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    Post [Story]Die Dr.-Erlinger-Trilogie



    1. Professor Erlingers gesammelte Stille

    Es war bereits früher Nachmittag, und ein schmaler Streifen goldenes Licht fiel in die düstere Halle, als sich die Tür öffnete und die Familie eintrat. Ein Mann und eine Frau mit ihrem Sohn. Sie waren die ersten Besucher heute, und nach der Erfahrung des Professors würden sie wahrscheinlich die Einzigen bleiben. In seinem Museum war nie viel los. Er würde also Zeit haben, sie herumzuführen. Viel Zeit.
    Die Frau stand noch mit einem Fuß auf den steinernen Stufen vor dem Eingang, unschlüssig, ob sie eintreten sollte. Über den Kopf des Jungen hinweg warf sie ihrem Mann einen zweifelnden Blick zu. Der Vater hatte die Hände am Kragen seines Wollmantels und schien noch nicht entschieden zu haben, ob er ihn ablegen sollte oder nicht. Professor Erlinger hatte das schon hundertfach erlebt. Hatten die Besucher sein Museum erst einmal betreten, blickten sie in die Dunkelheit der Eingangshalle und fragten sich stets, ob sie hier überhaupt richtig waren. Die Wände der Vorhalle waren aus groben Steinblöcken, manche moosbewachsen, und kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die trüben kleinen Oberlichter. Nur der kleine Junge schien sich hier wohlzufühlen. Er schlüpfte aus seinem Mantel und hängte ihn an einem der Haken auf, die Professor Erlinger für seine kleinen Besucher etwas tiefer an der Wand angebracht hatte.
    Bevor sie sich wieder davonmachen konnten, räusperte sich Professor Erlinger vernehmlich. Waren sich die Besucher erst einmal bewusst, dass sie bemerkt worden waren, traute sich in der Regel niemand mehr, wieder hinauszugehen. Professor Erlinger wusste: Wenn Besorgnis und gesellschaftliche Umgangsformen im Widerstreit lagen, trugen Letztere üblicherweise den Sieg davon.
    Professor Erlinger faltete die Hände und schenkte ihnen ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es beruhigend wirkte. Er war hager und außergewöhnlich hochgewachsen, und seine Schläfen waren bleich und eingefallen. Er hatte mit seinen achtzig Jahren immer noch die eigenen Zähne, die klein und grau waren und den unangenehmen Eindruck erweckten, zurechtgefeilt worden zu sein, so dass Professor Erlinger mit seinem Lächeln stets das genaue Gegenteil erreichte.
    Der Vater wich einen Schritt zurück, und die Frau streckte unwillkürlich die Hand nach ihrem Sohn aus.
    "Willkommen in meinem Museum! Bitte kommen Sie doch herein!"
    "Oh - hallo", sagte der Vater. "Wir wollten nicht stören..."
    "Sie stören überhaupt nicht. Wir haben geöffnet!"
    "Achso. Gut." Das klang nicht gerade begeistert. "Wir sollten jetzt lieber..." Der Mann verstummte - entweder hatte er vergessen, was er hatte sagen wollen, wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte oder ihn hatte - und Professor Erlinger wettete auf diese dritte Möglichkeit - schlicht der Mut verlassen.
    Die Frau sprang in die Bresche. "Uns wurde gesagt, dass es hier unten eine Ausstellung geben soll. So etwas wie ein Stadtmuseum."
    Professor Erlinger lächelte erneut, und das rechte Augenlid des Vaters begann hilflos zu zucken.
    "Aha. Da haben Sie wohl etwas missverstanden. Das Stadtmuseum von Khorinis befindet im alten Statthalterpalast. Hier unten ist ein Stillemuseum."
    "Hä?", fragte der Vater.
    Die Mutter runzelte die Stirn. "Ich glaube, ich verstehe nicht..."
    "Komm schon, Mama", sagte der Junge und befreite sich aus ihrem Griff. "Ich möchte mir das hier angucken. Ich will was sehen!"
    "Bitte", sagte Professor Erlinger, trat einen Schritt zurück und wies mit einer dürren, langfingrigen Hand auf den kurzen Gang, der von der Eingangshalle ins Dunkel führte. "Ich werde sie herumführen."

    In dem mahagonigetäfelten Salon, den sie betraten, war es so dunkel wie in einem Theater, kurz bevor sich der Vorhang öffnete. Einzig die Vitrinen wurden von verborgenen Lichtquellen beleuchtet. Auf Tischen und Sockeln standen blank polierte Becher aus Glas, die so hell schimmerten, dass die sie umgebende Finsternis noch schwärzer wirkte. An jedem dieser Becher war eine Art Hörrohr angebracht, das nur darauf zu warten schien, dass man es in die Hand nahm und hineinlauschte. Der Junge ging voraus, gefolgt von seinen Eltern. Professor Erlinger bildete den Schluss der kleinen Gruppe. Vor dem ersten Gefäß auf einem Marmorsockel blieben sie stehen.
    "Da ist ja gar nichts drin", sagte der Junge. Sein Blick schweifte durch den Raum und über die anderen verschlossenen Gefäße. "In keinem einzigen! Die sind ja alle leer."
    "Ha", sagte sein Vater trocken.
    "Nein, nicht ganz leer", erwiderte Professor Erlinger. "Jedes dieser Gläser ist luftdicht versiegelt, denn in jedem...", er machte eine Pause, um die Enthüllung umso eindrucksvoller erscheinen zu lassen, "...befindet sich die Totenstille eines Menschen. Hier, in den Eingeweiden von Khorinis, befindet sich die größte Sammlung von Stille auf der ganzen Welt. In einigen dieser Behälter ist das letzte Schweigen von äußerst berühmten Leuten eingefangen."
    Jetzt fing die Frau an zu lachen; sie lachte laut und wirklich und tat nicht nur so. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund, konnte sich aber nicht ganz beherrschen. Professor Erlinger lächelte nachsichtig. Seine Sammlung war den Touristen, die Khorinis besuchten, schon seit Jahren zugänglich, und er hatte bereits jede nur denkbare Reaktion erlebt.
    Der Junge hingegen hatte sich mit ernstem Gesicht dem Glasgefäß direkt vor ihnen zugewandt. Er nahm den Ohrbügel aus der Vorrichtung in die Hand und betrachtete ihn.
    "Setz ihn auf, wenn du möchtest", sagte Professor Erlinger. "Dann kannst du die Stille hören, die Lutero von Khorinis mit seinem letzten Atemzug ausgehaucht hat."
    "War Lutero ein berühmter Mann?", wollte der Junge wissen.
    Professor Erlinger wiegte seinen Kopf. "Eine Zeit lang schon, zumindest hier in Khorinis. Vor zweiundvierzig Jahren starb er hier am Galgen, nachdem er einige Zeit in meiner Klinik verbracht hatte. Ich habe seine Todesurkunde selbst ausgestellt. In meinem Museum hat er einen Ehrenplatz, denn seine letzte Stille war die erste, die ich eingefangen habe."
    Inzwischen hatte die Frau ihre Beherrschung wiedergefunden, doch sie sah aus, als könnte sie den nächsten Ausbruch nur mit Anstrengung zurückhalten.
    "Was hat Lutero denn getan?", fragte der Junge.
    "Er hat Kinder erwürgt", sagte Professor Erlinger. "Er hat sie im Keller seines prächtigen Hauses aufbewahrt, und hin und wieder hat er sie heraufgeholt, um sie zu betrachten." Er lächelte nachdenklich und fuhr fort: "Es gibt eben nichts, was Menschen nicht sammeln, wie ich immer sage." Professor Erlinger ging in die Hocke und betrachtete gemeinsam mit dem Jungen das Glas.
