Die kurze, weihnachtliche Geschichte vom glücklichen Bettler

Ein paar Jahrhunderte vor Beginn dieser Geschichte wurde Luteros Ururururgroßvater geboren. Er war ein ziemlich armer Mann und arbeitete in einem kleinen Sägewerk mitten im westlichen Wald von Khorinis. Einige seiner Kollegen wurden von Wölfen gefressen, was ihn zwar ein wenig schockierte, nicht aber von der Heirat mit Luteros Ururururgroßmutter hinderte.
Die beiden bekamen einen Sohn, Luteros Urururgroßvater. Da inzwischen auch der Besitzer des kleinen Sägewerkes von Wölfen gefressen worden war, wurde Luteros Ururururgroßvater dessen Besitzer, der es nach seinem – ausnahmsweise ohne Mithilfe von Wölfen zustande gekommenen – Tod an seinen Sprössling, Luteros Urururgroßvater vererbte.
Der wiederum hatte gleich drei kluge Ideen: erstens heuerte er ein paar Wolfsjäger an, zweitens stellte er neue Sägewerksmitarbeiter ein und drittens heiratete er Luteros Urururgroßmutter, mit deren tatkräftiger Unterstützung er Luteros Ururgroßmutter auf die Welt brachte.
Luteros Ururgroßmutter mochte das Sägewerk nicht, dafür allerdings einen netten Herrn aus dem oberen Viertel von Khorinis, Luteros Ururgroßvater. Die beiden heirateten und waren kurze Zeit später verantwortlich für die Anwesenheit von Luteros Urgroßvater, der sich sehr über das viele Geld freute, das er von Luteros Ururgroßeltern bekam – denn Luteros Ururgroßvater war nicht nur nett, sondern auch wohlhabend gewesen.
Er erwarb damit eine schöne, große Lagerhalle und kaufte regelmäßig große Mengen Holz von den Sägewerken außerhalb der Stadt ein, um es später weiterzuverkaufen und damit noch mehr Geld zu machen. Ganz davon abgesehen schaffte er es auf mysteriöse Art und Weise, Luteros Großvater zu erschaffen – ganz ohne Heirat. Ein paar Innospriester waren kurzzeitig entsetzt, bis ihnen Luteros Urgroßvater eine Spende zukommen ließ und kurz darauf starb.
Das tat er, damit Luteros Großvater Gelegenheit dazu bekam, einige Berater einzustellen, die sich ab sofort um alles kümmerten, was mit geschäftlichen Angelegenheiten zu tun hatte.
Und weil es inzwischen Familientradition war, Nachkommen auf die Welt zu setzen, heiratete er Luteros Großmutter – er war kein besonders gläubiger Mann und wollte nicht spenden – und freute sich kurze Zeit später über die Geburt von Luteros Vater.
Luteros Vater war ziemlich froh darüber, dass es die Berater gab und er sich keine komplizierten Gedanken über Sägewerke und Holz machen musste und verbrachte seine Zeit lieber damit, von diversen Quellen möglichst wertvolle und seltene Gegenstände zu erwerben, die er dann seinen Freunden zeigen konnte. Oder Leuten, die daraufhin seine Freunde wurden.
Selbstverständlich brachte auch Luteros Vater den obligatorischen Heirats- und Geburtskram hinter sich, was letztendlich zur Folge hatte, dass Lutero selbst die Bühne des Lebens betrat.
Lutero wusste nicht einmal, was man sich unter einem Sägewerk überhaupt vorstellen konnte und empfand die wertvollen Gegenstände, die ihm sein Vater vermacht hatte, als dermaßen langweilig, dass er sie lieber an fremde Leute verkaufte.
All dies ist eigentlich eher unwichtig. Wichtig ist nur die Existenz Luteros – denn den brauchen wir noch für die Geschichte.

An einem wundervollen, herrlich verschneiten Wintertag wanderte Lutero durch die Straßen von Khorinis und nahm die durch den intensiven Schneefall ausgelöste allgemeine Fröhlichkeit in der Hafenstadt mit leichtem Argwohn wahr. Er verstand nicht ganz, was so großartig an ein bisschen gefrorenem Wasser war, das vom Himmel fiel – ganz im Gegenteil, zu viel Schnee blendete seine Augen und mochte nach zu langem Betrachten gar zu Blindheit führen. Entweder wussten die anderen Leute das nicht, oder sie freuten sich über eine Gelegenheit, der überwältigenden Hässlichkeit der Stadt für den Rest ihres Lebens zu entgehen.
