ali BOMB


„Ja, mach ich… Okay. Nein, ich bin nicht überarbeitet. Die Reise war ganz entspannt… Weiß nicht, kann eigentlich nicht mehr lange dauern. Sind ja schon vor drei Tagen losgefahren… Ja, hehe, das stimmt.“
Es klopfte energisch an der Tür. ali zuckte ertappt zusammen. „Du, ich muss Schluss machen… Nein, natürlich nicht so! Du weißt, wie ich das meine. Meld mich später!“ Die Tür wurde aufgestoßen und ein großer Mann mit maßgeschneidertem Anzug betrat den Raum. Ali hatte keine Zeit mehr, das Telefonat wegzudrücken und das Handy hinter seinem Rücken verschwinden zu lassen. Alphonse funkelte ihn durch seine rechteckigen Brillengläser an. Die Hände hinter seinem breiten Kreuz verschränkt, rümpfte er missfallend seine gerade Nase.
„Telefonat mit der Freundin, fünfzehn bis sechzehn Uhr. Dieser Zeitraum ist bereits seit einer Viertelstunde verstrichen. Warum sitzt du nicht an der Hausarbeit über gendergerechte Betitelung von Säugetiernachwuchs? Du weißt, dass der Zeitplan vorsieht, dass du von sechzehn bis siebzehn Uhr an ihr arbeitest.“
„Ich hab seit drei Tagen nicht mehr mit meiner Freundin telefonieren dürfen. Natürlich hatten wir uns viel zu erzählen“, gab ali zurück.
„Ich habe gerade mit dem Kapitän gesprochen“, ignorierte Alphonse den Einwand beflissen. „Wir werden wohl eine halbe Stunde früher in Khorinis eintreffen als geplant. Darum ist deine für die Hausarbeit eingeplante Zeit ohnehin schon vermindert. Du hättest gut daran getan, dich an den Zeitplan zu halten.“
ali seufzte. „In zehn Minuten lohnt es sich ohnehin nicht mehr anzufangen. Kann ich stattdessen meine Aufgaben im Forum erledigen?“
„Ich dachte, wir waren uns einig, dass du während deiner Tournee keine Zeit für solch einen…“ Alphonse hielt sich im letzten Moment zurück. Mit einem langen Zeigefinger schob er seine Brille das Nasenbein hinauf, räusperte sich und fuhr fort: „Megasonics warten auf die neuen Songs und würden am liebsten noch dieses Jahr dein neues Album veröffentlichen. Deine Konzerte sind ausverkauft und ihre Anzahl nachträglich noch einmal verdoppelt worden. Du belegst dieses Semester zwar nur zwei Seminare, aber die verlangen natürlich auch Prüfungsleistungen. Nichts davon ist dir neu, und trotzdem verlangst du von mir, dass ich dir neben den Telefonaten mit deiner Freundin auch noch regelmäßige Onlineaktivitäten gestatte? Dein Vater hat mich als deinen Manager engagiert, damit ich deinen Tagesablauf strukturiere, und damit du dich ganz auf deine Karriere konzentrieren kannst. Er erwartet nicht nur von dir Höchstleistungen, deine Verfehlungen werden auch auf mich abfärben. Du kannst deine Lebenszeit auch noch im Internet vergeuden, wenn deine Fans das Interesse an dir verloren haben. Doch es ist meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass dieser Tag so weit wie möglich hinausgezögert wird. Die erste Hürde haben wir geschafft, indem wir verhindert haben, dass du ein Onehitwonder bleibst, doch nun dürfen wir nicht nachlassen. Es ist als gefeierter Megastar einfach nicht möglich auch noch unkommerzielle Romane zu schreiben und sich in Foren mit Studenten und Arbeitslosen als Autoren aufzuspielen.“
ali hatte die Arme verschränkt und starrte an die Decke. Er kannte diese Predigt schon in- und auswendig. Er ließ sie bloß über sich ergehen, weil sie ihm die zehn Minuten Arbeit an dem Genderfoo ersparte. „Ich bin kein gewöhnlicher User, in zwei Unterforen bin ich Moderator“, erinnerte Ali seinen Manager. „Ich muss regelmäßig online gehen, damit ich meinen Posten nicht verliere! Ob ich nun Geschichten schreibe oder nicht, wenigstens das muss drin sein.“
„Über dieses Thema wird nicht verhandelt“, bemerkte Alphonse knapp. Er warf einen Blick auf die Uhr. „Ich habe deine Sachen gepackt. Wir legen jeden Moment an und sollten schon mal an Deck gehen. Am Hafen wartet ein Taxi auf uns.“

Wenig später fuhren sie tatsächlich in den ausladenden Hafen von Khorinis ein. Es dauerte lange, bis sich der Ozeanriese an die Kaimauer geschmiegt hatte und die Gangway heruntergelassen wurde. ali beobachtete während des Anlegens die unbekannte Stadt. Sie gehörte zu einer ganz anderen Kultur als die Länder, in denen er bislang aufgetreten war. Hier war er für alle noch ein Niemand. Dies bestätigte sich, als er von Alphonse flankiert das Schiff verließ. Keine kreischende Masse von Mädchen, die in Ohnmacht fielen, wenn er sie nur ansah, die laut losgackerten, wenn er auch nur den Mund aufmachte, und die sich gegenseitig die Augen auskratzten, wenn ihm auch nur versehentlich ein benutztes Taschentuch aus der Hose fiel. Hier war alles ruhig und nur die Möwen kreischten ihn von ihren Plätzen aus an.
Das Taxi stand schon bereit. Alphonse verfrachtete sein Gepäck in den Kofferraum und hielt ihm anschließend die Tür auf. Da stutzte ali, weil das pfeifende Tuckern eines in die Jahre gekommenen Mofas lauter wurde. Er sah sich um und sah tatsächlich einen quietschblauen Roller auf sich zuhalten.
„ali BOMB, hier bin ich! Ich bin dein größter Fan!“, kreischte die Fahrerin schon von weitem, nahm eine Hand vom Lenker und winkte ihm hektisch zu.
„Steig ein. Wir haben keine Security“, entschied Alphonse und schob ihn grob ins Taxi. Alphonse nahm auf dem Beifahrersitz Platz und blaffte den Taxifahrer an, endlich loszufahren. Der Fahrer nahm diesen rauen Umgangston wortlos hin und fuhr los. ali blieb nichts anderes übrig, als durch die Heckscheibe der Rollerfahrerin nachzusehen. Selbst hier kannte man ihn also schon…
Auf der Schnellstraße schüttelten sie das Mädchen endgültig ab, sodass er an ihrem Hotel unbehelligt aussteigen und einchecken konnte. Alphonse beorderte ihm Essen aufs Zimmer und wies ihn an, früh schlafen zu gehen. „Und keine Telefonate mehr. Morgen früh musst du um sieben Uhr fertig sein für den Soundcheck im Musicdom“, schärfte Alphonse ihm noch ein.