    "Nur zu, du darfst es dir ruhig anhören."
    Der Junge nahm den Ohrbügel und setzte ihn auf. Sein Blick ruhte aus dem lichterfüllten Gefäß. Eine Weile lauschte er aufmerksam, ohne zu blinzeln, dann runzelte er die Stirn.
    "Ich kann gar nichts hören." Der Junge hob die Hände, um den Ohrbügel wieder abzunehmen, doch Professor Erlinger hielt ihn zurück.
    "Warte! Es gibt die unterschiedlichsten Arten von Stille. Die Stille in einer Muschelschale. Die Stille in einem Wald, wenn ein Raubvogel über den Wipfeln kreist. Luteros letzte Stille ist noch da drin. Vielleicht müssen sich deine Ohren erst daran gewöhnen, aber dann wirst du sie hören, seine ganz eigene letzte Stille."
    Der Junge senkte den Kopf und schloss die Augen. Die Erwachsenen beobachteten ihn schweigend. Auf einmal riss er die Augen auf und sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung auf.
    "Hast du es gehört?", fragte Professor Erlinger.
    Der Junge nahm den Ohrbügel ab und nickte heftig. "Es war wie..." Er hielt inne und atmete kurz und lautlos ein.
    Professor Erlinger nickte befriedigt und richtete sich auf. Die Mutter zog den Jungen zu sich heran und schaute dem Professor mit festem Blick ins Gesicht: "Und Sie sind also...Arzt?"
    "Im Ruhestand."
    "Und Sie finden das nicht ziemlich...weit hergeholt? Selbst wenn es Ihnen gelungen ist, das letzte bisschen Luft, das ein Sterbender ausatmet, einzufangen. Das kann man doch nicht hören. Man kann Geräusche doch nicht in Flaschen abfüllen!"
    "Nein", stimmte er ihr zu. "Nicht das Geräusch. Nur eine ganz bestimmte Stille. Wir tragen alle unsere eigene Stille in uns. Meine Liebe, schweigt Ihr Mann nicht auf die eine Weise, wenn er glücklich mit Ihnen ist? Und auf eine andere, wenn er ärgerlich auf Sie ist?"
    Die Frau kniff die Augen zusammen und wollte etwas Unfreundliches erwidern, aber ihr Mann kam ihr zuvor und erlaubt es so dem Professor, sich von ihr abzuwenden.
    "Wie fangen Sie so eine letzte Stille denn ein?" Der Mann war zu einem Glasgefäß hinübergeschlendert, das auf einem niedrigen Tischchen neben einem Sofa aus dunklem Samt stand.
    "Oh, eine interessante Frage!" Professor Erlinger wies auf eine schwarze Ledertasche auf dem Boden vor dem dunklen Sofa. "In meiner Tasche führe ich eine Art kleine Pumpe mit mir, die den Atem einer Person in ein Gefäß saugt. Ich habe sie immer bei mir, für alle Fälle. Ich habe das Gerät selbst entwickelt, obwohl es vergleichbare Apparaturen bereits vor fast hundert Jahren gab."
    "Hier steht 'Barthos von Laran'", sagte der Vater und wies auf eine elfenbeinerne Karte, die vor dem beleuchteten Glas auf dem Tisch stand.
    "Ja", antwortete Professor Erlinger und hüstelte verlegen. "Letzte Stillen werden gesammelt, seit die technischen Möglichkeiten es erlauben. Ich muss zugeben, dass ich dafür zwölftausend Gold bezahlt habe. Barthos' letzte Stille wurde mir von dem Urenkel des Arztes angeboten, der ihn hat sterben sehen."
    Die Frau fing wieder an zu lachen.
    Der Vater betastete den Ohrbügel, der mit Barthos' Gefäß verbunden war.
    "Manchmal ist so eine Stille voller Gefühle", sagte Professor Erlinger. "Man kann förmlich spüren, dass sie etwas zum Ausdruck bringen möchte. Viele, die Barthos' letzter Stille lauschen, erahnen nach einer Weile ein letztes Wort, das nie ausgesprochen wurde. Der Ausdruck einer Sehnsucht. Hören Sie selbst! Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich.“
    Der Vater beugte sich vor und setzte den Ohrbügel auf.
    „Das ist doch lächerlich“, sagte die Frau.
    Der Mann lauschte aufmerksam, und sein Sohn schmiegte sich dabei an ihn.
    „Darf ich auch mal?“
    „Pst“, sagte der Vater.
    Alle schwiegen, mit Ausnahme der Frau, die etwas Unverständliches vor sich hin flüsterte.
    „Reisschnaps“, hauchte der Vater, fast ohne die Lippen zu bewegen.
    „Drehen Sie die Karte um, auf der sein Name steht“, sagte Professor Erlinger.
    Der Mann drehte die elfenbeinerne Karte um. Auf der einen Seite stand „Barthos von Laran“, auf der anderen „Reisschnaps“. Mit ernster Miene setzte der den Ohrbügel ab und senkte den Blick voller Ehrfurcht auf das Glas.
    „Natürlich, der Alkohol. Wissen Sie…in der Schule habe ich seine Gedichte auswendig gelernt. „Die Gabe der Götter“ habe ich vor der versammelten Schulgemeinde vorgetragen, fehlerlos.“
    „Jetzt hör aber auf!“, schnappte die Frau. „Das ist doch nur irgendein billiger Taschenspielertrick.“
    „Es war, als wäre mir selbst der Gedanke gekommen…Reisschnaps…wie eine Stimme im Kopf…so voller Enttäuschung.“ entgegnete der Vater.
    Die Frau stieß ein missbilligendes Schnauben aus.
    Der Junge setzte den Ohrbügel auf, um dem stummen Wort Barthos von Larans zu lauschen.
    „Sind das alles berühmte Leute?“, fragte der Mann. Er war blass geworden, doch auf seinen Wangen hatten sich rote Flecken abgezeichnet, als hätte er Fieber.
    „Keineswegs“, antwortete Professor Erlinger. „Ich habe die letzte Stille von Händlern und Novizen, von Jägern und Milizen. Die unterschiedlichsten Leute, die meisten von ihnen völlig gewöhnlich. Das interessanteste Schweigen meiner Sammlung stammt sogar von einer Fischhändlerin.“
    „Marlan“, las die Frau von einer Karte ab, die vor einem hohen, staubigen Glasgefäß lag. „Ist das auch eine von ihren gewöhnlichen Menschen? Eine Hausfrau und Mutter wie ich vielleicht?“
    „Nein“, sagte Professor Erlinger nachdenklich. „Eine Hausfrau und Mutter habe ich noch gar nicht in meiner Sammlung. Seltsam.“ Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: „Marlan war eine aufstrebende und höchst talentierte Magierin des Feuers. Es gab…einen Unfall, ja. Hat viele Menschen das Leben gekostet. Marlan hat überlebt, zumindest vorübergehend. Sie hat sich durch Feuer und Trümmer gekämpft, und dabei Verbrennungen an ihrem ganzen Leib davongetragen. In meiner Klinik hat sie noch eine Woche durchgehalten. Ich habe zu der Zeit unterrichtet und sie meinen Schülern vorgeführt. Eine Kuriosität! Damals hat man nur selten jemanden zu Gesicht bekommen, der mit solchen Verbrennungen noch lebt. Es war unglaublich…ihre Gliedmaßen…sie waren miteinander verschmolzen zu einem einzigen…nun, Sie können es sich vorstellen. Glücklicherweise hatte ich meine Tasche bei mir; sie starb nämlich, als wir sie gerade untersuchten.“ Professor Erlinger lächelte bei der Erinnerung.
