ihr ausgeworfen habt! Gefühlt habe ich zwar immer schon auf dem Festland gewohnt, doch ist dies nicht das erste Mal, dass ich die schöne Insel Khorinis betrat. Habe ich doch hier sogar noch den Kinderhort besucht… als es hier noch Kinder gab, meine ich.

    EINHEIMISCHER: Ihr seid also kein Zugereister, sondern ein Heimgekehrter! Das erklärt auch Euren Intellekt, will ich meinen.

    ZUGEREISTER: Bei allem Respekt, werter Herr!

    EINHEIMISCHER: Seht es als Kompliment, guter Mann.

    ZUGEREISTER: Einmal noch werde ich so verfahren, doch es wird mir immer schwerer. Lasst uns von diesem Thema wieder abkommen. Fragt mich lieber weiter, Ihr scheint Eure Rute zielgenau ausgeworfen und den trüben See ein wenig aufgewirbelt haben!

    EINHEIMISCHER: Nun denn… auch ich habe natürlich den örtlichen Kinderhort besucht! Ihr wart also auch bei ihr, der guten Sagitta?

    ZUGEREISTER: Selbstredend… offenbar eint uns diese Erfahrung? Ich frage mich, was die gute Sagitta heute macht.

    EINHEIMISCHER: Da muss ich Euch Schlimmes berichten, bitte erschreckt nicht wenn Ihr das hört, aber die gute Sagitta ist leider bösartigen Dämonen anheim gefallen! Aus der guten Sagitta ist die Kräuterhexe geworden, die teuflische Salben und Tinkturen mixt und hexenhafte Tränke braut! Vorbei die Zeit der sorgenden Herbergsmutter…

    ZUGEREISTER: Nicht möglich! Es muss sich hier um eine Verwechslung handeln, guter Herr! Die liebe Sagitta eine Kräuterhexe? Niemals nie, der Herr! Wir müssen aneinander vorbeireden!

    EINHEIMISCHER: Und wie sehr ich mir das wünschte, guter Mann! Aber es ist nun meine schwere Pflicht Euch zu versichern: Es ist so, wie ich es sage. Selbst die treuschaffendsten Personen sind vor dämonischen Mächten nicht gefeit. Die gute Sagitta hält leider als das beste Beispiel dafür hin. Von ihr scheint nichts mehr übrig. Es ist ein Jammer, ein Graus sogar!

    ZUGEREISTER: Verzeiht wenn ich stocke, doch mein Herz wird mir gerade ganz schwer. Dass mich gleich kurz nach meiner Ankunft die schlimmste aller Nachrichten treffen muss… Sagitta…

    EINHEIMISCHER: Ich kann Euren Schwermut verstehen, so entschuldigt euch nicht für eine so verständliche Reaktion! Mir selbst liegt die Wandlung noch so schwer im Magen, trotz der langgestrichenen Zeit, die sämtliche Wunden längst geheilt haben sollte. Doch lasst mir Eurem Herzen wieder einen gesundenden Schub geben! Denn ich glaube, ich habe euch nun endgültig wiedererkannt, wie Ihr die Augen niederschlugt und gen Boden blicktet – Ich kenne euren Namen und weiß, wer Ihr seid! Und ich sehe an Eurem Blick, dass ihr meinen Namen auch schon längst parat habt und unsere Bekanntschaft ebenfalls neu erkanntet! Lassen wir unsere Katzen aus dem Sack!

    ZUGEREISTER: Oh habt Dank, jetzt wird es mir wieder leichter ums Herz und meine Brust atmet frei, wenn ich Euch Euren Namen sage: Ihr seid der gute Bertram, mit dem ich meine frühe Kindheit verbrachte, noch zu jung zum Stöckeschnitzen, aber doch alt genug um mit Förmchen zu spielen und den Khoriner Dreck in wackelige Burgen zu verwandeln! Welch Freude, hier wieder auf Euch zu treffen, als stattlichen Mann!

    EINHEIMISCHER: Nun seid Ihr es, der mir mein Stocken verzeihen muss und auch das, was ich Euch nun mitteile: Ihr liegt falsch! Weder bin ich der gute Bertram, noch war ich in meiner Kindheit ein begeisterter Burgenbauer. Euer Gedächtnis scheint Euch einen Streich zu spielen, den ich aber nur zu gut verstehe. Lasst mich Euch auf die Sprünge helfen, indem ich unsere Bekanntschaft beleuchte: Ihr seid der flinke Fajot, der sein Essen im Hort immer schon als erstes aufgeschlungen hatte, ohne jedoch nur einen Hauch davon zuzulegen! Und wenn ich Euch nun sage, dass mein Name Rathmut ist, so werden eure Augen in wenigen Momenten vom Staunen der Erkenntnis glänzen!

    ZUGEREISTER: Oh je! Mich beklemmt die Angst, Sagitta könnte unser Wehklagen gehört und daraufhin unsere Leben verhext haben! Es tut mir Leid, es eingestehen zu müssen, doch von einem Rathmut habe ich nie gehört. Doch viel schlimmer: Mein Name ist nicht Fajot! Vielmehr nannten mich meine Eltern vor langer Zeit Jarek, nach einem Handelsreisenden, der meinen Vater auf Reisen vor einem schlimmen Raubtod bewahrte!

    EINHEIMISCHER: Sprecht bloß nicht von Hexerei, mir wird ganz bang! Wie kann es sein, dass wir uns zwar erkennen, aber doch nicht kennen? Sollten unsere Gedächtnisse uns beiden je einen Streich gespielt haben?

    ZUGEREISTER: Wüsste ich eine Antwort, guter Herr, ich bliebe sie Euch bestimmt nicht länger schuldig als nötig! Doch meine Gedanken versinken gerade in Ratlosigkeit…

    EINHEIMISCHER: So auch meine. Doch dürfen wir nicht verzagen, wage ich zu behaupten! Schließlich geht es um eine Bekanntschaft, die es zu retten gilt! Ich sage Euch etwas: Im Stehen denkt es sich so schlecht, mit leerem Magen umso schlechter. Ihr gefallt mir: Lasst mich Euch zu mir nach Hause einladen. Ich bin allein, doch kein so miserabler Koch wie man meinen könnte.

    ZUGEREISTER: Ja, kann ich so ein Angebot denn annehmen? In solch zerlumpter Kleidung in ein ehrenwertes Haus treten und mich zu Tische setzen?

    EINHEIMISCHER: Versteht es nicht als Angebot, sondern als Bitte! Ich lasse keine Zugereisten in mein Haus, doch seid ihr offenbar heimischer, als man glauben mag! Wenn Ihr meine bescheidene Hütte erst seht, werdet Ihr Eure noblen Bedenken sofort beiseite schieben, da bin ich mir sicher! Vielmehr bin ich es, der hier im Zugzwang steht. Kommt nur mit, es ist nicht weit, und dann ergründen wir bei einem Mittagsmahl unsere gemeinsame Vergangenheit…

    ZUGEREISTER: Da kann ich nicht Nein sagen und will es auch gar nicht, guter Mann. Doch behalte ich mir vor, Euch jede noch so kleine Gastfreundlichkeit in Münzen zu vergelten, wenn mir danach ist…


    (Der Einheimische und der Zugereiste verlassen den Marktplatz und verschwinden in einer der vielen Gassen.)
    Geändert von John Irenicus (16.03.2013 um 14:51 Uhr)

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    Vor seinen Augen drehte sich alles, als er die einzelnen Blätter wieder übereinanderlegte um seine Lektüre für beendet zu erklären. Auch nach mehrmaligem Blinzeln, bei dem seine Augen schmerzten, brannten und stachen, normalisierte sich seine Sicht nicht. Stattdessen blickte er nun durch einen trüben Schleier, der die Farben verzerrte und Doppelbilder erscheinen ließ. Zwei Hände – von denen nur eine echt war – entrissen ihm langsam aber bestimmt den Papierstapel, dessen schlammigbraune Schrift im Laufe des Lesens Ende zu diffusem Matsch verquollen war.
    Der Gast beobachtete noch hilflos, wie ein doppelter Himmelbert die Blätter akkurat an der linken oberen Ecke seines Schreibtisches ablegte, dann richtete der Besucher seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf sich selbst und den Sessel, in dem er saß.
    Das kalte, grobe Leder hatte sich mit der Zeit immer mehr aufgewärmt und war nun eine cremige Masse, die mit seiner Kleidung und Haut zu verschmelzen drohte. Wie in einem klebrigen Treibsand sah er sich immer weiter hinabsinken, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Auch wagte er es gar nicht, sich aus seiner Lähmung zu befreien, schien ihn doch jede noch so kleine Bewegung nur weiter in den Lederschlund hinab zu treiben. Gleichzeitig zwang ihn eine erdrückende Müdigkeit die schmerzenden Augen zu schließen, was seinen inneren Schwindel wieder aufleben ließ. Seine Lider wurden so schwer, dass er sie nicht einmal mit äußerster Anstrengung wieder aufstemmen konnte. Stattdessen wurden sie mitsamt seinen darunterliegenden Augäpfeln wie von Bleigewichten geradezu in ihre Höhlen gedrückt. Auch seine Kiefer wurden zusammengepresst, kein noch so stummer Laut konnte seinem Mund noch entweichen. So fühlte er sich immer mehr in ein dämpfendes Wachkoma gedrängt, dessen nächster Schritt, so fühlte er wissend, der ewige Schlaf sein würde. Der Verlust seines Bewusstseins in diesem Sessel würde sein Ende markieren, er spürte es unausweichlich kommen.
    Endlos war sein stiller, bewegungsloser Kampf gegen das Versinken in den Sessel und in sich selbst. Und quälend, so quälend, dass er sich nur wünschte, es würde endlich aufhören. Wie in sich selbst eingeschlossen fühlte er sich, die Kontrolle über seinen Körper schien er vollends verloren zu haben. Innerlich tastete er nach seinen Sinnen, er fand sie nicht, er stieß an unsichtbare Geistesmauern und verirrte sich im Nebel.
    Luft, das war das Einzige, was ihm blieb. Der Atem strömte durch ihn hindurch, kühlte seinen Körper, lieferte ihm eisige Frische. Er roch das Leder des Sessels, suchte nach anderen Gerüchen um diesen zu überdecken, fand das Moos an den Wänden und die Bücher im Regal. Die Bücher ersetzte er durch den feurigen Geruch des aufgemalten Kamins, dann hatte er seine Mischung gefunden. Wenn ihm nur noch das Atmen blieb, dann würde er es eben zu seiner Lebens- und Ablebensaufgabe machen.
    Mit jedem Zug wurde sein Atem tiefer, mit jedem Einsaugen der Luft reaktivierte er dünne Spuren seiner verstreuten Sinne. Sein schlimmer Verdacht, die Rettung durch Atmen mit einem hohen Preis bezahlen zu müssen, verdichtete sich, als er bemerkte, wie es ganz leicht um seinen Kopf wurde. Es war, als fände eine Umverlagerung von Lebenskraft in seinem Körper statt. Das, was eigentlich in Kopf, Verstand, Geist und Seele gehörte, musste nun in seine Glieder fahren, um ihn vor dem Sesseltod zu bewahren. Wohlwissend, dass er diesen Preis entweder zahlen würde oder sonst verenden müsste, eratmete er sich seinen Körper Zug um Zug teuer zurück…