„Klar“, antwortete ali brav, schloss seine Zimmertür hinter Alphonse, warf sich auf das weiche Himmelbett und rief seine Freundin an.

Das Telefon klingelte unerbittlich. ali gelang es nur unter größter Mühe seine Augenlider einen Spalt zu öffnen. Seine Augen brannten und nur durch Zufall traf seine Hand sofort den Telefonhörer.
„ali, es ist Zeit aufzustehen. Ich erwarte dich in fünfzehn Minuten beim Frühstück.“
„Hmhm“, brummte ali in den Hörer und schleppte sich ins Bad.
Doch Alphonse erwartete ihn nicht erst im Hotelrestaurant. Er stand direkt gegenüber von seiner Zimmertür auf dem Flur und streckte ohne einen Morgengruß erwartungsvoll die Hand aus.
„Was?“, fragte ali argwöhnisch.
„Dein Handy. Gib es mir.“
ali war zu müde, um den Grund für diese Forderung zu erraten, und klatschte ihm das Ding lustlos in die Hand. Alphonse entsperrte es und tippte darauf herum. „Du hast von 20:36Uhr bis 2:45Uhr mit deiner Freundin telefoniert. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“
„Ich bin jung und brauche nicht viel Schlaf“, murrte ali. Wie gut, dass Alphonse nicht auch noch nachschauen konnte, dass er anschließend sogar noch eine Stunde im Forum war.
„Das habe ich mir gleich gedacht, als ich um 3:04Uhr dein bislang neuestes Postings in dem Forum gesehen habe, dessen Benutzung dir untersagt worden ist.“
ali stöhnte genervt auf und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Ich werde dein Handy bis auf Weiteres einbehalten.“
„Was?“ alis Kopf ruckte gerade noch rechtzeitig hoch, damit er sah, dass Alphonse sein Handy in der Innentasche seines Jackets verschwinden ließ. Das hatte es noch nie gegeben. Und trotzdem fehlte ihm irgendwie die Lust, zu rebellieren. Widerstand hatte bei Alphonse noch nie Früchte getragen. Er würde sein Handy schon wiederbekommen. Spätestens in der Mittagspause. Mürrisch schweigend folgte er Alphonse ins Erdgeschoss.
Ein Tisch, der gewöhnlich wohl für mindestens zehn Personen gedacht war, stand reichhaltig gedeckt bereit, als er und Alphonse das Restaurant betraten. Eine Kellnerin hieß ihn in einer ihm fremden Sprache willkommen. Manchmal vergaß er völlig, dass Myrtanisch so rau und abgehackt klang. Alphonse begann gestikulierend auf die Kellnerin einzureden. Es klang wiederum wenig freundlich, doch dieses Mal hatte Ali den dringenden Verdacht, dass Alphonse wirklich nicht viel Nettes zu sagen hatte. Er wies jedenfalls ziemlich vorwurfsvoll auf eine Platte mit feinster geräucherter Salami. Ihr Geruch ging dankenswerterweise in dem der näher stehenden Käseplatte und dem darauf drapierten mittelalten Gorgonzola unter, sonst hätte ali sich wohl mächtig zusammenreißen müssen, um dem teuren, fluffigen Teppich keinen unangenehmen Fleck zu bescheren.
Auch wenn Alphonse‘ Auftritt ihm ziemlich unangenehm war (er wusste nur zu gut, dass es kein Spaß war mit ihm zu diskutieren), so führte er doch immerhin dazu, dass ein halbes Dutzend Kellner hastig herbei eilte und die weniger pflanzlichen Speisen abräumte. Mit einem Mal wirkte der lange Tisch verdächtig leer und ali war sich nicht sicher, ob die weggebrachten Speisen durch andere ersetzt werden würden. Er ließ sich seufzend auf einen der Stühle sinken und griff nach einem Brötchen, während Alphonse‘ Monolog kein Ende zu nehmen schien. Er konnte nur mutmaßen, dass er der armen Kellnerin jedes Detail ihres angeblichen Fehlverhaltens aufzählte, obwohl sie wahrscheinlich nur die Anweisungen des Oberkellners befolgt hatte. Kaum hatte ali an diesen gedacht, trat er auch schon hinzu. Die Kellnerin wirkte erleichtert.
ali machte sich mit gesenktem Kopf daran, Käse auf ein bereits für ihn aufgeschnittenes Brötchen zu legen. Er vermisste die selbstgemachte Marmelade seiner Mutter wie an jedem Morgen seiner Tournee. Doch an diesem Moment vermisste er noch viel mehr die Behaglichkeit seines Elternhauses. Hier, vor dem blitzblank polierten Silberteller, unter einem ausladenden Kronleuchter und von piekfein gekleideten Menschen missbilligend angestarrt, fiel es ihm schwer, sich über das noch warme Brötchen zu freuen.
Alphonse setzte sich ihm erst gegenüber, nachdem der Oberkellner sich fünfmal stammelnd vor ihm verbeugt hatte und er schon beinahe satt war. Er wich seinem Blick aus und konzentrierte sich sehr auf sein Käsebrötchen. Alphonse räusperte sich und sprach in einem Ton, als sei nichts weiter gewesen. „Ich habe mir noch mal Gedanken über den heutigen Tagesablauf gemacht“, sagte er die Serviette entfaltend und über seinen Anzug legend. „Da du gestern keine Fortschritte bei deiner Hausarbeit gemacht hast, wirst du im Anschluss an den Soundcheck sofort mit der Arbeit an ihr beginnen. Die eigentlich um diese Zeit geplante Stadtführung wird ersatzlos gestrichen. Du wirst auf dem Weg zum Konzertsaal genug von der Stadt sehen. Um zwölf Uhr hole ich dich ab und bringe dich in das Restaurant, in dem ich uns einen Tisch reserviert habe. Eine Reporterin einer hiesigen Zeitung wird mit uns speisen. Sobald das erledigt ist, bringe ich dich zurück ins Hotel, wo du endlich damit beginnen wirst, die neuen Songs zu schreiben. Du kommst in diesem Punkt nicht so schnell voran, wie ich erwartet hatte.“
„Meine Inspirationen sind die Natur und die Menschen, die ich liebe. Beides habe ich seit Wochen nicht mehr gesehen. Wie soll mir da ein guter Text einfallen?“
„Nun führ dich mal nicht auf wie ein verwöhntes Kind. Du hast deine Arbeit zu erledigen, wie jeder andere Erwachsene auch. Du wolltest keinen Songwriter engagieren, also leb jetzt auch mit den Konsequenzen deiner Entscheidung.“
„Ein gewöhnlicher Erwachsener bräuchte sich auch nicht so bevormunden zu lassen“, nörgelte ali halblaut in seine Serviette, mit der er sich gerade die Krümel vom Mund wischte.