    „So etwas Abscheuliches habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört“, rief die Frau. „Ich glaube Ihnen kein Wort. Alles in diesem Museum ist doch erlogen; ein Versuch, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen!“
    „Aber Liebling…“, sagte der Mann lahm.
    „Es ist Ihnen vielleicht nicht entgangen, dass die Ausstellung kostenlos ist“, sagte Professor Erlinger sanft.
    „Schaut mal!“ Der Junge stand am anderen Ende des Raums und las den Namen von einer Karte ab. „Das ist der Mann, der die Barriere über dem Minental zerstört und den Krieg gegen die Orks gewonnen hat!“
    Professor Erlinger wandte sich bereitwillig zu ihm um und wollte ihm mehr zu diesem besonderen Ausstellungsstück erzählen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah.
    „Versuchen Sie es lieber zuerst mit einem anderen“, sagte er zu der Frau, die sich gerade den Ohrbügel an Marlans Glas aufsetzen wollte. „Manchen Leuten missfällt, was sie in dem Gefäß von Marlan hören…oder nicht hören können.“
    Sie beachtete ihn nicht, sondern nahm das Hörrohr und lauschte mit zusammengekniffenen Lippen. Professor Erlinger faltete ergeben die Hände und beobachtete ihren Gesichtsausdruck.
    Dann machte sie unvermittelt einen Satz zurück. Dem Professor blieb beinahe das Herz stehen, denn die Frau hatte immer noch den Ohrbügel auf und ihre plötzliche Bewegung ließ das Glas über den Tisch schrammen. Im letzten Moment bekam Professor Erlinger das Gefäß zu fassen. Die Frau riss sich unbeholfen den Ohrbügel vom Kopf. Ihre Augen flackerten, während sie das Glas von Marlan betrachtete, ohne es wirklich zu sehen. Sie schluckte vernehmlich und hielt sich eine zitternde Hand an den Hals.
    „Mir gefällt es hier nicht“, flüsterte sie.
    „Liebling?“ fragte ihr Mann. Er eilte zu ihr herüber. „Du möchtest doch nicht schon gehen? Wir sind doch gerade erst gekommen.“
    „Das ist mir egal“, erwiderte sie. „Ich will hier weg.“
    „Ach Mama!“, maulte der Junge.
    „Ich hoffe, Sie tragen sich noch in unser Gästebuch ein“, sagte der Professor und fasste die Frau sanft am Ellenbogen, um sie zur Gardarobe zu begleiten.
    Der Mann fragte: „Könntest du nicht für einen Moment oben warten? Wir würden uns gerne noch ein wenig umsehen.“
    „Ich möchte, dass wir sofort gehen. Und zwar alle“, sagte sie mit tonloser Stimme.
    Der Vater warf Professor Erlinger einen bedauernden Blick zu und half seiner Frau in den Mantel. Der Junge schob missmutig die Hände in die Hosentaschen und trat nach der schwarzen Arzttasche vor dem Sofa. Dann begriff er, wonach er da eben getreten hatte, kniete sich hin und untersuchte ohne die geringste Spur von Scheu oder Anstand den Verschluss, um sich die Pumpe anzusehen, von der Professor Erlinger gesprochen hatte.
    Die Frau zog ihre Ziegenlederhandschuhe an und glättete sie, bis sie straff saßen. Plötzlich drehte sie sich auf ihren Absätzen um und sah dem Professor ins Gesicht.
    „Sie sind widerlich. Ein Leichenfledderer.“
    Professor Erlinger faltete die Hände und betrachtete sie mitfühlend. Er zeigte seine Sammlung schon seit Jahren und wurde nicht zum ersten Mal der Leichenfledderei bezichtigt.
    „Ach Liebling, nun sei doch nicht so…“sagte ihr Mann.
    „Ich gehe jetzt nach oben“, sagte sie und senkte den Kopf. „Beeilt euch!“
    „Warte“, versuchte es der Mann ein weiteres Mal.
    Er hatte seinen Mantel noch nicht angezogen, und auch der Junge kniete noch vor der offenen Tasche am Boden. Er strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über ein Gerät, aus dem schwarze Schläuche wuchsen. An einem Ende war eine metallene Gesichtsmaske angebracht.
    Die Frau hatte sich mittlerweile abgewandt und war hinausgegangen. Sie ließ die Tür hinter sich offen stehen und eilte die steile Granittreppe zum Gehweg hinauf und hastete, ohne aufzublicken, über die Straße.
    Professor Erlinger wollte gerade das Gästebuch holen – vielleicht würde der Mann ja noch hineinschreiben -, da hörte er das Kreischen von metallbeschlagenen Rädern auf dem Straßenpflaster. Dann einen dumpfen Schlag.
    Der Mann schrie auf, und Professor Erlinger sah ihn auf die Treppe zustürzen. Von oben rief eine Stimme: „Sie hat nicht einmal geschaut! Ist einfach auf die Straße gelaufen! Was hätte ich denn machen sollen?“
    Der Mann schien den Gehweg bereits erreicht zu haben, denn Professor Erlinger hörte, wie er schrie: „Professor! Bitte! Kommen Sie doch! Sie braucht Hilfe!“
    Professor Erlinger hielt inne, um sich seinen Mantel vom Haken zu nehmen. Es war ein windiger Tag, und er wollte sich keine Erkältung zuziehen. Man wurde schließlich nicht achtzig, wenn man leichtsinnig war. Als er an dem Jungen vorbeilief, der mit bleichem Gesicht am Boden kniete und die Treppe hinaufstarrte, zog ihn dieser leicht am Hosenbein.
    Professor Erlinger sah zu ihm hinunter. Der Junge hielt ihm die offene Tasche hin.
    „Ihre Tasche. Vielleicht…brauchen Sie etwas daraus.“
    Professor Erlinger lächelte sanft und nahm die Tasche aus den kalten Fingern des Jungen entgegen.
    „Besten Dank. Das ist gut möglich.“

    Geändert von MiMo (11.01.2017 um 08:49 Uhr) Grund: Zettel-Icon

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    2. Das Schwarze Kabinett

    Nachdem Professor Erlinger die letzten Besucher durch die schwere Eichenholztür aus "Erlingers Wachsfigurenkabinett" geleitet hatte, wandte er sich dem jungen Mann zu, dessen Anliegen ihm sehr wohl bewusst war. Professor Erlinger konnte das Gewicht des Beutels mit den Goldstücken in der Innentasche seiner Livree spüren; dennoch zog er es vor, sich zunächst überzeugen zu lassen.
    "Kommen Sie doch bitte in mein Büro, mein Lieber", sagte Professor Erlinger. Er war hager und außergewöhnlich hochgewachsen, und seine Schläfen waren bleich und eingefallen. Sein Leibrock mochte nicht der neusten Mode entsprechen, doch umgab den Professor der staubig matte Glanz altmodischer Eleganz. Sein Gesprächspartner war da ein ganz anderer Fall. Er war ein kleiner, schmaler Mensch mit dünnem, farblosem Haar in einer zu großen Jacke. Er hatte den misstrauischen Blick und die verteidigende Haltung eines Mannes, der Ablehnung gewöhnt war. Der Professor wusste, dass er einen über das Mittelmaß hinaus begabten Menschen vor sich hatte, dessen Mangel an Selbstsicherheit ihn aber zum Versager machte.
