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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Kristina und die Antipest

    Kristina und die Antipest



    für Lady Xrystal


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    Geändert von John Irenicus (07.01.2017 um 20:00 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Und dann rutschten ihre Füße auf der festgetretenen Schneedecke weg. Weiß blitzte auf, ihre Tasche verließ ihre Schulter und hob mit ihr zusammen ab, in der Luft trennten sich ihre Wege. Ihre Beine beugten sich von ganz alleine, um den Sturz noch irgendwie abzufangen. Heraus kam ein wenig eleganter Kniefall.
    „Alles in Ordnung, Madame?“
    Kristina drehte ihren Blick in den kalten Wind. In einigen Schritten Entfernung stand einer der jungen Bauernkerle, von denen sie auf ihrem täglichen Weg mal beobachtet, mal gegrüßt wurde. Er grinste.
    „Ich denke schon“, sagte Kristina knapp und stand wieder auf. Mit festem Schritt stapfte sie auf die Schneewehe zu, in der ihre Handtasche gelandet war. Der Trageriemen ragte noch aus dem weißen Pulver hervor. Schnell war die Tasche wieder befreit, vom kalten Weiß per Klopfen gesäubert und hing wieder über Kristinas Schulter.
    „Warum geht dein Mann nicht für dich arbeiten?“, fragte der Bauernkerl, während er Holzscheit um Holzscheit in eine Schubkarre legte, offenbar absichtlich langsam.
    „Warum sollte er?“, fragte Kristina, während sie nun auch an sich selbst den Schnee abklopfte und ihre schwarze Mähne behelfsmäßig richtete. Sie befühlte dabei noch einmal unauffällig ihre Knie. Sie schien sich nichts getan zu haben.
    Der Bauernkerl grinste immer noch, wenn auch nicht mehr so breit wie vorher. „Wenn du meinst“, sagte er dann und ergriff die Schubkarre. „Aber nicht, dass du dir noch die Schneepest holst.“
    Wortlos drehte sich Kristina von ihm weg, wenig später hörte sie die Räder der Schubkarre quietschen. „Wirst dich noch umgucken, wenn ich es bin, der dir bald ein richtiges Heilmittel für die Schneepest verkauft“, murmelte sie in sich hinein und setzte sich wieder in Bewegung, erst langsam, dann wieder schneller, denn sie war in Eile.
    Pünktlichkeit war noch nie Kristinas Stärke gewesen, was ihr bei ihrem aktuellen Arbeitgeber dankbarerweise stets verziehen wurde. Jetzt jedoch, in einer doch sehr heißen Phase ihres gemeinsamen Projektes, das möglicherweise kurz vorm Durchbruch stand, wollte sie keine Sekunde auf der Arbeit verpassen. Sie wollte dabei sein, wenn es geschah. Sie wollte es wenn möglich selbst sein, die letztlich das erste Fläschchen in der Hand hielt, das allen kommenden Wintern eines großen Teils ihrer Gefährlichkeit berauben würde. Und trotzdem hatte ihr Körper wieder einmal entschieden, sie aller Begeisterung zum Trotz noch ein wenig länger schlafen zu lassen. Ebenso wie ihre bessere Hälfte. Thoren brachte es schließlich auch nicht übers Herz, wenn er mal früher wach war als sie, sie rechtzeitig zu wecken – was wohl vor allem an Kristinas üblicher morgendlicher Biestigkeit lag, die sich immer dann besonders Bahn brach, wenn es jemand wagte, sie zu wecken.
    Glücklicherweise hatte Kristina einige der verspäteten Minuten durch zügige Schritte quer durch den Schnee hinein in den Innenring der Stadt Geldern wieder aufholen können, sodass sie nun bereits in Blickweite ihres Arbeitsplatzes angekommen war. Sie war überrascht, von Weitem ein kleines Menschengrüppchen vor dem Labor zu sehen. Es waren ihre Arbeitskolleginnen, die draußen in der Kälte standen und sichtlich Unruhe mit sich trugen. Je näher sie kam, desto deutlicher konnte Kristina ihre Aufregung spüren – und auch hören.
    „Kristina! Gut, dass du kommst!“, rief Agneta, die blonden Haare zum Großteil in einer grellen Mütze verborgen, als sie Kristina entdeckte. „Nawal wollte schon losgehen, um dich zu holen, damit du es auch endlich weißt.“
    „Damit ich was weiß?“
    „Sieh selbst, was an der Tür angeschlagen ist …“
    Die Aufregung der anderen Frauen übertrug sich auf Kristina, als sie zwischen ihnen hindurch zur Tür Schritt. Ein Pergament war mit vier dicken Nägeln an die Pforte geschlagen worden. Kristina erkannte die Handschrift sofort.

    Meine Lieben!

    Ich muss euch allen leider mitteilen, dass unser gemeinsames Projekt, in das wir zuletzt so viel Zeit und Arbeit hineingesteckt haben, beendet werden musste.

    Ihr alle habt noch mindestens zwei Monate lang eure Verträge, und auch, wenn ich euch keinem anderen Projekt zuweisen kann, werdet ihr wie gewohnt jede Woche euer Gehalt bekommen. Dafür ist von höchster Stelle aus gesorgt. Arbeiten werdet ihr dafür nicht müssen – das Labor bleibt ganz geschlossen. Ihr seid freigestellt.

    Ich kann mir denken, dass euch dieser Entschluss sehr plötzlich vorkommt. Ich bitte euch jedoch inständig, ihn nicht zu hinterfragen. Es tut mir auch leid, und könnte ich diese Entscheidung anders treffen, ich würde es tun. Ich kann es jedoch nicht. Leider, leider nicht.

    Bitte sucht mich auch nicht auf, weder zu Hause noch in meinem Büro, denn ich werde nicht dort sein. Ich werde die nächsten Tage zu tun haben. Vielleicht, ganz vielleicht, wird unser Labor irgendwann wieder geöffnet haben. Wenn, falls dieser Tag kommen sollte, dann seid ihr alle wieder herzlich eingeladen, bei, nein, mit mir zu arbeiten.

    Bis dahin wünsche ich euch viel Glück und Erfolg bei eurem weiteren Leben – sei es das der Arbeit oder das der Familie.

    In tiefer Verbundenheit

    Sagitta


    „Da bleibt einem doch die Spucke weg, oder?“, sagte Ellis, die sich nun direkt neben Kristina aufgestellt hatte, die Wangen vor Kälte ebenso rot wie ihre Haare. „Rausgeschmissen wurden wir, nichts anderes!“
    „Und Sagitta hat sich dann auch gleich selbst rausgeschmissen, oder wie?“, warf Nawal ein und fuhr sich energisch durch ihre schwarzen Locken, die ebenso wie Kristinas Haare mit vereinzelten Schneeflocken gespickt waren, was zusammen mit ihrer dunklen Haut einen bemerkenswerten Kontrast erzeugte. Sie wandte sich nun direkt an Kristina. „Ellis ist die ganze Zeit schon so am Schimpfen, dabei können wir ja nicht einmal genau wissen, was passiert ist.“
    „Ich kann es mir aber zumindest denken“, schaltete sich Ellis wieder ein. Ihr Atem erzeugte dichte Wölkchen in der Luft. „Sagitta wird gemerkt haben, dass ihr die Finanzierung des Ganzen unter dem Hintern wegbricht. Und der Zirkel wollte nicht für sie einspringen. Das ist im Übrigen genau das, was ich die ganze Zeit schon vorhergesagt habe. Wir produzieren unsere Heilmittel zu teuer und verkaufen sie zu billig. Das kann doch nur ein Verlustgeschäft gewesen sein. Das Mittel gegen die Schneepest wäre Sagittas Rettungsanker gewesen, um endlich mal was aus dem Geschäft herauszuschlagen. Aber jetzt ist das Geld vorher ausgegangen. Wer hätte das gedacht, was? Das ist jedenfalls meine Meinung.“
    „Die du uns jetzt schon zum dritten Mal erzählst“, belehrte Agneta sie.
    „Und sie wird davon auch nicht richtiger, weißt du?“, setzte Nawal nach. „Wir entwickeln ein Mittel gegen die Schneepest, damit wir den Menschen helfen können, schon vergessen? Das ist Medizin! Damit verdient man kein Geld! Geld verdient man mit Kosmetik, irgendwelchen Lotionen oder diesen albernen Muntermacher-Tränken für Männer … aber Medizin teuer zu verkaufen, das ist ein Frevel!“
    „Das ist genau die Denke, die uns jetzt alle den Job kostet“, erwiderte Ellis und blies wütend ihre Backen auf. „Geh doch zurück nach Varant, wenn es dort so toll ist und da alle Alchemisten Wohltäter sind. Wir sind hier immer noch in Myrtana, ehrlich mal! Hier vegetiert niemand im Sand rum! Hier in Geldern kannst du den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen, und sie merken es nicht einmal, so viel haben sie. Da ist jede Zurückhaltung fehl am Platz!“
    Nawal riss die Augen auf. „Nimm noch einmal den Namen Varants in den Mund, du …“
    „Was ist denn hier los, verdammt?“, erschallte es auf einmal hinter ihnen. „Kann man euch nicht ein paar Minuten lang alleine lassen, oder was?“
    Kristina drehte sich um. Das war Jasmin. Die hochgewachsene, schlanke Frau mit dem seidigen schwarzen Haar wirkte alles andere als erfreut. Ihre Miene erhellte sich aber ein wenig, als sie Kristina sah.
    „Krüssi“, sagte sie. „Du bist also auch endlich da. Ich schätze mal, du hast schon mitbekommen …“
    „Ja, habe ich“, sagte Kristina. „Aber Zeit dazu, das irgendwie sacken zu lassen, hatte ich jetzt noch nicht.“ Mit Blick auf ihre Kolleginnen fügte sie hinzu: „Bei dem Gezeter hier.“
    Der erwartete Widerspruch blieb aus, stattdessen schwiegen die Frauen. Kristina nutzte den kurzen Moment der Ruhe, um sich zu sortieren, um zu überprüfen, ob sie das jetzt alles richtig verstanden hatte. Das Labor war zu, sie alle waren freigestellt, ihr Projekt war dahin. Die Entwicklung eines Mittels gegen die Schneepest, die jedes Jahr aufs Neue und jedes Jahr heftiger die myrtanische Bevölkerung heimsuchte. Sie alle hatten daran gearbeitet. Alchemistinnen, die das schaffen wollten, woran die männlichen Zauberweber dieses Landes mit ihrer teils bemitleidenswert nutzlosen Magie scheiterten. Ein Projekt, abgesegnet vom Zirkel höchstselbst. Geleitet von einem der zehn Mitglieder des Zirkels, Sagitta. Alles sah so gut aus. Alles wirkte so vielversprechend. Und Kristina hatte Tag für Tag Einiges gegeben, um für die Qualität des zu erschaffenden Endprodukts zu bürgen. Bei Innos, sie hatte sogar Überstunden geschoben! Und jetzt das. Für den Bruchteil einer Sekunde schien in Kristina eine ganze kleine Welt zusammenzubrechen, aber das zugehörige Klirren wurde von Ellis übertönt.
    „Hast du jetzt den Schlüssel?“
    „Ja“, sagte Jasmin grimmig. „Bis ich den mal gefunden hatte. Zwischendrin habe ich schon geglaubt, das mit dem Zweitschlüssel hätte ich mir nur eingebildet. Sagitta hat ja wohl auch nicht mehr dran gedacht. Lasst mich mal vorbei, dann versuche ich mein Glück. Und bitte, egal, was drinnen los ist: Bewahrt die Ruhe, verdammt noch mal! Das Ganze klingt jetzt schon schlimm genug, da muss es nicht gleich ganz Geldern mitbekommen! Ihr könnt euch das Unken der Krone der Schöpfung ja vorstellen, von wegen, sie hätten es ja schon immer gewusst, dass Frauen sowas nicht schaffen, und so weiter und sofort. Also bitte!“
    Diese Ansage saß – auch wenn sich Kristina persönlich nicht angesprochen fühlte. Jasmin stapfte in ihren braunen Stiefeletten an ihr vorbei zur Tür hin, führte den goldenen Schlüssel ins Schloss, drehte erst in die eine, dann in die andere Richtung. Es klickte irgendwann. Sachte schob sie die Tür auf.
    „Mir nach, die Letzte macht die Tür zu. Und denkt daran, was ich euch gesagt habe!“