Alphonse tat, als habe er ihn nicht gehört. „Um sechzehn Uhr bringe ich dich zur Generalprobe in den Musicdom. Das Abendessen werde ich improvisieren müssen. Nach der Generalprobe ist Schlafenszeit.“
„Okay“, seufzte ali. Alphonse konnte vermutlich gar nichts dafür und versuchte nur, seinen Job gewissenhaft und zur Zufriedenheit seines Vaters zu erledigen, doch ali konnte sich an diese strikte Bevormundung einfach nicht gewöhnen. Er wusste jedenfalls, dass er gleich keineswegs an seiner Hausarbeit schreiben, sondern noch einmal bei seiner Freundin anrufen würde. Sein Handy würde er schon zurückbekommen. Er hatte Alphonse aufrichtig erklärt, dass er zum Schreiben Ruhe benötigte, weshalb er auf seinem Zimmer allein sein würde. Er durfte nur nicht so laut sprechen, dass Alphonse ihn im Nebenzimmer hörte.
„Außerdem habe ich beschlossen, dein Handy bis nach dem großen Konzert in drei Tagen zu behalten. Deine Produktivität würde unter derlei Ablenkungen nur leiden.“
Kalt erwischt ruckte alis Kopf hoch. Zornig funkelte er Alphonse an. „Das geht ja wohl nun wirklich zu weit! Ich…“
„Über dieses Thema wird auch nicht verhandelt“, unterbrach Alphonse ihn ruhig. „Bist du fertig mit dem Essen? Dann solltest du jetzt hochgehen. Keine Sorge, ich werde gut auf dein Handy aufpassen.“
ali wurde heiß und kalt zu kalt. Zorn brodelte in ihm. Noch nie hatte er sich so sehr wie eine Marionette seines Managers gefühlt, wie an diesem Morgen. Es schien, als habe Alphonse eine unsichtbare Schwelle überschritten, die er, ali, nicht mehr zu dulden bereit war. Und doch saß er nur mit offenem Mund da, starrte seinem Manager ins makellose Gesicht und war nicht imstande, sich gegen die unfaire Behandlung zur Wehr zu setzen. Was würden ihm Widerworte nützen? Noch nie hatte Alphonse klein beigegeben. Mechanisch setzte er seine Dogmen durch, ohne auch nur einen Moment zu wanken. Und diese einschüchternde Präsenz hatte ihn, ohne dass er es bemerkt hatte, längst zu einem Spielball in seinen Händen gemacht. Ruckartig erhob er sich von seinem Stuhl. Das Licht des Kronleuchters spiegelte sich in Alphonse‘ rechteckigen Brillengläsern, so dass er dessen Augen nicht sehen konnte. ali dachte an seinen Vater und dass er ihm auf jeden Fall von diesem Vorfall erzählen würde. Doch mit einem schaurigen Gefühl tat sich ein Loch in seiner Magengrube auf. Sein Vater würde Alphonse‘ Vorgehen gutheißen. „Leb in der Realität, nur die bringt dir reiche Ernte“, würde sein alter Herr sagen. „Und dass du deswegen zu mir kommst, anstatt die Angelegenheit selbst mit Alphonse zu klären, beweist doch nur, wie wenig erwachsen und selbstständig du noch bist. Es bestätigt mich nur darin, dass du Alphonse‘ Dienste noch länger brauchen wirst.“
ali schlurfte aus dem Restaurant. Die pikierten Blicke der anderen Gäste bemerkte er erst gar nicht. Dann spürte er Hitze in sein Gesicht steigen, und unbeabsichtigt beschleunigte er seinen Schritt.
Als er auf seinem Zimmer angekommen war, warf er sich aufs Bett und blieb niedergeschlagen liegen. Wieso hatte er sich nicht gegen Alphonse zur Wehr gesetzt? Wieso hatte er so leicht aufgegeben?
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er seinen Laptop unter dem Bett hervorzog und ihn aufklappte. Als erstes schrieb er eine Nachricht an seine Freundin. Dann begann er eine Mail an seinen Vater, löschte sie dann aber wieder, ohne sie abgeschickt zu haben. Er musste seine Probleme selbst in die Hand nehmen. Sonst würde er sich nicht nur vor seinem Vater sondern auch vor sich selbst nicht mehr erhobenen Hauptes zeigen können.
Als Alphonse ihn mittags abholte, hatte er nur kaum eine halbe Seite geschrieben. Und diese halbe Seite bedurfte noch einiges an Nachbearbeitung. Alphonse gegenüber erwähnte er das lieber nicht. Obwohl es ja streng genommen nur gut gewesen wäre, wenn er Alphonse gezeigt hätte, dass er auch ohne Handy nicht produktiver war.
Vor dem Hotel wartete wieder eines dieser luxuriöser ausgestatteten Taxis.
Und so vergingen die Tage. Er wurde von einem Termin zum anderen geschleift, die Lücken abwechselnd mit der Hausarbeit und mit den Songtexten gefüllt. Am nächsten Morgen akzeptierte Alphonse nicht mehr, dass er allein sein wollte, wenn er an seiner Hausarbeit oder den Songtexten arbeitete. Irgendwie schien er zu ahnen, dass er auch über den Laptop noch Kontakt zu seiner Freundin hielt. Wie eine stumme Statue setzte er sich mit verschränkten Armen in eine Ecke des Raums und beobachtete ihn über seine Brillengläser hinweg. Zum Schlafen wurde ihm selbst der Laptop weggenommen. Er hatte weder eine Gelegenheit, mit seiner Freundin zu sprechen, noch konnte er im Forum nach dem Rechten sehen. Der psychische Druck brachte ihn um seinen Schlaf. Er lag die ganze Nacht wach und die dunklen Ränder unter seinen Augen blieben immer hartnäckiger.