    Professor Erlinger faltete die Hände und schenkte dem jungen Mann ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es aufmunternd wirkte. Er hatte mit seinen achtzig Jahren immer noch die eigenen Zähne, die klein und schimmernd grau waren wie die Miesmuscheln am Strand von Khorinis. Sie erweckten den unangenehmen Eindruck, zurechtgefeilt worden zu sein, so dass Professor Erlinger mit seinem Lächeln stets das genaue Gegenteil erreichte.
    Als der junge Mann, der sich als Gus aus Ardea vorgestellt hatte, sein Anliegen äußerte, stützte sich der Professor mit den Ellenbogen auf seinen Schreibtisch und beugte sich vor.
    "Gus?", fragte er, "Gus wie Augustus?".
    "Gus wie Gustavo", sagte Gus verdrossen. "Was sagen Sie nun zu meinem Vorschlag?"
    Professor Erlinger lehnte sich in seinem plüschbezogenen Sessel zurück und hob die Hände: "Ihre Bitte ist mir nichts Neues. Tatsächlich habe ich sie schon vielen Leuten abschlagen müssen." Er machte eine kurze Pause, aber als Gus darauf nichts erwiderte, fuhr er fort, um ihm den Ball etwas nachdrücklicher zuzuspielen: "Meistens junge Burschen, die eine Wette eingehen wollten. Das kommt etwa an drei Tagen in der Woche vor. Doch dabei habe ich nichts zu gewinnen, nur zu verlieren, wenn ich jemandem gestatte, die Nacht in meinem Schwarzen Kabinett zu verbringen. Stellen Sie sich vor, in welche Lage ich geriete, wenn einer dieser jungen Esel dabei den Verstand verlöre!"
    "Aber ich bin ein Schriftsteller, kein Esel, der eine Wette gewinnen will!"
    Der Professor lächelte. "Sie meinen, ein Schriftsteller hat ohnehin nicht genug Verstand, um ihn zu verlieren?"
    Gus sah ihn betroffen an."Ich meinte, dass ein Schriftsteller ein Mensch mit viel mehr Verantwortungsgefühl ist", sagte er lahm. "Außerdem haben Sie in diesem Falle doch tatsächlich etwas zu gewinnen: Bekanntheit und Reklame."
    Der Professor wiegte den Kopf, als ob er darüber nachdachte. "Fahren Sie fort, junger Freund. Für welche Zeitung schreiben Sie denn? Ich hoffe, nicht für den [/i]Khoriner Morgen[/i]?"
    "Zur Zeit bin ich...nun, freier Mitarbeiter", gestand Gus, "ich schreibe spaltenweise für verschiedene Zeitungen. Aber eine Geschichte wie "Eine Nacht im Schwarzen Kabinett von Khorinis", das würde keine Zeitung ablehnen. In ganz Myrtana nicht!"
    Professor Erlinger rieb sich das knochige Kinn. "Soso, und wie wollen Sie die Sache angehen?"
    "Es muss natürlich eine schauerliche Geschichte werden, schauerlich mit einem rettenden Schuss von Witz."
    Der Professor nickte bedächtig. "Nun gut, bringen Sie Ihre Geschichte bei der Goth'schen Zeitung an, dann..." - er machte ein Pause, entblößte wieder seine zu vielen und zu spitzen Zähne und zog umständlichen einen prallen Lederbeutel aus der Innentasche seiner Jacke, in dem es verheißungsvoll klimperte - "...dann warten fünfzig blanke Goldstücke auf Sie, junger Freund. Zusätzlich zu dem, was Ihnen die Zeitung bezahlen wird."
    Gus sah ihn aufrichtig erfreut an, und Professor Erlinger hob beschwichtigend die Hände. Den besten Teil hatte er sich bis zum Schluss aufgehoben. "Es ist keine geringe Prüfung, der Sie sich da unterziehen wollen, lieber Gus. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich Ihrer völlig sicher sind. Ich gestehe offen, dass ich selbst keine Nacht dort mit meinen dunklen Gesellen verbringen würde - und das, obwohl ich sie alle mit eigener Hand angefertigt habe. Den ganzen Tag kann ich dort unten unbekümmert umhergehen, aber nachts bei ihnen zu schlafen, das wäre mir zuwider."
    "Warum?", wollte Gus wissen.
    "Ich weiß nicht. Ohne Grund eigentlich. Sehen Sie, ich glaube nicht an Gespenster. Und selbst wenn, dann würde ich vermuten, dass sie eher am Ort ihrer Verbrechen spuken würden, oder dort, wo man ihre Leichname verscharrt hat, und nicht in irgendeinem Keller, wo ein alter Narr mittelmäßige Wachsbilder von ihnen ausstellt."
    Gus öffnete den Mund, um einen Einwand zu erheben, aber der Professor bedeutete ihm zu schweigen und fuhr fort: "Ich möchte einfach nicht die Nacht bei ihnen sitzen. dort, in der Stille des Schwarzen Kabinetts, wo sie mich anstarren, wie... nun, wie sie es eben tun. Diese Männer und Frauen stellen den boshaftesten und abscheulichsten Typus der Menschheit dar, und ich verrate Ihnen ein Geheimnis..." - er senkte die Stimme - "...die Leute, die kommen, um meine Mörder anzusehen, haben meist auch nicht die edelsten Motive. Die ganze Atmosphäre dort unten ist schauerlich." Er rieb sich die eingefallenen Schläfen, sah Gus eindringlich an und fügte hinzu: "Wenn Sie empfänglich für Atmosphäre sind, sehen Sie einer entsetzlichen Nacht entgegen."
    Der junge Mann sah bei diesen Worten ganz elend aus, als habe er sich bereits darauf eingestellt. Der Professor vermutete, dass sein Gegenüber sich mit kleinen Artikelchen über dies und jenes über Wasser hielt, und das Honorar für eine besondere Geschichte in der Goth'schen Zeitung bedeutete, zusammen mit den fünfzig Goldstücken im Lederbeutel, vermutlich einen unfassbaren Reichtum und Befreiung von den ärgsten Sorgen.
    "Missetäter und Zeitungsleute haben den schwersten Weg", sagte Gus mit schiefem Lächeln. "Ich habe mich bereits auf eine unangenehme Nacht vorbereitet, und ich vermute, dass Ihr Kabinett nicht wie ein Hotelzimmer eingerichtet sein kann. Aber Ihre Wachsfiguren werden mich nicht sonderlich stören."
    "Nicht?"
    "Nein, ich bin nicht abergläubisch."
    "Aber Sie sind ein Schreiber, Sie müssen doch eine lebhafte Phantasie haben!"
    Wieder sah Gus den Professor betroffen an, "Die Verleger, für die ich schreibe, behaupten immer, ich hätte gar keine. Einfache Tatsachen werden in meinem Beruf nicht ausreichend geschätzt, und Zeitungen bieten Ihren Lesern nicht gerne Brot ohne Butter an, wie man so sagt."
    Ein Anflug von Enttäuschung huschte über Professor Erlingers Gesicht, doch dann lächelte er und sagte: "Wir werden sehen, wir werden sehen." Er stand auf. "Ich werde anordnen, dass die Figuren heute Nacht nicht zugedeckt werden. Der Nachtwächter weiß bereits, dass Sie heute bei uns nächtigen werden. Gleich führe ich Sie hinunter und zeige Ihnen alles."

    ***
    Die Wände der Vorhalle, in die die beiden Männer aus der plüschbezogenen Behaglichkeit des Büros traten, waren aus groben Steinblöcken, manche moosbewachsen, und kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die trüben kleinen Oberlichter.
    "Haben Sie schon einmal meine Gesammelte Stille besucht?", fragte Professor Erlinger und wies auf eine Tür in der feuchten Mauer linker Hand. „Es ist eine ganz außerordentliche Sammlung.“
    "Bisher fehlte mir dazu leider die Gelegenheit", antwortete Gus, wieder mit einem Ausdruck ehrlicher Beschämung und Betroffenheit.
