Inspiriert von Rainer Brambachs „Känsterle“

„Frohe Weihnacht!“
Ein Schneeball klatschte Randolph an den Hinterkopf und hinterließ ein Gefühl eisiger Kälte, die sich bis in seinen Nacken fortsetzte und in Form von Wasser den Rücken hinunterfloss.
Schaudernd drehte er sich um. Er erblickte zwei Kinder, die wieder in den Wald verschwanden, grinsend und kichernd.
Das Schild am Osttor Khorinis’ war eher schlecht als recht angebracht, auf einer morschen Holzplatte waren grobe Buchstaben eingeschnitzt, die denjenigen Wunsch formten, den Randolph zwar nachvollziehen konnte, aber dennoch nie verstehen würde.

„Frohe Weihnacht!“
Der Boden war gefroren, deshalb hart und kalt, und hinterließ Schürfwunden in Randolphs Gesicht.
Beim Hineingehen hatte er sich das Schild noch einmal durchgelesen, war prompt auf Glatteis ausgerutscht und direkt auf den Boden geknallt.
Fluchend stand Randolph wieder auf und befühlte den Schmerz in seinem Gesicht. Kopfschüttelnd betrat er die Hafenstadt, die so weihnachtlich wie noch nie dekoriert war.
Alle Stände am Marktplatz waren weihnachtlich gestaltet, bei Zuris gab es Tränke in blau-weißen Flaschen und wahlweise auch mit blauen Mützchen drauf, Baltram verkaufte Lebkuchen, Jora hatte eine Extrakiste voll Zuckergebäck neben sich stehen, und selbst Hakon hatte es sich nicht nehmen lassen, einigen Waffengriffen einen blau-weißen Anstrich zu verpassen.
Nur einer fiel vollkommen aus der Reihe, und dies war Canthar, sein Stand war in keiner Weise dekoriert und frei von jeglichem blau-weißen Kitsch.
Randolph bewegte sich auf den Stand zu, und als er fast angekommen war, rief Canthar ihm freudig etwas entgegen.