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Mit einem letzten ruckartigen, tiefen Einatmen riss der Gast seine Augen auf. Sein starrer Blick fiel auf das Bücherregal vor ihm. Mit hart klopfendem Herzen musterte er Buch für Buch, sog erneut Luft ein und prüfte seine Sinne. Dann atmete er langsam aus, bis seine Lunge ganz leer war.
    Der Sessel unter ihm war wieder zu festem Leder erstarrt, nichts erinnerte mehr an den klebrigen Treibsand, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte. Lediglich die Schwere seiner Augen war nicht ganz von ihm gegangen, was blieb war ein Fremdkörpergefühl und ein diffuses Sichtbild, welches ihm kleine, feine, kaum wahrnehmbare Fliegen- und Mückenschwärme in den Blick zauberte. Er lauschte nach einem entsprechenden Summen, hörte jedoch keins. Er war sich unsicher, ob er froh darüber war oder es doch bloß nüchtern aufnahm. Es gab keine Akzeptanz mehr, vielmehr war alles nur noch Resignation. Ihm war einerlei, was geschah und was passierte, solange er durchhielt, bis er endlich zu Ihr fand. Nicht essen, nicht schlafen, nicht fühlen, nicht sterben – bis er ihr begegnete. Dann war es geschafft, dann war alles egal. In seinem Kampf vor dem Sesseltod hatte er ein Stück seiner selbst opfern müssen. War er vorher die ganze Zeit drauf bedacht gewesen, sich selbst und seine Sinne beisammen zuhalten, geradezu panisch um den eigenen Verlust, so war der Schrecken, jetzt wo ihm bereits ein Teil seiner Selbst genommen worden war, nur minder groß. Der erste Schritt war schwer – alle folgenden würden nur noch bloße Konsequenz sein, die es zu ertragen galt. Die Angst, welcher Teil ihm soeben abhanden gekommen war und die Furcht, welcher Teil als nächstes dran sein würde, ging in den Wogen seiner vernebelten Gefühlswelt geradezu unter. Er wusste, dass diese Angst da war – doch sie bestimmte sein Handeln nicht. Sie unterschied sich kaum noch von seinem Allgemeinzustand, der einem beständigen Fallen glich. Und solange er fiel, hatte er den Boden noch nicht erreicht.
    „Warum so träge, wenn du doch ein Ziel im Sinne hast?“, geisterte des Professors Stimme von links herüber. Sein Gast hatte sich bei diesen Worten auf einen spöttischen, höhnischen Tonfall bereit gemacht. Stattdessen aber war es ein Klang reinster, ehrlichster Verwunderung, der sich seinen Weg bahnte und nun auch im Gast selbst Verwunderung auslöste, die sich in seinem Bauch wie ein Ballon ausdehnte und alle anderen Empfindungen beiseite zu quetschten drohte.
    Der Besucher erhob sich festen Standes aus dem toten Sessel und warf noch kurz einen Blick nach rechts, wo er Himmelbert von Pfanneheiß geschäftig am Schreibtisch sitzen sah, wie er wohl sein Schriftenwerk um den nächsten Band zu erweitern anstrebte. Schweigend und fleißig arbeitete er seinem Ziel entgegen, ohne zu fragen, ohne zu zögern. Kein Klagen darüber, Insasse dieser Anstalt zu sein, kein Wunsch nach Freiheit, kein Wunsch nach Heilung. Er hatte sich offenbar schon vor langer Zeit seinem Schicksal ergeben und sich ihm gefügt, jeglichen Widerstand aufgegeben und sich dem Strom angeschlossen, der beinahe alle Patienten ins Ungewisse trieb und so zu einer unerkannt verschworenen Gemeinschaft verband, mochten sie in ihren Zellen noch so isoliert sein. Das Gefühl der Anerkennung, welches nun in der Brust des Gastes zubiss, schreckte diesen endgültig auf.
    „Ich will sie jetzt endlich sehen“, erklärte er an den Professor gewandt, sich auf eine unangenehme Gegenattacke vorbereitend, jedoch gleichzeitig in der Hoffnung, er könne in diesem neutralen Moment, in dem sich der Mann im weißen Kittel gerade befand, zu dessen Verstand hindurchbrechen.
    „Zielstrebigkeit färbt ab“, befand der Professor unumwunden, „Doch bist du auch bereit, den Preis dafür zu zahlen?“
    Die Resignation, die Abgeklärtheit und der eiserne Wille, den sich der Besucher vor wenigen Augenblicken noch selbst attestiert hatte, brachen in sich zusammen wie ein morscher Knochenhaufen. Es war so einfach, sich Vorsätze zu fassen, wenn man glaubte, sie erst in ferner Zukunft umsetzen zu müssen. Wurde man dann jedoch mit einem Male wie von Gotteshand direkt vor der entscheidenden Pforte abgesetzt, verflüchtigten sie sich auf der Stelle und wichen zögerlicher Angst. Ein dicker Kloß in seinem Hals hinderte ihn an einer Antwort, von der er ohnehin nicht wusste, wie sie lauten würde. Der Professor schlug die Augen nieder.
    „Drei noch. Dreimal noch musst du zahlen, dann bekommst du, was du glaubst zu wollen.“
    Mit diesen Worten schritt sein Führer auf den Ausgang der Zelle zu. Der Gast folgte ihm wie an einer unsichtbaren Kette, die Beine waren längst in Bewegung, noch bevor sein Kopf die Entscheidung gefällt hatte. Es gab kein Zurück mehr. Und wenn es kein Zurück mehr gab, dann gab es auch keine Entscheidungen mehr. Und so lenkte ihn der einzig mögliche Weg dem Professor hinterher zurück auf den vertrauten Flur. Weiter, weiter.

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    Der Flur war nun heller. Obwohl sich weder zahlreichere verrostet-vergitterte Lichtspalte an den Wänden befanden und das Moos nicht kräftiger schimmerte als sonst, erschien der Flur einige wenige Meter nach Verlassen von Himmelberts Zelle heller. Während des Gehens – immer zwei bis drei Schritte auf Abstand zum Professor – sah er sich verstohlen um, auf der Suche nach einem Grund für die schwache Erleuchtung, die sich zwischen den dunklen Steinwänden breitmachte. Nur mit äußerster Vorsicht ließ er seinen Blick nach der Quelle tasten, war er sich doch bewusst, in diesem Keller möglicherweise Dinge zu finden, nach deren Entdeckung er sich vollkommene Dunkelheit wünschen würde. Glaubte er zunächst noch an einen temporären Streich seiner in Mitleidenschaft gezogenen Augen, verfestigte sich mit jedem weiteren Schritt der Eindruck, dass sich der Flur nicht mehr in seinen Normalzustand verdunkeln würde. Normalzustand. Etwas, was in dieser Anstalt nur abseits der Norm existierte.
    Immer wieder konzentrierte sich der Besucher, mehr unwillentlich als innerlich getrieben, auf die Schleier vor seinen Augen und die mikroskopisch kleinen Mückenschwärme, die ihm die klare Sicht raubten. Jetzt, in dieser rätselhaften Helligkeit, kamen sie noch deutlicher zur Geltung. Der Gast sah sie kreisende Bewegungen machen, ziellos, er sah sie in Wolken auf- und wieder abtauchen, und immer wenn er dachte, er würde mit dem nächsten Schritt in einen besonders dichten Schwarm hineintreten, tauchte eben dieser Schwarm wieder einige Meter in der Ferne auf. Trotzdem hatte er das Gefühl, eine Mücke nach der anderen würde auf den blassen Schleiern in seine Atemwege reiten und ihm Hals, Nase und Lunge schwellen lassen. Der Kloß in seinem Hals nahm dann und wann bedrohliche Ausmaße an. Vom ständigen Schlucken wurde ihm schlecht. Doch war es keine typische, körperliche Übelkeit, die er vom Magen her verspürte. Vielmehr schien auch sie eine Art reale Illusion zu sein, in Wahrheit gar nicht existent, in ihren Auswirkungen aber unabhängig davon spürbar echt.
    Ein Schlurfen des Professors vor ihm ließ ihn kurz hochschrecken und den soeben gesenkten Kopf wieder anheben. Sein Gastgeber war offenbar lediglich ein wenig nachlässig in seinem zügigen Gang gewesen und hatte so den unebenen Steinboden mit seinen Schuhen gestreift. Schuhe, die von seinem langen Kittel fast vollständig verdeckt waren. Entweder ein Wunder oder jahrelange Übung waren daran schuld, dass er nicht ständig über seine eigene Kleidung stolperte.
    Auf dem weißen Stoff bildeten sich die schleierhaften Mückenschwärme besonders deutlich ab. Mal schwebten sie direkt hinter dem Professor her, mal setzten sie sich lauernd auf seinen Kittel, dann waren sie wieder überall. Es war das erste Mal, dass sich der Besucher noch weitere dunkle, trübe und undefinierbare Flecken auf die Kleidung seines Gastgebers wünschte. Denn nun war der Kittel eine einzige Leinwand, Platz der Zurschaustellung des Preises, denn der Gast hatte zahlen müssen, um aus der letzten Zelle zu entkommen, um seinen Weg weiter fortsetzen zu können.
    Abrupt kamen sie beide vor der nächsten Zellentür zum Stehen. Der Professor schwieg und war ganz der massiven, eisernen Tür zugewandt, als er sie mit rasselndem Schlüsselbund aufschloss. Dennoch meinte sein Gast, von der Seite ein Grinsen im Gesicht seines Führers erkennen zu können. Es war nicht bloß das Grinsen eines Peinigers. Vielmehr erinnerte es an das zufriedene Lächeln eines Kaufmanns, der gerade ein Handelsgeschäft mit außerordentlichem Gewinn abgeschlossen hatte. Wohlwissend, das sich ganz zwangsläufig spiegelbildlich dazu auf der Gegenseite ein großer Verlust einstellen musste.
    Der Gast konnte die aufkommenden Fantasien kaum ertragen, die bildreich den nächsten möglichen Preis illustrierten, welchen er mit Betreten dieser Zelle vielleicht zahlen musste.