    "Oh, das ist auch nicht weiter schlimm", erwiderte der Professor versöhnlich. "Ich bin Sammler, und die gesammelten Stillen sind nur ein kleines Steckenpferd von mir, nichts Besonderes. Aber wenngleich die Ausstellungsstücke nicht so aufsehenerregend sind wie meine Wachsfiguren, bin ich doch immer auf der Suche nach neuen Exponaten." Er öffnete die Tür und fuhr fort: "Sie können einen kurzen Blick hineinwerfen, wenn Sie möchten. Ich habe ein Gerät in diesem Raum stehen, das ich schon lange mit in das Schwarze Kabinett nehmen will, aber wenn Sie Erfahrung im Umgang mit Tattergreisen wie mir haben..." - er hob die Hand, um einen Einspruch seines Gesprächspartners abzuwehren - "...dann wissen Sie vielleicht, dass unser Gedächtnis nicht eben besser wird."
    Professor Erlinger trat durch die Tür in die Finsternis dahinter, während Gus es vorzog, auf der Schwelle stehenzubleiben und tatsächlich nur den kurzen Blick hineinzuwerfen, der ihm in Aussicht gestellt worden war.
    In dem mahagonigetäfelten Salon war es so dunkel wie in einem Theater, kurz bevor sich der Vorhang öffnete. Einzig die Vitrinen wurden von verborgenen Lichtquellen beleuchtet. Auf Tischen und Sockeln standen blank polierte Becher aus Glas, die so hell schimmerten, dass die sie umgebende Finsternis noch schwärzer wirkte. An jedem dieser Becher war eine Art Hörrohr angebracht, das nur darauf zu warten schien, dass man es in die Hand nahm und hineinlauschte.
    Doch bevor Gus mehr erkennen konnte, trat der Professor aus der Dunkelheit hervor. Unter seinem Arm klemmte eine große, schwarze, lederne Tasche.
    "Wir können nun hinuntergehen", sagte Professor Erlinger.
    Gus folgte dem Professor durch ein halbes Dutzend aus grobem Stein gehauenen Räumen, in denen ein alter, verkrüppelter Ork in einer Nachtwächteruniform damit beschäftigt war, die Figuren für die Nacht in Leintücher einzuhüllen - Könige und Königinnen von Myrtana, Fürsten und Feldherrn, Helden und Magier dieser und anderer Generationen, die ganze bunte Herde von Menschenwesen, deren Berühmt- oder Berüchtigtsein sie für diese Art der Unsterblichkeit geeignet machte. Professor Erlinger sagte zu dem Ork ein paar Worte in gebelltem Orkisch, von denen Gus nur das Wort für "bequemen Ledersessel" verstand. Der Professor wandte sich zu Gus um: "Das ist alles, was ich für Sie tun kann, fürchte ich. Ich hoffe, Sie werden dennoch ein wenig schlafen können." Er machte eine Pause und fügte hinzu: "Eine Bedingung muss ich Ihnen freilich noch stellen. Ich muss Sie dringend bitten, kein offenes Feuer zu entzünden, keine Kerze, keine Pfeife, was auch immer. Wir hatten gerade heute einen Feueralarm - ich weiß nicht, wer ihn gegeben hat -, jedenfalls war er falsch. Feuer wäre der Tod für meine Figuren. Sie verstehen?"
    "Natürlich", sagte Gus.
    Professor Erlinger führte Gus eine schlecht beleuchtete Treppe hinunter, die den düsteren Eindruck erweckte, sie führe in ein Burgverlies. Die feuchten Wände hatte der Professor mit vorbereitenden Schrecknissen dekoriert: Werkzeuge der Inquisition der Heiligen Flamme, Brandeisen, Daumenschrauben und andere Erinnerungsstücke an jene Zeit der Grausamkeit. Die Treppe führte hinab in das Schwarze Kabinett.

    ***
    Das Schwarze Kabinett war ein asymmetrischer Raum mit gewölbter Decke, nur matt erleuchtet von Lichtern, die hinter eingelassenen Milchglasscheiben brannten. Professor Erlinger hatte sich große Mühe gegeben, einen düsteren, unbehaglichen Raum zu schaffen, einen Raum, der die Besucher aufforderte, sich nur flüsternd zu unterhalten. Es lag eine Stimmung wie in einer Kapelle in der Luft, aber es war die Atmosphäre einer Kapelle, die nicht frommen Zusammenkünften diente, sondern in der man dunklen, niedrigen Wesenheiten huldigte. Die Wachsfiguren der Bösewichter und Schandtäter standen auf niedrigen Podesten. Schwarzmagier und Piraten, Giftmörderinnen und Plünderer standen erstarrt Schulter an Schulter. Professor Erlinger wies auf eine der unheimlichen Berühmtheiten in einer mattschwarz schimmernden Rüstung: "General Lee, der Mörder der Königin. Sie haben ihn sicher erkannt. Eine unbedeutende kleine Bestie, nicht wahr? Sieht aus, als könnte er keinem Wurm etwas zuleide tun. Und das dort ist..."
    "Wer ist das?", flüsterte Gus und deutete auf eine andere Figur.
    "Oh, die wollte ich Ihnen gerade zeigen", sagte der Professor sichtlich erfreut. "Sie ist eines unserer Glanzlichter! Kommen Sie heran, sehen sie Sie sich ganz genau an! Übrigens die Einzige in dieser feinen Gesellschaft, die nicht hingerichtet worden ist."
    Die Figur, auf die Gus gezeigt hatte, war die einer feingliedrigen Frau mit nachtschwarzen Haaren, die wie ein seidener Wasserfall über ihre Schultern fielen. Ihre Haut hatte die Farbe von Antilopenfell, und sie trug die üppigen Gewänder der Varantiner, samtiges, goldbesticktes Brokat und Leopardenleder. Gus hätte nicht in Worte fassen können, was ihn an dem sanften Gesicht mit den pfeilspitzen Wimpern so abstieß. Er war einen Schritt zurückgewichen, und es kostete ihn sogar in Gegenwart des Professors erhebliche Überwindung, wieder hinzusehen.
    "Wer ist das?", wiederholte er.
    "Das", erwiderte Professor Erlinger mit unüberhörbarem Stolz, "ist Alzahra von Mora Sul."
    Gus schüttelte unsicher den Kopf. "Ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört, aber..."
    Professor Erlinger lächelte. "Wenn Sie Varantiner wären, würden Sie sich ihrer sicher erinnern. Sie galt lange Zeit als der Schrecken von Bakaresh. Ihre Arbeit bestand darin, tagsüber feine Gesellschaften in ihrem Salon zu veranstalten und bei Nacht Kehlen durchzuschneiden - oder durchzubeißen, wie man erzählt -, wenn sie gerade die Lust dazu überkam. Sie mordete aus dem nackten, teuflischen Vergnügen, das ihr das Morden bereitete, und immer auf die gleiche Weise: Es waren Männer, denen sie im Boudoir die Kehle eröffnete. Einige berichteten, sie hätte sich dazu in eine geschmeidige Raubkatze, eine Löwin, oder gar ein Reptil verwandelt, um ihr blutiges Werk zu tun, aber das mag zum Einen aus der ausgeprägten Phantasie der Varantiner rühren..." Der Professor betrachtete seine Wachsfigur gedankenverloren. "Ist sie nicht wunderschön? Aber vielleicht ist alles wunderschön, was man mit Liebe betrachtet."
    "Und zum Anderen?", fragte Gus mit trockenen Lippen.