Die drei Tage flogen nur so an ihm vorbei, verschwammen in seiner Wahrnehmung aus einer Abfolge unangenehmer Ereignisse. Plötzlich fand er sich am Morgen des großen Konzerts auf der Toilette des Musicdoms wieder. Er sollte gleich noch ein letztes Interview geben. Danach noch einen Songtext schreiben, noch einmal proben, eine Stunde an seiner Hausarbeit schreiben, in die Maske und…
Sein Entschluss stand fest. Obwohl er sich angesichts der Leere in seinem Inneren gar nicht sicher war, ob er überhaupt zurechnungsfähig war. Ohne jede Hemmung schlug er das milchige Toilettenfenster neben dem Pissoir mit dem Mülleimer ein. Er nahm gar nicht richtig wahr, wie er den Behälter anschließend verkehrt herum vor das zerschlagene Fenster stellte und darauf stieg. Eine kühle Brise blies ihm durch den gezackten Rand entgegen. Ein Geruch von Freiheit vernebelte ihm die Sinne. Umsichtig wischte er die gröbsten Glassplitter beiseite und zog sich hoch. Seine schmale Statur rettete ihn davor, von den scharfkantigen Bruchstücken aufgeschlitzt zu werden, die noch immer im hölzernen Rahmen steckten. Draußen ließ er sich auf ein verwahrlostes Stück Rasen fallen, das allem Anschein nach an die Rückseite der Konzerthalle angrenzte. Links von ihm sammelten sich überquellende Müllcontainer, während zu seiner Rechten meterhohe Brennnesseln und Schlimmeres wucherten. Er spürte, wie etwas seine Wange entlang lief. Als seine Finger die Flüssigkeit berührten, zuckte er zusammen. Er blutete nicht nur an der Stirn, auch seine Handinnenfläche war aufgeschlitzt. Wie hätte es auch anders sein können? Doch er bereute seinen Schritt nicht. Viel mehr hätte er es bereut, jetzt wieder umzukehren. Jetzt, wo er das Fenster eingeschlagen hatte, durfte Alphonse ihn erst recht nicht mehr in die Finger kriegen. Ziellos begann er über den Rasen zu laufen. In einiger Entfernung machte er einen Maschendrahtzaun aus, hinter dem ein Industriegelände lag. Er war noch nie gut im Klettern gewesen, doch dieser Zaun schien schon länger nicht mehr kritisch beäugt worden zu sein. Noch konnte er sie kontrollieren, doch er spürte wie die Panik immer nachdrücklicher in ihm brodelte. Er war in einer fremden Stadt. Keine Freunde oder Verwandten in der Nähe, die ihm helfen würden. Und sein Handy war immer noch in der Innentasche von Alphonse‘ Jackett. Er konnte nicht mal ein Taxi herbeirufen, geschweige denn seinen Vater. Verbittert erinnerte er sich daran, dass sein Vater ihn vermutlich noch weniger in die Finger kriegen durfte als Alphonse. Sein Schritt verlangsamte sich, als der Maschendrahtzaun näher kam. Er ließ seinen Blick nach links und nach rechts schweifen, fand aber keine Lücke, wie er es eigentlich erhofft hatte. Er kniete sich in das hohe Gras und untersuchte den unteren Rand des Drahtgeflechts. Es ließ sich ein Stück anheben, ehe der Draht zu stark spannte. Wieder war ihm seine schmächtige Statur von Vorteil. Langsam kam er auf dem Fabrikgelände wieder auf die Beine. Sein Herz klopfte in einem merkwürdig ruhigen Rhythmus, und doch lauter als sonst. Während er dem regelmäßigen Pochen in seinen Ohren lauschte, drehte er sich langsam um seine eigene Achse. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Riesige Tanks und Rohre quetschten sich neben die wuchtigen, betongrauen Gebäude. Wie sollte er jetzt weitermachen?
Er war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als er plötzlich doch einen Menschen ausmachte. Alphonse. Der mit langen Schritten den Zaun entlang auf ihn zukam. Unmöglich, dachte er verdattert. Wie konnte Alphonse sein Verschwinden so schnell bemerkt haben? Schlagartig wurde sein Herzschlag doch noch schneller, und für ali war es wie der Startschuss. Er rannte los, weg von Alphonse. Er würde diese Hausarbeit nicht schreiben und Megasonics würden sich gedulden müssen. Es tat ihm leid für die Leute, die eine Karte für das Konzert heute Abend gekauft hatten, aber unter solchen Umständen konnte er nicht auftreten. Er musste zunächst sein Leben wieder ins Lot bringen. Und dazu musste er als allererstes Alphonse entkommen. Ein kurzer Blick über die Schulter ließ den kleinen Funken Mut sofort verlöschen. Alphonse hatte ihn schon fast eingeholt. Er konnte schon die Reflexionen auf der Brille seines Managers erkennen, der in einem Tempo auf ihn zukam, das er ihm nie zugetraut hätte.
„Lass mich in Ruhe!“, brüllte ali verzweifelt und versuchte vergeblich noch schneller zu rennen. Das Echo seiner Stimme wurde von den Tanks und Betonfassaden zurückgeworfen. Das war seine einzige Chance. Er musste sich verstecken. Er rannte zwischen einige Container. Jedes Mal, wenn ein Weg abzweigte, entschied er sich für einen der Wege, ohne groß darüber nachzudenken. Irgendwann war er tief in einem Labyrinth aus vielfarbigen Stahlwänden verschwunden. Seine eigenen Schritte hallten blechern wider. Doch das Geräusch wurde in seinen Ohren von seinem eigenen, schweren Atem übertönt. Die Seitenstiche kamen plötzlich und heftig. Er ließ sich direkt hinter der nächsten Biegung auf den Boden fallen, presste beide Hände in die Seiten und keuchte. Es musste Jahre her sein, dass er so gerannt war. Und er fürchtete jeden Moment, dass Alphonse um die nächste Ecke bog und ihn wieder in den Musicdom schleifte.
Plötzlich hörte er ein merkwürdig vertrautes Tuckern. Mühsam versuchte er leiser zu atmen, obwohl ihm davon jede Rippe schmerzte, um das Geräusch zu orten. Doch schon brauste nicht Alphonse, sondern das Mädchen auf dem blauen Roller, um einen feuerroten Container und direkt auf ihn zu.
„ali BOMB, du bist es wirklich!“, jauchzte das Mädchen und riss sich den Helm vom Kopf. Ein paar kecke Locken, eine Stupsnase und jede Menge Sommersprossen kamen zum Vorschein. „Ich hab doch gewusst, dass du das bist, der da so rumschreit! Deine Stimme würde ich aus Tausenden wiedererkennen. Ich bin dein größter Fan! Ich wollte schon am Hafen unbedingt ein Autogramm von dir! Ich bin übrigens Mary. Darf ich dir deine Hand schütteln? Davon träume ich schon seit Monaten!“
ali starrte sie an und ließ sich gegen die harte Wand des Containers hinter ihm sinken. Ein hysterisch kreischender Groupie hatte ihm gerade noch gefehlt. Selbst wenn es ihm gelungen war, Alphonse abzuschütteln, so war es nun umsonst gewesen.
„Lass ali BOMB in Ruhe, Mädchen“, donnerte die Stimme Alphonse‘ auf sie herunter.
ali war unwillkürlich zusammengezuckt und sah hektisch zu allen Seiten, konnte ihn aber nicht entdecken.