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    Zelle neun


    Nur einen flüchtigen Gedanken lang stemmte er sich von außen gegen die Zellentür, schloss den Professor so mit dessen Patienten in der engen Kammer ein und verkündete mit fester Stimme, er werde nicht davon ablassen, bis man ihn endlich und ohne weitere Umwege zu Ihr führte.
    Dann kehrte er in die dämmrige Zelle zurück und somit dorthin, was so manch unbelasteter Außenstehender als Realität bezeichnet hätte. Der Gast hingegen wusste, dass er sich wenn überhaupt nur in einer von vielen möglichen Realitäten – oder Irrealitäten – befand. Eine weitere hatte er soeben in seinen Gedanken abgehakt, die nächste befand sich womöglich im Kopfe des Insassen, der wie von Beliar getrieben eine kratzende Feder über das Papier flitzen ließ, was vor ihm auf der schiefen Kommode lag. Als ginge es um sein Leben. Selbst wenn, so dachte der Gast, war es wirklich noch ein rettenswertes Leben? Vielleicht war es das in einer anderen Realität, in jener, die der Schreibende gerade erlebte.
    Hier im endlosen Keller war das dunkle Zentrum all jener Realitäten, die von dem Rest der Bevölkerung verbannt worden waren. Jeder Insasse brachte mindestens eine dieser Welten mit sich. Und wer wusste schon, wie viele hier noch versteckt waren. Alle existierten sie nebeneinander, doch Moos und Mauern konnten sie nicht voneinander abgrenzen, wen doch die Köpfe selbst schon so durchlässig waren, dass der Wahn unbeschwert nach neuen Wirten greifen konnte. Wer sich einmal in dieses explosive Realitätengemisch begab, wurde schneller Teil von ihm, als ihm lieb war. Was der Gast schon längst erkannt, wenn nicht dann aber doch wenigstens gefühlt hatte, war, dass eine Entmischung, ein Abtrennen, ein Destillieren derjenigen Realität mit der man eingetreten war, nie mehr möglich sein würde. Das war er, einer der weiteren Preise, die man für einen Besuch hier zahlen musste: Die Aufgabe seiner ureigenen Gedankenwelt durch den Anschluss an das polype Wahnkollektiv, welches in dieser Anstalt tief unter der Erde seinen Sitz hatte. Ein Sitz, der einem Thron glich, einem Thron voller Dornen, denn nur so ließ sich verbildlichen, was die Fänge dieses Wahns mit einem anzurichten vermochten: Sie stachen einen von außen auf, bohrten sich bis ins Innerste hinein und durchsetzten den neu gewonnen Wirtskörper mit fremden, wirren Ideen, Gefühlen, Ängsten. Sie schlangen sich durch Gedankenbahnen, warfen diese durcheinander, verknüpften sie miteinander ohne Sinn und Verstand. Sie nährten sich davon. Sie forderten den Preis ein. Erbarmungslos.
    „Wenn er aufhört zu schreiben, ist er tot“, machte sich der Professor, der Heger des Wahnpolypen, bemerkbar, die Hände in den Kitteltaschen versteckt und eine lauernde Entspannung ausstrahlend. Lauernd deshalb, weil er mit seiner Haltung symbolisierte, dass er nur deswegen entspannt sein konnte, weil es sein Gegenüber gerade nicht war. Wenn es in diesem Hause so etwas wie Kontrolle gab, dann musste er sie besitzen. Entweder über alles, oder über gar nichts.
    Sofern seine schummerigen Erinnerungen den Gast nicht täuschten, war diese Zelle die bisher kleinste von allen. Nicht einmal ein Schlafplatz befand sich in ihr, konnte sich ein ausgewachsener Mensch doch ohnehin nicht auf dem Boden lang machen, ohne alsbald mit dem Kopf oder den Füßen an eine der einengenden Steinwände zu stoßen. Neben der Kommode und einem wackeligen Schemel fand nur noch ein ovales Glas auf einem schmalen Regalbrett an der Wand Platz, welches mit einem magischen Feuer gefüllt war, das gleichsam schwach leuchtete und wärmte.
    Mit einer Handbewegung lenkte der Professor den Blick des Gastes auf den riesigen Blätterstapel neben der Kommode.
    „Er will sich umbringen“, erklärte er, auf den ersten Blick recht zusammenhanglos.
    „Aber er schreibt den längsten Abschiedsbrief der Welt“, redete der Professor ohne große Umschweife, von Faszination getrieben, weiter.
    „Und solange er den nicht fertig hat, kann und wird er nicht sterben.“
    Das fortwährende, arhythmische Federgekritzel untermalte die Worte des Professors in einer schaurig-quälenden Art und Weise, dass es den Gast am ganzen Körper kribbeln ließ, wie wenn sich die stofflosen Mückenschwärme, die er an allen hellen Stellen erblickte, nun auf seiner Haut niedergelassen hätten. Oder als sei er in einer neuen Realität plötzlich zur Gans geworden.
    „Papier ist geduldig“, setzte der Professor einen bedeutungsschwangeren Schlusspunkt unter seine Minimalrede und seufzte anschließend leise, aber gefühllos in sich hinein.
    Die gebeugte, schlaksige Gestalt hatte währenddessen ein weiteres Blatt Papier vollgeschrieben und wischte es unachtsam über rechte Kante der Kommode, von wo aus es langsam auf den Stapel seiner Bestimmung segelte. Noch bevor es dessen Spitze erreicht hatte, hatte sich der Schreiber von links bereits das nächste Blatt gegriffen, um es ebenso hektisch mit kleiner Schrift zu bekritzeln. Er war unauffällig gekleidet, in einem dunklen, dicken Stoff, mit hellbraunen Haaren, die gerade noch so kurz waren dass sie ihm nicht beim Schreiben über die Augen fielen. Sein Schreibwahn schottete ihn offenbar von der Außenwelt ab, möglich war es sogar, dass er den Professor und seinen Gast gar nicht bemerkt hatte. Jedenfalls aber war es ihm egal.
    „Seit sechs Jahren schreibt Andrin schon. Ununterbrochen. Ohne Pause, ohne Schlaf. Ohne etwas zu essen.“
    Die Worte des Professors traten in seines Gastes Wahrnehmung in den Hintergrund und vereinigten sich mit den kratzenden Federgeräuschen, als die Zahl „Sechs“ seine Lippen passierten.
    Dann öffnete sich wie aus dem Nichts eine Abzweigung zu einer anderen Realität. Der Gast konnte sich nicht wehren, mit winzig kleinen Schritten durchmaß er den Raum, schwebte vielmehr als er ging. Mit Abschluss des sechsten Schrittes drehte sich alles, die gesamte Zelle stand mit einem Mal Kopf. Der Gast sah sich mit seinen Füßen an der neuen Decke, die ehemals der Boden war, klebend. Von dort aus hing er herab, konnte sich so frei bewegen wie die Zelle Freiheit gewährte, doch nahm er alles umgekehrt war. Er hinterfragte nicht. Jedes Ereignis, jede Idee und jede Realität waren der objektiven Kritik zugänglich, aber nicht bei jeder führte diese weiter. Das Abwegige entzog sich zupackender Kritik.
    Jetzt stand er direkt neben dem weiterhin rasend schreibenden Andrin, dem die Blätter erstaunlicherweise nicht der Schwerkraft gemäß vom Tisch glitten, sondern fügsam an ihrem Platz blieben, um weiter mit Tinte beritzt zu werden. Als der Gast einen kurzen, überflüssigen Blick über die Schulter warf – er wusste ohnehin, was er dort sehen würde – sah er eine schwarze Silhouette, die ihn selbst darstellte, jedoch von den Füßen her an der Stelle, die ehemals die Decke der Zelle gewesen war. Genau umgedreht zu ihm.
    Rasch wandte sich der Gast wieder ab, er fürchtete, die Spannung zwischen seinem jetzigen Bewusstsein und der zurückgelassenen Realität könnte ihn endgültig und in Stücke zerreißen.
    Ihm war schwummerig, als er unbemerkt von allen – einschließlich ihm selbst – nach dem Stapel der beschriebenen Blätter griff und das sechste von oben herauszog.
    Geändert von John Irenicus (02.12.2012 um 20:19 Uhr)

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    Und genau deshalb wundert es mich so sehr, dass ich hier gelandet bin und nicht etwa in Zelle zwei. Mein ganzes Leben lang war ich Zweiter, enden aber soll es nicht als Zweiter. Oder vielleicht doch? Das Schicksal hielt zu jeder Gelegenheit einen zweiten Platz für mich bereit, und zielsicher nahm ich diesen stets ein. Oft habe ich mir gewünscht, doch lieber gar keinen Platz zu bekommen, statt immer nur den zweiten.

    Zweiter im Ringen, Zweiter im Fechten, Zweiter beim Schmieden und Zweiter beim Rennen. Zweiter bei den Frauen. Zählt man die erste Fehlgeburt meiner Mutter nicht mit, bin ich sogar der zweitgeborene Sohn und das zweitgeborene Kind insgesamt! Die Weichen meines Daseins schienen von Anfang an gestellt zu sein. Und trotzdem habe ich immer versucht, den ersten Platz zu erreichen, ich war geradezu unermüdlich. Doch so sehr ich mich bemühte, es war immer nur Platz Zwei. Selbst Platz Drei schien für mich unerreichbar. Sah ich beispielsweise in den Nordmarer Schmiedewettbewerben gleich zwei stämmige Burschen vor mir, so zersprang dem vorerst Zweiten kurz vor Schluss wie durch ein Wunder das noch glühende Schwert, sodass er ausschied und ich wiederum derjenige war, der den zweithöchsten Platz auf dem Siegerplateau einnahm, ja, einnehmen musste.