    Der Rundgang durch das kalte Labor war ein sehr kurzer gewesen, denn viel gab es nicht mehr zu sehen. Offene Münder, große Augen und Kommentare jeglicher Prägung hatten die Beschau der fast gänzlich leergeräumten Arbeitsräume begleitet. Die zahlreichen Alchemietische waren bis auf wenige Fläschchen, Teilen von Destillieranlagen und nun nutzlosen Kolben vollständig ihrer Gerätschaften beraubt worden. Die Kräuterkästen und Pilzkolonien waren entweder entfernt oder an ihrem Standort belassen, dafür aber von der Wasserzufuhr getrennt worden. Sonstige magische Hilfsmittel, Kristalle, Steine, Erz, Schriftrollen, Runen und noch Vieles mehr waren nur noch vereinzelt vorhanden. Selbst weite Teile der Bücherregale, vorher voll von Kompendien über Kräuterkunst und längst nicht mehr praktizierte Magie, waren verwaist. Das allgemeine Durcheinander, die große Leere und die vereinzelten Restbestände an alchemistischen Instrumenten in den Räumlichkeiten ließen eher auf einen Einbruch denn auf einen Abbruch des Projektes schließen. Kristina kam nicht umhin, bei diesem Anblick an den Tod zu denken. Und in der Tat war die Stimmung unter den Frauen, als sie sich nach dem Rundgang wieder im zentralen Arbeitszimmer des Labors wiederfanden, die Stimmung einer Beerdigung. Es war wirklich so, als beklagten sie gemeinsam einen Verstorbenen – zumindest, bis die ersten wieder Worte für die Situation fanden.
    „Das sieht … nicht gut aus“, bemerkte Agneta das Offensichtliche. Sie hatte offenbar nur gesprochen, um die bedrückende Stille zu durchbrechen.
    Jasmin, die den Schlüssel zum Labor die ganze Zeit über nicht mehr aus der Hand gelassen hatte, wirkte nicht minder verzweifelt. Sie blickte der Reihe nach in die Gesichter ihrer Kolleginnen, bis sie sprach. „Ich kann mir kaum vorstellen, wie Sagitta hier einfach alles leergeräumt haben will. Also, ich meine, weder kann ich mir vorstellen, warum sie das gemacht hat, noch kann ich mir vorstellen, wie sie das gemacht hat. Das muss ja eine richtige Nacht- und-Nebel-Aktion gewesen sein … und gestern erst habe ich noch mit ihr darüber gesprochen, wie das wird, wenn das Mittel gegen die Schneepest endlich in sein finales Entwicklungsstadium gelangt. Wie sich unsere ganze Arbeit dann endlich auszahlen wird. Und jetzt … sowas.“
    „Sie wirkte ja wirklich sogar ganz vergnügt, die letzten Tage“, fügte Nawal zu, die sich mit Schwung auf einen leeren Tisch gehievt hatte, auf dem vorher die Kisten mit standardisierten magischen Essenzen wie Heil- und Manatränke gestanden hatten.
    „Vielleicht war das Absicht, dass sie das so nach außen getragen hat“, meinte Ellis. Sie stand unweit von Jasmin in der Mitte des Raumes und hatte die Arme in die Hüfte gestemmt, die Hände dabei zu Fäusten geballt. Es sah aus, als wollte sie jetzt endlich irgendwo anpacken. Irgendetwas tun. Aber wie sie in dieser Pose verharrte, schien sie mehr und mehr an Selbstsicherheit zu verlieren, denn es gab hier nichts mehr anzupacken. „Gute Miene zum bösen Spiel“, sagte sie dann noch.
    „Jetzt hör doch mal damit auf, Sagitta so etwas zu unterstellen!“, entfuhr es Nawal, die dabei ärgerlich mit den Fingernägeln über die Holzplatte des Tisches kratzte, auf dem sie saß. „Du tust so, als hätte sie uns alle hinters Licht geführt oder wie auch immer du das meinst. Ich glaube nicht, dass es ihr leicht gefallen ist … das zu tun. Das Labor zu schließen. Hier alles herauszuräumen. Warum auch immer sie das getan hat. Wir wissen es ja nicht. Aber ich glaube nicht, dass ihr das eine so große Freude war!“
    „Von Freude habe ich ja auch gar nicht gesprochen“, antwortete Ellis kühl. „Ich meine einfach, dass sie es – vielleicht! – schon länger wusste, dass das Projekt doch scheitern muss. Egal, wie kurz vor dem Ende es war. Mensch, Nawal, meinst du, mir geht das hier nicht auch nahe? Das hier war und ist mein Job, und ich war jeden Tag mit die letzte, die hier gegangen ist. Ihr könnt es alle bezeugen! Ich bin eben nur nicht naiv. Irgendwoher musste doch auch das ganze Geld kommen, um die Entwicklung der Antipest zu finanzieren. Oder glaubt ihr, mit dem bisschen Parfüm, kleineren Heiltränken und sonstigem Krimskrams konnte Sagitta die Kosten für all das reinholen? Wir haben ja nicht schlecht verdient, allein dafür hätten die Einnahmen vom ganzen Nebenbei doch nicht gereicht. Von den ganzen Ingredienzien mal ganz zu schweigen. Da hätten wir glatt das Dreifache von diesen komplett nutzlosen Pimmelwässerchen verkaufen müssen, und das hätte wahrscheinlich immer noch nicht gereicht! Was glaubt ihr denn, wie teuer allein die ganzen alchemistischen Gerätschaften sein müssen? Und dann noch so oft, wie hier was zu Bruch gegangen ist! Oder, Jasmin?“
    „Ich … wir wissen es nicht“, sagte Jasmin nach einer Weile, und ihre Stimme wurde ganz dunkel dabei. „Sagitta hat das Meiste an Organisation selbst übernommen und nicht einmal mit mir darüber gesprochen. Ich bin, genau wie ihr, eben auch nur Angestellte. Angelegenheiten des Zirkels haben uns nicht zu interessieren. Oder nur soweit, wie wir eben für unsere Arbeit müssen. Ich weiß nicht, vielleicht gab es irgendwelche … Kredite vom Zirkel selbst, aber … das ist nur Spekulation. Ich weiß es einfach nicht. Ich hatte aber immer das Gefühl, dass das schon alles irgendwie laufen wird. Sagitta hat immer so eine Zuversicht ausgestrahlt … selbst gestern noch!“
    „Das hat sie, ja ...“, stimmte Agneta etwas versonnen hinzu, und die Frauen hüllten sich wieder in Schweigen. Nichts Genaues wusste man nicht – darüber war man nun übereingekommen.
    „Was sagst du denn jetzt zu der ganzen Sache, Krüssi?“, wandte sich Jasmin nun etwas hilflos an ihre Kollegin. „Du bist die ganze Zeit schon so still. Nicht, dass ich es dir verdenken könnte, aber … du bist doch sonst immer für einen Spruch gut!“
    „Bin ich das, ja?“ Kristina blickte auf – sie hatte erst jetzt so richtig wahrgenommen, dass sie die vergangenen Minuten betreten zu Boden geschaut und das Schuhwerk ihrer Kolleginnen begutachtet hatte. Aber auf Dauer war das keine Ablenkung. „Ich weiß aber auch nicht, was ich sagen soll. Mich wundert vor allem, dass Sagitta einfach so alles aufgegeben hat, obwohl es doch so gut lief. Bei der Antipest kamen wir so gut voran. Auch der Rest lief doch gut, wir haben doch alles Mögliche getan, um irgendwelche Mittelchen für die gut Betuchten hier in Geldern zu entwickeln, um das Geld reinzuholen. Ich habe ja quasi die vergangenen zwei Monate nur damit verbracht, solche Nebenkreationen auf ihre Qualität zu testen. Da waren die wenigen Stunden am Tag, die ich wirklich auf die Antipest, auf eure Kreationen dazu, verwenden konnte, wirklich absolute Glanzlichter. Sagitta hatte da wirklich was Tolles aufgebaut. Und auf einmal ist sie weg und hier ist alles leer … ich glaube das einfach nicht! Und wenn ich es glaube, dann mache ich mir eher Sorgen! Und das gar nicht mal so sehr um die Arbeit, sondern um Sagitta selbst.“
    „Aber wenn ihr etwas zugestoßen wäre, dann hätte sie ja wohl kaum diesen Brief geschrieben“, meinte Agneta. „Sie klang doch relativ gefasst. Und weniger, als wäre ihr persönlich etwas Schlimmes passiert.“
    „Sagitta war immer gefasst“, entgegnete Kristina bestimmend. „Ihr erinnert euch doch sicher noch genau so gut wie ich an diese Gasexplosion, nachdem Ellis den Blutbuchensud für die Antipest-Basis etwas zu lange angekocht hatte und dann irgendjemand ein Streichholz gezündet hat. Nichts für ungut, Ellis. Aber da sah es hier doch noch schlimmer aus als jetzt, und Sagitta hat vom Löschen des Feuers bis hin zur Neueinrichtung des Hauptraums alles mit der Seelenruhe eines Schäfers geleitet. Obwohl es drunter und drüber ging. Danach kannst du halt nicht gehen, Agneta.“
    „Auch wieder wahr“, kommentierte die blonde Frau, während sie nervös an ihrer Mütze zupfte. Sie war diejenige von ihnen, die als letztes zu ihrer Arbeitsgemeinschaft gestoßen war und dementsprechend die kürzeste Zeit zu ihnen gehörte, und trotzdem schien sie dieses Desaster – genau das Wort brach sich in Kristina gerade Bahn – ebenso zu berühren wie alle anderen.
    „Und es ist halt auch so“, begann Kristina wieder, weil sie nur so ihrer Gedanken Herrin werden konnte. „Hier konnte ich halt … was machen. Versteht ihr? Bei euch wird es doch nicht groß anders gewesen sein. Hier hatte ich die Gelegenheit, mal richtig etwas zu machen, außer den Haushalt und solche Dinge, meine ich. Unsere Mütter kommen alle aus einer Generation, in der es undenkbar gewesen wäre, selbst für seinen Broterwerb zu sorgen – wenn man jetzt nicht gerade eine Hexe wie Sagitta war, natürlich. Aber uns wurde die Möglichkeit gegeben. Ich hatte so viele miese Beschäftigungen vorher, dies klappte nicht, das klappte nicht, wie oft ich schon mit den Nerven fertig war, ich habe wirklich aufgehört, zu zählen. Und dann habe ich diese Arbeit hier gefunden … die beste Arbeit der Welt, wirklich. So gerne ich auch meckere, schimpfe, mich über alles mögliche aufrege … das hier war doch wirklich was. Oh, ich kann es kaum glauben, dass ich schon reden muss, als wäre das alles hier schon Vergangenheit!“
    Kristina presste ihre Hände an die Schläfen und wiegte den Kopf, als wollte sie all das einfach von sich abschütteln. Überhaupt hatte sie keine Lust, das alles so sehr an sich heranzulassen – schon gar nicht vor ihren Kolleginnen. Aber im Augenblick ging es nicht anders. Ob es Sagitta auch so gegangen war, als sie diese Entscheidung hatte treffen müssen? Diese Entscheidung, von der keiner von ihnen so wirklich wusste, warum und wie sie zustande gekommen war?
    „Vielleicht ist es ja auch noch gar nicht endgültig Vergangenheit“, ergriff Nawal wieder das Wort. Während sie noch immer auf dem Tisch saß, machten ihre Füße kleine Verlegenheitskreise in der Luft. „Vielleicht arbeitet Sagitta ja gerade daran, alles wieder geradezubiegen. Sie hat doch geschrieben, dass sie sehr beschäftigt ist. Vielleicht … vielleicht.“
    Kristinas und auch Jasmins Blick gingen zu Ellis, aber die stämmige Frau sagte nichts und spielte bloß mit ihren roten Haaren, indem sie mit ihrem Finger beständig neue Locken rollte. Eine Angewohnheit, die sich Kristina mit der Zeit abgewöhnt hatte. Es wirkte ihr zu mädchenhaft.
    „Und was nun?“, sprach Agneta dann die Frage aus, die über ihnen allen schwebte, wie ein neues Motto, ein Leitspruch für dieses nun brachliegende Labor. Die Blicke gingen zu Jasmin.
    „Schaut mich nicht so an“, sagte sie sofort, etwas verkrampft. „Ich habe auch nicht auf alles eine Antwort. Schon gar nicht auf so etwas. Im Grunde hat uns Sagitta alles schon gesagt. Wenn nicht doch noch etwas geschieht … dann war’s das. Wir werden noch bis zum Folgemonat ausbezahlt, und dann … ich weiß selber auch noch nicht, was ich mache.“
    Nawal war von ihrem Tisch heruntergehüpft und ging auf Jasmin zu. Kristina ahnte, was nun kommen würde. Das war die klassische Nawal.
    „Jasmin, könntest du nicht … von allen warst du der Chefin immer noch am nächsten, traust du dir nicht zu … wenn wir das Labor neu einrichten, dann … weißt du?“
    Ellis schnaubte. „Sie hat’s immer noch nicht verstanden“, lachte sie bitter. „Mädchen, das kostet Geld! Begreifst du es denn nicht? Wir können nicht weitermachen wie bisher! Wenn du Glück hast, kommst du bei irgendeinem verstockten alten Feuermagier in der Alchemiestube unter und darfst Reagenzgläser säubern, während er dir lüstern die Beine raufstarrt. Oder runter, was weiß ich. Meinst du, Jasmin kann hier mal eben so eine neue Einrichtung herbeizaubern, oder was? Wenn es so einen Zauber gibt, dann habe ich ihn in noch keinem Buch gefunden, und mit mir wahrscheinlich hunderttausende andere Leute auch nicht. Sieh es doch ein, das war’s! Ohne Sagitta und den Zirkel im Rücken sind wir gar nichts!“
    „Kein Grund, sie deswegen so anzuschnauzen“, ging Jasmin betont ruhig dazwischen. „Auch wenn du von der Sache her natürlich recht hast. Leider. Leute, wenn mir eine tolle Idee kommt, ich sage euch sofort Bescheid, das könnt ihr mir glauben. Aber bis dahin …“
    „Bis dahin sollten wir zusammenhalten“, sagte Nawal mit fester Stimme. „Immerhin sind wir doch noch immer Kolleginnen. Wir könnten uns ja jeden Tag hier treffen und … -“
    „Das reicht jetzt, echt. Ende. Aus. Das halte ich nicht mehr aus.“
    Ellis warf einige wütende Blicke in die Runde, bevor sie sich Richtung Ausgang machte. Im Türrahmen zum Flur des Laborgebäudes drehte sie sich noch einmal um. „Auf so ein Geschisse habe ich wirklich keinen Bock. Es war schön, mit euch zusammenzuarbeiten, aber mal ganz ehrlich: Sonst verbindet uns doch nichts. Und wenn mit dem Labor Schluss ist … dann ist eben auch allgemein Schluss. Wenn was Wichtiges ist oder jemand eine tolle Idee hat – ihr wisst ja, wo ihr mich findet. Wenn ich nicht doch endlich aus Geldern wegziehe. Man sieht sich – oder auch nicht.“
    Ellis drehte sich mit einer Wucht um, dass ein Luftzug durch den Laborraum zog, stapfte mit laut hörbaren Schritten den Flur entlang und ließ dabei noch ein Schnauben ertönen. Das letzte, was sie von ihr hörten, war das Knallen der Labortür. Dann war Ruhe.