Zumindest gab es in Khorinis keine Kinder. Es gab Gerüchte, dass irgendein irrer Alchemist vor ein oder zwei Jahrzehnten das Trinkwasser mit ein paar Überresten seiner Experimente vergiftet hatte – vermutlich waren das aber lediglich Ausreden. Der Mangel an Nachwuchs verhinderte jedenfalls störende Schneeballschlachten, was Lutero immerhin ein wenig besänftigte. Es waren schon Leute durch einen Schneeball gestorben; manchmal reichte ein einziger Klumpen Schnee für eine halbe Familie, wenn das entsprechende Kind gut gezielt hatte – Grund genug für Lutero, Schneeballschlachten zu verachten. Kinder sowieso.
Um aber zum Kern dieser weihnachtlichen Geschichte zurückzukehren: Lutero ging am bereits erwähnten, winterlich verschneiten Tag durch die Straßen von Khorinis, als er neben einem der Türme, in denen die Milizen ihre Waffen lagerten, einen Bettler sitzen sah.
Eigentlich fand Lutero Bettler beinahe so schlimm wie Kinder, aber er hatte von alten Männern gehört, die aufgrund ihrer Geizigkeit eine Menge Ärger mit aufdringlichen Geistern gehabt hatten – da war es ihm deutlich lieber, dem verlumpten Kerl eine Münze zuzuwerfen.
„Danke, Herr!“ Der Bettler fing die Münze und lächelte ein herzerwärmend freundliches Lächeln. „Ein schönes Weihnachtsfest wünsche ich Euch!“
Lutero grummelte verstimmt. Er hatte erst vor ein paar Minuten eine dieser Umfragen ertragen müssen, bei denen man die Leute befragte, was ihrer Meinung nach der Ursprung und Sinn von Weihnachten war. Da er sich nicht mehr genau daran hatte erinnern können, welcher der Götter an diesem Tag vor ein paar Tausend Jahren geboren worden war und solches Wissen auch nicht als nötig empfand, hatte er die Umfragenden schlichtweg ignoriert.
Jetzt stand er also vor diesem Bettler und fragte sich, warum er seine erprobte Taktik des Ignorierens nicht erneut anwandte und einfach weiterging.
„Schönes Weihnachtsfest? Was soll denn daran schön sein?“, knurrte er.
„Alles!“, behauptete der Bettler und unterstrich seine Aussage durch eine Geste, die eine Umarmung anzudeuten schien. „Die herrlich weißen Dächer, der Duft nach feinem, frisch gebackenem Gebäck, die rundum zufriedenen Leute in der Stadt, die erwartungsvollen Gesichter der Ki-„
„Ha! Es gibt keine Kinder in Khorinis!“
„-eselsteine, die...“
„Einen Moment bitte! Kieselsteine haben keine erwartungsvollen Gesichter! Wenn ich richtig informiert bin, haben sie überhaupt keine Gesichter!“, empörte sich Lutero.
Umgehend zog der Bettler einen kleinen Kieselstein aus einer Seitentasche seiner halb zerfetzten Stoffhose und zeigte ihn dem wenig begeisterten Händler.
„Er hat nicht wirklich ein Gesicht“, brummte Lutero. „Du hast es aufgemalt, mit Kreide oder so.“
„Stimmt“, bestätigte der Bettler. „Als Bettler hat man halt manchmal nichts Besseres zu tun, ab und zu langweile ich mich eben. Wo war ich gerade in meiner Aufzählung?“
„Bei die“, erwiderte Lutero. „Aber ich denke, ich habe schon verstanden. Du findest Weihnachten großartig. Von mir aus gerne – deine Sache.“
„Wollt Ihr damit etwa sagen, dass Ihr selbst keinen Gefallen an dieser so wundervollen Zeit findet?“
„Richtig. Weihnachten ist überflüssig, das ist alles. Genau wie dieses Hal...Hallo...äh...“
„Dass Ihr Begrüßungen als überflüssig empfindet, ist mir bereits aufgefallen. Ihr habt mich nämlich gar nicht begrüßt.“
„Das war es nicht, was ich meinte...“
„Schon in Ordnung, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen...wenigstens habt Ihr mir eine Münze geschenkt. Darüber bin ich sehr glücklich.“
„Glücklich?“, wiederholte Lutero, der sich zunehmend fragte, weshalb er sich überhaupt mit diesem nutzlosen Gespräch aufhielt. Er hätte schon lange wieder zu Hause sein und gemütlich am Kamin sitzen können, hätte er den Kerl einfach ignoriert. Das hatte er jetzt von seiner Großherzigkeit. „Du nennst dich glücklich? Du bist einer der ärmsten Einwohner der Stadt, ist dir das klar? Vermutlich hast du nicht einmal einen vernünftigen Ort zum Schlafen, richtig?“