„Da!“, schrie Mary plötzlich und deutete nach oben. ali erschrak sich gleich noch einmal, als er Alphonse breitbeinig und mit verschränkten Armen über ihm auf dem Container thronen sah, nicht eine Schweißperle auf der Stirn. ali kam wieder auf die Beine, während er sich völlig verwirrt fragte, wie Alphonse auf die Container geklettert war und was er sich davon erhofft hatte. Die Wege waren zu breit, um über sie hinwegzuspringen.
„Ich wiederhole mich, Mädchen: Scher dich fort. ali BOMB muss seine Generalprobe abschließen, eine Hausarbeit über gendergerechte Betitelung von Tiernachwuchs zu Ende schreiben und die neuen Songs für Megasonics produzieren. Es liegt in meiner Verantwortung, dass er den Zeitplan einhält und ich werde nicht zulassen, dass du ihn daran hinderst!“
„Hör nicht auf ihn!“, rief ali einer plötzlichen Eingebung folgend. „Fahr einfach!“ Und er kletterte ohne viel Federlesens hinter Mary auf den Roller und legte seine Arme um ihre Taille. Für einen kurzen Augenblick glaubte ali, sie sei in eine Art Schockstarre verfallen, doch dann schrie sie jubelnd auf und fuhr mit quietschenden Reifen an. Vorgestellt hatte ali sich, dass sie nun mit einem Affenzahn über das Firmengelände brettern, die Schranken an der Auffahrt durchbrechen und über die angrenzende Schnellstraße für immer aus Alphonse‘ Reichweite verschwinden würde – doch weit gefehlt. Der Roller gab ein protestierendes Sprotzen von sich und beschleunigte derart langsam, dass er sich wunderte, dass sie nicht umkippten.
„Halt! Sofort anhalten!“, brüllte Alphonse von seinem erhöhten Standpunkt aus.
„Ähm… Wird der noch schneller?“, konnte ali sich die Frage nicht mehr verkneifen.
„Na, logo! Mein Onkel hat mir die Drossel ausgebaut, jetzt schafft der locker fuffzig Sachen! Kann aber ein bisschen dauern, bis er da hin kommt, zu zweit scheinen wir ihm zu schwer zu sein.“
Ängstlich beobachtete ali, wie die Tachonadel wenigstens die 25 Stundenkilometer passierte. Sie hatten die Container hinter sich gelassen und fuhren über nun über einen großen, leeren Platz. Die beschrankte Zufahrt des Firmengeländes war in Sichtweite. Die Straße dahinter wie ausgestorben. ali wollte sich mit einem Blick zurück vergewissern, dass sie Alphonse abgehängt hatten, doch wieder wurden seine Erwartungen enttäuscht. Sein Manager rannte ihnen nach. ali konnte nicht umhin die Kondition und die Technik ihres Verfolgers zu bewundern. Während er selbst beim Laufen immer irgendwie ungelenk wirkte und kein sonderlich ansprechendes Bild ablieferte, schienen die Bewegungen von Alphonse makellos und zielsicher. Und nicht nur das: Er verringerte sogar Meter für den Meter den Abstand zu dem quietschblauen Roller, den er aus Mangel an Alternativen als sein Fluchtfahrzeug auserkoren hatte.
„Schneller, Mary! Sonst holt er uns gleich ein!“, rief ali.
„Was glaubst du, was ich hier mache! Schneller kann die alte Dallis auch nicht! Und hör bitte auf mich zu zerquetschen!“
„Oh.“ Unbehaglich lockerte ali den Griff um ihre Taille, den er vor lauter Anspannung in einen würgenden Schraubstock verkrampft hatte. Sie sausten nun durch die schmale Lücke zwischen Schranke und Wärterhäuschen. Der Wärter schreckte von seinem Stuhl hoch, als sie an ihm vorbei huschten. Wütend schrie er ihnen Anweisungen zu, während er aus seinem Häuschen stapfte, doch Alphonse stieß ihn grob beiseite und ließ sich bei seiner Verfolgung nicht beirren. Er war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt und ali malte sich in den blutigsten Farben aus, wie es ihm wohl erging, wenn Alphonse ihn von dem fahrenden Roller herunterriss. Der Tacho hatte inzwischen die vierzig hinter sich gelassen und trotzdem holte Alphonse noch immer Stück für Stück auf. ali wusste nicht, was hier los war. Das konnte doch gar nicht sein! Warum verdingte sich Alphonse als sein Manager, wenn er Rekordwerte bei allen möglichen Sportarten aufstellen konnte? Sein Manager war jetzt nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Jetzt streckte er sogar seinen Arm aus. ali schrie äußerst unmännlich und presste sich eng an Mary, um den ausgestreckten Fingern zu entgehen. Und dann war die Bedrohung vorüber: Alphonse verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden, überschlug sich einige Male auf dem rauen Asphalt und blieb reglos liegen.
ali starrte erschrocken auf das kleiner werdende, unförmige Bündel. Mary hatte von all dem nichts mitbekommen und bemühte sich immer noch, ihre Dallis auf Maximalgeschwindigkeit zu bringen.
„Mary… Er… Alphonse verfolgt uns nicht mehr. Du kannst anhalten“, sagte ali und wusste nicht recht, wohin mit seinen Gefühlen. Doch genau in diesem Moment ruckte Alphonse‘ Kopf in die Höhe. Erst stemmte sich der linke Arm gegen den Boden, dann der Rechte. Und mit einer fließenden Bewegung hievte er seinen ganzen Körper zurück auf die Füße. Die Bruchteile der Brille bröckelten von seinem Nasenrücken und glitzerten rot im Schein der untergehenden Sonne. „Fahr weiter, Mary! Irgendwas stimmt nicht mit dem!“
„Ja, was denn nun? Kannst du mir mal erklären, was da hinten los ist?“, antwortete Mary in einem unangebracht begeisterten Tonfall. ali bekam das sichere Gefühl, dass für sie alles nur ein großes Abenteuer war. Alphonse versuchte währenddessen die Verfolgung fortzusetzen, doch er torkelte und schaffte es nicht wieder auf seine alte Geschwindigkeit. Irgendwann blieb er einfach stehen und starrte ihnen nach. ali beobachtete, wie sein Manager immer kleiner wurde – und schließlich verschwand. Mary war um eine Kurve gefahren.
„Ich schüttel ihn in den Gassen des Tempelviertels ab!“, schrie Mary gegen den Fahrtwind.
„Nicht nötig. Er hat die Verfolgung aufgegeben!“, rief ali. Das Gefühl der Bedrohung legte sich nur langsam. Doch allmählich stahl sich ein euphorisches Grinsen auf sein Gesicht. Er war Alphonse‘ Klauen entronnen. Er war frei.