    „Hast du dich mittlerweile wieder etwas gefangen?“
    Kristinas Blick war noch ganz glasig vom kurzen Schlaf, der sie mehr aus Verzweiflung denn aus Müdigkeit überkommen hatte. Sie blinzelte ein paarmal und sah dann in das runde Gesicht von Thoren.
    „Ja“, sagte sie nach einer Weile und setzte sich auf. Es war ganz schön warm im Haus, Thoren hatte anscheinend ordentlich Holz im Ofen nachgelegt. Das machte er sonst nicht, denn er fror eigentlich nie.
    „Aber … das trifft mich jetzt einfach hart, verstehst du? Heute morgen war noch alles prima, und dann sowas. Ich versteh’s immer noch nicht, wie Sagitta einfach so alle Zelte abbrechen konnte. Es lief doch alles so gut!“
    Sie schob die Wolldecke von ihrem Schoß und stand auf. Ihr Haus wirkte irgendwie … sauber. Kristina zweifelte so langsam daran, dass ihr Schlaf wirklich so kurz gewesen war. Wo sie doch eigentlich nur gedöst hatte.
    „Manchmal ist es eben so“, meinte Thoren. „Alles scheint gut zu laufen und dann … man steckt da halt nicht drin, ne? Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“
    Kristina ging auf ihn zu, eigentlich mit dem Plan, ihn zu küssen, aber dann ließ sie sich doch einfach nur in seine Arme fallen.
    „Ich weiß“, sagte sie dann nach einer Weile, in der sie einfach so im Raum standen. Der Ofen knisterte, draußen – die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt – pfiff der Wind, ab und zu klapperte die Tür zu ihrem Haus. „Ich will auch gar nicht so tun, als ob ich die einzige wäre, die solche Probleme hat. Aber gerade das ist es ja.“
    „Was meinst du?“
    „Gerade deshalb verstehe ich es nicht, wie Sagitta einfach alles hinschmeißen konnte. Mit einem Mittel gegen die Schneepest, wie wir es entwickelt haben, wäre Rhobert zum Beispiel nie so krank geworden und später dann … gestorben.“
    Kristina löste sich nun wieder aus der Umklammerung Thorens und setzte sich an den Tisch ihrer kleinen, aber gemütlichen Stube. Der Stuhl knarrte etwas. Thoren blieb stehen.
    „Das Thema hatten wir schonmal. Es hat ja wie gesagt keiner die Schneepest bei Rhobert diagnostiziert. Das könnte alles gewesen sein. Und allein von der Schneepest stirbt man ja auch nicht einfach so.“
    „Aber die Symptome waren alle da“, erwiderte Kristina. „Es fing bei ihm doch auch erst an, wie eine ganz normale Erkältung, hast du gesagt. Und die zog sich hin. Über Wochen, Monate …“
    „Wie das halt manchmal so ist“, kommentierte Thoren unbeeindruckt. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, als ob er sie darin wärmen wollte.
    „Und dann ist er ganz blass geworden und geblieben, und seine Pupillen sind immer kleiner geworden. Hast du auch erzählt. Und irgendwann hat er Blut gehustet und diese Flecken auf der Haut bekommen. Thoren, ich habe mich die ganzen letzten Monate so sehr mit der Schneepest beschäftigt, ich kenne die Symptome doch in und auswendig.“
    „Gut“, meinte Thoren schulterzuckend. „Dann war es eben die Schneepest. Was es auch war, es hat Rhobert erst seinen Beruf als Architekt und dann sein Leben gekostet.“ Thoren schaute betreten zu Boden. „Ich könnte nicht einmal sagen, was davon er wohl schlimmer fand.“
    „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er damals hier war und dir und mir gesagt hat, dass es mit seinem Betrieb nicht mehr weitergeht. Da wirkte er schon ziemlich niedergeschlagen.“
    „Und ich erst“, stimmte Thoren zu. „Sichere Einkünfte, den ganzen Tag nur Gleichungen und Probleme lösen … und jetzt hangele ich mich von einer Auftragsarbeit zur anderen, während alle neuen Häuser in Geldern nur noch irgendwelche Lehmhütten sind.“
    „Immerhin bist du gefragt“, meinte Kristina. „Leute die gut mit Zahlen und Logik sind, die findet man ja nicht so oft.“
    „Leute, die gut mit Alchemie, Kräuterkunde, Magie und was weiß ich nicht noch allem gut sind, auch nicht so oft“, sagte Thoren aufmunternd und kam um den Tisch herum. Er legte seine Hände von hinten auf Kristinas Schultern und grub seine Nase in ihre Haare. „Du wirst auch schon was Neues finden. Da bin ich mir sicher.“
    „Ja“, murrte Kristina, der die Worte von Ellis nicht aus dem Kopf gegangen waren. „Wenn ich die Beine für irgendeinen alten Magier breit mache, vielleicht.“
    Thoren ließ ein Schnauben ertönen. Es klang amüsiert. „Das musst du nicht. Wenn überhaupt, dann kannst du. Aber dazu musst du dir nicht erst einen alten Sack suchen.“
    Es war Kristina manchmal unbegreiflich, wie Thoren das immer wieder schaffte. Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, musste sie grinsen.

    ***

    „Guten Morgen“, sagte Kristina, und noch bevor Thoren etwas darauf sagen konnte, bemerkte sie ihren Fehler selbst. Es war zu spät, sich ins Bett zurückzuschleichen und so zu tun, als wäre nichts gewesen.
    „So früh schon wach?“, fragte Thoren. Er drehte sich von seinem kleinen Arbeitseckchen aus um, die Schreibfeder dabei noch in der Hand.
    Sein dünner Bart umspielte ein nur schlecht verstecktes mitleidiges Lächeln.
    „Ja, jetzt wo ich keinen Grund mehr dazu habe, klappt es sofort richtig gut, was?“, ätzte Kristina. An diesem Morgen hatte sie für Mitgefühl nicht viel übrig. Sie wusste, dass Thoren es immer nur gut mit ihr meinte, aber in manchen Momenten war sie in Gedanken trotzdem kurz davor, ihm den Hals umzudrehen. Dies war einer dieser Momente. Deshalb drehte sie sich lieber von ihm weg und starrte durch die Läden aus dem Fenster. Das Licht aus dem grauweißen Himmel wurde von der dichten weißen Schneedecke reflektiert und weichte so die Trübheit des Morgens ein wenig auf. Kristina fror es bei diesem Anblick, obwohl der Ofen in ihrem Haus brannte. Thoren musste wieder früh aufgestanden sein, ohne, dass sie es gemerkt hatte. Er arbeitete in den Morgenstunden am liebsten – sagte er zumindest. Kristina vermutete eher, dass sich Thoren einfach nicht mehr von dem Tagesrhythmus lösen konnte oder wollte, den Rhobert als sein Chef ihm damals auferlegt hatte. Dabei waren diese Zeiten lange vorbei. Und wie Thoren friedlich an seinem Schreibtisch saß und mit irgendwelchen Zahlen und Zeichnungen aus Tinte jonglierte, kam es ihr gerade unwirklich vor, wie gut er den Verlust seines Arbeitsplatzes damals von einem Tag auf den anderen verkraftet hatte. Aber für ihn als Mann war Arbeit auch gesellschaftliche Pflicht. Für Kristina als Frau war es eher eine Chance gewesen, ein Glücksfall.
    „Da kommt ja wer“, sagte Kristina, als sich aus dem Schatten des dunklen Morgens die Umrisse einer Gestalt lösten, die auf ihr Haus zusteuerte. Kristina wartete noch ein bisschen ab, ob der Mann wirklich zu ihnen wollte. Dann, als er am Briefkasten direkt vor ihrer Haustür stand, machte Kristina die Tür auf.
    „Nanu, ist ja tatsächlich schon jemand wach“, sagte der junge Mann, der seinen Blick ganz unverhohlen einmal an Kristina hinabgleiten ließ. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ja noch in ihrem Nachthemd steckte. Sie widerstand dem Drang, sich vor Ärger die flache Hand auf die Stirn zu schlagen.
    „Die Dame des Hauses, nehme ich an?“
    „Der Herr des Hauses jedenfalls nicht“, erwiderte Kristina lakonisch. Der Kerl auf der Türschwelle war relativ groß, schlank, hatte dunkle Haare und ein jungenhaft anmutendes Gesicht, das gemessen an seiner sonstigen Gestalt etwas zu jung wirkte.
    „Gut“, sagte er nach kurzer Pause. „Dann bin ich hier, um dir deinen Lohn zu überbringen.“ Er angelte einen kleinen Lederbeutel von seinem Gürtel und löste das Bändchen. „Hand aufhalten, bitte, wenn ich dir jede Woche einen ganzen Beutel mitgebe, dann hat es sich bald ausgebeutelt bei mir. Und das Kuvert kann ich mir dann ja auch sparen. Ist eh besser, bevor dir noch jemand das Geld aus dem Briefkasten fischt.“
    Kristina zögerte nicht weiter, denn egal, wie beschissen die Situation war, das Geld wollte sie dann schon noch mitnehmen. Der Kerl ließ einige Goldmünzen aus dem Beutel in ihre Handflächen plumpsen. Sie waren genau abgezählt.
    „Wie kann das eigentlich sein, dass das Labor schließen musste, wir alle aber trotzdem noch die nächsten Monate unser Gehalt kriegen?“
    Der junge Mann schüttelte ungerührt noch ein paarmal den Beutel, um sicherzustellen, dass er auch ganz leer war, schnürte ihn dann wieder zu und steckte ihn zurück an seinen Gürtel. Dann lächelte er zuvorkommend, zuckte aber auch gleichzeitig mit den Schultern.
    „Keine Ahnung, ich weiß von nichts. Ich bin hier nur der Geldbote.“
    „Hat Sagitta dich geschickt?“
    „Ich kenne keine Sagitta. Vielleicht hat sie mich ja geschickt, kann schon sein. Ich komme jedenfalls direkt vom … Zirkel. Ja, ich denke, das darf ich dir sagen, war ja nun kein Geheimnis, dass das Labor von einer der Hexen aus dem Zirkel betrieben wurde. Das wird dann wohl diese Sagitta gewesen sein, ne? Ich kenne die jedenfalls nicht. Ich bekomme meine Anweisungen einfach direkt vom Zirkel. Aber nicht direkt von den Hexen. Verwaltung, du weißt …?“
    „Du hast Kontakt zum Zirkel?“ Kristinas Herz machte einen Hüpfer. „Könntest du dort vielleicht nachfragen, was mit Sagitta ist? Wir haben von ihr nur eine rätselhafte Nachricht erhalten und …“
    Der junge Kerl machte eine abwehrende Bewegung mit den Händen, was Kristina dazu veranlasste, sich zu zügeln. Es stand ihr ihrer Meinung nach gar nicht gut, vor einem bloßen Geldboten eine so flehende Haltung einzunehmen – das hatte sie jetzt auch gemerkt.
    „Nichts da, kann ich ganz sicher nicht, ich bin da auch nur angestellt und weiß von nichts“, sagte der Mann und wandte sich schon zum Gehen. „Und selbst wenn ich könnte und wüsste – ich dürfte ja nicht einmal! Und meinen Job will ich ganz bestimmt nicht aufs Spiel setzen, da sei dir mal sicher. Also dann, bis nächste Woche! Und versuch bitte nicht noch einmal, etwas aus mir herauszulocken. Ich könnte mich verplappern.“ Er zwinkerte ihr zu und drehte sich um. Auf dem Rückweg weg vom Haus machte er sich ein Spiel daraus, seine Schritte genau in die Stapfen zu setzen, die er schon beim Hinweg in den Schnee getreten hatte. Bald darauf war er wieder verschwunden.
    Kristina spürte die Gänsehaut auf ihren Armen und schloss die Haustür wieder. Drinnen ließ sie die Goldmünzen geräuschvoll auf den Tisch fallen. Thoren blickte erneut von seiner Schreibecke auf.
    „Solange das Geld noch kommt, was?“
    „Es ist mir ein Rätsel“, seufzte Kristina und setzte sich an den Tisch. Sie ließ die Münzen durch ihre Finger gleiten. Sie widerstand dem spielerischen Drang, eine der Münzen mit ihren Zähnen auf Echtheit zu prüfen. „Wenn doch noch genug Geld für unseren Lohn da ist, warum musste das Projekt dann abgebrochen werden? Und dann auch noch das ganze Labor schließen! Hätten wir nicht vielleicht einfach … eine Lohnsenkung bekommen können, oder so?“
    „Ach, hör bloß auf“, meinte Thoren. „Auf so eine Idee sollte man gar nicht kommen. Was ich da schon erlebt habe, in anderen Städten, bei anderen Betrieben. Wenn sie dir schon deinen Lohn nicht mehr voll zahlen können … das ist immer der Anfang vom Ende. Da sollte man sich gar nicht drauf einlassen, damit rettest du nichts mehr. So gesehen hast du es noch gut. Lohn fürs Nichtstun, hm? Sieh es doch mal so.“
    „Für den Lohn heute habe ich aber noch fast die ganze Woche gearbeitet“, merkte Kristina schnippisch an. „Und abgesehen davon hat mir das mehr bedeutet als nur Geld, und das weißt du auch. Aber wenn ich jetzt wieder mit der Schneepest anfange, winkst du nur ab. Aber warte nur drauf, wenn ich mal daran erkranke oder du oder sonstwer, dann sehen wir so richtig, was uns fehlt.“
    Thoren öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien es sich dann aber doch wieder anders überlegt zu haben. Kristina merkte, dass sie vielleicht einen Tick zu aufbrausend gewesen war. Aber besonders leid tat es ihr auch nicht. Zumal Thoren es gewohnt war, dass sie in solchen Momenten nur wenig Rücksicht auf so etwas nehmen konnte. Wenn etwas beschissen war, dann war es beschissen und dann sollte man es auch so nennen.
    „Hoffen wir einfach mal, dass es nicht so weit kommt“, sagte Thoren dann schließlich doch noch, hörbar bemüht, dieses Thema schnell abzuschließen. „Du hast ja recht lange mit diesem Geldboten geredet.“
    „Eifersüchtig, was?“, konterte Kristina. Sie hatte nun nur noch wenig Lust, über ihre Probleme zu reden. Thoren hatte seine Aufträge, er konnte das im Moment doch gar nicht nachvollziehen, was in ihr vorging.
    „Immer“, erwiderte Thoren. „Wenn ich mich in Geldern so umschaue, sind irgendwie die meisten Männer jünger, schlanker und gutaussehender als ich. Da habe ich doch keine Schnitte. Wenn ich das Haus hier nicht gebaut hätte!“
    „Jugend und gutes Aussehen sind nicht alles“, gab Kristina müde zurück. Sie verspürte auf einmal den Drang, einfach wieder zurück ins Bett zu gehen, obwohl sie bestimmt nicht würde schlafen können.
    „Aber sie sind auch nicht nichts“, belehrte Thoren sie.
    „Dass du als Mann so denkst, ist mir schon klar.“
    „Was soll das denn jetzt heißen?“
    „Dass in Geldern die meisten anderen Frauen wahrscheinlich auch toller sind als ich.“
    „Du bist doch jung und gutaussehend.“
    „Aber schlank?“
    „Du glaubst ja gar nicht, wie egal mir das ist, ob eine Frau schlank ist, wenn sie nur so ist, wie du.“
    Und damit ließen sie es vorerst bewenden.