    "Dazu wollte ich gerade kommen. Sehen sie sich ihre Augen an!"
    Gus beugte sich widerwillig vor und gehorchte. Er blickte in Augen, schwarz wie Obsidian und tief wie Brunnen, und schauderte.
    "Ja, diese Figur ist ein kleines Meisterstück, nicht wahr?", lächelte der Professor. "Die Augen beißen einen geradezu, und das ist ausgezeichnet realistisch, denn Alzahra war eine Hypnotiseurin, und sie belegte ihre Opfer vermutlich mit einem hypnotischen Bann, bevor sie..." Er räusperte sich umständlich. "Wie dem auch sei, vielen hat sie sich in ihrer angeblichen Raubtiergestalt gezeigt, ohne sie zu ermorden, und ich führe dies mit Bestimmtheit auf hypnotische Künste zurück. Hätte sie diese nicht besessen, wäre es unmöglich für sie gewesen, als zierliche Frau solche schauerlichen Taten zu begehen. Man hat an keinem ihrer Opfer Spuren eines Kampfes gefunden."
    Gus schluckte trocken. Es kam ihm plötzlich sehr heiß und stickig vor in diesem Kabinett. "Sie sagten, sie sei noch am Leben?"
    "Oh nein, mit Sicherheit nicht! Ich sagte, dass sie als Einzige hier unten nicht hingerichtet worden ist. Sie hinterließ am Ende ihrer Zeit mit voller Absicht Spuren, die auf ihre Fährte führten, und man besaß schließlich genug Beweise, um sie auf den Scheiterhaufen oder in den Kerker zu bringen, aber... sie verschwand auf geheimnisvolle Weise, als sie spürte, wie sich das Netz immer enger zuzog. Seitdem gilt sie als flüchtig, aber man nimmt mit Sicherheit an, dass sie tot ist. Sie hat irgendein Mittel gefunden, sich selbst das Leben zu nehmen und ihre Leiche unauffindbar zu machen, sagen die Sachkundigen. Seit ihrem rätselhaften Verschwinden sind noch zwei oder drei Morde nach demselben Muster geschehen, aber das sind zweifellos die Werke von Nachahmern. Finden Sie es nicht auch bemerkenswert, dass jeder große Mörder Nachahmer findet?"
    Gus trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, sah zu Alzahra hinüber und erstarrte plötzlich.
    "Eben dachte ich, sie bewegt sich", sagte er stockend.
    Der Professor lachte auf. "Ich fürchte, Sie werden mehr als nur eine optische Täuschung erleben, ehe die Nacht vorüber ist. Übrigens habe ich den Nachtwächter angewiesen, nicht abzusperren. Sie können also jederzeit hinaufkommen, wenn es Ihnen zu viel wird mit dieser reizenden Gesellschaft. Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine bessere Beleuchtung stellen kann - es brennen bereits alle verfügbaren Lichter, und von offenen Feuer habe ich Sie ja bereits gebeten abzusehen. Wir halten diesen Raum aus begreiflichen Gründen so düster wie möglich. Und noch ein Hinweis, in eigener Sache sozusagen..." Professor Erlinger hüstelte geziert, öffnete seine schwarze Tasche und holte ein sonderbares Gerät hervor. Es war eine Pumpe aus mattsilbernem Metall, an deren vorderem Ende ein tellergroßer Trichter angebracht war. "Ein kleines, persönliches Experiment, möchte ich sagen. Es hat etwas mit der Stille und der Luft dieses Raumes zu tun, nichts, was von allgemeiner Bedeutung wäre. Es macht Ihnen doch sicher nichts aus, wenn ich dieses Gerät dort hinten in die Ecke stelle? Beachten Sie es einfach gar nicht weiter!"
    In diesem Moment betrat der verkrüppelte Ork das Kabinett. Er zerrte einen dunklen Armsessel hinter sich her.
    "Wo möchten Sie ihn haben?"
    "Ich suche mir selbst einen Platz dafür, besten Dank."
    Der Ork entblößte zwei Reihen gelber Zähne, die schief in seinem schwarzen Zahnfleisch staken wie alte Grabsteine. "Nehmen Sie sich in Acht vor Inubis da drüben. Und vor Lucia... " - er wies mit seiner Pranke auf eine schöne, aber außerordentlich boshaft dreinblickende junge Frau am anderen Ende des Raumes - "...ich glaube, hat Auge auf Sie geworfen." Er bellte ein raues Lachen, das Gus über die Maßen gefiel, weil es der ganzen Angelegenheit etwas erstrebenswert Alltägliches verlieh. Es war leichter, als er gedacht hatte.
    Das matte, unbewegliche Licht fiel auf die Reihen von Wachsfiguren, die so unheimlich menschlich wirkten, dass ihr Schweigen etwas Unnatürliches bekam. Als Gus sich den Sessel zurechtgerückt hatte - er hatte ihn absichtlich so gedreht, dass er dem Ebenbild Alzahras den Rücken zuwandte -, war er noch heiter gewesen, aber als sich die Schritte des Professors und des Nachtwächters entfernt und eine tiefe Stille sich über den Raum gesenkt hatte, wurde ihm unbehaglich zumute. Kein Atmen, kein Rascheln von Kleidern, keines der hundert kleinen Geräusche war zu hören, die man vernimmt, wenn eine Ansammlung von Menschen plötzlich verstummt. Die Luft war so tot und still wie das Wasser auf dem Grund eines alten Brunnens. Nur hin und wieder unterbrach ein kaum hörbares, metallisches Keuchen das Schweigen im Raum. Es ging von der silbernen Pumpe des Professors aus, die in weiten, aber regelmäßigen Abständen Luft einsog, ein unendlich langsamer, lebloser Atem. Nicht ein Luftzug war im Raum, der einen Vorhang bewegt, in einer Draperie geraschelt oder einen Schatten zum Schwanken gebracht hätte. Der Einzige, dem Gus eine Bewegung abschmeicheln konnte, war sein eigener Schatten, wenn er seinen Arm regte, um sich Notizen zu machen.
    Wohin mein Auge blickt, ist alles starr, wohin mein Ohr lauscht, ist alles stumm, schrieb er in seine Kladde und überlegte, wie er diesen Satz in dem Artikel unterbringen könnte, den er morgen verfassen würde. So muss es auf dem Meeresboden sein.
    Er betrachtete die finsteren Gestalten. Archol, der Schattenlord, schwang ein zweihändiges Schwert über seinem Kopf. Lucia lächelte bösartig zu ihm hinüber. Es waren nur Wachsfiguren! So lange er diesen Gedanken nur allen anderen voranstellte, würde alles gut gehen.
    Dennoch wuchs sein Unbehagen, während die Minuten verrannen, und Gus ahnte, nein, wusste, dass es am wächsernen Blick Alzahras lag, der von hinten auf ihn gerichtet war. Die Augen dieser varantinischen Wachsfigur verspotteten und peinigten ihn, und er zuckte förmlich vor Begierde, sich umzudrehen und nachzusehen.
    Wenn ich mich jetzt umdrehe, ist das nur ein Eingeständnis meiner Feigheit, dachte er und versuchte, sich auf die Notizen in seinem Schoß zu konzentrieren.
    Du willst dich doch bloß nicht umdrehen, weil du Angst hast, flüsterte eine andere Stimme.
    Die beiden Gedanken rangen eine Weile schweigend miteinander, und am Ende rückte Gus seinen Sessel ein wenig herum und sah sich um. Eine quälende Sekunde lang begegnete er dem spöttischen und zugleich sanften Blick Alzahras, den ein infernalisch geschickter Künstler in Wachs festgehalten hatte, dann drehte er sich mit seinem Sessel wieder um und sah in die andere Richtung. Alzahra stach gegen die anderen Figuren merkwürdig und ins Auge fallend ab, vielleicht, weil der Schein einer matten Lampe genau auf sie hinabfiel.