Das rote Licht der untergehenden Sonne erreichte die morsch quietschende Holztür nicht, die von Mary mit ihrem bunten Schlüsselbund rasselnd aufgeschlossen wurde. ali sah mit einer Gänsehaut die schmale Gasse herunter. Nie hatte er sich träumen lassen bei seinem Besuch auf Khorinis auch solche Orte zu besuchen. Aber Mary hatte ihn davon überzeugt, dass ihm gegenwärtig nichts anderes übrig blieb, als erstmal mit zu ihr nachhause zu kommen. Ob ihre Argumente rein altruistischer Natur waren, dessen war ali sich freilich noch nicht sicher. Doch er betrat das Haus, dessen Tür sie ihm freundlicherweise aufhielt. Mary hatte schon zur Genüge bewiesen, dass sie auf seiner Seite war. Und er musste es irgendwie schaffen, mit seinem Vater Kontakt aufzunehmen, bevor Alphonse ihn entdeckte. Er war nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass nur er Alphonse zur Vernunft bringen konnte, schließlich hatte er ihn auch eingestellt. Und nach allem, was nun passiert war, konnte sein Vater nicht anders als auf seiner Seite zu sein. Zu einer Polizeistation zu gehen, kam für ihn aber nicht infrage. Das Konzert sollte in wenigen Stunden beginnen. Auf lange Verhöre und zähen Papierkram konnte er sich jetzt nicht einlassen.
Ausnahmslos jede Stufe in dem schmal gebauten Treppenhaus schien zu quietschen. Er folgte dem dicken Massivholzhandlauf, dessen weinrote Farbe abblätterte und an seinen Fingern kleben blieb, bis Mary vor einer Tür im zweiten Stock stehen blieb. Ein pinkes Herz hing an der Tür und umrahmte die Namen Robin & Mary. ali schluckte. Er konnte nur erahnen, wie der Freund eines Groupies auf den Besuch des Angehimmelten reagierte. Er schalt sich still für die Formulierung seiner Gedanken und folgte Mary wortlos in die Wohnung.
„Fühl dich wie zuhause, stör dich nicht an der Unordnung, okay? Ich wollte schon seit Tagen aufräumen, aber immer wenn ich deine Platte reingeschmissen hab, konnte ich nicht anders als wild durch die ganze Wohnung zu tanzen. Dabei hab ich die Standuhr meiner Großmutter mütterlicherseits umgeschmissen, gestern hat der Sperrmüll sie abgeholt. Es war das letzte Erinnerungsstück an sie, aber mach dir nichts draus, hässlich war sie auf jeden Fall. Und dieses ständige Aufziehen erst!“
ali war es schleierhaft, wie Mary sich so schnell einen Weg durch die im Flur verteilten Schuhe und Pizzakartons gebahnt hatte. ali stakste allein durch den fensterlosen Flur. Als er die Tür erreicht hatte, durch die Mary verschwunden war, lag vor ihm ein ebenso unordentliches Wohnzimmer. Mary stand neben einem durchgesessenen Sofa in der Mitte des Raums, einen grünen Telefonhörer in der Hand. ali stutzte bereits, als er die dicke, geringelte Schnur entdeckte, die von dem Hörer abging, doch als er dann die Wählscheibe an dem Apparat entdeckte, zu dem die Schnur führte, klappte ihm die Kinnlade herunter. „Das letzte Erinnerungsstück an meine Großmutter väterlicherseits“, versicherte Mary ihm mit einem strahlenden Lächeln. „Aber gerade ist die Leitung nicht frei, wir teilen sie uns mit fünf anderen Wohnungen. Tut mir leid. Wirst es wohl noch eine Weile hier aushalten müssen.“
ali sackte innerlich zusammen. Das Konzert begann in weniger als drei Stunden. „ Und dein Handy?“
„Die Prepaidkarte ist schon seit Monaten leer. Sorry“, gestand sie ihm zerknirscht. „Ich musste halt einiges zur Seite legen, um mir deine Sonder Deluxe Special Limited BOOOMB Edition zu kaufen!“
„Die mit den Silvesterknallern?“, entfuhr es ali mit einem Schaudern. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass jemand diese schamlose Abzocke hunderter verschiedener Albumeditionen mitmachte. Und nun stand eine Vertreterin der schlimmsten Spezies direkt vor ihm.
„Jepp, genau die!“
„Oh.“ alis Blick wanderte ziellos über das Durcheinander. Als er zwei Hanteln in der Ecke entdeckte, kam ihm eine Idee. „Und dein Freund? Hat der kein Handy?“
„Welcher Freund? Ach, Robin? Ne, Robin hatte noch nie eines.“
„Hm.“ Mutlos stand er da und wusste nicht, wohin mit sich. „Könnte ich denn vielleicht irgendwie ins Internet?“ Er hatte das dringende Bedürfnis wenigstens die Kurzfassung der heutigen Geschehnisse mit seinen Freunden in der Taverne zum hungrigen Schattenläufer zu teilen.
„Klar kannst du!“, strahlte Mary. Sie war offensichtlich begeistert, dass sie ihm endlich wieder ein wenig helfen konnte. „Mein Laptop läuft gerade irgendwie nicht, aber Robin lässt dich bestimmt dran!“
„Was? Nein, so dringend ist das nun auch wieder…“ Doch Mary war schon begeistert in den Flur verschwunden. ali folgte ihr zögernd. Es graute ihm immer noch vor der Begegnung mit Marys Freund, der in seiner Fantasie zu breit für eine durchschnittliche Tür war und mehr Zeit in der Muckibude als mit Schlafen verbrachte. Mary hatte umstandslos eine Tür aufgestoßen, hinter der ali als erstes drei leuchtende Bildschirme ins Auge fielen. Auf dem in der Mitte lief ein blutiges MMORPG, während auf dem linken ein hoch frequentierter Chat Zeilen über den Bildschirm flimmern ließ. Auf dem Rechten lief irgendein Fernsehprogramm. Der Raum war komplett dunkel und die Luft war stickig und verbraucht. Es roch nach fettigem Essen und Schweiß. ali empfand schlagartig aufrichtiges Mitleid mit Mary. Ihr Freund, nur eine klobige Gestalt vor den leuchtenden Vierecken der Bildschirme, drehte sich langsam in seinem Schreibtischstuhl um.
„Hi, Robin! Ich hab ali BOMB mitgebracht, ist das nicht voll korall? Jo, nä?“, plapperte Mary drauf los, ohne eine Antwort abzuwarten. Währenddessen war ali froh über das schummrige Licht, denn er war sich ganz sicher, dass ihm für einen Moment die Gesichtszüge entgleist waren, als sich die massige Gestalt zu ihnen umgewandt hatte. Robin war eine Frau.