    „Und jetzt die Sonnenaloe ganz fein zerreiben und in den köchelnden Goblinbeerensud geben … vorsichtig … vorsichtig“. Im Topf blubberte es heftig, als die einzelnen Zutaten in das siedende Wasser fielen, aber nichts kochte über. Dampf stieg auf und trug den Geruch von Feuerwurzel und Kronstöckel mit sich. Im Nebentopf kochten einige Blutbuchensamen in einer Lauge aus Feuernesselextrakt und ausgepressten Drachenwurzeln und waren bereits auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen. Auf dem Brettchen daneben lag das kleingehackte Snapperkraut, bereit, mit einer Prise von rotem Tränen-Pfeffer angereichert zu werden, um so sein volles Potential entfalten zu können. Es köchelte, es dampfte, es spritzte, es brannte und roch. Kristina war voll in ihrem Element.
    „Hm, das riecht aber schon gut“, meinte Thoren, fasste Kristina von hinten um die Hüfte – und zerstörte die Illusion.
    „Ja, find’ ich auch“, seufzte Kristina in das Geköchel des Eintopfs aus Feldrüben, Speckwürfeln und ein paar kleingehackten Kräutern hinein. „Ist auch gleich fertig.“
    Es fiel Kristina schwer, mit den Gedanken wieder in die Realität zurückzukehren. Das machte ihr erst so richtig bewusst, wie sehr sie sich die letzten Wochen und wohl auch Monate in einer Art Rausch befunden hatte. Der ständige Gedanke an das Projekt … er war immer noch da, aber jetzt hatte er kein Ziel, keine reale Entsprechung mehr. So etwas hatte sie auch noch nie erlebt. Nach nicht einmal einem ganzen Tag Entzugserscheinungen – und das von der Arbeit. Aber immerhin hatte sie im Haushalt ein bisschen etwas, womit sie sich ablenken konnte. Und wenn es nur ein schnöder Eintopf war, in den sie nun die letzten Kräuter streute.
    „Er müsste jetzt eigentlich noch abkühlen“, sagte Kristina an Thoren gewandt, der sie bereits wieder losgelassen hatte und am Tisch saß.
    „Das kann er auch hier auf dem Tisch, komm her und setz dich“, sagte ihre bessere Hälfte. Thoren war heute wieder so ausgesucht freundlich zu ihr, dass sie es kaum aushielt. Sie fühlte sich bemuttert. Oder eher bevatert. Aber gleichzeitig war es ihr auch recht. Und dann doch wieder nicht. Und so ging es eigentlich beständig hin und her.
    „Was die anderen wohl gerade machen …“, fragte Kristina tonlos, während sie sich auf dem ächzenden Stuhl gegenüber von Thoren niederließ. Den Eintopf hatte sie direkt in ihrer Mitte abgestellt. Sie schob ihn dann aber beiseite, weil er sonst so zwischen ihr und Thoren stand.
    „Wenn die auch ’nen Mann zu Hause haben, dann wahrscheinlich auch kochen, oder?“, meinte Thoren.
    „Ich weiß nicht“, überlegte Kristina. „Also, Ellis hat einen Kerl, die kocht bestimmt. Bei Jasmin weiß ich es nicht so genau, die hat nie viel von ihrem Privatleben erzählt. Ich glaube, die hat gar keins mehr. Und bei Agneta bin ich mir recht sicher, dass sie keinen Mann hat. Zumindest hat sie nie von einem erzählt. Stattdessen hat sie mal was von einem kranken Bruder oder so angedeutet – Schneepest übrigens – da hätte sie, wenn sie schon sowas erzählt, ja auch mal über einen Kerl erzählen können. Wenn sie denn einen hätte. Aber sie wird ja auch was essen müssen, von daher wird sie wohl auch kochen. Geköchelt haben wir ja eh immer viel, warum also zu Hause damit aufhören?“
    „Auch wieder wahr“, brummte Thoren. Er schielte rüber zum Eintopf. Er dampfte noch. „Und was ist mit Nawal?“, fragte er dann.
    Kristina zog eine Augenbraue hoch. „Was soll mit ihr sein?“
    „Na, ob sie auch kocht.“
    „Ob sie einen Mann hat, meinst du.“
    „Eigentlich ging es doch darum, wer kocht.“
    „Als ob das so wichtig wäre.“
    „Du hast doch gefragt, was die anderen wohl machen. Sie kochen vielleicht. Vielleicht kocht Nawal ja auch.“
    „Ja, vielleicht kocht sie ja sogar nackt.“
    „Was?“ Thoren ließ ein überraschtes Lachen ertönen. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
    „Naja, wie komme ich da jetzt wohl drauf?“
    „Ja, wie du darauf kommst.“
    „Wieso sollte ich nicht darauf kommen?“
    „Weil …“
    „Ja, eben. Vielleicht kocht Nawal ja nackt. Denk doch mal darüber nach.“
    „Wie, jetzt? Ich soll jetzt darüber nachdenken?“
    „Tust du spätestens jetzt ja sowieso.“
    „Spätestens also!“
    „Ja, spätestens.“
    „Spätestens!“
    „Genau.“
    Jetzt zog Thoren die Augenbrauen hoch. „Also, ich weiß immer noch nicht …“
    „Ach komm“, wandte Kristina ein. „Ich weiß noch genau, diesen Sommer, als ich Nawal kurz unseren kleinen Kräutergarten hinterm Haus gezeigt habe. Da konnten deine Augen doch gar nicht groß genug werden.“
    „Sind ja auch schöne Kräuter.“
    Kristina lachte. „Jaja. Genau das nämlich.“
    „Ach Krüssi … du weißt doch, meine Augen sind groß, aber sie sind nur für dich -“
    „Weil man für mich so große Augen braucht, oder wie?“
    „Also, jetzt wirst du aber unfair!“
    „Ach, jetzt erst, oder wie?“, lachte Kristina. „Aber wenn du die ganze Zeit so um den heißen Brei herumredest.“
    „Was meinst du?“
    „Mit Nawal.“
    „Was ist mit Nawal?“
    „Ja, das frage ich ja dich.“
    Thoren stieß demonstrativ Luft aus und verschränkte die Arme. „Das wird langsam anstrengend. Was soll mit Nawal schon sein? Ich kenne sie ja gar nicht.“
    „Aber du weißt, wie sie aussieht.“
    „Ja, weiß ich. Gut sieht sie aus. Ist es das, was du hören willst? Sie sieht gut aus. Sehr gut sogar.“
    „Na siehst du, da sind wir doch einer Meinung“, sagte Kristina zufrieden. „Ich glaube übrigens, der Eintopf ist jetzt genug abgekühlt.“

    ***

    „Ich habe das immer noch nicht ganz verstanden … Sagitta ist in diesen Leuchtturm gezogen, um was zu machen?“
    Jasmin hatte die hintere Tür der Pferdekutsche nun geöffnet und wies Kristina mit einer Geste an, dabei mitzuhelfen, die bereitgelegte, große Kiste in den Kofferraum zu befördern. Kristina tat, wie ihr geheißen – und bemerkte, dass die Kiste erstaunlich leicht war. Gemeinsam war es so also im wahrsten Sinne des Wortes ein Leichtes, die Kiste zu verfrachten und den Kofferraum der Kutsche wieder zu schließen.
    „Der Leuchtturm ist ja erst der Anfang“, sagte Jasmin dann. Kristina fiel wieder auf, dass ihre Arbeitskollegin – ehemalige Arbeitskollegin wohl eher – für die Temperaturen etwas zu dünn bekleidet war. Aber besonders viel gefroren hatte sie ja ohnehin nie.
    „Der Anfang vom Ende der Schneepest?“, fragte Kristina nochmal nach.
    „So ist es. Eigentlich wollte sie ja in die Sternwarte von Geldern, aber das war ihr erstens zu heikel, und zweitens hätte sie als Frau dort sowieso niemals Zutritt bekommen. Aber im Leuchtturm von Kap Dun gibt es auch ein Teleskop. Sagitta hat da was mit dem Leuchtturmwärter ausgehandelt. Mehr weiß ich auch noch nicht. Sie wird es uns sicher sagen, wenn wir dort sind.“
    „Und das mit den Mondphasen … ist sich Sagitta denn schon sicher, dass das wirklich etwas damit zu tun hat?“
    Jasmin lächelte milde. „Wenn sie es schon wüsste, dann müsste sie sich wohl gar nicht erst im Leuchtturm einschließen, oder? Nein, sie forscht noch. Aber im Brief, den ich von ihr bekommen habe, klang sie ziemlich überzeugt von ihrer These. Ohne Grund wird sie das also nicht machen. Und vor allem wird sie ganz sicher nicht leichtfertig unser Labor aufgeben. Sagitta scheint irgendwie herausgefunden zu haben, dass unsere bisherige Herangehensweise zum Scheitern verurteilt war. Vermutlich hat sich das auch deshalb alles so hingezogen, mit den ganzen Rückschlägen und allem. Vielleicht hatten wir wirklich die ganze Zeit den falschen Ansatz.“
    „Aber warum deshalb sofort das Labor schließen? Und dann auch noch … so? Ich meine …“ Kristina schüttelte den Kopf. Das Gespräch löste ein wenig Schwindel in ihr aus. Das kam jetzt alles ziemlich plötzlich. Allein der Gedanke, dass all ihre vielversprechende Forschung auf dem Gebiet der Alchemie von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sein sollte, kam ihr unglaublich vor. Sie waren doch so kurz davor gewesen, eine erste stabile Version der Antipest herzustellen!
    Jasmin zuckte mit den Schultern. „Die Wege der Hexen sind eben unergründlich. Sagitta wird uns hoffentlich auch das erklären.“ Die hochgewachsene Frau überprüfte noch einmal, ob die Kofferraumklappe richtig saß und nickte Kristina dann zu. „Aber damit sie es uns erklären kann, müssen wir sie ja erst einmal erreichen. Und damit sollten wir vielleicht möglichst schnell beginnen, ich glaube nämlich, es gibt gleich Schnee.“
    Kristina sah hinauf in den Himmel. Sie sah keine einzige Wolke. Die Sonne schien.
    „Also, ab in die Kutsche“, fuhr Jasmin ungerührt fort und griff an eine der Seitentüren. „Ellis ist auch schon drin.“
    „Ellis ist auch da?“ Damit hatte Kristina am allerwenigsten gerechnet. Doch als Jasmin die Tür aufzog und Kristina in den Innenraum der Kutsche bugsierte, saß dort tatsächlich bereits Ellis, ihre roten Haare heute ganz kraus, und winkte ihr schelmisch grinsend zu.
    „Ellis!“, rief Kristina immer noch ganz baff. „Warum habt ihr das denn nicht gleich gesagt?“
    Ellis zuckte nur mit den Schultern und grinste weiter. Als Kristina sich daraufhin wieder zu Jasmin umwandte, war sie bereits wieder verschwunden und die Kutschentür geschlossen. Wenige Augenblicke später hörte Kristina zwei Pferde schnauben, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
    „Halt, Moment!“, rief Kristina und blickte hilflos zu Ellis. „Jetzt ist Jasmin doch noch gar nicht eingestiegen!“
    „Sie fährt doch“, sagte Ellis. Erst jetzt bemerkte Kristina die Zahnlücke in ihrem Grinsen. Sie überlegte, ob sie Ellis darauf ansprechen sollte oder nicht – da machte die Kutsche auf einmal einen großen Satz und kam polternd zum Stehen.
    „Mist, jetzt ist der verdammte Kofferraum doch wieder aufgegangen“, ertönte Jasmins Stimme von hinten. Kristina war mit der Situation mehr und mehr überfordert. Es ging alles so schnell, sie kam kaum hinterher. Ein Blick zur Seite verriet ihr, dass sie mit diesem Gefühl offenbar nicht ganz alleine war. Ellis hatte sich eine große Wollmütze aufgesetzt, und übers ganze Gesicht gezogen, und saß in stocksteifer Pose ungerührt auf dem roten Sitzkissen der Kutsche, nach vorne hin ausgerichtet. Kristina streckte ihre Hand nach Ellis’ Schulter aus, wollte ihre ehemalige Arbeitskollegin wecken, aber dann zog es sie doch nach draußen in den Schnee. Am Kofferraum stand Jasmin, die Hände in die Hüfte gestemmt, während sie die Kiste begutachtete, die offenbar aus dem Gepäckraum herausgefallen war. Als Kristina näher kam, erkannte sie, dass der Deckel der Kiste zu einem guten Stück abgerutscht war und den Inhalt freigab. Getrieben von ihrer Neugier schwebte Kristina geradezu zur Kiste herüber. Als sie dann in die Öffnung sah, die der Kistendeckel freigegeben hatte, gab es in ihren Ohren einen lauten Knall. Vor ihren Augen blitzte es einmal kurz weiß auf. Als ihre Sicht dann wieder klar wurde, sah sie, dort in der Kiste liegen, den abgetrennten Kopf einer blonden Frau, deren Haare sich bereits büschelweise aufgelöst hatten und deren Haut von unzähligen Pestbeulen übersät war. Trotzdem war Agneta noch immer eindeutig zu erkennen. Kristina wusste nicht, wie ihr geschah. Sie versuchte, sich von diesem Anblick loszureißen, aber es gelang ihr nicht.
    „Wehe, du verrätst etwas!“, drohte Jasmin neben ihr.
    Kristinas Kehle schnürte sich immer weiter zu, als sie nach Luft schnappte, auch ihre Nase war wie zugedrückt, und als sie die Augen wieder aufriss, fand sie sich in einer kaum durchdringbaren Schwärze wieder, die ebenfalls von allen Seiten auf sie eindrückte. So fühlte sich das Sterben also an – zumindest, bis Kristina ihren Kopf vom Kissen hob und wieder Luft bekam.
    „Kristina?“, ertönte eine Stimme links von ihr. Im schwach in ihr Haus einfallenden Licht von Mond und Sternen tauchten die Umrisse Thorens auf. „Alles in Ordnung?“
    Kristina bemerkte einen dünnen Schweißfilm auf ihrer Haut, ihr Nachthemd klebte an ihrem Körper. Gleichzeitig war ihr kalt. Sie zitterte leicht und ihr Atem ging noch etwas zu schnell. Als sie sich etwas schwerfällig umgedreht hatte und auf dem Rücken lag, beruhigte sie sich aber recht schnell wieder.
    „Nur ein Traum“, hauchte sie dann.
    „Wohl kein besonders toller“, meinte Thoren etwas ratlos. Kristina entnahm seinem Tonfall, dass auch er sich nun etwas beruhigt hatte. Er hatte zuvor eindeutig sorgenvoll geklungen.
    „Nein“, antwortete Kristina. „Aber ist schon wieder okay.“
    „Sicher?“, fragte Thoren direkt nochmal. Ein Rest an Sorge war also doch noch geblieben. Kristina war am Rande, sich darüber zu ärgern. Sie war immerhin kein kleines Mädchen, das in der Nacht beschützt werden musste. Und dennoch …
    „Könntest du …?“
    „Ja“, sagte Thoren daraufhin nur und legte den Arm um Kristina. Wenig später war sie wieder eingeschlafen.

    „Was bin ich müde“, ächzte Kristina, als sie mit den beiden Tellern zum Esstisch kam. Es gab Steaks, weil Kristina beschlossen hatte, dass sie Steaks brauchte.
    „So schlecht, wie du geschlafen hast, ist das auch kein Wunder“, meinte Thoren, als er die Teller entgegennahm. Wenig später saßen sie sich wieder gegenüber. Wie ein spießiges altes Ehepaar, dachte Kristina.
    „Ja, das ist wohl so“, sagte sie, etwas unangenehm berührt von der Bemerkung. Zum Glück hatte sie dieses drückende Gefühl aus der Nacht bereits im Laufe des Morgens nach und nach abschütteln können, und jetzt zum Mittag war kaum noch etwas davon übrig.
    „Und du hast keine Lust, darüber zu reden, was du geträumt hast? Du wirktest schon recht von der Rolle.“
    „Ach, es war gar nicht sowas Schlimmes, eigentlich. Was mit meinen Kolleginnen. Was auch sonst.“
    „Hm“, brummte Thoren, während er sich fast synchron zu Kristina an sein Steak machte. „Gar nicht so verwunderlich. Ich träume ja heute noch ab und zu von der Arbeit. Und von Rhobert. Und das ist schon gefühlt ewig her.“
    „Und irgendwas mit der Schneepest war auch“, sagte Kristina, die irgendwie das Gefühl hatte, das Thema bei Nennung von Rhoberts Namen nochmal aufbringen zu müssen.
    „Das klingt dann aber schon wirklich unangenehm“, meinte Thoren. „Sicher, dass du nicht darüber reden willst?“
    Kristina schüttelte kauend den Kopf. „Das meiste habe ich eh schon wieder vergessen.“ Das stimmte nicht, aber Kristina passte diese Behauptung am besten.
    „Dieses Jahr gab es ja wohl noch nicht so viele Fälle von Schneepest“, sagte Thoren einige Zeit später, zwischen zwei Happen.
    „Woher willst du das wissen?“, fragte Kristina, während eines Happens.
    „Es gab immerhin noch nicht so viele Berichte“, antwortete Thoren.
    „Geldern ist groß, größer noch als vor ein paar Jahren, da kriegt man eben nicht mehr alles mit. Das heißt gar nichts.“
    „Aber wenn Geldern wächst und es trotzdem weniger Fälle von Schneepest gibt … dann muss das ja eher noch heißen, dass die Schneepest auf dem Rückzug ist!“
    Kristina ließ kurz ihr Besteck sinken. Sie musste grinsen. „Mit Mathematik braucht man dir auch echt nicht zu kommen, hm?“
    „Jap, ganz genau so ist das“, sagte Thoren triumphierend.