    Letzten Endes war ich immer die finale Trittstufe hinauf zum ersten Platz. So kam ich, wie man weiß, auch zu meinem Spitznamen. Step. Er war und ist nicht abwertend gemeint, wenn er auch recht funktioneller Natur und weniger für liebevolle Kosereien geeignet ist. Zeitweise trug ich ihn sogar mit richtiggehendem Stolz an mir und vor mir her, von der Überzeugung beflügelt, ich sei immerhin der erste und einzige, der diesen Spitznamen sein Eigen nennen durfte. Bis ich bei meiner ersten Reise in die Wüste Varants an der erstbesten Oase in den erstbesten Proviantladen hineinlief, auf dem in hölzernen Lettern „Steps Wüstenwaren – Der Erste weit und breit“ prangte. Der scheintote, von der Wüstensonne braun gebrutzelte Inhaber versicherte mir sogar ganz ohne Nachfrage, dass er dieses Geschäft schon seit mehr als vier Dekaden führte und nicht daran dachte, aufzuhören. Ich weiß noch zu gut, wie ich daraufhin meinen noch frischen Spitznamenstolz gegen zwei kleine Wasserfässer eintauschte, um meine Reise fortsetzen zu können…

    Spätestens ab diesem Ereignis war mir für den Rest meines Lebens klar, dass ich der ewige Zweite sein würde. Dennoch ergab ich mich nie in diesem mir wohlbekannten Schicksal, sondern strebte wieder und wieder den ersten Platz an, ganz gleich, worum es ging. Ich begann, die Absurdität meines Daseins zu akzeptieren und mit ihr zu leben, gleichsam aber nicht aufzugeben, mich im Stillen wieder und wieder dagegen aufzulehnen. Mit der Zeit lernte ich, den Frust des zweiten Platzes zu ignorieren und ihn als etwas ganz Natürliches, vielleicht sogar Innosgegebenes anzusehen. Lediglich bei Ihr, da tat es weh. Wir erinnern uns: Zweiter bei den Frauen.

    Denn auch bei der Frau meiner Träume landete ich zunächst auf dem zweiten Platz, was mir das Herz brach und mich lange forttrieb. Bis ich, als ihr Erster längst verflossen war, tatsächlich auch der Zweite an der Reihe war und ihre zarte Hand für mich gewinnen konnte. Nach mir kam niemand mehr, jahrelang nicht. Und so konnte ich mich mit ihr, an ihrer Seite, fühlen wie ein Erster. In ihren Armen war ich nicht mehr Zweiter. Nichts ließ mich mein seltsames Lebensschicksal so sehr vergessen wie ein Kuss von ihren lieblichen Lippen oder das Streicheln ihrer roten Mähne auf meinem Gesicht, wenn wir uns an uns drückten.

    Warum ich dann aus dem Leben scheiden will, wo ich selbiges doch endlich in den Griff bekommen hatte, mag man sich nun fragen. Nun: Zwar blieb ich ihr erster und einziger Zweiter, doch unser Glück hielt dennoch nicht ewig – ganz ohne unsere Schuld. Ich denke, für meine Freunde ist diese Geschichte kein Geheimnis, wie wir voneinander getrennt wurden. Wo sie jetzt ist. Wo ich jetzt bin.

    Für alle anderen Leser möchte ich sie aber noch einmal erzählen…
    Geändert von John Irenicus (08.02.2013 um 01:26 Uhr)

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    Ein straffer Sog riss ihn zurück, er fand sich neben dem Professor wieder. Der Mann im Kittel schwieg in böswilliger Bedächtigkeit. Auch Andrin schwieg – und schrieb. Die sechste Seite, die der Gast glaubte gelesen zu haben, war irgendwo in einem riesigen Papierstapel neben Andrin verschwunden. Wie er dieses hochgestapelte Monstrum eines Abschiedsbriefs dort sah, wusste er, dass er gerade nicht das gelesen hatte, was Andrin der Nachwelt mitzuteilen gedachte. Er war nicht zu ihm geschritten um sich seines Abschieds zu vergewissern. Vielmehr hatte er einerseits die ganze Zeit wie versteinert neben dem Professor gestanden, andererseits in einer anderen Realität etwas gelesen, was keinesfalls von Andrin stammen konnte. Denn es stammte von ihm selbst.
    Einen Moment lang wagte sich Klarheit in seinen Verstand und durchbrach das dichte Nebelnetz, eine gedankliche Sekunde lang konnte der Gast sich innerlich wie äußerlich frei bewegen. Dann jedoch trug der jüngst gezahlte Preis seine Rechnung. Der anstaltliche Wahnpolyp verschluckte jegliche neu gewonnene Klarheit mit einem Mal in seine unendlichen Eingeweide und hinterließ eine lähmende Verwirrung. Schlimmer noch: Neben dem Anflug von neuer Freiheit zog er auch noch etwas ganz anderes mit sich vom Gast hinfort, was dieser nun als eine beständige Leere in seinem Inneren wahrnahm. Es fühlte sich an, als sei sein Magen zu einem schwarzen Loch geworden, welches unablässig mit seiner dunklen Kraft am Herzen seines Besitzers zerrte. Nicht nur, dass das blutdurchströmte Organ dadurch in seinem pochenden Rhythmus gestört wurde, sämtliche Bauchgegend des Besuchers schien außerdem durchwalkt und durchzittert zu werden. Vor seinem inneren Auge taten sich Risse in seinem Leib auf, die durch nichts mehr zu heilen sein würden. Die Folge daraus war eine erstickende Übelkeit – ob aus bloßer Vorstellung oder tatsächlicher Wirklichkeit, das wusste der Gast wie schon in vielen Zusammenhängen und Zusammenhanglosigkeiten nicht mehr zu sagen.
    Zu schaffen machte ihm dabei vor allem die garstige Unterschwelligkeit dieser Übelkeit, die fern von jeglichen fassbaren Bauchkrämpfen in ihm schwelte, ohne jemals zum Ausbruch zu gelangen.
    Das, so wusste er, als er sich von seinem inneren Kampf mit sich selbst ab- und dem Professor zuwandte, das war der zweite Preis, der soeben eingefordert worden war. Wer das Falsche las und die falschen Fragen stellte, der musste bitter dafür zahlen.
    Der Kittelträger ließ seinen Gast ein wissendes, jedoch keineswegs vertrauliches Grinsen spüren. Seine spitzen Zähne drohten sich in die Augen seines Betrachters zu bohren. Der Gast wusste, dass er diesen Machtkampf gegen seinen Führer überhaupt nicht erst anzutreten brauchte. Er blickte lieber rasch zu Boden, um sich unnötige Quälerei zu sparen und die Demütigung direkt auf sich zu nehmen. Wer sowieso keine Wahl hatte, dem half das Zögern nichts.
    „Ich merke doch, wie es dich zu ihm hinzieht“, raunte der Professor mit gedämpfter Stimme. Die Worte schienen im Leib seines Gastes widerzuhallen und dessen immer poröser werdendes Gewebe noch mehr auf die Probe zu stellen. Die inneren Schwingungen machten ihn unruhig.
    „Kann ich verstehen, dass dich Abschiedsworte interessieren“, fügte der Mann in Weiß in ärztlich-protokollarischem Ton hinzu, „Aber gerade deshalb sollten wir uns jetzt der Versuchung entziehen, Andrin zu stören. Sonst wird er noch aus Versehen mit seinem Brief fertig, wenn wir alles durcheinander bringen und er den Überblick verliert.“
    Abermals hätten Zögerlichkeiten nichts gebracht, und so trottete der Gast widerstandslos und seine Übelkeit schwerlich im Zaume haltend hinter dem Professor her aus der Zelle hinaus.
    Als ihn der altbekannte Flur empfing und er der quietschenden Zellentür beim Zuschwingen zusah, stach sich eine einzelne Frage sengend in seinen Sinn: Wann nur, wann war dies alles endlich vorbei?

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    Ein nie enden wollender Gang zum Schafott. Nachgeformt dem Symbol der Unendlichkeit wand er sich um sich selbst und schlängelte endlos seine Bahnen, und dem Gast blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen und immer wieder und wieder die gleichen, ja die selben Meter zu gehen. Dieses war die eine Wirklichkeit, die sich ihm mit jedem Schritt aufdrängte. Die andere, wohl realere Realität war die des langen Ganges, der seinerseits aber ebenso endlos schien. Der Besucher wollte einen Blick zurück werfen, um abschätzen zu können, wie lang dieser Gang tatsächlich sein mochte, doch seine Augen erblickten einige Meter hinter ihm nur Schwärze. Die vergangenen Zellen und Mauern wurden von einer Dunkelheit verschluckt, wie sie auch in weiterer Ferne die Sicht auf Kommendes nahm. Oben aus den dünnen Schlitzen drang nun weniger Licht ins Innere der unterirdischen Feste. War die Lage des Kellers daran Schuld oder wurde es auch draußen schlichtweg schon dunkel? Das Zeitgefühl hatte den Gast schon längst verlassen, er konnte nicht abschätzen, wie lange er sich schon vom Professor durch den Gang geschleift fühlte. Doch ganz sicher war er nicht erst seit gerade eben hier. Was passierte, wenn es Nacht wurde? Fackeln hatte er noch keine gesehen. Seine Kehle schnürte sich zu und sein Magen begann wieder zu pochen und zu rumoren, als er sich vorstellte, im Stockdunklen durch den Gang zu irren, auf der Suche nach dem Ausgang oder wenigstens etwas Licht. Genauso, wie er jetzt schon innerlich wie äußerlich nach einem Ausweg darbte.
    Vor seinen Augen begann es zu flimmern, als sich der schlängelnde Gang mit dem geraden Gang überlagerte und es ihm unmöglich machte, seine Position inmitten von Wänden, Decken und Böden zu bestimmen. Mal schien es, als liefe er geradewegs gegen eine Wand, dann aber trat er durch sie hindurch wie durch einen Hauch von Luft, dann fühlte er das Verlangen, sich nach links zu wenden, da der Professor scheinbar abbog, doch stattdessen ging er geradeaus weiter und verlor dennoch nicht den Anschluss. Schwindel und Übelkeit waren die Folge dieses grausamen Karussells, in das er hineingeworfen worden war. Sein Bemühen, sich nur auf den weißen, flatternden Kittel seines Führers zu konzentrieren, wurde von dem sich abwechselnd verengenden und weitenden Gang sowie den trügerisch sanften Wellenbewegungen des unsteten Steinbodens sabotiert. Nur zu oft wurde sein Blick vom weißgrauen Bezugspunkt einige Schritte vor ihm abgelenkt, und war es auch nur, um ihn einige flackernde Mückenschwärme zu zeigen, die um das von oben in den Gang einfallende Restlicht kreisten.
    Dem Boden unter seinen Füßen traute er nicht mehr, jegliches Gefühl des festen und sicheren Halts war ihm abhanden gekommen. Mal schwamm ihm der dunkle Stein unter den Sohlen weg, mal beulte er nach oben hin aus und drückte sich drängend und unangenehm in seine Fußballen, als wollte er ihn von sich abschütteln. Genau dieser Zwiespalt zwischen Sog und Schub war es, der ihn andauernd in dieser Anstalt begleitete. Einerseits zog ihn der Gang nur noch tiefer ins Herz der Finsternis hinein, andererseits schienen sich Teile des düsteren Mauerwerks gegen seine Anwesenheit unbarmherzig zu wehren. So auch das Verhalten des Professors, welches ihm in lichten Momenten geradezu einladend vorkam, bei anderen Gelegenheiten jedoch Hass, Verachtung und Ablehnung ausstrahlte. Zuletzt fand sich dieser Widerspruch nun eben im vor des Besuchers Augen herumwabernden Gang wieder, der in seiner Gestalt ein Zwitter aus unzähligen Biegungen und dem sturen Geradeaus war.
    „Nun, nun“, setzte der Professor, der vor ihm an einer weiteren Zellentür stehengeblieben war, dem Spuk ein Ende. Für einen Augenblick lang war die Wahrnehmung wieder klar, der Gang war gerade und dunkel wie eh und je und entbehrte sämtlicher unendlicher Verschlingungen.
    „Schön, dass du auch hergefunden hast“, sagte der Mann im Kittel so betont gleichgültig, dass erst dadurch beißender Spott seinen Weg bahnen konnte.
    „Hier wohnt er“, sagte der Professor, während er den Schlüssel klappernd im Schloss drehte, „Der behinderte Zauberer Luthíen.“