    "Ihr seid alle bloß Wachsfiguren", murmelte Gus trotzig.
    Gewiss, sie waren bloß Wachsfiguren - aber Wachsfiguren bewegen sich nicht. Gus hatte nicht die geringste Bewegung gesehen, aber es schien ihm, als sei in den wenigen Augenblicken, als er sich nach Alzahra umgesehen hatte, eine winzige, aber sichtbare Veränderung in der Ordnung der Figuren vor sich gegangen. Lucia hatte sich ein wenig nach links gedreht und... Ich habe den Sessel nicht wieder in genau die selbe Stellung gerückt.
    Aber auch General Lee und der Dämonenbeschwörer dort drüben... Gus hielt den Atem an. Etwas war im Raum, das die Stille nicht ganz brach und immer wieder, wohin er auch blickte, hinter die Grenzen seines Gesichtsfeldes entwich.
    "Das ist lächerlich", stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Er nahm seinen Schreibblock zur Hand und notierte rasch: Todesschweigen und unirdische Stille der Figuren - Figuren scheinen sich zu bewegen, wenn man nicht hinsieht - hypnotische Augen Alzahras
    Er klappte den Block plötzlich über seine Finger und blickte schnell über seine rechte Schulter. Er hatte kein Geräusch gehört und keine Bewegung gesehen, aber... Er sah direkt in das leere Gesicht General Lees, der ihn töricht anlächelte, als wolle er ausdrücken: Ich war es nicht!
    Natürlich war er es nicht. Natürlich war es keiner von ihnen. Es war lediglich seine Phantasie, von der er angeblich nicht genug hatte. Oder? Hatte sich Lucia nicht wieder gerührt, als er seine Aufmerksamkeit auf Lee gerichtet hatte? Man konnte dem Weibsstück nicht trauen, sobald man den Blick von ihr ließ, nutzte sie die Gelegenheit, ihre Stellung zu verändern. Aber das taten sie alle, sobald er nicht hinsah! Gus erhob sich halb aus seinem Sessel. Etwas ging gerade schief, entglitt ihm. Er würde jetzt diese Treppe hinaufgehen und die Nacht nicht mit einer Schar Wachsfiguren verbringen, die sich bewegten, wenn er nicht hinsah, sondern in einem behaglichen Gasthaus, mit einem Bier und...
    Gus setzte sich wieder. Das war lächerlich. Sie waren Wachsfiguren und konnten sich nicht bewegen. Diesen Gedanken musste er festhalten. Aber warum umgab ihn dann eine solche heimliche Unruhe?
    Er drehte sich schnell um und begegnete dem milden, aber unheilvollen Blick Alzahras. Dann riss er unerwartet den Kopf herum und starrte direkt auf Lee. Ha! Diesmal hätte er ihn beinahe ertappt.
    "Seien Sie lieber vorsichtig, General... und ihr anderen auch! Wenn ich sehe, wie sich einer von euch bewegt, schlage ich euch kurz und klein. Wachs und Sägespäne... nichts anderes seid ihr. Verstanden?" Um ihn herum nur belustigtes Schweigen.
    Gus erhob sich wieder halb aus dem Sessel. So konnte es nicht weitergehen. Er musste diesen Raum verlassen. Er hatte bereits genug erlebt, um eine Geschichte daraus zu machen, also warum nicht einfach gehen? Die Goth'sche Zeitung brauchte nicht zu wissen, wie lange er hier gewesen war, und wenn die Geschichte gut genug war, würde es auch niemanden kümmern. Vielleicht würde ihn der Ork vom Nachtdienst auslachen, aber damit...
    Seine Gedanken brachen mit einem jähen Knacken ab wie ein trockener Ast. Jemand atmete, und es war nicht das flache Keuchen der Pumpe gewesen.
    Gus setzte sich steif hin, hielt die Luft an und lauschte und lauschte, bis er endlich tief ausatmete. Nun also - es war offenbar sein eigener Atem gewesen, der sich eben so angehört hatte, als käme er aus einiger Entfernung.
    Oder etwas hat erraten, dass ich mit angehaltenem Atem horche und hat ebenfalls den Atem angehalten.
    Gus warf den Kopf herum und begegnete überall den leeren wächsernen Gesichtern, und überall spürte er, dass er um den Bruchteil eines Augenblicks etwas verpasst hatte - das Flackern eines Augenlides, das Zucken eines Fingers...
    "Ich bin Gustavo aus Ardea", sagte er laut in den Raum hinein, "vielleicht kein erfolgreicher Schreiber, aber ein lebender, atmender Mensch, und ihr seid Attrappen, die weder flüstern noch sich bewegen können! Es ist mir egal, ob ihr Abbilder von Magiern und Mördern seid. Ihr seid nur aus Wachs gemacht und euch gibt es nur, um Schaulustige und zuckerstangenleckende Kinder zu unterhalten."
    Gus setzte sich wieder. Jetzt ging es ihm besser. Er versuchte, an die Geschichte über die Goblininvasion zu denken, die er bei der Überfahrt nach Khorinis gehört hatte, aber es gelang ihm nicht, weil der Blick Alzahras in seinem Rücken ihn lockte, drängte und schließlich zwang, sich umzudrehen.

    ***
    Er wendete erst halb den Kopf, dann riss er den Sessel mit sich herum, so dass er Alzahra Angesicht zu Angesicht gegenüber war. Gus selbst hatte die Augen wild aufgerissen, seine Lippen waren hochgezogen wie die Lefzen eines knurrenden Hundes, und als er triumphierend in den Raum schrie, weckte seine Stimme hundert düstere Echos: "Bei Beliar, du hast dich bewegt! Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!"
    Alzahras Bewegungen waren gemächlich. Langsam und fließend wie dunkler Honig glitt sie von ihrem Podest. Sie hob einen Bogen des plüschbezogenen Seiles, das ihr Piedestal umgab und trat darunter hindurch. Sie setzte sich auf den Rand der Plattform und lächelte: "Guten Abend, Gus."
    Gus saß so still und erstarrt in seinem Sessel, als hätte man ihn in einen Eisblock eingeschlossen.
    "Du kannst dich nicht bewegen und du kannst keinen Laut von dir geben, aber du kannst mich ausgezeichnet hören", sagte Alzahra, mit sanfter Stimme, doch darunter lag die unnachgiebige Härte von Stahl. Dieser Frau widersprach man nicht. "Ich merke, dass du nervös bist", fuhr sie fort, "aber mach dir keine Sorgen um deine geistige Gesundheit. Ich bin keine Wachsfigur, die plötzlich auf geheimnisvolle Weise lebendig geworden ist." Sie lachte, und es klang klar und hell wie Silberglöckchen in dem dunklen, stillen Raum. "Ich bin Alzahra selbst, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich heute Nacht in so reizender Gesellschaft sein würde."