    ***

    „Du bist den ganzen Vormittag schon so unruhig.“ Thorens Stimme war die eines Freundes, der seinen Unmut der Freundschaft zuliebe verbergen wollte. Kristina kannte das schon. Aber wie sie ihren Geliebten wie jeden Tag am Schreibtisch sitzen sah, nun mit dem Federkiel in der Hand zu ihr herüberschauend, erkannte sie, dass er es wirklich nicht böse meinte. Eher mitfühlend. Und das fand sie fast noch schlimmer.
    „Du wärst auch unruhig, wenn du nichts zu tun hättest.“
    „Keine Ahnung, weiß ich nicht … aber du könntest ja ruhig mal ausspannen. Du hast die letzten Monate ja wirklich genug gearbeitet.“
    „Aber den Haushalt muss ja auch irgendjemand machen.“
    „Er ist ja gemacht, du hast ja die ganzen letzten Tage geputzt und was weiß ich nicht alles. Früher haben wir uns das ja übrigens auch geteilt. Seit zwei Tagen machst du alles alleine.“
    „Und das stört dich so sehr?“
    „Nein. Ich will nur nicht, dass es so wirkt, als …“
    „Ich weiß“, beendete Kristina mit einem gütlichen Lächeln die Diskussion, ging zu Thoren herüber und legte die Arme um ihn. „Ich mutiere schon nicht zur spießigen Hausfrau. Keine Sorge. Wirklich. Keine Sorge.“
    Thoren lachte verlegen. „Du liest in mir wie in einem offenen Buch.“
    „Ist das so, ja?“, lachte Kristina zurück.
    „Ist so. Da fällt mir ein, zum Thema Buch. Du hast doch früher immer so gerne geschrieben, vielleicht könntest du das jetzt -“
    Ein Klopfen an der Haustür ließ Thoren verstummen. Kristina entwand sich der Umarmung und öffnete die Tür. Sofort kam kalte Luft herein – und Nawal.
    „Nawal, das ist ja eine … Überraschung.“
    „Kristina, gut, dass du da bist“, sagte Nawal und wischte sich ein paar Schneeflocken aus der langen Haarmähne – oder eher weiter in sie hinein, bis sie verschwanden. „Darf ich reinkommen?“
    „Wo sollte ich denn auch sonst sein?“, fragte Kristina etwas überrumpelt. „Und reingekommen bist du ja schon. Komm, mach die Tür hinter dir zu.“
    Danach setzten sie sich an den Tisch, unter den Augen Thorens, der in einer Art irritierten Denkerpose erstarrt schien.
    „Ach, äh … Thoren, stimmt’s? Hallo!“
    Thoren nickte ihr zu. „Nawal, richtig? Schön, dich zu sehen.“
    Kristina fing einen kurzen Blick Thorens auf, der eindeutig ihr selbst gegolten hatte. Sie musste sich ein Grinsen verkneifen, denn sie konnte sich in etwa vorstellen, woran Thoren gerade dachte.
    „Und … wie geht’s dir so?“, fragte Nawal dann an Kristina gewandt. Sie saßen sich gegenüber, Kristina mit Blickrichtung zur Tür.
    „Ach … ganz okay. Ist ja auch nicht schlecht, mal frei zu haben.“ Kristina sah sich dabei nicht als Lügnerin, denn sie glaubte an ihre Worte. Sie fühlte sie eben nur noch nicht.
    „Tja, habe ich mir auch gesagt. Und solange wir noch unser Gehalt kriegen …“
    Sie schwiegen daraufhin eine Weile. Kristina entging es nicht, dass die zierliche Frau nervös war.
    „Nawal, willst du nicht deinen Mantel ablegen? Wir können auch gerne nochwas im Ofen nachlegen, wenn es dir sonst zu kalt ist.“
    „Ach, Kristina, nein nein“, wehrte Nawal schnell ab. Sie rollte das r in Kristina dabei stark, wie sie es eben immer machte. Kristina mochte den Klang. „Ich will ja auch gar nicht so lange bleiben. Es ist nur … also, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen, weißt du.“
    Thorens Stuhl knarzte, als er aufstand. „Ich geh dann mal los.“
    „Wieso … du musst nicht, das ist doch …“
    „Nene, ich muss sowieso los“, bemühte sich Thoren, Nawal zu beruhigen. „Ich hab hier was für einen Kunden, da muss ich noch was nachfragen, bevor ich das fertigmachen kann. Ist jetzt eine gute Gelegenheit.“
    Thoren stapfte zur Tür und holte seinen etwas in die Jahre gekommenen Mantel vom Haken. Ohne weitere Worte hob er die Hand zum Abschied und verschwand nach draußen. Bevor die Tür wieder zuklappte, bahnte sich ein jaulender Windhauch den Weg ins Haus. Kristina bekam eine Gänsehaut.
    „Habe ich ihn verscheucht?“, fragt Nawal unsicher.
    Kristina winkte ab. „Das glaube ich nicht. Ist ja aber auch egal. Du wolltest mir was Wichtiges sagen?“
    „Ja“, sagte Nawal und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Es geht um Agneta.“
    Kristina zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Sie tat es minimal, kaum merklich und hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. In den dunklen Augen Nawals sah sie aber etwas, das darauf hindeutete, dass die Südländerin es sehr wohl bemerkt hatte. Kristina spürte, wie sich ihre Gänsehaut nun noch weiter aufstellte.
    „Was ist denn mit ihr?“, fragte sie, darauf bedacht, nicht zu bang zu wirken. „Hast du sie getroffen?“
    „Nein, ähnlich, aber … es war anders.“
    Nawal machte eine kurze Pause, wohl um sich zu sammeln. Kristina hielt sich davon ab, zu drängeln.
    „Ich habe sie gesehen. Das war aus Zufall. Ich war gerade in der Stadt unterwegs um … naja, um mich nach einer neuen Arbeit umzuschauen. Ich habe aber nichts gefunden, weshalb ich dann dachte, wenn ich schon unterwegs bin, kann ich auch meinen Cousin besuchen. Der wohnt am Stadtrand, weißt du?“
    „Weiß ich nicht … ist aber doch auch egal!“
    „Ja, du hast recht. Jedenfalls habe ich da dann Agneta gesehen. Aber sie war nicht alleine. Da war dieser Geldbote, der mir vorher das Gehalt gebracht hat. Ich weiß nicht, ob das der gleiche war, der auch bei dir war? Also, ich hoffe mal, du hast auch letztens dein Geld bekommen, ja?“
    Kristina nickte. „Ja, da war auch einer bei mir. Normal groß, ziemlich schlank, dunklere Haare … und sah im Gesicht auffällig jung aus.“
    „Ja, genau, so ein Bubigesicht!“, rief Nawal aus. „Dann war der das! Und den habe ich zusammen mit Agneta gesehen!“
    „Und weiter? Das ist ja jetzt erst einmal nichts weiter Schlimmes? Oder hat er ihr das Geld nicht korrekt ausbezahlt?“
    „Davon weiß ich nichts, ich glaube nämlich, das hatte nichts mit dem Geld zu tun. Die beiden sind nämlich zusammen zu einem Haus gegangen, ganz am Rande der Stadt. Eben ganz in der Nähe von meinem Cousin.“
    „Du hast sie also verfolgt.“
    „Das würde ich so jetzt nicht sagen …“
    „Also hast du sie verfolgt.“
    „Ja, ich bin ihnen nachgegangen, weil ich neugierig war … also, und natürlich, weil ich Agneta fragen wollte, wie es ihr so geht und so weiter.“
    „Natürlich.“
    „Ja. Und dann sind sie zusammen in ein Haus gegangen. Also, dieser Mann hat Agneta reingebeten. Und dann waren sie weg.“
    „Okay“, überlegte Kristina. „Und weiter?“
    „Wieso weiter? Das ist passiert! Kommt dir das denn nicht komisch vor?“
    „Naja“, meinte Kristina. „Wir haben es ja gerade schon gesagt. Schlank, dunkle Haare, gutaussehend … finde ich so komisch nicht. Da wäre ich wohl auch mitgegangen.“
    „Kristina!“, rief Nawal empört. Das r rollte diesmal ganz besonders.
    „Was denn?“
    „Du bist … du hast doch … was ist denn mit Thoren?“
    „Ach komm“, winkte Kristina ab. „Man wird doch wohl noch träumen dürfen. Wenn du wüsstest, mit wem Thoren so alles mitgehen würde … ich sehe daran jetzt jedenfalls noch nichts Außergewöhnliches. Wenn Agneta meint, sowas machen zu müssen, dann soll sie eben. Kann uns doch egal sein, oder?“
    „Aber Agneta ist nicht wieder aus dem Haus herausgekommen!“, rief Nawal. Ihr war eine Haarsträhne ins Gesicht gefallen, die sie sonst sicherlich sofort weggewischt hätte. In diesem Moment schien ihr das aber egal zu sein. „Und der Mann auch nicht!“
    „Woher willst du das denn wissen? Hast du etwa die ganze Zeit dort gewartet, oder wie?“
    „Nein, aber so ähnlich. Wie gesagt, das Haus von meinem Cousin ist ganz in der Nähe. Ich war dann den ganzen restlichen Tag dort und hab immer wieder aus dem Fenster geschaut. Ich hätte das schon gesehen, wenn jemand aus dem Haus gekommen wäre.“
    Kristina stieß angestrengt Luft aus. „Nawal“, sagte sie. „Vielleicht ist es dir ja auch einfach nur entgangen. Und selbst wenn … dann ist sie eben über Nacht geblieben. Je nachdem, was die beiden gemacht haben … ist doch ganz normal. Agneta wird schon nichts passiert sein.“
    „Und wenn doch? Es geht mir eben irgendwie nicht mehr aus dem Kopf, weißt du? Und außerdem habe ich Agneta seitdem auch nicht mehr gesehen.“
    „Das kann viele Gründe haben“, meinte Kristina rasch, um Nawals Verdachtsmomente direkt wieder zu unterdrücken. „Wann hat man sie denn sonst mal in der Stadt gesehen? Die meiste Zeit wird sie doch mit ihrem kranken Bruder verbringen, nehme ich mal an. Oder? Wir wissen ja nicht einmal, wo sie wohnt. Wahrscheinlich ganz am anderen Ende der Stadt, und dann ist es klar, dass man sie nicht zu Gesicht bekommt. Du solltest dir da keine weiteren Gedanken drüber machen.“
    „Meinst du, ja?“, fragte Nawal und blickte dabei sehr unzufrieden drein. Man hätte denken können, sie hätte sich geradezu gewünscht, dass etwas Schlimmes passiert war.
    Kristina hielt es nicht für nötig, darauf noch einmal zu antworten. Sie wollte das Thema möglichst schnell wieder abhaken. Für solcherlei Fantasiegeschichten hatte sie keine Zeit, auch wenn ihr Nawal durchaus leid tat – und sie es nicht unsympathisch fand, dass die Frau aus Varant sich so sehr um ihre Arbeitskolleginnen sorgte.
    „Oder geht es dir gar nicht darum, sondern du bist nur eifersüchtig?“, fragte Kristina dann nach einer Weile, mit neckischem Unterton, um das Gespräch wieder etwas aufzulockern.
    Nawal machte große Augen. „Kristina, wie meinst du das denn jetzt?“
    „Naja … vielleicht wärst du lieber mit dem Herrn Geldboten mitgegangen?“
    „Ach Kristina, hör mir auf“, sagte Nawal dann und rang sich ein Lächeln ab. „Mit mir und Männern, das wird glaube ich nichts mehr. Dafür habe ich schon zu viele Trottel erlebt, weißt du?“
    Kristina mochte den Klang, wie Nawal Trottel sagte. Ganz abgesehen davon, dass sie möglicherweise auch inhaltlich recht hatte.
    „Dann kannst du dann ja Agneta demnächst einfach mal in dein Haus einladen.“
    „Kristina!“
    „Schon gut, schon gut, ich mache doch nur Spaß“, lachte Kristina. Sie wunderte sich über sich selbst. Es war schon seltsam: Während sie noch Tag für Tag mehrere Stunden zusammen im Labor gearbeitet hatten, hatten sie nicht einmal ansatzweise solche Gespräche geführt. Kristina hätte da auch gar keinen Gedanken daran verschwendet. Sie waren halt Kolleginnen – gewesen. Jetzt, wo das nicht mehr galt, schien sie Nawal aber etwas anders wahrzunehmen.
    „Du und deine Späße“, sagte Nawal dann noch, wirkte aber nicht ernsthaft angegriffen. „Naja, du hast wohl recht. Also, damit, dass die Sache dann doch nicht so schlimm ist. Ich bin bei sowas manchmal etwas zu ängstlich, weißt du?“
    „Schon gut, ist ja nett, dass du dir Gedanken machst“, bekundete Kristina.
    „Wenn du das sagst, dann stimmt das sicher, Kristina! Danke, dass ich zu dir kommen durfte. Ich werde dann jetzt auch wieder gehen. Ich hoffe, ich habe euch nicht gestört?“
    „Nein, nein“, sagte Kristina hastig. „Das war schon okay so. Ich habe mich auch gefreut, dass du hier warst.“
    „Ja, Kristina, das ist auch das, was ich immer sage, weißt du? Wir müssen doch auch zusammenhalten, so als Kolleginnen und auch Frauen! Sonst sind wir doch verloren!“
    „Vielleicht hast du recht“, sagte Kristina etwas halbherzig, als sie vom Tisch aufstanden. Kristina begleitete Nawal, die sich gerade wieder mit ihren schlanken Händen die dunklen Haare richtete, noch zur Tür. Als sie an Nawal vorbei reichte, um die Haustür aufzumachen, kam sie um eine letzte Bemerkung doch nicht drumherum – sie sprach sich sozusagen wie von selbst aus.
    „Das Parfüm, das du trägst … das riecht richtig gut.“
    „Findest du?“, fragte Nawal freudig überrascht. „Ja, es ist ein gutes Parfüm! Kriegt man hier nicht so einfach! Ach Kristina, wenn ich das vorher gewusst hätte, ich habe doch noch eine Flasche übrig, die hätte ich dir mitgebracht! Aber nächstes Mal, ganz sicher!“
    „Wenn es so ein seltenes ist, kannst du das doch nicht einfach verschenken“, wehrte Kristina ab, während sie Nawal ungewollt immer näher kam. „Schon gar nicht an mich, das ist doch Verschwendung.“ Kristinas Nase berührte nun beinahe schon Nawals Nacken. Die etwas jüngere Frau lachte.
    „Kristina, was machst du? Muss ich dir doch eine Flasche davon mitbringen, wenn du es so gerne riechst?“
    Kristina zog ihr Gesicht wieder zurück.
    „Nein, nein nein, es riecht ja bestimmt nur an dir so gut.“
    „Wenn du das sagst“, lachte Nawal nochmal und schob sich an Kristina vorbei zur Tür. Die beiden Frauen standen sich nun direkt gegenüber. Nawals dunkle Augen schienen etwas zu glitzern. Eine Sekunde Schweigen. Zwei Sekunden. Bei Sekunde Drei sagte Nawal endlich was.
    „Ich … sollte dann gehen, Kristina. Mein Cousin … wartet auf mich, ich bin wieder mit ihm verabredet, weißt du? Also … dann danke noch einmal und bis dann!“
    „Ja, bis dann, mach’s gut“, sagte Kristina kühler, als ihr eigentlich zumute war, lächelte Nawal dann noch einmal zu und beobachtete, wie die junge Südländerin mit festen Schritten das Haus verließ und durch den Schnee draußen stapfte. Sie sah ihr noch eine ganze Weile nach, und Nawal drehte sich die ganze Zeit nicht noch einmal um. Als Kristina dann endlich bemerkte, dass ihr schon längst zu kalt geworden war, machte sie die Tür wieder zu. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihrer Brust. Dann machte sie sich daran, das Mittagessen vorzubereiten. Ganz die Hausfrau.