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    Zelle zehn


    Zischen. Weinen. Lachen.
    Drei Laute, die der dort auf dem Hocker kauernde Mann in loser Folge und wechselnder Länge wieder und wieder von sich gab. Die braunen, kräftigen Hände hatte er dabei verkrampft zusammengefaltet. Er hielt sie vor sein gesenktes Haupt, welches mit einem kleinen schwarzen Hütchen besetzt war. Zusammen mit dem hellblauen, fein gewebten Hemd und der weiten, beigen Hose sah Luthíen richtig schick gekleidet aus. Hätte das Zischen, das Weinen und das Lachen mitsamt dem wippenden Kauern nicht so eine verstörende Szene ergeben, der Gast hätte den Mann als einen Unterhaltungskünstler missverstanden, welcher sich gerade über einen Irren – oder das Klischee, was einen Irren darstellen sollte – lustig machte.
    Der Professor hatte seinen wohlgekleideten Patienten zunächst nur knapp mit den Worten „Siehe selbst“ vorgestellt, um sich dann auf einen weiteren Hocker schräg gegenüber von Luthíen niederzulassen und von da an zu schweigen, als wollte er die Darbietung auf gar keinen Fall stören, sie gar genießen. Seine ausdruckslose Miene ließ – sofern der Gast sich traute, sie zu betrachten – zwar solcherlei Emotionen nicht vermuten, doch lag die Befriedigung, die der Professor in diesen Momenten empfinden musste, geradezu zentnerschwer in der modrig-feuchten Luft.
    Je länger der Professor verharrte und je länger Luthíen sein Programm präsentierte, desto beißender wurden des Gastes Angstgedanken, dass er nun in eine Zeitschleife geraten war und nie mehr herauskommen würde. Seine Kehle schnürte sich zu, enger denn je, und sein Atem kam noch nur stoßweise, als er sich zwanghaft ausmalte, wie er den Rest seines vernebelten Daseins bis ans Ende aller Ewigkeiten zwischen den beiden anderen Menschen in dieser Zelle verbringen musste. Während ihm selbst das Herz panisch bis zum Halse schlug, schien Luthíen niemals die Luft auszugehen, und die steinerne Beharrlichkeit des Professors kannte ohnehin keine Grenzen. Zusammen hatten sie sich mit der Zeit verschworen, um ihm, dem Gast, eine nie enden wollende Folter zuteil werden zu lassen. Irgendwann, nach unzählbaren Schleifen, welche die Zeit durchlaufen haben würde, würde sämtliche Luft im Raume bereits von Luthíen gezischt worden sein, und dann atmete der Gast nur noch diese vom Wahnsinn geschwängerte, verbrauchte Luft, bis er selbst einen Hocker fand um sich niederzulassen und in völliger Abkehr von dieser Welt, deren Realität er ja ohnehin nicht mehr eindeutig fassen konnte, kauernd nach vorne und zurück zu wippen, immer und immer wieder…
    „OSTWÄRTS OSTWÄRTS OSTWÄRTS!“
    Die Kette der Furcht riss, als Luthíen plötzlich aufsprang, in kleinen, aber stampfenden Schritten den Raum durchmaß und dabei wütend brüllend die Fäuste ballte. Einen Moment lang wollte der Gast zurückweichen, doch sein Körper beschied, dass es das Beste sei, am Platze stehen zu bleiben und sich möglichst unauffällig zu verhalten. Luthíen störte sich auch nicht am Gast, zwar nahm er ihn wohl war, denn er stieß nicht mit ihm zusammen sondern mied ihn bei seinem stampfenden Marsch, aber sonst ließ nichts erkennen, dass er sich seines Besuchs wirklich bewusst war. Das Geschrei ging noch eine ganze Weile weiter, aber es hörte auf, noch bevor sich der Gast die nächsten Schreckensszenarien von Zeitschleifen ausmalen konnte. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, wurde Luthíen wieder still, kehrte mit langen Schritten zu seinem Hocker zurück – in der engen Zelle hatte er sich ohnehin nicht weit von ihm entfernen können – und verfiel wieder ins Zischen, Weinen und Lachen. Kaum jedoch hatte er die erste Serie dieser Laute absolviert, hob er seinen Kopf und sah dem Gast direkt in die Augen. Trotz der raschen Bewegung hatte sich der Hut auf seinem Kopf keinen einzigen Millimeter bewegt, er war wie festgewachsen. Die äußerst schmale Krempe vermochte es gerade so, einen kleinen Schatten auf das gebräunte Gesicht des Insassen zu werfen, was seinen blauen Augen jedoch nichts an Strahlkraft nahm. Wie kleine, spitze Harpunen drängten sie aus den Höhlen heraus und wollten die Augenbälle des Gastes zerstören, und wäre dessen Blick nicht von den hervorstehenden Nasenhaaren an der sonst so gepflegt wirkenden Erscheinung abgelenkt worden, er hätte sein Augenlicht wohl eingebüßt.
    „Alles klar?“, fragte Luthíen mit lauter und deutlicher, aber nicht unangenehmer Stimme. Sie war rau, gleichzeitig jedoch kräftig, und der Gast begann sich zu fragen, wie alt Luthíen wohl sein mochte. Er hatte unverkennbar die Gestalt eines älteren Herrn, dennoch schien ihm diese Gestalt wie eine Rolle, eine Verkleidung zu sein, in der er sich versteckte. Er starrte ihn immer noch an und wartete offenbar auf eine Antwort, die der Gast ihm als mechanisches Nicken spendierte, dass er noch mit einem schwachbrüstigen „Ja“ bestätigte. Eine Lüge sondergleichen. Doch diese Lüge reichte Luthíen ganz offenbar, denn nun senkte er den Kopf wieder und begann sein Zischritual von vorne. Auch dieses Mal währte es nicht lange, und er unterbrach es, indem er den Kopf erneut ein wenig anhob, die Arme präsentierend ausbreitete, von einer Hand zur anderen sah und schließlich „Meine Damen und Herren!“ murmelte. Gebannt beobachtete ihn der Gast dabei, aber auch dieses Schauspiel war nur von kurzer Dauer. Kurz darauf war es Schluchzen, dass den prominentesten Platz in Luthíens Lautcollage einnahm.
    Der Professor saß immer noch vollkommen ungerührt auf seinem Hocker. Erst als der Gast einen Blick in seine erstarrte Miene wagte, lockerte diese sich und der Mann im beschmutzten weißen Kittel setzte in gewohnt emotionslosem Tonfall, jedoch mit pathetischen Worten, zu einem Vortrag an.
    „Luthíen lebt in seiner eigenen Welt. Eine Welt voller Magie, voll von jener Magie, die ihn zu dem gemacht hat, was er nun ist.“
    Der Besucher, der seinem Führer beim Sprechen nicht in die Augen schauen wollte, ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Er hatte ihn noch gar nicht so recht betrachtet, was wohl auch daran lag, dass es hier so gut wie nichts gab. Nichtmal ein Bett oder eine Pritsche befand sich im Raum, lediglich die zwei Hocker und eine sehr, sehr kleine Kommode mit einer einzelnen Schublade, die mit einem überdimensionierten Schloss gesichert war, welches allerdings nicht den Anschein regelmäßiger Benutzung machte.
    „Er kann noch zaubern und tut es bisweilen, doch geschieht es offenbar vollkommen unkontrolliert. Das Wirken von Magie ist bei ihm wie ein Reflex, wie das unwillkürliche Zucken eines Muskels. Die meiste Zeit verbringt er jedoch so, wie du ihn jetzt siehst.“
    Sein Gast besah sich noch einmal kurz den kauernden und wimmernden Luthíen, nur um sicherzugehen, dass er seine Erscheinung richtig erfasst hatte. So richtig eben, wie er die Dinge noch zu erfassen in der Lage war. Das war etwas, was ihn mit Luthíen verband. Würde er auch so enden? War er schon längst so geendet?
    „Er schläft nicht. Niemals. Ich glaube, er kann es schlichtweg nicht. Er lebt schon lange, und schon lange lebt er hier.“
    Mit einem Mal sprang der Patient wieder auf und hüpfte auf und ab, wie in einem unbeholfenen Tanz ließ er die Füße kreisen. Dann stemmte er seine Arme in die Hüfte und begann, ein unmelodisches Lied zu stammeln.
    „Heeeeeoooo, Rheeeeeo, Rhoooo wir fahr’n nach Al Shedim… nach Al Shedim…“
    Noch ganz irritiert vom Einsetzen des kehligen Gesangs beobachtete der Gast, dass sich die Kommode an der gegenüberliegenden Wand der Zelle wie von Geisterhand hochzog und sich mit einem lauten Krachen wieder auf den Boden fallen ließ. Dort kam sie nicht zur Ruhe, sondern rappelte hin und her, als wollte sich ein gefangener Goblin oder ein ähnlich kleines, aber rabiates Wesen seinen Weg hinausbahnen.
    „Wir sollten jetzt gehen“, ließ der Professor ungerührt seine Stimme durch den lauten Gesang hindurchdringen und drängte den Gast mittels seiner eiskalten Aura aus dem Raum heraus. Ehe sich der Besucher versah, stand er schon wieder draußen im Flur und schaute von dort auf die Zellentür, die, je mehr sie sich schloss, den Gesang und das Rappeln von drinnen immer weiter erstickte. Als der Professor schließlich den Schlüssel im Schloss drehte, war außer einem gelegentlichen dumpfen Hall nichts mehr zu hören.
    Er sah den Professor an, oder vielmehr sah er auf dessen bekittelte Brust, da er direkten Augenkontakt mit ihm vermied, wo es nur ging. Eigentlich, so hatte er sich selbst versprochen, wollte er nicht mehr von sich aus mit dem Reden anfangen, denn mit dem Reden begann das Unglück, es öffnete seinen Geist und seinen Körper und gab so jegliche Blockaden gegen den in der Luft liegenden Wahnsinn auf, der sofort die Chance ergreifen und in ihn einströmen konnte. Doch die innere Enge und die Beklemmungen zwangen ihn dazu, zu reden, hatte er doch gemerkt, dass dies seinen Kloß im Hals zeitweilig verringerte. Deshalb stellte er nur eine, seiner Meinung nach unbedeutende, aber dennoch sich aufdrängende Frage.
    „Warum heißt er Der behinderte Zauberer Luthíen?“
    „Ich habe ihn so genannt“, antwortete der Professor, zog den dicken Schlüssel aus dem Zellenschloss und war im nächsten Augenblick schon wieder im Gang unterwegs.
    Und sein Gast folgte ihm.
    Geändert von John Irenicus (26.03.2013 um 00:30 Uhr)