„Richtig“, bestätigte der Bettler. „Muss ich daher gleich unglücklich sein? Das nimmt mir immerhin die Sorgen, dass mir ein solcher Ort genommen werden könnte. Wer kein Haus hat, kann auch keines verlieren – eine Sorge weniger. Und Sorgen machen unglücklich, nicht wahr?“
„Aber es ist ziemlich gefährlich, nachts in den Gassen von Khorinis zu schlafen“, gab Lutero zu bedenken. „Es könnte dich jemand ausrauben.“
„Nein. Ich habe nichts, das man mir stehlen könnte – wieder eine Sorge weniger und ein weiterer Grund, um glücklich zu sein.“
„Was ist mit deinem Leben? Man könnte dich töten...es könnte dich jemand hinterrücks mit einem Dolch erstechen, jederzeit.“
„In diesem Fall wäre ich wohl glücklich darüber, dass es nur ein Dolch ist. Von zwei Dolchen durchbohrt zu werden ist vermutlich schmerzhafter.“
„Dann wirst du eben von zwei Dolchen durchbohrt...wärst du dann immer noch glücklich?“
„Klar. Angenommen, es handelt sich um mehrere Angreifer, so wäre es durchaus möglich, von fünf oder sechs Dolchen gleichzeitig durchbohrt zu werden. Ein solcher Tod wäre sicherlich unangenehmer als der Tod durch ein oder zwei Dolche – von daher könnte ich mich glücklich schätzen, nicht den schlimmsten aller Tode gestorben zu sein.“
Einerseits ging Lutero das Gespräch zunehmend auf die Nerven, aber andererseits gefiel ihm die Vorstellung nicht, ein Wortduell mit einem erbärmlichen kleinen Bettler zu verlieren.
„Gehen wir einmal davon aus, dass du von unendlich vielen Dolchen getötet wirst – in einem solchen Fall musst du unglücklich sein, richtig? Es können gar nicht mehr Dolche sein!“, rief Lutero triumphierend.
„Unendlich viele Dolche?“, entgegnete der Bettler lächelnd. „Das wäre ein Wunder. Und durch ein Wunder zu sterben ist keine besonders schlechte Art des Todes. Vermutlich würde man sogar noch eine ganze Weile nach meiner Beerdigung über mich reden...eine solche Aussicht würde mich ziemlich glücklich machen, schätze ich.“
„Aber du stirbst, verdammt! Du kannst doch unmöglich glücklich sein, wenn du stirbst!
„Irgendwann sterbe ich ohnehin“, erkannte der Bettler. „Da ist es doch weitaus interessanter, durch ein Wunder zu sterben, als durch einen gewöhnlichen und unspektakulären Tod.“
„Ähm...in Ordnung, vergessen wir die Sache mit dem Wunder und den Dolchen...“
„Umso besser. Wenn ich ganz ehrlich bin...ich bin schon ein bisschen glücklicher, wenn ich nicht gerade getötet werde.“
Auf der verzweifelten Suche nach einem entkräftenden Argument erinnerte sich Lutero in diesem Augenblick an den Beginn ihres Gespräches.
„Du hast selbst gesagt, dass du dich manchmal langweilst...und wer ist schon glücklich, wenn er sich langweilt?“
Lutero kannte die Antwort schon, bevor sie aus dem Mund des Fremden kam und ärgerte sich umgehend, dass er den Satz nicht anders formuliert hatte.
„Ich“, entgegnete der Bettler. „Sieh es mal so...im gleichen Moment, in dem ich mich langweile, könnte ich auch verschleppt, gefoltert oder von unendlich vielen Dolchen durchbohrt werden. Daher bin ich in solchen Augenblicken ziemlich glücklich darüber, dass ich Gelegenheit zur Langeweile habe.“
„Foltern...das ist ein gutes Stichwort“, fand Lutero. „Wenn du gefoltert wirst, bist du sicher nicht glücklich, oder?“
„Keine Ahnung. Ich wurde noch nie gefoltert. Darüber bin ich übrigens ziemlich...“
„...glücklich, schon klar“, grummelte der Händler. „Aber angenommen, du würdest gefoltert...dann wärst du nicht glücklich. Ganz im Ernst und unter uns...du wärst nicht glücklich, oder?
„Doch, vermutlich schon. Ich wäre glücklich darüber, dass ich nicht noch übler gefoltert werde, als es ohnehin schon der Fall ist.“
Lutero spürte, dass seine Fingerspitzen vor Ungeduld und aufkeimendem Zorn zitterten. Vielleicht waren Bettler doch schlimmer als Kinder.