    „Es riecht nach Linsensuppe!“, rief Thoren aus, als er zur Tür hereinkam und seinen Mantel an den Haken warf.
    „Mit Speck“, bestätigte Kristina, nachdem sie ihr Werk schnell noch endgültig abgeschmeckt hatte. „Du kommst genau richtig, als hättest du es geahnt.“
    „Ja, das ist genau das Familienidyll, was ich so liebe, und morgen machen wir dann endlich zwei Kinder und irgendwann leben wir dann als Großmutter und Großvater zusammen mit den Enkeln in einem Mehrgenerationenhaus, wie sich das für gute Gelderner Bürger gehört, nicht wahr?“
    „Hör bloß auf“, lachte Kristina, während sie das Feuer am Herd ausmachte. „Sonst bin ich gleich schon satt, noch bevor ich was gegessen habe.“
    „Dann bleibt ja nur mehr für mich“, sagte Thoren, als er zu Kristina rüberkam. „Kann ich dir noch was helfen?“
    „Nein.“ Kristina packte den Topf und stellte ihn auf den Esstisch, wo bereits zwei Schüsseln samt Löffeln bereitlagen. „Das zerstört doch sonst unser Familienidyll! Außerdem ist es ja schon fertig.“
    Wenig später saßen sie sich am Tisch gegenüber und löffelten eifrig die Suppe – vor solchen Szenen konnte einen auch die Ironie nicht bewahren. Aber sie wirkte mildernd.
    „Wo warst du denn jetzt eigentlich?“, fragte Kristina dann nach einer Weile.
    „Ich war wirklich bei einem Kunden. Der hatte da ganz absurde Sachen verlangt, die eigentlich gar nicht gehen – meiner Meinung nach. Da musste ich dann nochmal hin. Ist aber stur geblieben. Mach ich den Scheiß halt doch so, wie er will.“
    „Achso.“ Kristina ließ ihren Löffel in die Schüssel sinken. „Und ich dachte schon, du wärst wegen Nawal geflohen.“
    „Ich bin noch nie vor einer Frau geflohen“, konterte Thoren. „Aber Nawal schien ja eher unter vier Augen mit dir sprechen zu wollen. Deshalb bin ich dann mal lieber gegangen.“
    „Ja, war wohl auch so“, meinte Kristina und griff wieder nach ihrem Löffel. Stille garniert mit unregelmäßigem Besteckklirren und gelegentlichem Geschlürfe kehrte ein. Sie wurde bald wieder von Thoren durchbrochen.
    „Worüber habt ihr denn geredet?“
    Kristina ließ den Löffel wiederum in die Schüssel gleiten. „Das ist ja nicht schlecht“, meinte sie amüsiert. „Erst sagst du, du gehst lieber, damit das Gespräch unter vier Augen stattfindet, und hinterher fragst du alles ab, oder was?“
    „Naja“, meinte Thoren. „So funktioniert das halt, oder? Wenn Leute das nicht so machen würden, dann hätte man ja kaum noch Gesprächsthemen.“
    „Wenn du das sagst! Wir haben jedenfalls einfach so ein bisschen über Kolleginnen gesprochen. Nawal hat Agneta wohl irgendwie gesehen und sich gefragt, was sie macht, oder so. So wichtig war es dann auch nicht. Nawal war ja schon immer eher so für Zusammenhalt unter uns Laborfrauen, und das ist sie wohl auch jetzt noch. Da sorgt sie sich manchmal einfach, was die anderen so machen und so weiter.“
    „Ist ja eigentlich ganz nett von ihr.“
    „Ja, das ist schon nett.“
    Nach einer weiteren Pause fragte Thoren: „Wer ist denn Agneta?“
    Kristina grinste. „Jetzt, wo du Nawal schon etwas besser kennst, bist du wohl neugierig geworden, was?“
    „Naja, wieso? Wenn du sie schon erwähnst.“
    „Sagitta habe ich auch schon häufiger erwähnt, und nach der hast du noch nie gefragt.“
    „Von der weiß ich aber auch, dass sie deine Chefin ist … war. Das ist ja was anderes.“
    „Aber von Agneta wirst du doch auch wissen, dass sie meine Kollegin war.“
    „Schon, aber das … ist eben was anderes! Chef ist Chef, und Kollegen sind … Kollegen, aber alle anders eben!“
    „Ja gut, da muss ich dir sogar recht geben, bei meinen Kolleginnen“, sagte Kristina vergnügt. „Agneta ist jedenfalls so eine Blonde.“
    „Das klingt jetzt so, als hätte ich vor allem nach ihrer Haarfarbe gefragt.“
    „Naja, den meisten Männern reicht das doch schon, wenn man sowas sagt. Vor allem, wenn es blond ist.“
    „Mir reicht sowas nicht!“
    „Achso! Was willst du denn noch wissen? Augenfarbe, Körbchengröße …“
    „Ach komm!“, nörgelte Thoren und rieb sich in gespielter Verzweiflung durch die Stirn. „Geht das jetzt schon wieder los? Wenn du mich verkuppeln willst, dann sag es ruhig. Solange ich dich dann noch behalten kann …“
    Kristina spürte ihr Grinsen immer breiter werden. „Du, für einen Harem haben wir hier aber glaube ich gar nicht genug Platz …“
    „Nee, also jetzt sag ich gar nichts mehr“, meinte Thoren schmunzelnd und wandte sich wieder seiner Linsensuppe zu.
    „Ist ja gut … aber weiß ich ja auch nicht, was ich da immer so sagen soll. Agneta habe ich übrigens schonmal erwähnt. Das ist die mit dem kranken Bruder.“
    „Ja siehst du, das ist doch mal eine Aussage! Jetzt erinnere ich mich auch.“
    „Ende gut, alles gut“, kommentierte Kristina. Nachdem sie irgendwann die letzten Reste in ihrer Schüssel ausgelöffelt hatte, kam ihr eine Idee. „Pass auf, ich habe ein Friedensangebot an dich: Wie sieht’s aus mit Klößen mit Birnenmus? Hatten wir schon lange nicht mehr.“
    „Na, der Krieg muss aber gewaltig an mir vorübergegangen sein, bei so einem großzügigen Friedensangebot! Ich sage jedenfalls nicht nein.“
    „Gut“, sagte Kristina zufrieden. „Aber ich kann dir noch nichts versprechen! Birnen haben ja gar nicht mehr Saison. Aber übermorgen ist Markttag, da wird es sicher ein, zwei Händler geben, die noch welche übrig haben. Zumindest welche, die für Mus reichen.“
    „Ach Kristina“, seufzte Thoren verschmitzt. „Du bist wirklich so gut zu mir. Zu gut.“
    Kristina lächelte. „Ich glaube, du bist der erste Mann, der sowas so freimütig zugeben würde.“