    Alzahra hielt inne und bewegte ein wenig die Beine. Ihre Gewänder raschelten verlockend und unheilvoll. Sie streckte geziert ihre Arme über den Kopf und sagte: "Verzeih, ich bin ein wenig steif. Lass mich erklären: Umstände, mit denen ich dich nicht langweilen möchte, haben es für mich wünschenswert gemacht, in Khorinis zu leben. Heute nachmittag jedoch haben es andere, sehr dringende Umstände nötig gemacht, mir für einige Stunden ein sicheres Versteck zu suchen, und so mischte ich mich unter die Besucher dieser Ausstellung. Eine Inspiration zeigte mir ein Mittel, mich in Sicherheit zu bringen. Ich rief "Feuer, Feuer!", und als all die Narren zur Treppe gelaufen waren, entkleidete ich mein Wachsbild - das im Übrigen bei Weitem nicht so gelungen ist! - und legte mir selbst dieses Gewand an. Die Figur versteckte ich hinter dem Vorhang dort drüben..." - sie wies mit einer unbestimmten Geste ins Dunkel - "...und nahm ihren Platz ein. Ich gebe zu, dass ich einen höchst anstrengenden Abend hinter mir habe."
    Alzahra lächelte, erhob sich und näherte sich Gus, der immer noch völlig reglos in seinem Sessel verharrte, mit dem leisen Schritt einer jagenden Tigerin. Sie streckte und dehnte ihren feingliedrigen Körper, auf eine Art, die man nicht anders als kokett beschreiben konnte, und fuhr fort: "Ich hatte nur selten Gelegenheit, ab und zu tief zu atmen oder meine steifen Glieder ein wenig zu lockern. Ein kleiner Junge schrie auf und rief, er habe gesehen, wie ich mich bewegte. Als ihn seine Mutter aus dem Kabinett zerrte, hörte ich noch, wie sie ihm versprach, ihn nach der Heimkehr zu züchtigen und gleich ins Bett zu schicken, und ich hoffe, sie hat dieses Versprechen gehalten." Wieder lachte sie und berührte mit einem Finger Gus' Lippen. Der Finger war kühl und wächsern, doch auch Gus' Lippen waren kalt. Alzahra setzte sich zu seinen Füßen auf den Boden und sah mit ihren dunklen Augen zu ihm auf. Ein feuriges Funkeln lag darin, Glut in einem tiefen Brunnenschacht.
    "Die Schilderung des Professors, die zu belauschen ich peinlicherweise gezwungen war, war einseitig. Ich bin natürlich nicht tot, obwohl es sehr günstig ist, wenn die Welt das annimmt. Seine Beschreibung meiner kleinen Liebhaberei, der ich jahrelang nachgegangen bin, war im Ganzen richtig, aber ungenau und nicht in besonders geistreiche Worte gefasst. Die Welt..." - sie machte eine fließende, bezaubernde Geste mit ihren Händen, um das Allumfassende ihrer Behauptung anzudeuten - "...ist eingeteilt in Sammler und solche, die es nicht sind. Mit den Letzteren brauchen wir uns hier nicht zu befassen. Die Sammler aber sammeln, was ihrem eigenen Geschmack entspricht - Münzen, Motten oder allerlei Krimskrams -, und ich sammle eben Kehlen." Sie lächelte entschuldigend, strich mit ihrem kühlen Finger an Gus' Hals hinab und betrachtete seine Kehle mit einem Interesse, in das sich leichtes Missfallen mischte. "Es wäre undankbar, mich zu beklagen, aber wenn du eine persönliche Bemerkung freundlichst vergeben möchtest... du hast einen sehr knochigen, dünnen Hals. Ich liebe Männer mit dicken Hälsen...dicken, roten Hälsen..."
    Alzahra erhob sich wieder, eine kleine, aber bedrohliche Verkörperung des Bösen, und beugte ihr Gesicht zu Gus hinab, immer näher und näher, bis er den dumpfen Geruch von Sägemehl und Staub und uralten Gewürzen wahrnehmen konnte. Ihre kühle, wächserne Stirn berührte seine eiskalte, und sie flüsterte: "Sehr ungenau war diese Schilderung. Doch keine Löwin!" Gus roch Schwefel und Glut in ihrem Atem, das glimmende Feuer in ihren Augen brandete zu einem glühenden Inferno auf, und plötzlich spürte er eine sengende Hitze von ihrem Leib ausgehen. Er konnte sich nicht rühren, als es geschah, sein Verstand wusste nicht, wie er die Eindrücke zusammenfügen sollte, die ihm seine Sinne in wachsender Panik übermittelten... mattschimmernde Schuppen... ledrige Schwingen... Rauch...
    Ein Drache...?
    Der Raum war erfüllt von einem gewaltigen Dröhnen, Ascheflocken stoben um ihn herum wie ein nachtschwarzer, infernalischer Schneesturm, glimmende Sägespäne und alptraumhaft verformte Glieder von Wachsfiguren zischten als feurige Geschosse aus dem finsteren Wirbel, in den sich das Schwarze Kabinett verwandelt hatte, ein gewaltiges, golden glänzendes Auge, das mit höllischer Belustigung auf ihn herabsah...

    ***
    Professor Erlinger war aufgeregt. Er versuchte, diesen Zustand vor sich und der Welt zu verleugnen, doch als er die Treppe zum Schwarzen Kabinett hinabstieg, spürte er sein Herz hart in seinem hageren Brustkorb schlagen. Er klemmte den blankpolierten Becher aus Glas fester an seine Rippen. Ein passender Hörbügel steckte in der Innentasche seines Leibrocks.
    In die Wand auf der Ostseite des Kabinetts war ein Oberlicht aus dickem Mattglas eingelassen, das am Morgen ein paar kränkliche, verstreute Strahlen aus dem oberen Stock hereinließ. Das fahle Morgenlicht mischte sich mit der düsteren Beleuchtung und erhellte die schauerliche Szenerie, die sich Professor Erlinger bot.
    Die Wachsfiguren standen teilnahmslos auf ihren Piedestalen und warteten gleichmütig darauf, von den Besuchern bewundert oder verwünscht zu werden. In ihrer Mitte, im Hauptgang, saß Gus, weit in seinem Sessel zurückgelehnt, kalt und leblos. Er hatte eindeutig mehr Phantasie besessen, als es ihm seine Verleger bescheinigt hatten. Der Professor hatte jedoch kaum mehr als einen Blick für ihn übrig, seine Aufmerksamkeit galt allein der kleinen, metallenen Pumpe mit dem Trichter am oberen Ende. Ob es tatsächlich funktioniert hatte? Die Methode der Luftdestillation würde neue Möglichkeiten eröffnen, so gewaltige Dimensionen, dass es Professor Erlinger schwindelig wurde, als er sich deren Ausmaß vorzustellen versuchte. Er kniete nieder, drehte den gläsernen Becher in die dafür vorgesehene Aussparung am unteren Ende der Pumpe und öffnete ein Ventil. Etwas strömte geräuschlos und unsichtbar in das Glas, und Professor Erlinger lachte leise auf. Es war so stark, dass er keinen Hörbügel brauchen würde. Er hielt den Becher an seine Schläfe, so dass das kühle Glas seine Haut berührte, und schloss die Augen.
    Ein Drache...?
    Eine Welle nackter Begeisterung schwappte über den Professor hinweg. Hervorragend! Dies war nur die letzte Stille eines kleinen, unscheinbaren Mannes, aber sie war so voll eindringlichem, feierlichem und verzweifeltem Erstaunen, dass sie ein Glanzstück seiner Sammlung werden würde, und Professor Erlinger war ein Sammler aus Leidenschaft! Er zog ein kleines elfenbeinernes Kärtchen aus seiner Tasche. Gustavo aus Ardea, stand darauf. [/i]Schade, dass er nicht Augustus hieß[/i], dachte er. Aber es wäre undankbar, sich zu beklagen.
    Alzahra auf ihrem Podest betrachtete den toten jungen Mann und das Tun des Professors völlig ungerührt. Sie bewegte sich nicht - wie auch, sie war gar nicht fähig, sich zu bewegen. Schließlich war sie ja nur eine Wachsfigur.

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