„Aber angenommen, du wirst unter Anwendung der schmerzhaftesten aller Foltermethoden gefoltert. Du erleidest die größtmöglichen Schmerzen, die ein Mensch erleiden kann. Niemand wäre unter solchen Umständen glücklich!“
„Ich schon“, behauptete der Bettler, die Arme vergnügt hinter dem Kopf verschränkend. „Wenn ich in einer derartig grausamen Situation, der grausamsten und schmerzhaftesten aller möglichen Situationen, noch darüber nachdenken kann, ob ich glücklich bin oder nicht, dann muss dies bedeuten, dass es keine allzu großen Schmerzen auf der Welt geben kann. Das wiederum würde bedeuten, dass ich in einer recht angenehmen Welt lebe, was mich wiederum glücklich machen würde.“
Lutero dachte kurz darüber nach.
„Warte...deine Argumentationskette hat eine Lücke!“ Er dachte noch etwas länger nach. „Ich weiß nur nicht, wo.“
„Du machst dir zu viele Gedanken, schätze ich. Und das macht dich unglücklich.“
„Ich mache mir zu viele Gedanken?“, empörte sich Lutero. „Du bist es doch, der mir diese ganzen abwegigen Theorien an den Kopf wirft!“
„Nein“, widersprach der Bettler ruhig. „Ich habe nie von Raub, Schmerzen oder unendlich vielen Dolchen gesprochen, bevor du solche Wörter in unser Gespräch eingeführt hast. An Weihnachten sollte man an derartige Dinge nicht denken und sie erst recht nicht in den Mund nehmen – es ist ein heiliges Fest des Friedens, weißt du?“
„Du bist doch nicht etwa einer dieser moralischen Idioten, die einem einreden wollen, dass Weihnachten nicht nur aus Geschenken besteht?“ Lutero seufzte. „Bei Innos, ich hasse solche Leute...“
„Vielleicht bin ich einer von ihnen. Weißt du...du könntest mehr Leute glücklich machen, indem du ihnen eine Münze schenkst und freundlich zu ihnen bist. Sei nett zu deinen Mitmenschen und-„
„Warum duzt du mich eigentlich plötzlich?“, hakte Lutero scharf nach, auch um das lästige Gerede des Bettlers zu unterbrechen.
„Wir sind doch Freunde, nicht wahr?“, erwiderte der Bettler. „Immerhin hast du mir ein Geschenk gemacht.“
„Die Münze? Mein Gott, es war eine einzige dämliche Münze, das ist gar nichts...“
„Ich meine nicht die Münze.“ Der Bettler lächelte vielsagend, was Lutero leider nichts sagte. „Ich meine unsere Unterhaltung...das Gespräch mit dir hat mich außerordentlich bereichert. Ich danke dir dafür.“
„Ähm...ja, gern geschehen.“ Vermutlich hatte der Bettler gerade einen überwältigenden spirituellen Moment hinter sich, doch Lutero interessierte all das reichlich wenig. Der Kerl war ja ohnehin glücklich und würde es wohl noch für längere Zeit bleiben, von daher konnte er ruhigen Gewissens verschwinden. „Also dann...machs gut.“
“Frohe Weihnachten!“, rief ihm der Bettler hinterher. „Und vielen Dank!“

Kurz darauf setzte sich Lutero an seinen warmen Kamin in seinem gemütlichen, großen Haus und genoss die Ruhe – und insbesondere die Abwesenheit des Bettlers.
„Das Gespräch hat ihn bereichert...pah!“, murmelte der Händler verächtlich. „Die Erinnerung an eine Unterhaltung mit mir wird ihn garantiert nicht vor Hunger und Durst retten...er sollte mal lieber darüber nachdenken, wie er sich wirklich bereichert!“
Lutero dachte noch ein wenig über den Bettler und ihre gemeinsame Konversation nach, bis er schließlich sanft einschlummerte und den Rest des wundervollen, herrlich verschneiten Wintertages schlafend im Sessel verbrachte.

„Und? Hat´s geklappt, Rengaru?“
„Klar...der Kerl war völlig abgelenkt. Eins muss man dir lassen, Jesper...im Labern macht dir keiner was vor!“
„Weiß ich doch...wieviel hatte er denn dabei?“
„Zwei Beutel, prall gefüllt...scheint sich gelohnt zu haben, wenn du mich fragst.“
„Wundervoll. Ich mag es, wenn man uns so reichlich beschenkt.“
„Cassia wird zufrieden sein. Also gut...lass uns verschwinden, bevor der Typ merkt, dass die beiden Beutel, die er jetzt in den Taschen hat, mit Kieselsteinen gefüllt sind...“
„Vielleicht trösten ihn die netten Gesichter...“
„Glaube ich kaum...komm schon, steh auf.“
„Weißt du was, Rengaru?“
„Hm?“
„Momentan bin ich richtig glücklich.