    ***
    ***

    Jetzt bin ich doch zur spießigen Hausfrau geworden, dachte Kristina, während sie die ganzen alten Muttchen um sie herum betrachtete, welche wiederum sie selbst mit nicht ganz deutbaren Blicken musterten. Kristina hatte ein wenig das Gefühl, die alten Frauen, ob nun vor oder hinter den Marktständen, neideten ihr ihre Jugend. Denn Geldern war zwar über die Jahre gewachsen, groß geworden und um neue Stadtteile bereichert, im Kern jedoch war Geldern noch immer eine alte Stadt. Alt, was Gründungsjahr, Häuser und das Stadtbild anging; alt aber auch, was die Bevölkerung anging. Es lag vielleicht auch daran, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der jüngeren Generationen in den Kriegen des Reiches gefallen war.
    „Frische Fische!“, erklang ein Ruf zu Kristinas Seite, der sie wieder aus ihren Gedanken zurückholte. Einer der Marktschreier war über sein doch eher klägliches Angebot an Fischen am Krakeelen, wobei Kristina gewisse Zweifel hegte, dass die präsentierten Meerestiere tatsächlich so frisch waren, wie ausgerufen.
    Ganz allgemein herrschte auf dem Marktplatz ein geschäftiges und lautes Treiben. Trotz der Kälte waren die Gassen, die durch die Marktstände gebildet wurden, gut mit Publikum gefüllt. Offenbar war bei kaum jemandem die Angst, sich hier draußen die Schneepest zu holen, groß genug, um ihn oder sie vom Marktbesuch abzuhalten. Kristina war dagegen schon eher geneigt, bei dem ständigen Gehuste und Geschniefe etwas nervös zu werden. Nicht alles, was nach einer harmlosen Erkältung aussah, war tatsächlich auch eine. Das hatte schon so mancher Mensch in Myrtana unverhofft erkennen müssen.
    Durch den Trubel hindurch bemühte Kristina sich, einen Händler oder eine Händlerin zu finden, bei der sie Birnen kaufen konnte. Der Marktplatz war jedoch zu unübersichtlich, als dass sie bei der Suche irgendwie systematisch hätte vorgehen können. Fischstände reihten sich an Angebote für Kurzwaren, Bretterbuden mit Heißgetränken standen neben Warenaufgeboten für Socken und Teppiche. Dass Kristina ein gutes Stück kleiner war als viele der Marktbesucher – die alten Muttchen teils sogar eingeschlossen – machte ihre Bemühungen, durch die chaotische Anordnung der Marktstände durchzublicken, auch nicht einfacher. Inmitten des Menschengewirrs auf diesem Platz, der an den Rändern von hohen Häusern eingesäumt wurde, fühlte sie sich wie tief in einem Tal. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als Stand für Stand abzugehen, bis sie einen fand, der auch Birnen bot.
    „Knopf-Otto bietet beste Knöpfe – ein Knopf pro Kopf umsonst!“
    „Teppiche für Wand, Boden und draußen! Teppiche! Feinste Auslegware!“
    „Liebe Leute, nur hier lank – Guidos Gürtel machen schlank!“
    „Ton, Blech und Eisen – Töpfe nur zu fairen Preisen!“
    „Alle Leute kennen den Preis, aber kaum jemand kennt den Wert!“
    „Auf meinen Nägeln haben sogar schon Fakire geschlafen!“
    „Halbe Gans oder ganze Gans – ganz und gar Gans beim Gänsefranz!“
    „Kaufst du billig, kaufst du zweimal – aber zwei zum Preis von einem!“
    „Besser gut gekauft, als schlecht gestohlen!“
    „Mildreds Maultaschen für ein deftiges Winteressen! Ein deftiges Winteressen nur mit Mildreds Maultaschen!
    „Myrtaner, kauft myrtanische Bananen!“
    „Bei Birnen-Benno gibt’s Rabatt – heute muss alles raus!“
    Kristina stieß überrascht Luft aus, als sie mit der Schulter an jemandem hängen blieb. Sie blieb stehen, um sich bei der Person zu entschuldigen oder sie wahlweise anzuschnauzen – tat aber keines von beiden, als sie sie erkannte. Vor ihr stand eine große, schlanke Frau mit tiefschwarzen Haaren.
    „Krüssi! Was machst du denn hier?“
    „Einkaufen, was denn sonst? Oder zumindest versuche ich das. Man findet ja nichts hier, bei dem Trubel.“
    „Was suchst d – aua!“
    Jasmin war vom Gehstock einer älteren Frau unsanft ins Bein getroffen worden, was die alte Dame dann auch noch mit einem strengen Blick quittierte. Jasmin schüttelte darüber nur verärgert den Kopf. Kristina sah ihr an, dass sie sich zurückhalten musste. Jasmin konnte zu bestimmten Gelegenheiten auch sehr aufbrausend werden. Das hier war garantiert eine dieser Gelegenheiten.
    „Komm, lass uns vielleicht mal einen Schritt zur Seite gehen, vielleicht dort hinter den Stand, sonst werden wir noch umgerannt“, sagte Jasmin mit einer gehörigen Portion Genervtheit in der Stimme.
    „Mein Gott, dieser ganze Schneematsch wieder, da kann ich meine Stiefel ja zu Hause wieder putzen“, sagte Jasmin dann, als sie hinter dem Stand angekommen und dem Markttreiben ein Stück weit entflohen waren. Der große Menschenstrom war hier, nahe einer Hausfassade und unweit ein paar alleingelassener Müllberge, unterbrochen. Nur vereinzelt suchten hier ein paar Menschen nach einer Abkürzung durch das Marktlabyrinth.
    „Das ist ja jedenfalls ein Zufall, dass wir uns hier treffen!“, sagte Jasmin nach einer Weile.
    „Geplant war es jedenfalls nicht“, erwiderte Kristina lakonisch. „Aber ich freue mich!“, fügte sie dann schnell noch hinzu. Sie hatte diese Art, missverstanden zu werden.
    „Ich mich auch … wie geht es dir bis jetzt? Ich vermisse ja die Arbeit, aber das wundert dich wahrscheinlich nicht groß.“ Jasmin lachte. Es war ein dunkles Lachen. Kristina mochte dieses Lachen, weil es so ehrlich klang. Sehr wenig gestellt. Andere Frauen von Jasmins Format hätten sicherlich anders gelacht. Nicht so spontan und natürlich. Mehr auf Abruf.
    „Nein, wundert mich wahrscheinlich nicht“, lachte Kristina zurück – und prüfte, wie ehrlich ihr eigenes Lachen wohl klang. „Aber ich kann es auch gut nachvollziehen. Also, nicht dass ich was gegen zusätzliche Freizeit hätte. Aber … wir waren halt so kurz davor und … ach. Du weißt ja, was ich meine.“
    „Ja, weiß ich wohl …“, meinte Jasmin leise und versteckte ihre Augen unter einem langen Wimpernschlag. „Den anderen geht es ja nicht anders. Gerade Agneta ist doch recht schwer davon getroffen. Kannst du dir ja vorstellen.“
    „Hast du sie getroffen?“, fragte Kristina. Sie bemerkte, dass sie ein wenig in der Kälte fror, aber glühende Wangen bekommen hatte. Hoffentlich waren sie jetzt nicht so rot wie die von Ellis.
    „Ja sicher … du noch nicht?“, fragte Jasmin gegen. Sie wirkte ernsthaft verwundert – was wiederum Kristina ziemlich verwunderte.
    „Wieso? Hätte ich sie treffen sollen? Hat sie was gesagt?“
    „Also, ich hab sie vor ein paar Tagen … frag mich nicht genau, welcher es war, ich habe das Zeitgefühl verloren … also, vor ein, zwei Tagen war sei bei mir und meinte, sie hätte schon Ellis besucht und würde auch noch bei dir und Nawal vorbeischauen. Hat sie das nicht gemacht?“
    Kristina schüttelte den Kopf. „Vielleicht mag sie mich ja nicht genug und hat das gegenüber dir nur aus Höflichkeit oder so gesagt.“
    „Ach, Krüssi! Wie kann man dich nicht mögen?“
    „Frag das doch Agneta, wenn du sie das nächste Mal siehst! Nein nein, das war jetzt auch nur so ein Gedanke. Vielleicht … kommt sie ja noch vorbei. Wenn sie es schon gesagt hat. Oder?“
    „Hm, keine Ahnung“, überlegte Jasmin. „Mir schien das so, als wollte sie das sofort machen, also möglichst noch am selben Tag. Das war ja jetzt nicht nur so ein Anstandsbesuch oder so. Sie wollte ja was.“
    „Und was?“
    „Nochmal wegen der Antipest. Die ganzen Aufzeichnungen sind ja nicht mehr im Labor. Sie hat mich – und wohl auch Ellis – nochmal nach allem gefragt, was wir wissen. Was so der letzte Stand war. Damit wollte sie dann bei dir und Nawal noch weitermachen, damit sie ein möglichst komplettes Bild hat.“
    „Wegen ihrem Bruder.“
    „Das habe ich auch gedacht. Aber frag mal Ellis danach, die hat natürlich wieder ihre ganz eigenen Theorien.“
    „Die da wären?“
    „Na, ist doch klar: Ellis hat natürlich längst durchschaut, dass Agneta selbst ein Mittel gegen die Schneepest entwickeln will, um damit Geld zu machen. Auf eigene Faust. Das sei ja sowieso klar, meinte sie, denn Agneta sei ja eh als letztes zu uns ins Laborteam gekommen und das hätte sie bestimmt eh nur gemacht, um uns auszuspionieren. Von wegen, ihr wäre es eh immer nur ums Geld gegangen, von Anfang an. Genau, wie Ellis natürlich auch von Anfang an diesen Verdacht hatte. Ist ja klar.“
    „Das Letzte glaube ich ihr sogar wirklich“, sagte Kristina und verdrehte demonstrativ die Augen. „Mein Gott, das ist doch offensichtlich, dass Agneta das für ihren Bruder macht. Wofür sonst?“
    „Eben“, stimmte Jasmin ihr energisch zu. Ihre ehemalige Quasi-Vorarbeiterin hatte sich augenscheinlich so langsam warmgelaufen. „Habe ich Ellis auch gesagt. Seit wann hat Agneta was mit Geld am Hut? Die hat doch sogar mal in einer Woche einfach ihre Lohntüte im Labor liegen gelassen, einfach vergessen. Das hat doch alles nichts mit Geldgier zu tun! Aber das hat Ellis natürlich nicht interessiert. Du weißt ja, wie sie ist. Oder sein kann.“
    „Wobei …“, begann Kristina, brach dann aber wieder ab. Die Unterhaltung war an eine Stelle gekommen, an der Kristina auf einmal das Gefühl hatte, überlegen zu müssen, was und wie viel sie sagte.
    „Was denn?“, fragte Jasmin beiläufig, den Blick erst einmal wieder auf ihre mit braunem Schneematsch besudelten Stiefel gerichtet.
    „Wobei ich mit Nawal gesprochen habe, und sie meinte, sie hätte Agneta mit diesem Geldboten zusammen gesehen.“
    „Was?“, stieß Jasmin schockiert aus. Kristinas Herz machte einen Hüpfer, beruhigte sich dann aber langsam wieder, als Jasmin weitersprach. „Verrate das bloß nicht Ellis, hörst du? Das gießt ja nur noch mehr Öl ins Feuer. Da macht der Geldbote ihr schöne Augen oder andersrum, und Ellis glaubt dann, Agneta will ihm das Geld abluchsen, was eigentlich uns zustünde, oder sowas. Das kann ich mir richtig vorstellen.“
    „Ja, die Vermutung hatte ich auch“, sagte Kristina. Als sie sah, wie Jasmin große Augen machte, sprach sie schnell weiter. „Also, dass da zwischen ihr und dem Geldboten was läuft. Zwischen Agneta und dem Geldboten.“
    „Jaja“, sagte Jasmin dann wieder entspannter. „Ich kann es Agneta auch schlecht verübeln. Aber er sieht mir zu jung aus, von daher soll sie ihn ruhig haben, was?“
    „Ja“, meinte Kristina, und sie schwiegen. Kristina bemerkte, dass sie selbst unruhig wurde. Die Füße konnte sie kaum stillhalten. Es war ja auch sehr kalt.
    „Aber schon komisch …“, murmelte Jasmin dann nach einer Weile.
    „Was?“
    „Mit Nawal hat Agneta dann wohl auch nicht gesprochen? Das klang jetzt so.“
    „Nene, wohl auch nicht“, gab Kristina Auskunft. „Hat Nawal zumindest nichts von gesagt.“
    Jasmin zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht hat ihr neuer Liebhaber ihr das ja ausgeredet. Boten können ja immer gut quatschen. Muss ja Einiges an Überzeugungsarbeit gewesen sein, Agneta wirkte nämlich schon ziemlich entschlossen, sowas gibt die doch nicht einfach auf. Also, mit der Antipest und so weiter. Sie meinte, sie würde euch definitiv auch noch besuchen. Naja, so schnell kann’s gehen, was?“
    „So schnell kann’s gehen, ja …“, wiederholte Kristina etwas abwesend. „Das haben wir ja jetzt ganz allgemein gemerkt, ne? Am einen Tag noch die beste Laborgemeinschaft in der Region, vom Zirkel geschützt und von Magiern verachtet … und dann …“
    „Ja … ja, da hast du recht. Das ist wohl so. Ach Krüssi! Ich wünsche mir doch auch so, dass das alles nicht passiert wäre.“
    „Das Leben ist eben kein Wunschkonzert.“ Kristina lächelte angestrengt. „Von Sagitta wirst du dann ja wohl auch nichts gehört haben.“
    Jasmin schüttelte den Kopf, ihre Haare flatterten dabei in einer kurzen Windböe. „Ich war sogar bei ihr zuhause“, sagte sie dann.
    „Was, echt? Wo wohnt sie denn?“
    „Außerhalb von Geldern, fast in so einem kleinen Waldstück mittendrin“, erzählte Jasmin weiter. „Sie hatte mir das irgendwann mal ganz beiläufig erklärt. Und ich hab’s dann jetzt tatsächlich auch gefunden.“
    „Aber war nichts.“
    „Nein, war nichts. Ihr Haus genau so verlassen wie unser Labor, nur ohne Zettel. Also, ich bin natürlich nicht reingegangen, es war eh versperrt. Aber ich konnte ein wenig durch die Fensterläden schauen. Da war niemand. Wer weiß, wo sie ist. Das weiß wohl nur sie selbst.“
    Kristina seufzte. „Ob si … ob Sagitta nochmal wiederkommt?“
    „Das weiß wohl auch nur sie selbst“, stimmte Jasmin ins Seufzen ein. „Wenn sie es denn weiß. Ich hoffe es jedenfalls. Ganz ehrlich, Krüssi: Ein bisschen ist sie uns das auch schuldig.“
    „Ja.“
    „Aber was will man machen.“
    „Ja.“
    Sie schwiegen wieder. Der Wind pfiff an der Häuserfassade vorbei. Kristina bereute es jetzt, keine Mütze mitgenommen zu haben. Jasmin schien es ähnlich zu gehen.
    „Du, Krüssi, ich müsste jetzt mal weiter“, sagte Jasmin schließlich. „Ich wollte noch Fisch kaufen und dann zu Hause mal wieder richtig schön kochen. Ich würde dich sogar einladen, aber ich habe das solange schon nicht mehr gemacht, da kann ich das nicht ohne Testlauf wagen.“ Sie lachte wieder ihr dunkles Lachen. „Aber ein andermal gerne.“
    „Nur keine Umstände“, sagte Kristina, und wehrte mit ihrer Geste mehr ab, als sie es eigentlich für angebracht hielt. „Ich sollte jetzt übrigens auch mal weiter. Noch einiges zu erledigen, und so weiter. Und kalt wird es ja auch.“
    „Schweinekalt“, bestätigte Jasmin. „Also dann. War nett, dich getroffen zu haben! Wir sehen uns ja vielleicht demnächst schon wieder. Man ist ja nicht aus der Welt. Und wenn irgendetwas ist … du weißt ja, Krüssi. Jederzeit.“
    „Alles klar.“
    Die beiden Frauen umarmten sich zum Abschied, dann schritt Jasmin zielstrebig davon. Sie winkte noch einmal kurz. Wenig später verschluckte sie der Menschenstrom auf der Hauptgasse.
    Kristina blieb noch eine Weile in der Kälte stehen. Während sie das Gewicht von einem Bein aufs andere und wieder zurück verlagerte, sah sie in den Himmel. Es zog sich mehr und mehr zu. Das sah nach neuem Schnee aus. Kristina blieb noch ein wenig länger so stehen – und dann setzte auch sie sich endlich wieder in Bewegung.