„Darf ich sie dir vorstellen, ali? Das ist Robin, meine Mitbewohnerin. Sie mag es nicht so hell, aber dafür hast du ja bestimmt Verständnis. Wie singst du immer so schön? Akzeptier sie mit all ihren Macken, nur dann könnt ihr große Brötchen backen. Gell?“
Wiederum ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich wieder an Robin, um ihr die Umstände in den schillerndsten Farben zu erklären. ali wusste Marys Art mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren allmählich sehr zu schätzen. Er hätte eh nicht gewusst, was er auf das peinliche Songzitat hätte erwidern sollen.
„Und jetzt will er ins Internet, um… ja, keine Ahnung was zu machen. Was Männer eben so tun, schätze ich mal“, schloss Mary ihren haarsträubenden Bericht. „Du weißt ja. Wer zu neugierig ist, erlebt keine Überraschungen.“
Robin schloss mit einem Mausklick ihr MMORPG und rollte dann langsam zur Seite. Marys Mitbewohnerin hatte noch immer kein einziges Wort gesagt.
„Oaaah, vielen Dank, Robin! Das wird ali aber freuen!“, jubelte Mary, schloss ihre Mitbewohnerin in eine stürmische Umarmung, die diese kommentarlos über sich ergehen ließ. Dann wandte sie sich wieder ihrem Idol zu: „So, du kannst ran. Ich versuch währenddessen mal weiter, die Leitung zu kriegen.“
Sie verschwand aus dem dunklen Kabuff. ali warf Robin einen Blick zu, doch die hatte ihre Augen auf den überquellenden Chat geworfen. ali trat neben sie an den Schreibtisch und griff im Stehen nach der Maus. Sie war warm und ein bisschen schmierig. Schnell hatte er einen Browser gefunden und das Forum geöffnet. Als er seine Anmeldedaten eintippte, achtete er sorgfältig darauf, dass er nur einmalig eingeloggt und das Passwort nicht gespeichert wurde. Das wäre es ja noch gewesen: Sein Moderatorenaccount in der Hand von Mary und Robin.
Doch es ploppte nur eine gänzlich unerwartete Meldung auf. „Mein Passwort ist falsch?“, murmelte er verwundert. Er tippte es erneut ein, ganz langsam. Doch die Meldung war wieder dieselbe. „Aber ich bin mir doch sicher!“ Er klickte sich wieder zu dem Forum durch, um wenigstens die Beiträge seiner Freunde zu lesen. Vielleicht gab es ja gerade Probleme mit der Technik.
„Scheiße!“ Ihm wurde heiß und kalt. Der aktuellste Thread des Forums war von ihm selbst eröffnet worden – oder besser gesagt von seinem Account. Und die Überschrift war eindeutig: Warum ich mein Amt als Moderator niederlege. ali ballte die Hand zur Faust und schlug sie auf die Schreibtischplatte, obwohl es nicht seine war. „Das kann nur Alphonse gewesen sein…“, knurrte er und fühlte sich so hilflos wie noch nie in seinem Leben. Jetzt war er seinen Moderatorenposten los, bloß weil Alphonse der Ansicht war, dass er ihn bei seiner Karriere behinderte. Während er den Thread entlang scrollte, wurde ihm eines klar. Die Hüterin des Forums hatte bereits gehandelt und seinen Status zurückgesetzt. Und ihnen stattdessen… „Oh nein“, stöhnte er und schloss die Augen. Sein Nachfolger, ein externer, würde das Forum so lange unter seiner Knute halten, bis er auch noch den letzten User vergrault hatte.
„Lass mich raten. Dein Account wurde gehackt?“ Robin hatte den Blick vom linken Monitor gelöst und beobachtete nun den mittleren mit dem Forum.
ali sah sie überrascht an und nickte.
„Das sollte kein allzu großes Problem sein. Lass mich mal dahin.“ Rücksichtslos rollte sie mit ihrem Schreibtischstuhl zurück an ihren angestammten Platz. ali konnte den Rädern nur noch mit einem hastigen Schritt zur Seite entgehen. „Welcher Account ist es?“ Ihre Stimme hatte einen geschäftsmäßigen Tonfall.
„alibombali“, antwortete ali.
„Kreativ“, grunzte Robin und begann auf ihre Tastatur einzuhämmern. Dabei schrieb sie auch etwas in den überlaufenen Chat, doch ali war nicht schnell genug, um die Antworten zu lesen. Ein Klingeln unterbrach ihn in seinen Gedanken und erinnerte ihn zum ersten Mal wieder daran, dass es noch eine Welt außerhalb dieses verdunkelten Kabuffs gab. Mary hastete aus dem Wohnzimmer, stolperte doch noch über einen ihrer Schuhe und erreichte mit einigen herzhaften Flüchen schließlich die Wohnungstür. ali trat neugierig auf den Flur.
„Hallo? Was wollen sie? Moment!“ Marys Stimme überschlug sich plötzlich. Sie griff nach der Tür und versuchte sie zuzuschlagen, doch jemand schien sie mit aller Macht aufzudrücken. Ehe ali ihr zu Hilfen eilen konnte, verlor sie den Halt und stürzte mitten in dem Durcheinander zu Boden. Die Tür flog krachend gegen die Flurwand und ein gutbekannter Mann trat über die Türschwelle.
„Alphonse!“, schrie ali seinen Manager an, dem man in seinem makellosen Anzug seinen Unfall gar nicht mehr ansah.
„Ich bin nicht Alphonse“, erwiderte dieser nüchtern. „Bist du ali BOMB?“
ali stand wie angewurzelt da, während der Mann, der angeblich nicht Alphonse war, diesem aber bis aufs Haar glich, an ihn herantrat und ihn scharf durch die eckige Brille musterte. ali hatte es noch immer die Sprache verschlagen.
„Du bist es“, sagte der Mann tonlos und packte ihn am Arm. ali wollte sich losreißen, doch die behandschuhte Hand des Doppelgängers war wie ein Schraubstock. Er hatte keine Chance. „Du hast deinen Zeitplan nicht eingehalten, ali BOMB. Du hast die Probe geschwänzt. Deine Hausarbeit ist noch nicht fertig. Megasonics wartet auf die neuen Songs. Du hast keine Zeit, dich mit Freunden zu treffen.“
Mary schmiss sich dem riesigen Anzugträger an den Hals. Er schüttelte sie ab wie einen lästigen Reiter, doch sie schaffte es noch, ihm die Brille von der Nase zu ziehen. Im Nu war Mary wieder auf den Beinen und plötzlich hatte sie eine Spraydose in der Hand. „Augen zu, ali!“ Sie sprühte Alphonse das Pfefferspray mitten in die aufgerissenen Augen, doch es scherte ihn nicht. Reglos verharrte er und musterte Mary.