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    „Weißt du, wer der Bauer Sekob war?“
    Mit einem Schweigen, das ihn selbst zu erdrücken drohte, schritt der Gast nahe hinter seinem Führer her und nahm dessen Frage verwirrt auf. Ein klarer Geist hätte diese Frage als eine Überraschung verspürt, doch das Gefühl des Überraschtseins brach durch diesen dichten Nebel in seiner Gedanken- und Gefühlswelt nicht mehr hindurch, vielmehr wurde es erbarmungslos in ihm erstickt. Zurück blieb nur ein seltsam dumpfer, innerer Stoß, der ihn gegen seinen Widerstand zu einer Erwiderung nötigte. Sein Sträuben dagegen war schon bei Beginn bedeutungslos. Auch wenn ihm sein Verstand – nein, der kümmerliche Überlebensinstinkt, der davon übrig geblieben war – riet, um seiner schon so angegriffenen und gebeutelten Seele willen das Gespräch mit dem Professor nicht mehr aufzunehmen: Der äußere Zwang, der ihn durch die offenen Schleusen seines Geistes nun auch von innen ergriff und aufwühlte, ließ ihm keine Wahl.
    „Ich… glaube schon“, hörte der Gast sich antworten, „aber ich kann mich nicht recht erinnern.“
    Seine Stimme kam ihm mechanisch und kalt vor, außerdem hallte sie wie aus einer anderen Welt – einer anderen Realität? – kommend im eigenen inneren Ohr wider. Als sei dort jemand, etwas, das seine Worte und ihn nachäffte, um ihn einzuschüchtern, ihm eine Schwäche zu präsentieren, die sich in diesen Worten gezeigt hatte.
    „Das ist ziemlich tragisch“, bemerkte der Professor, dessen Schritte auf dem Steinboden kaum mehr als ein unhörbares Echo entfalteten, als habe er an diesem lautlosen Schritt jahrelang gefeilt, um ihn nur in bestimmten Momenten auszupacken. Der Gast jedenfalls hörte nur noch seine eigenen Füße auf dem Boden auftreffen, was wieder das Gefühl des Alleinseins in ihm hervorrief, allein in diesen Gängen, allein in der Schwärze, allein dem Wahnsinn ausgeliefert…
    „Das ist ziemlich tragisch.“
    Er war sich unsicher, ob der Professor erneut gesprochen hatte oder ob es ein eingebildeter Widerhall war, der ihn die Worte erneut vernehmen ließ. Jetzt beim zweiten Mal wirkten sie schwanger von Bedeutung, doch war es eine vergiftete Schwangerschaft, spürte er. Eine Schwangerschaft, die ein ungewolltes, missgebildetes Kind hervorbringen würde, wenn er sie nicht abwehren konnte.
    Er richtete seine Wahrnehmung wieder nach außen und betrachtete den Professor beim Gehen. Es war ein stoisches Marschieren, doch geräuschlos. Vom Mann im Kittel ging keinerlei Wärme aus. Nicht der Gast selbst, aber etwas in seinem Innern fragte schon seit einiger Zeit, ob der Professor wirklich da war. Wirklich existierte. Oder ob er nicht nur eine geisterhafte Schattengestalt war, die hier durch die Gänge streifte. Und wie stand es eigentlich um ihn, den Gast selbst? Konnte er selbst sich spüren? Das Gefühl, selbst nur ein geketteter Geist, eine umherirrende Vision zu sein, erdrückte ihn fast noch mehr als das Schweigen.
    „Aber auch die Geschichte von Luthíen und Sekob ist sehr tragisch“, referierte der Professor. „Schließlich stammt der erste vom zweiten ab. In doppelter Hinsicht. Erinnerst du dich nun?“
    Hunderte bleierner Schaufeln gruben in seinem Gehirn, auf der Suche nach der Lösung dieses subtilen Rätsels, welches ihm der Professor mit seinen knappen Worten aufgab. Mal stießen sie auf harte, undurchdringliche Stellen, mal gruben sie einfach ins Leere, verloren sich in dem einlullenden Nebel, konnten sich aber, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr stoppen lassen. Auch der einströmende Gedanke, es könnte gar keine Lösung, gar keine Erinnerung geben, die passte, ließ den Schaufelwahnsinn nicht mehr versiegen. Erst, als der Professor ein leises Brummen und Summen von sich gab, welches zu seinem Gast durchdrang, kehrte langsam Ruhe ins Chaos ein. Es war keine friedvolle Ruhe, eher eine Grabesstille, die Unheil verkündete und so ihrerseits wiederum Unruhe im Gast schürte, doch immerhin legten die Hirnschaufeln nach und nach ihre Arbeit nieder, als endlich dieses alte Spottgedicht freigelegt wurde, was so tief in seinem Gedächtnis vergraben war.

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    Hei, hei, heitetei,
    Der Sekob der macht heute frei
    Die Arbeit lässt er einfach liegen
    Die Magd will er als erstes kriegen

    „Eiapopeia, Babera
    Sei bloß ein bisschen braverer!
    Wenn du nicht hörst, dann musst du fühlen
    Ich lieb’ es, junge Frau’n zu quälen!“

    Die Magd gehorcht, der Herr genießt
    Sein Werk mit einem Wein begießt
    Sagt: „Das soll’s nicht gewesen sein
    denn einer geht noch immer rein!“

    Doch Babera, die reicht nicht mehr
    Nach Fleisch und Blut sehnt er sich sehr
    Nur Seinesgleichen soll’s nun werden
    Geht flugs zu Resi zu den Pferden

    „Ich sehe, du bewunderst sie
    Die Manneskraft des lieben Vieh
    Brauchst dich nicht vor mir verstecken,
    ob du nun willst – ich werd’ dich decken!“

    Die Resi stößt den Vater fort
    und schreckt zurück vor seinem Wort
    „Lass mich in Ruh’, ich will dich nicht!“
    Ruft’s und spuckt ihm ins Gesicht

    „Heidewitzka, junge Liebe
    Wenn du nicht spurst, dann setzt es Hiebe!“
    Spricht’s und springt ihr an die Schenkel
    Mit Tochtern zeugt er sich ’nen Enkel

    Sekobs Taten machen Runde
    und zur vollen Mittagsstunde
    Ist versammelt auf dem Lande
    Onars ganze Söldnerbande

    Ihr Johlen ist der Ruf des Goldes
    in Sekobs Ohren gibt’s nichts Hold’res
    So nutzt er aus des Tochters Not
    und macht den Herrn ein Angebot

    „Heitschibumbeitschi, das macht Freud’
    Kommt ruhig näher, liebe Leut’
    Einmal peitschen fünfzig Erz
    Zweimal peitschen – doppelt Schmerz!“

    „Wer reiten will, muss mehr bezahlen!“
    erklärt Herr Sekob den brutalen
    profitablen Weg zum Glück
    Nur Rosi, die durchschaut das Stück

    Sie sucht nach Hilfe, doch vergebens
    Denn Menschen sind nie reinen Wesens
    Hört ihre Tochter schrei’n vor Schmerz
    Spürt Stich und Flamme in ihr’m Herz

    Sie kniet sich hin und fleht um Gnade
    „Mach ein End’ der Eskapade
    Gott von Feuer, Gott von Licht
    Innos, warum hilfst du nicht?“

    Die Worte hallen lautstark wider
    und aus dem Himmel fährt hernieder
    Die Lichtgestalt, der Gott des Guten
    bestraft die Hord’ mit feur’gen Knuten

    Die Söldner flieh’n, nur Sekob nicht
    Dem Herrn verbrennt all sein Gesicht
    Fällt nieder mit gar lautem Krachen
    Frei wird Sekob nie mehr machen

    Kaum ist der Frau ihr Kind befreit
    Macht Innos sich vor Rosi breit
    „Weil sie von mir gerettet ward
    FICK ICH JETZT DEINE TOCHTER HART!“



    Der Lohn für Innos, der bleibt aus
    Die Lichtgestalt, die löst sich auf
    Denn auch für eines Gottes Walten
    gibt es Regeln einzuhalten

    Wer sich nimmt und da verletzt
    Wird ohne Seele beigesetzt
    Denn Menschlichkeit, die zieht von dannen
    Wenn Triebe Hirn und Herz verbannen

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    Das unterstützende Brummen des Professors wurde bei den letzten Zeilen ganz leise, bis es schließlich verstummte, als wolle er sie gar nicht erklingen lassen, sondern lieber aus dem Gedicht oder zumindest aus der Erinnerung des Gastes verbannen. Nichtsdestotrotz fühlte sich der Gast seltsam befreit, dass diese Erinnerung nun geborgen war, dass sein Gedächtnis die Dinge noch festhalten konnte. Und der Mann im weißen Kittel hatte ihm dabei geholfen. Derjenige, der ihn hier mit unsichtbarer Macht zeitlos durch die Gänge schleifte, hatte ihm zur Seite gestanden. So gut es für den Moment gewesen war, der Gast wusste, welcher Preis dahinter steckte. Nun fühlte er sich und war er noch abhängiger von seinem Führer, als er sich ohnehin schon eingestanden hatte. Der Professor hatte seine Erinnerung ein Stück weit beherrscht, und wenn dies kein Einzelfall blieb, so war des Gastes Herrschaft über seinen eigenen Geist nun endgültig gebrochen, sein Verstand im wahrsten Sinne verloren. Der Gang in die Anstalt, sein Sehnen nach Ihr hatte sein Hirn, aber auch sein Herz in einen langsam tötenden Klammergriff manövriert, aus dem zu entkommen er kaum noch zu hoffen wagte.
    „Ich weiß, dass Schweigen eine Last sein kann“, sprach der Professor frei von Emotion und blieb stehen, um seinen Schlüssel zu zücken. Der Gast erkannte zu seiner Linken in der Mauer wie erwartet eine weitere Zellentür. Konnte er sich daran erinnern, wie viele Türen es nun schon gewesen waren? Ob sie alle geöffnet hatten oder an welchen vorbeigegangen waren?
    „Aber wer nicht mehr Schweigen kann, den trifft eine noch größere Last.“
    Die Zellentür schwang auf. Der Raum dahinter sog zuerst den Kittelmann und dann den Gast in sich hinein.