„Frohe Weihnacht!“
Die Wucht des Schnees, die den überraschten Randolph fast zu Boden riss, ließ ihm keine Antwortmöglichkeit, sondern verärgerte ihn nur noch mehr.
Wütend blickte er hinauf, und erkannte, dass es der große, kahle Baum gewesen sein musste, der den Schnee auf einen Schlag verloren hatte.
Noch ein kurzer Blick zu Canthar, welcher nun gerade blau-weiße Kerzen auf seinem Stand verteilte, und Randolph hatte auch vom Marktplatz genug.
Während er sich beim Verlassen nochmal kurz umschaute, merkte er, dass es kaum noch vernünftige Nahrungsmittel gab, und er wusste auch, wieso.
Die letzten Jahrzehnte hatte es auf Khorinis nur zwei oder drei mal vorher derart heftig geschneit, beide Male jedoch auch an Weihnachten, und diese beiden – oder drei – Male waren auch direkt die zwei Jahre zuvor gewesen. Für Khorinis war so ein Wetter ziemlich ungewöhnlich.
Schnee war hier eigentlich fast so selten wie in Randolphs ehemaliger Heimat, den südlichen Inseln. Deshalb war der Schnee überraschend gekommen, und hatte den Bauernhof Akils, sein Zuhause, nahezu vollständig zerstört.
Die immerreifen Feldfrüchte waren abgestorben, die Tiere mussten in der Scheune eingepfercht werden.
Das Dach des Haupthauses war fast vollkommen eingestürzt. Auch, dass die Bauern gemeinsam den Schnee vom Dach geschoben hatten, konnte die Schäden, die in der Nacht entstanden waren, nicht wieder rückgängig machen.
So war von einer
„Frohen Weihnacht!“ überhaupt gar nicht zu reden.
Randolph schrie auf und fühlte einen stechenden Schmerz in seinem jammernden Fußgelenk.
Er war auf dem Kopfsteinpflaster umgeknickt, er hatte doch schon immer gewusst, dass es, bei den breiten Zwischenräumen, bei kalten Temperaturen einfach aufplatzen würde, und dies war ihm nun zum Verhängnis geworden.
Er war wütend, sehr wütend, dieses Fest hatte ihm bis jetzt nur Unglück gebracht, doch musste er sich zügeln, denn Hannas Hotel, in dem er seine Aufgabe erfüllen sollte, war schon in der Nähe.
Auf Khorinis war es Gang und Gäbe, dass sich zu weißen Weihnachten – und sei es auch nur wegen ein paar weißer Flocken – die dunkelhäutigen Südländer blaue oder auch blau-weiße Anzüge anzogen, dazu blaue Schuhe mit aufgerollten Spitzen und eine flauschige Zipfelmütze.
Wurde es von manchen als Diskriminierung aufgefasst, so war es einfach die Geschichte, die jedem Inselbewohner von klein auf erzählt wurde, dass zu weißen Weihnachten der „Blaue Khoriner“ zu den braven Kindern zu Besuch käme, um ihnen die tollsten Geschichten zu erzählen. Dabei wurde der „Blaue Khoriner“ immer als blau gekleideter Mann mit schokoladenbrauner Haut dargestellt.
Eigentlich sollte es Saturas machen, doch er war kurz vor Weihnachten so krank geworden, dass er nur hoffen konnte, dass es mal wieder keinen Schnee gäbe, um so nicht die Kinder besuchen zu müssen. Und da es, zu Randolphs Unglück, doch Schnee gegeben hatte, musste er dieses Mal die braven Kinder besuchen gehen, und sich die Kleidung von Saturas leihen, welcher betont hatte, Randolph möge sie ja unversehrt zurückzubringen, da er sie noch brauchen würde.
Wozu, dass wollte Randolph angesichts des seltsamen Geruchs, der von der Kleidung aufstieg, überhaupt nicht wissen, und so betrat er endlich den unteren Raum des Hotels.
„Randolph, na endlich!“, fauchte Hanna ihn an, „du kommst noch zu spät, beeile dich, sonst wird das nichts mit einer
'frohen Weihnacht!'
Ein Schmerzensschrei begleitete das laute Krachen des berstenden Holzes, und Randolph schien es, als sei das ganze Hotel gewachsen, bis er verstand, dass er mit einem Bein in den morschen Holzboden des Hotels eingekracht war.
Randolph wollte noch einmal schreien, und zwar vor Wut, doch Hanna kam ihm dazwischen.
„Du Trottel, wir wollen den Kindern doch eine Freude machen!“, schimpfte sie, und half, oder zwängte vielmehr Randolph in das „Blauer Khoriner“-Kostüm, das ein wenig zu klein war, und so unangenehm spannte.
„Mein Gott, warum bist du auch so groß?“, schimpfte Hanna nochmals, und Randolph ballte wütend die Fäuste, doch wieder kam er nicht dazu, seiner Wut freien Lauf zu lassen.
„Los, los, denk immer an die
‚Frohe Weihnacht’!“, meinte Hanna, und schob Randolph, dem nun schon fast jedes Körperteil schmerzte, die Treppe hoch.
Den Rest ging er alleine, doch an der obersten Stufe stolperte er und knallte mit voller Wucht, den Arm unter seinem Bauch eingeklemmt, auf den Holzboden der oberen Etage, wo die Kinder schon warteten, und nun interessiert zusahen, wie sich der „Blaue Khoriner“ vor Schmerzen krümmte.
Als Randolph in die vielen leuchtenden Augen der Kinder sah, riefen sie fröhlich etwas, etwas, was Randolphs Kopf explodieren ließ.

„Frohe Weihnacht!“
Das Gebrüll, das Randolph von sich gab, war lauter als alles, was die Bewohner Khorinis’ je in ihrem Leben gehört hatten, und so war es verständlich, dass die Kinder panisch umherliefen, als Randolph zusätzlich zum Brüllen auch noch anfing, die gesamte Einrichtung des Obergeschosses zu zerstören, indem er, in tiefste Raserei verfallen, um sich schlug.
Er war so mit sich selbst beschäftigt, dass er Hanna nur noch kreischen hörte: „HILFE! ER SCHLACHTET DIE KINDER AB!“, doch es interessierte ihn nicht, und er machte alles kaputt, was ihm in die Nähe kam, während die Kinder immer noch schreiend umherwuselten, und sich nach Verstecken umschauten.
Es ging eine ganze Zeitlang so, und irgendwann sank Randolph erschöpft auf den Boden und fühlte sich leer.
Hanna kam zusammen mit dem etwas krank aussehenden Saturas in blauer Robe zurück, und letzterer sagte etwas, mit sehr trauriger und niedergeschlagener Stimme, was Randolph nur zu gut hören konnte.
„Mein lieber Randolph, ist das eine
‚Frohe Weihnacht’?“
Ein kalter Wind zog durch die Stube.