„Moduswechsel. Initiiere Geheimhaltungsmaßnahmen“, sagte Nicht-Alphonse mit einem Mal mechanisch. „Ich bin Beta-RND, Codename Bernd. Meine Mission ist der Hilferuf von Alpha-NSE, Codename Alphonse. Mein Auftrag besteht darin, ali BOMBs Zeitplan einzuhalten. Mein Handeln wird durch die Befugnisse seines Vaters legitimiert. Bitte behindern Sie mich nicht weiter, unbekannte Person Nummer 787. Seylan Cresch, gegenwärtiger Präsident der Firma Managecom, wird sich bald mit Ihnen in Verbindung setzen. “
ali und Mary warfen sich einen ratlosen Blick zu. Dann klingelte das Telefon. Mary warf erst einen unsicheren Blick auf Beta-RND, doch der regte sich nicht. Zaghaft machte sie einen Schritt in Richtung Wohnzimmer. Beta-RND reagierte immer noch nicht, also lief sie endlich zu dem schrillenden Apparat, ali dicht auf den Fersen.
Mary nahm den Hörer von der Gabel und lauschte eine Weile wie vom Donner gerührt. Am Ende nickte sie und sagte: „Ja. Okay. Kein Problem.“ Dann lauschte sie wieder einen Moment und reichte ali den Hörer weiter. „Hör es dir selbst an. Das ist zu krass.“
„Spreche ich nun mit ali BOMB, Verwaltungsgegenstand von Alphonse?“, fragte eine klare Stimme am anderen Ende der rauschenden Leitung.
„Äh… ja“, antwortete ali ein wenig einfältig. Es folgten die haarsträubendsten Erläuterungen, die er in seinem Leben je gehört hatte. Und Entschuldigungen.

Eine Woche später.
ali streckte seinen Rücken unter dem Blick der Marmorstatuen unwillkürlich. Zweifellos hatte sein Vater diesen Effekt beabsichtigt, als er sie links und rechts seines Büros aufgestellt hatte. Er sammelte sich kurz, dann öffnete er die Tür, ohne zu klopfen. Alphonse hatte immer geklopft, wenn er während des letzten Jahrs hier her gekommen war. Doch er würde nicht bei seinem Vater an die Bürotür klopfen.
Der Kopf seines über den Schreibtisch gebeugten Vaters ruckte hoch, als ali einfach so herein marschierte. Von links und rechts sprangen Leibwächter auf ihn zu, zögerten jedoch, als sie ihn erkannten. Unbehelligt erreichte er den Stuhl, der dem seines Vaters gegenüberstand und setzte sich.
„Guten Abend, Vater“, sagte ali ein wenig kühl. Er war dieses Gespräch hundert Mal durchgegangen.
„Guten Abend, Sohn“, antwortete sein Vater, legte einen Füllfederhalter beiseite und faltete die Hände. „Was kann ich für dich tun? Wo ist Alphonse?“
„Ich habe Alphonse entlassen. Um genauer zu sein: Ich hab den ganzen Vertrag mit der Managecom für nichtig erklären lassen.“
„Das kannst du nicht“, widersprach sein Vater sorglos.
ali wusste, dass sein Vater davon überzeugt war, alle Zügel in der Hand zu halten. Doch es war Zeit, ihm einen zu entreißen. „Der Vertrag war ohne meine Zustimmung nie rechtskräftig. Ich bin volljährig und somit mündig, Vater.“
„Papperlapapp. Ohne Alphonse bist du aufgeschmissen. Willst du, dass ich dich erst für unmündig erklären lasse? Du schaffst es nicht einmal, dich ohne Hilfe ordentlich zu ernähren. Du bist ein Nesthäkchen. So hilflos wie ein Fünfjähriger.“
ali ließ die Worte seines Vaters an sich abprallen. Heute stand er ihm zum ersten Mal ebenbürtig gegenüber. „Wie gesagt wird weder Alpha-NSE noch ein anderer Cyborg je wieder über mich verfügen. Ich wähle meinen Manager von nun an selbst aus. Und mein Manager wird weder meine Termine einteilen, noch auf meine Ernährung achten. Er wird sich lediglich um den Papierkram kümmern und Termine nach meinem Gutdünken vereinbaren.“
Sein Vater gluckste. „Und wie lange soll das gut gehen? Dich hat wohl der Übermut gepackt. Deine Karriere wird schneller wieder vorbei sein als du denkst. Du brauchst Disziplin, Junge.“
„Ich habe es pünktlich zu meinem Konzert auf Khorinis geschafft, obwohl Alphonse mich zuvor noch durch die halbe Stadt gejagt hat. Ich bin allein aus dem Hotel ausgecheckt, konnte mir sogar ein Taxi zum Hafen bestellen und wusste sogar auf welches Schiff ich zu steigen habe. Unterwegs habe ich mit meiner Freundin telefoniert und die Idee zu einem wunderbaren Song gekommen. Und während der Überfahrt habe ich sogar meine Hausarbeit angefangen, etwas dass ich in zehn Stunden nicht geschafft habe, während Alphonse mich dazu verdonnert hatte.“ Dass Robin es nicht nur gelungen war, seinen eigenen Account zu hacken, sondern dass sie sich sogar mit großer Freude in die Administration gehackt hatte, um ihm seinen Moderatorentitel zurückzugeben, das erwähnte er nicht. Es war ihm zwar wichtig, doch seinen Vater hätte es nicht interessiert. „Oder um es kurz auszudrücken: In den drei Tagen ohne Alphonse war ich produktiver als ich es mit Alphonse an meiner Seite je gewesen bin. Und noch viel wichtiger: glücklicher. Vielleicht kommt eines Tages die Zeit, dass Cyborgs dazu in der Lage sind, unseren Alltag zu optimieren. Aber davon sind wir noch viele Jahre entfernt. Managecom hat mir außerdem eine hübsche Entschädigung gezahlt, die dafür sorgt, dass ich nun auch finanziell von dir unabhängig bin, Vater.“
„Du hast gerade mal drei Tage überlebt und hältst dich gleich für unsterblich?“ Sein Vater sah ihm grimmig in die Augen. „Es ist immer Hochmut, die zum Fall führt.“ Dann lächelte er plötzlich. „Siehst gut aus. Hab dich schon lange nicht mehr so eisern für eine Sache eintreten sehen. Du erinnerst mich an deine Mutter, als sie nicht akzeptieren wollte, dass ich nicht vorhatte, je in meinem Leben zu heiraten.“ Er betrachtete den Ring an seinem Finger. „Nun denn, so sei es. Steh auf deinen eigenen Beinen. Aber sei gewarnt: Ich heb dich nicht mehr auf, wenn du fällst, Junge.“

Als ali das Haus verließ, fühlte er sich so frei wie schon lange nicht mehr. Von nun an würde er sich seine Zeit selbst einteilen. Nicht so, wie andere es wollten. Sondern so, wie er es wollte.