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    Zelle elf


    Er erschrak, als er den Bewohner der Zelle nicht wie erwartet weit hinten im Raum antraf, wo er sich möglicherweise geängstigt vor dem Besuch in eine Ecke kauerte. Stattdessen lief er fast in den großen, schlanken Mann hinein, der sich in perfektem gastgeberischen Gestus direkt vor der Tür aufgebaut hatte. Das Herz schlug dem Gast bis zum Halse, wollte er eine Berührung mit den Insassen doch um jeden Preis vermeiden. Es war die unterschwellige Angst, der Wahnsinn, das Gedankenchaos könnte sich durch Berührung endgültig auf ihn übertragen, wie eine unheilbare Pest, die sich sofort an seinem gesamten Körper festsetze. Irrational war es, spürte er doch schon lange während seines Besuchs, wie er den Wahnsinn ohnehin schon durch die Nase einatmete, durch den Mund schmeckte oder durch die Gehörgänge aufnahm, ebenso wie er ihn Zelle für Zelle zwangsweise vor Augen geführt bekam. Den letzten Sinn aber, das Tasten, den wollte er jungfräulich halten, koste es, was es wolle. War er es doch, der ihm sanfte Reinigung verhieß, sollte er endlich zu Ihr kommen und Sie nach so langer Zeit des sehnsüchtigen Darbens wieder berühren dürfen.
    Der Insasse trug ungewöhnlich feine Kleidung, einen schwarzen Gesellschaftsanzug, der hervorragend mit seiner ebenso schwarzen Haarfarbe harmonierte. Es war, als sei die Ordnung in diesem stürmenden Chaos der Anstalt am Leibe dieses Zellenbewohners punktuell wiederhergestellt.
    Dann sprach er.
    „Wunderbar!“, entfuhr es ihm, „Ein Gast und ein neues Gesicht! Großes Hallo! Mein Name ist Jerome, und ich gebe dir jetzt den Auftrag deines Lebens! Ich sehe es dir an, du hast schon so einen gewinnenden Blick, das wird etwas! Für mich alles reine Routine, sag’ ich mal, aber die darf dann ja erst recht nicht schief gehen! Hast du jetzt eigentlich den Termin am Abend schon im Kopf? Wie heißt du eigentlich?“
    Sollte es überhaupt möglich gewesen sein, so war der Gast jetzt nun noch verwirrter als vorher; er wusste kaum mit dem Redeschwall dieses Jerome umzugehen. Einen unsicheren Seitenblick, den er in einer anderen Wirklichkeit schon längst auf den Professor geworfen hatte, verkniff er sich in dieser Realität, drohten seine schutzlos fragenden Augen doch Einfallstor für die Schikanen des Kitteligen zu werden.
    Ein Fiepen schwoll in den Ohren des Gastes an, sodass er perfiderweise fast so etwas wie dumpfe Dankbarkeit empfand, als Jerome nach nur sehr kurzer Pause weitersprach.
    „Ach, wie unhöflich von mir“, gestand er mit einem breiten und vielzahnigen Lächeln, „ich habe ja ganz vergessen… meinen… es ist… was war er noch… ach je…“
    „Deter“, klang es klirrend kalt vom Professor herüber, der offenbar genau wusste, worauf Jerome hinauswollte – genauer als Jerome selbst.
    Das Lächeln in Jeromes ebenmäßigen Gesicht war mittlerweile verschwunden, sein fester Blick einem trüben Starren ins Leere gewichen, als er zögerlich, jedoch stetig schneller werdend, weiterredete.
    „Jerome… Deter? Aber… meine Mutter hieß doch auch schon… – Deter! Und dann habe ich es ihrer Tochter in den Büschen besorgt. Oder war es gar nicht meine… als… andere Mütter haben auch schöne Töchter…“
    „Wie heißt deine Mutter?“, adressierte der Professor seinen Patienten, ganz so, als sei sein Gast gar nicht hier. Seine Stimme schwang seltsam unwirklich durch den Raum, und der Gast meinte, die Schallwellen in ihrer Laufrichtung verfolgen zu können, wie sie sich ausbreiteten und von den Stofflichkeiten der Zelle aufgehalten und teils reflektiert wurden. Manche wiederum gingen schlicht durch die Dinge hindurch, oft auch durch ihn, sodass er ab und an zusammenzuckte, wenn er eine Kollision erwartete, die dann aber doch nicht eintrat.
    „Jerome… Deter?“, antwortete Jerome zögerlich.
    „Deine Mutter?“
    „Achso.“
    Den Gast machte dieses seltsame Gespräch unruhig, doch er spürte, dass ein Wenden an den Professor weniger von Erfolg, als vielmehr von Bestrafung gekrönt sein würde. So blieb ihm nichts anderes übrig, als von den Schallwellen dieses Gesprächs durchdrungen zu werden, bis es endlich aufhörte.
    Jerome hatte sichtlich Mühe, sich aus seiner Unsicherheit herauszukämpfen. Schließlich aber riss er die Herrschaft des Gesprächs wieder an sich, was den Gast angesichts des kontrollierenden Professors erstaunte wie beeindruckte. Fast schon ein wenig Neid schwang mit, wie er erkannte, dass Jerome zumindest noch eine milde Form des Widerstands leisten konnte. Auch, wenn dieser letztlich gebrochen werden würde – darin war er sich sicher – so war er dem Professor zumindest nicht so vollends wehrlos ausgeliefert, wie es der Gast eben war. Und das, obwohl Jerome im Gegensatz zu ihm in dieser Zelle hausen musste. Wie konnte es sein, dass ihn ein so unfreier Mensch in Sachen Freiheit übertraf?
    „Niemand Geringeres als der König von Myrtana höchstselbst ist heute zu Gast in Khorinis, um sich von der Lage auf der Insel und dem Erzabbau selbst ein Bild zu machen. Ich bin der Bote dieser ganzen königlichen Delegation.“
    „Wo sind wir hier?“, erwiderte der Professor kühl.
    „Ja, du bist einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. In doppelter Hinsicht.“
    Der Gast erschrak. Die Wellen, welche die Worte trugen, trafen ihn in der Mitte seines Leibes und ließen ihn ein Zwicken spüren. Es war, als seien die Worte nicht mehr an den Professor oder ins Leere, sondern direkt an ihn gerichtet worden. Er versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln, kam aber nicht umhin, das weitere Geschehen reg- und schüttellos über sich ergehen zu lassen. Nicht nur seine Beine, auch sein vormals tobender Verstand schien versteinert zu sein, in vollkommener Unbeweglichkeit auf Jerome fokussiert.
    Im nächsten Augenblick – der Gast konnte sich nicht einmal erinnern, geblinzelt zu haben – hatte Jerome eine Rolle Papier in der Hand, gelblich und faltig, einer Leichenhaut gleich. Dazu überreichte ihm der Professor eine fast nacktgerupfte, dunkelblaue Schreibfeder, die Jerome emotionslos und stumm entgegennahm. Sein Blick verriet nur ganz sachte und heimlich den Hauch von Angst, Angst vor der eigenen Entwaffnung, der Zwecklosigkeit seines Widerstands, der bald bröckeln würde.
    „Schreib eine Fünf.“
    Jerome kritzelte etwas auf das zerlumpte Blatt, und wie durch ein Teleskop taten sich dem Gast die geschriebenen Worte direkt vor seinen Augen auf: Eine Frau.
    „Schreib eine Sechs.“
    Wieder brannten sich die Buchstaben, noch während Jerome sie schrieb, in seine Netzhaut ein: Snaf.
    Wie unbeteiligt öffnete Jerome nun seine Hände und ließ das Papier und die jetzt ausgetrocknete Feder gen Boden gleiten. Dann drehte er sich starr und mechanisch ein wenig um die eigene Achse, bis er direkt dem Gast zugewandt war. Er schien nun einige Handbreit über dem Boden zu schweben, doch sein Besucher konnte sich dessen nicht sicher sein, da das Licht vor seinen Augen zu flackern begonnen hatte.
    „Der Omnipotente wird kommen. Auf der Suche nach Sterblichkeit wird er sein Scheitern erkennen müssen, doch ertragen wird er es nicht, und so wird er schlussendlich hier in dieser Zelle landen, zu einer Zeit, in der ich schon längst nicht mehr bin. Auch alle anderen nicht mehr. Nur du, du wirst dich auch dann noch stetig im Kreis drehen, auf ewig…“
    Diese Worte waren klar an den Gast gerichtet, sie umschwemmten ihn in Wellen und drangen in ihn ein, vornehmlich durch Nase und Mund, sein Hals wurde eng, er war dem Ertrinken nahe. Nur noch ein bisschen, dann war er endgültig gefüllt vom Klang der Worte Jeromes.
    „Ich habe mich sozusagen selbst verloren“, setzte der Insasse neu an.
    „Ich habe mich selbst verloren. Ich habe mich selbst verloren. Ich habe mich selbst verloren. Ich habe mich selbst verloren. Ich habe mich selbst verloren…“

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Der Gast rang nach Luft.
    Er fühlte sich, als sei er von einem riesigen, schwarzen Loch nach tagelangem Warten wieder ausgespuckt worden. Hier, direkt vor die offene Zellentür und zu Füßen des Professors, der ihn mit einem ausdruckslosen Blick betrachtete, fast so, als sähe er durch ihn hindurch.
    Ein Geschmack lag auf des Gastes Zunge. Es schmeckte nach alter, schal gewordener Erinnerung, doch sein Mund war so trocken, dass er sich nicht ganz sicher sein konnte. Rau war seine Zunge geworden, auch hatte er offenbar auf sie gebissen, während des Treffens mit Jerome. Dieses Treffen, was nun schon in weiter Ferne der Vergangenheit erschien, obwohl hier, wie der Gast erschöpft auf dem harten, kalten Steinboden kniete, alles dafür sprach, dass diese Begegnung gar nicht erst geschehen war.
    Als er sich langsam, vom Professor abweisend gemustert und unkommentiert, aufrichtete, erkannte er die Zellentür wieder. Nur wieso erkannte er sie wieder? Noch aus der alternativen Realität, die ihm soeben aufgezwungen worden war? Oder noch aus dem Zeitpunkt vor diesem traumwandlerischen Abdriften in Irrealitäten?
    Der Gast zwang sich, nicht mehr zu überlegen. Nicht darüber, nicht über Jerome, nicht über Ort, Zeit, Realität und Irrealität. Alles auf einmal konnte er in sich zwar nicht abschalten, aber dann würde es ein langsamer Abschied werden. Sollte dieser Abschied der dritte Preis sein, den der Professor angekündigt hatte, so war er bereit, diesen zu zahlen.
    Er stellte sich vor, seinem weißbekittelten Führer zuzunicken, tat dies in Wahrheit aber nicht – oder in Wahrheit gerade doch? - und schritt ihm schwindeligen, aber festen Fußes nach in die geöffnete Zelle.

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    Zelle elf


    Wärme umfing ihn.
    Eingehüllt wie eingelullt von der dichten, schweren Luft, trat der Gast bis in die Mitte des Raumes, der weniger wie eine Zelle als vielmehr wie das Kabuff eines Sehers oder einer Kartenlegerin wirkte. Er erwartete auch einen entsprechenden Geruch, nach zerriebenen Kräutern, glimmendem Tabak oder alchemistischen Substanzen. Diese Erwartung wurde nicht erfüllt. Er traute sich nicht, gezielt danach zu riechen, ob der Gefahr, den in der Atemluft schwelenden mit einzusaugen. Es war ihm jedoch ohnehin so, als habe er sich von seinem Geruchssinn längst verabschiedet. Auch konnte er, so sehr er sich auch bemühte, den Geruch all der erwarteten Dinge nicht in seinen Erinnerungen ergreifen. Nicht mehr überlegen; das war sein momentaner Leitspruch, einer von vielen letzten Strohhalmen, an die er sich hier schon geklammert hatte, und die alle nach und nach unter der Last des Irrenhauses eingeknickt waren und daraufhin absurde Formen angenommen hatten.
    „Hallo“, begrüßte ihn ein alt wirkender, jedoch nicht alt aussehender Mann, der wie aus dem Nichts von seinem kleinen Ecktischchen, das der Gast erst jetzt wahrnahm, aufgestanden und auf ihn zugekommen war. Ein innerer Impuls wollte den Gast zum Zurückweichen bewegen, doch reagierte sein Körper kaum noch darauf, was sein verirrtes Gehirn ihm mitteilen wollte.
    „Es kann sein, dass wir uns schon einmal kennengelernt haben. Ich kann es aber nicht mehr wissen. Ich lebe schon so lange, dass mein Gedächtnis nun voll ist. Deswegen musst du mich jetzt auch wieder entschuldigen. Ich muss mich beeilen. Sonst ist alles schon weg. Und ich bekomme es nie mehr wieder.“
    Seine Stimme war heiser, so heiser, als habe er lange Phasen seines Lebens mit Schreien verbracht. Der Gast meinte auch eine Zornesfalte im Gesicht des dünn und braun bekleideten Insassen entdeckt zu haben, aber wenn, dann war sie verblasst und fast gänzlich wieder eingeebnet, als habe der Mann, der nun wieder über seinem Papier hockte und es eifrig bekritzelte, seine Wut vor langer Zeit abgelegt.
    Noch ehe der Gast überhaupt einen Entschluss darüber fassen konnte, ob er einen fragenden Blick in Richtung seines ungeliebten Führers riskieren durfte, begann dieser schon zu sprechen.
    „Er hat sich sehr verändert. Von seinem einst feurigen Charakter ist bis auf die Wärme in diesem Raum kaum noch etwas übrig. Als destilliere er seine Persönlichkeit heraus auf dieses Papier. Endlose Massen an Papier.“
    Wie fremdgesteuert fiel der Blick des Gastes auf den wuchtigen, dunklen Holzschrank, der sich an der linken Wand der Zelle, unweit vom Schreibplatz des Bewohners, aufbaute.
    „Myriaden von Journalen sind dort eingelagert. Und er findet noch immer kein Ende. Er muss ein langes Leben gehabt haben. Er hat mal behauptet, er könne nicht sterben. Doch wenn man ihn jetzt danach fragt, sagt er nur, er habe es bereits vergessen, man könne es aber vielleicht nachlesen.“
    Der Professor bewegte sich auf den Schrank zu und drehte den im Schloss der linken Schranktür steckenden Schlüssel sachte herum. Seine fahlen, kalt wirkenden Hände hoben sich in einer unwirklichen und unpassenden Weise von der warmen Umgebung ab.
    „Woran er sich jedoch immer erinnern kann: Sein Gedächtnis ist voll. Alles, was neu dazukommt, verdrängt seine älteste noch vorhandene Erinnerung. Dein Besuch hier, die Worte, die er mit dir gewechselt hat, haben ihn bereits einen weiteren, kleinen Teil seines Gedächtnis gekostet.“
    Reglos beobachtete der Gast, wie der Professor nun die Flügeltür des Schranks aufwuchtete und so Unmengen an Papierstapeln auf verschiedenen Regalbrettern zum Vorschein kommen ließ. Jedes einzelne Blatt schien von oben bis unten, von vorne bis hinten und manchmal sogar kreuz und quer beschrieben zu sein.
    Ein kleines Zwicken an der Stelle, an der sich das Herz des Gastes befand. Noch zu Anfang seines Besuchs wäre dieses Zwicken in Reue und Mitleid über die Verluste des Insassen ausgewachsen. Nun aber verebbte dieses Zwicken einsam und allein, bis es schließlich vollends abstarb, ohne dass der Gast je bewusst Notiz von ihm genommen hätte.
    Der Mann im Kittel hatte bereits ein klein und dicht beschriebenes Blatt Papier aus einem der unzähligen Stapel herausgezogen. Der Gast ahnte, was nun geschehen sollte, doch die Gefühle seiner Abscheu waren mittlerweile zu schwach und ausgebrannt, um einen echten Widerstand stützen zu können. Stattdessen schwebten seine Hände wie mechanisch nach vorne, um sich die alte Tinte auf dem Blatt vor Augen führen zu können. Kaum glitt das Papier zwischen seine Finger, hatte der Gast schon zu lesen begonnen.

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    "Mein Name ist Pater Lahache."
    Ein Pfaffe. Natürlich.
    "So siehst du auch aus", antwortete ich, "Ich bin…"
    "Seltsam."
    "Wenn du das sagst…"
    Pater Lahache machte ein paar Schritte zurück in den Raum hinein und schien mich nun von weiter weg zu mustern und dabei angestrengt nachzudenken. Ich wollte ihn nicht unbedingt dabei stören. Trotz seiner roten Robe - oder vielleicht gerade wegen seiner roten Robe - sah er nicht so aus, als sei mit ihm gut Kirschenessen gewesen.
    Erst nach einiger Zeit - ich machte mit meinem Blick noch ein paar Bahnen parallel zur Maserung der Holzdecke - hob der ältere Mann wieder die Stimme und schlug einen äußerst bedächtigen Tonfall an.
    "Für einen verletzten, fremden Mann verhältst du dich ganz schön respektlos. Warum?"
    Ich schnaubte, bereute es aber direkt die Sekunde danach. Denn der grimmige Gesichtausdruck, der über mich wachte, wurde nun von Stichen aus den giftgrünen Augen flankiert. Es war die erste und letzte Mahnung, die mir verständlich machen sollte, dass ich mich besser zügelte, sofern ich nicht aufgespießt werden wollte. Ob von den Augen des Paters oder von den Speeren der Dorfbewohner oder von allen zusammen.
    Pater Lahache wiederholte seine Frage nicht. Er war keiner, der einem eine zweite Chance gab. Keiner von den Leuten, die dir Geduld entgegenbrachten. Kein Lehrer… auch kein Priester im eigentlichen Sinne. Ihm lag es nicht an Erklärungen, Seligsprechung, geistigem Beistand - zumindest nicht, was mich betraf. Einen fremden Mann, der sich ganz schön respektlos verhielt. Und ja… warum eigentlich?
    Mir war klar, dass ein unschuldiges "Ich weiß nicht" oder ein augenzwinkerndes "Tja du Kuttenbrunzer, können ja nicht alle so stocksteif sein wie du" so wenig angebracht war wie der plötzliche Herrschaftsverlust über meine Blase. Die Frage war nur, was von den Dingen ich noch am ehesten vermeiden konnte.
    "Ich… entschuldige mich", würgte ich geradezu hervor und bekam es sogar hin, einiges an echter Demut auszudrücken. Wenn man vor Schmerzen gelähmt und vor Blasendruck gedrängt in einer fremden Hütte auf einer fremdem Pritsche lag, ging das leichter als man dachte.
    "Das ist keine Antwort auf meine Frage", erwiderte Pater Lahache mechanisch, "aber es ist schonmal ein Anfang."
    Das Lächeln, was er aufsetzte, war nicht nur falsch, gekünstelt oder gefährlich: es war schlicht keines. Ich schwieg, als er wieder näher an mich herantrat.
    "Dann sage mir: Was fehlt dir?"
    Ich schluckte. So ein bedeutungsschwangeres Gespräch hatte ich seit der Schließung meines Lieblingsbordells nicht mehr geführt. Meine Antwort war ein Krächzen, ein ermattender Hauch den nicht einmal ich selbst richtig wahrnahm, doch die Erneuerung des Ausdrucks, die Reinkarnation des Nichtlächelns auf dem Gesicht des Paters ließ mich erkennen, dass er verstand.
    "Der Tod", antwortete ich.

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