    Der Geruch in der Stube unterschied sich deutlich von dem in ihrem Labor. Kristina konnte den Unterschied nicht ganz festmachen, hatte aber die Assoziation von Männlichkeit in ihrer eher unangenehmen Form im Kopf. Im Umkehrschluss musste es bei ihnen im Labor dann wohl recht weiblich gerochen haben.
    Kristina stand nun hinter dem zweigeteilten Eingangstor, welches die Kälte ganz gut von draußen abhielt, und besah sich das Treiben. Peraturs Labor war eine alteingesessene Alchemiestube in Geldern, die im Laufe der Zeit zwar vergrößert worden war, aber – zumindest was den Arbeits- und Kundenraum anging – einräumig geblieben war. Kristina war das letzte Mal vor Jahren hier gewesen, doch Peratur, den ergrauten Alchemisten mit nun gar keinen Haaren mehr auf dem Kopf, den erkannte sie sofort. Er stand nahe am Eingangsbereich hinter einer Theke und hatte ihr gerade den Rücken – oder besser: den Hintern – zugewandt, während er in einer Schublade auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes herumkramte. Über das unterschwellige Geblubber in der Stube hörte man ihn ab und an fluchen, offenbar suchte er nach etwas und fand es nicht.
    Kristina blickte nach rechts und überschaute den eigentlichen Arbeitsraum des Labors, dessen Parkettboden etwas tiefer gelegt war und durch eine kleine Treppe mit dem Eingangsbereich verbunden wurde. Einige Alchemietische standen dort akkurat aneinandergereiht, nur unterbrochen von einigen größeren Kesseln, Kohlebecken, Feuerstellen und in größeren Blöcken von Schränken und Gefäßen allerlei Art, die alchemistisches Zubehör, Zutaten oder was auch immer enthalten mochten. Nur zwei der acht Tische waren tatsächlich in Betrieb, je ein Mitarbeiter – der eine eher jung, der andere eher alt – bediente die Kolben und Destillieranlagen und ließ es in den Töpfen köcheln. Ab und zu zog vielfarbiger Dunst auf, verflüchtigte sich aber jedes Mal alsbald wieder. Es wirkte sehr organisiert, aber auch sehr steif. Nach viel Spaß sah es jedenfalls nicht aus.
    „Was kann ich für dich tun?“
    Kristina drehte sich wieder zum Tresen. Peratur hatte sie nun endlich bemerkt. Er verzog das Gesicht ein bisschen. Es sah aus, als kämpfte der alte Alchemist bewusst gegen seine unfreundliche Mimik an, um der Kundschaft gegenüber aufgeschlossen zu wirken. Es misslang ihm gründlich, und je länger er Kristina musterte, desto mehr sackten seine Gesichtszüge wieder in sich zusammen.
    „Bestellung oder Abholung?“, hakte er nach, als Kristina einige Zeit lang nichts sagte. Seine Stimme war unangenehm schneidend. Schon lange bevor Kristina in Sagittas Labor angefangen hatte zu arbeiten, war sie nicht mehr hier gewesen. Aber Sagitta selbst hatte dann und wann über Peratur gesprochen. Es war ein offenes Geheimnis, dass der bekannteste Alchemist Gelderns es nicht gutgeheißen hatte, dass der Zirkel der Hexen beim Stadtrat hatte durchsetzen können, die Eröffnung von Sagittas Labor zu genehmigen. Das lag zum einen daran, dass Peratur bis dahin nicht nur der bekannteste, sondern eben auch der einzige Alchemist Gelderns gewesen war. Dass zum anderen die Konkurrenz dann auch noch in Form von Frauen und das dann auch noch unter Führung der Kräuterhexe Sagitta gekommen war, hatte ihn erst recht aufgebracht. Sagittas Worten zufolge sprach Peratur seitdem mindestens einmal im Monat beim Stadtrat und der Verwaltung vor, um ihr Labor entweder völlig haltlos anzuschwärzen oder einfach nur ganz allgemein jede Menge Unmut abzulassen. Jetzt, so dachte Kristina, brauchte Peratur das wohl nicht mehr zu tun. Dieser Gedanke weckte einen weiteren, drängenderen Gedanken, nämlich, dass Peratur womöglich etwas mit der Schließung ihres Labors zu tun haben konnte. Dann aber, und das sprach gegen diese Annahme, hätte Sagitta das entweder noch zu verhindern gewusst oder ihnen gegenüber wenigstens reinen Tisch gemacht. Dennoch: Dass Peratur von der Schließung von Sagittas Labor profitierte, weckte ein ungutes Gefühl in Kristina. Sie konnte es jedoch nicht weiter verfolgen, da sie spätestens seit Betreten von Peraturs Alchemiestube von ganz anderen Gedanken und Gefühlen eingenommen war, die kaum andere Pläne neben sich duldeten.
    „Was ist denn nun? Also, wenn meine Kunden nicht den Mund aufmachen, da hätte ich dann auch gleich Veterinärmediziner werden können!“
    Kristina ignorierte Peraturs Unfreundlichkeit und sprach mit fester Stimme: „Ich will nichts bestellen oder abholen. Ich habe eine Frage. Nämlich, ob ich für ein paar Stunden einen eurer Tische benutzen darf. Und Zutaten und so weiter. Ich bezahle natürlich für alles. Ich will mir selbst etwas zusammenmixen.“
    Peraturs buschige Augenbrauen hoben sich in ungeahnte Höhen. Sie thronten jetzt wie zwei kleine Schneebögen über seinem Gesicht.
    „Du willst … was tun?“
    „Ich will einen Arbeitsplatz hier mieten. Wo ist das Problem?“
    „Das Problem ist … dass hier nicht einfach Hinz und Kunz hereinschneien können, um sich meiner Arbeitsgeräte zu bemächtigen! So etwas fange ich hier gar nicht erst an! Wenn hier jemand an meine Tische geht, dann nur meine Angestellten. Die wissen wenigstens, wie sie damit umzugehen haben. Und wenn nicht, dann habe ich immerhin jemanden, der das Desaster wieder geraderückt. Ich kann es mir schließlich nicht leisten, dass irgendwer hier irgendwas durcheinander bringt!“
    Für Kristina kam die Ablehnung nicht allzu unerwartet, etwas neu einstellen musste sie sich allerdings trotzdem. Ihr wurde auch ein wenig warm, jetzt, da sie schon länger in der beheizten Stube stand und dieses Gespräch führen musste.
    „Und was, wenn ich bei dir anfange? Suchst du vielleicht noch jemanden?“
    Das, was Peraturs Augenbrauen an Höhe erreicht hatten, glichen die Mundwinkel nun in Sachen Tiefe aus. Das Gesicht des Alchemisten wirkte nun gespannt, gleichzeitig aber immer noch faltig. Es war das Aussehen eines in die Jahre gekommenen Vaters, der sein Leben lang viel zu streng mit seiner Familie umgegangen und dadurch ausgezehrt worden war.
    „Ob ich jemanden suche? Was hat dich das zu interessieren? Ja, nein, vielleicht! Gute Arbeitskräfte kann ich immer gebrauchen. Gute Arbeitskräfte! Frauen arbeiten hier nicht. Das hier ist ein reines Männerlabor. Wenn du meinst, du müsstest in deiner Naivität mit gefährlichen Mischungen hantieren, dann musst du zu Sa … Moment mal. Bist du nicht … du hast doch sicher noch bis vor Kurzem bei dieser Hexe gearbeitet, oder?“
    „Stimmt so“, sagte Kristina. Sie war etwas überrascht. Peratur konnte sie wohl kaum erkannt haben. Vermutlich war es einfach offensichtlich, dass eine Frau, die angab, alchemistische Kenntnisse zu besitzen, irgendwie mit Sagitta und ihrem Labor im Bunde stehen musste.
    „Na, das ist ja eine Überraschung“, sagte Peratur und feixte. Dieser Gesichtsausdruck stand ihm noch weniger. „Hat die Alte wohl doch noch Schiss bekommen, dass der Stadtrat eure Hexereien nicht mehr länger dulden wird, was?“
    „Wenn du das sagst.“
    „Und kaum hat euer Laden dicht gemacht, kommst du hierhin, um hier neu anzufangen?“
    Kristina schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt, das hast du gesagt. Ich habe gesagt, dass ich für ein paar Stunden einen deiner Tische benutzen will.“
    Peraturs Grinsen wurde immer breiter. „Und ich sage: Das schlägst du dir mal ganz schnell wieder aus dem Kopf, Mädel! Vielleicht in einem Jahr, wenn du deine weibshafte Überheblichkeit so langsam wieder verloren hast, weil du nicht mehr zusammen mit Sagitta den großen Zampano spielen darfst. In einem Jahr vielleicht! Und dann stelle ich euch alle ein, dich und deine Kolleginnen. Und dann könnt ihr erst einmal anfangen, hier zu putzen.“
    Kristina hatte genug gehört. Den Ausgang des Ganzen hatte sie einkalkuliert, ebenso wie die ein oder andere Unfreundlichkeit, aber die Unverhohlenheit, mit der Peratur auftrat, die hatte sie so nicht erwartet.
    „Wenn ich was bestelle, wie lange wirst du brauchen, um es fertig zu machen?“
    „Das werde ich dann sehen“, raunte Peratur. „Aber ich empfehle dir, woanders zu bestellen und nicht bei mir. Du brauchst nicht zu glauben, dass ich es nicht persönlich nähme, wenn jemand gegen mich arbeitet. Oh nein. Ich nehme es sehr persönlich. Äußerst persönlich. Aber ich will nicht so sein. Ich verkaufe dir etwas. Natürlich werde ich mich gezwungen sehen, die Verluste, die ich durch eure auf den Markt geschwemmten Panschprodukte erlitten habe, auf den Preis draufzuschlagen. Sagen wir …“
    „Vergiss es“, sagte Kristina und wandte sich zum Gehen. „Hoffentlich erstickst du irgendwann an deinen Dünsten hier.“ Sie blieb noch kurz stehen, zögerte. Das war eigentlich nichts, was man sagen sollte, doch …
    „Oder verreck’ von mir aus gleich an der Schneepest.“
    Kristina hörte noch ein Schnauben des Alchemisten, dann war sie auch schon wieder aus der Stube verschwunden. Die beiden Torflügel knallten hinter ihr zu, das offene Vorhängeschloss klapperte ein paarmal gegen das Holz. Sie würde ihre Planung wohl etwas umstellen müssen.

    Kristina hatte die Tür schon geöffnet, aber sie blieb vorerst draußen stehen, um sich den Schnee vom Schuhwerk zu klopfen, damit sie ihn nicht ins Haus trug.
    „Nun komm schon rein!“, rief Thoren irgendwann. „Es wird kalt hier drin!“ Kristina ließ es dabei bewenden und wischte den Rest an Schneematsch so gut es ging an der Fußmatte ab. Wenn Thoren schon sagte, dass es zu kalt würde, dann musste da was dran sein.
    „Du warst lange weg“, sagte Thoren, während Kristina ihren Mantel am Kleiderständer aufhing. „Dachte schon fast, du wärst erfroren“, fügte er schmunzelnd hinzu.
    „Dieser Markt ist echt die Hölle“, erwiderte Kristina. „Ich weiß gar nicht, warum die Bauern im Sommer immer so einen Terz machen mit ihren Feldlabyrinthen für die Kinder. Labyrinth kannst du jeden Markttag haben, ganz ehrlich.“
    „Ach, wenn du nur regelmäßig genug da bist, dann gewöhnst du dich auch schnell dran. Aber stimmt schon, übersichtlich ist das nicht. Hast du denn die Birnen bekommen?“
    „Die Birnen“, wiederholte Kristina ohne besondere Betonung. „Die Birnen habe ich nicht gekriegt, nein.“
    „Schade“, sagte Thoren und zuckte mit den Schultern. „Aber das war ja fast zu erwarten.“
    „Ja.“

    ***
    ***

    Birnen-Bennos Goldzahngrinsen hatte sich gerade wieder geschlossen, da dämmerte es Kristina, dass sie nicht in dieser vermaledeiten Lage gelandet wäre, hätte sie den Stand des Obsthändlers schon vor zwei Tagen direkt nach Betreten des Marktplatzes gefunden und die Birnen gekauft. Denn dann wäre sie bei ihrem Gang über den Markt höchstwahrscheinlich nicht auf Jasmin getroffen. Und dann wären ihr die schier endlosen Gedankenkreisel rund um „Soll ich oder soll ich nicht?“ mit Sicherheit erspart geblieben. Vielleicht nicht für immer, aber doch für jetzt. Jasmins Worte aber waren das letzte Puzzleteil gewesen, welches das Puzzle zwar nicht vollendet, aber doch so weit fertiggestellt hatte, dass die letzten Lücken in ihm nun nicht mehr zu ertragen waren.
    Kristina bahnte sich ihren Weg zurück durch die Marktgassen, auf der Suche nach einer möglichst schnellen Route, den Platz wieder zu verlassen. Die Menschenmenge um sie herum nahm sie dabei kaum wahr, stattdessen sah sie bloß ihre Gedankenbilder. Dort am Kurzwarenstand wurde eine Frau zu Nawal, direkt daneben eine Mütze zu Agnetas Kopf, einige Schritte weiter kam ihr der Geldbote entgegen – dreimal. Wortfetzen aus Jasmins Mund verbreiteten sich im Menschengewirr wie ein Buschfeuer und wälzten die Frage hin und her, ob Kristina nun sollte, oder doch lieber nicht. Ob sie jemanden in ihre Pläne einweihen sollte, oder ob sie es wie beabsichtigt alleine durchzog. Ob sie noch einmal Nawal kontaktierte, oder ob sie die junge Südländerin da heraushielt. Ob sie nach Agneta suchen sollte – woanders, irgendwo. Ob sie nach Sagitta suchen sollte – vielleicht an ihrem verlassenen Haus, das Jasmin bereits aufgesucht hatte. Ob sie Thoren einweihen sollte. Ob sie den Geldboten verfolgen oder doch direkt ansprechen sollte. Ob sie die Tränke und Zaubermischungen wirklich benötigen würde. Ob das alles wirklich nötig war oder doch nur eine große Spinnerei. So viele obs, wenns und abers, die sich alle gegenseitig aufwogen und die Gleichung mit den vielen Unbekannten doch nicht aufzulösen vermochten. Nur in einem war sich Kristina sicher: Dass ein „Lieber nicht“ niemals eine endgültige Entscheidung bleiben würde, weil es ständig von einem erneuten „Aber was, wenn doch?“ aufgerüttelt werden würde.
    Endlich hatte Kristina den Markt verlassen. Trotz der Kälte hatte sich ihr Kopf inmitten des Treibens beständig aufgeheizt. Jetzt, auf dem Weg nach Hause, war Zeit zum Abkühlen. Da kam es Kristina nur gelegen, dass leichter Schneefall einsetzte und ihr aufs Haupt fiel. Der Schnee türmte sich auf den Straßen und Wegen mittlerweile recht hoch, aber Kristina hatte schon Schlimmeres erlebt. Ganz allgemein mochte sie den Schnee ja auch, zumindest in seiner feinen, weißen Form, die seiner braunen, matschigen Gestalt eindeutig überlegen war. Und seit sie in ihrem Labor nachgewiesen hatten, dass mehr Schnee keinesfalls mehr Schneepest bedeutete, die Anzahl und Verbreitung der Krankheit also vollkommen unabhängig von der Menge des Niederschlags im Winter war, konnte sie den Schnee sogar wieder genießen. Nur heute nicht so richtig. Aber es war besser als Nichts.
    Das Schwierigste, so kam Kristina wieder in den Sinn, als sie bereits von Weitem ihr Zuhause sah, das Schwierigste würde sein, heute Nacht das Haus zu verlassen, ohne Thoren zu wecken und ihn und misstrauisch zu machen. Das Gelingen dieses Abschnitts des Plans war zu einem großen Teil vom Zufall abhängig. Der ganze Rest war zwar auch nicht einfach und lag vollkommen außerhalb Kristinas Lebenserfahrung, doch immerhin lag der Erfolg jener Sachen vor allem in ihren eigenen Händen. Das machte ihr Mut, selbst wenn sie sich immer noch unwohl dabei fühlte, tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben irgendwo einzubrechen – und, im Notfall, wenig später eine tätliche Auseinandersetzung zu führen, die nicht nur mit bloßen Händen und Füßen auszutragen war. Aber, vielleicht, wahrscheinlich, ja sogar höchstwahrscheinlich, würde sich vorher alles in Luft auflösen. Kristina würde sich lächerlich machen, aber man würde sie letzten Endes doch verstehen. Oder aber auch nicht. Oder doch. Oder wie auch immer. Sie wusste es nicht. Und doch konnte sie nicht aufhören, darüber nachzudenken. Oder gerade deswegen.
    Kurz, bevor die ganzen Alternativen und Oders in Kristinas Kopf sie endgültig in den Wahnsinn trieben, hatte sie die Tür zu ihrem Hause erreicht und geöffnet. Rasch trat sie ein und schloss die Tür wieder. Das Klappern und der kleine Windhauch ließen Thoren am anderen Ende des Raumes aufmerken. Er war gerade damit beschäftigt, sich die kurzen und wenigen Haare über einem Blatt Papier zu raufen. „Und?“, fragte er, als er aufsah.
    Kristina ließ den Mantel vorerst an und stellte als erstes ihren Korb, den sie die ganze Zeit am rechten Arm getragen hatte, auf dem Esstisch ab. Thoren erhob sich bedächtig von seinem Stuhl und lugte drüber.
    „Du hast also doch noch welche bekommen!“
    „Jawohl“, fing Kristina seine Begeisterung auf. Sie war nun tatsächlich etwas erleichtert, dass sie ihre gewisse Notlüge vor zwei Tagen nun wieder wettmachen konnte. „War sogar ziemlich preiswert. Da fragt man sich, woher sich Birnen-Benno eigentlich das Gold für seine Zähne leisten kann.“
    „Uaah, der Kerl“, stieß Thoren aus und legte die Birne, die er zur Probe aus dem Korb genommen hatte, wieder zurück. „Hat er dich angemacht?“
    „Nene“, sagte Kristina, die gerade ihren Mantel weggehangen hatte. „Aber da war so eine noch nicht allzu alte Frau neben mir, Maße so kurz vor Skelettierung, die hat er angegafft ohne Ende. Ich war wohl einfach nicht seine Gewichtsklasse. Zum Glück.“
    „Er weiß gar nicht, was er verpasst …“
    „Jaja“, sagte Kristina und holte den Korb wieder vom Tisch. „Ich fange am besten direkt mal mit den Klößen und dem Mus an, bevor du noch endgültig heiß läufst.“

    „Und, gut geworden?“
    „So gut wie immer“, sagte Thoren, und beförderte noch einen weiteren Kloß auf seinem Teller. Wäre sein Bart dichter gewesen, er wäre wahrscheinlich schon mit Birnenmus vollgeschmiert gewesen. Kristina musste schmunzeln. Sie mochte das Gericht ja auch. Aber dass sich jemand so derartig wie Thoren da hineinlebte, das hatte sie sonst noch von niemand anderem erlebt.
    „Was ich dir noch sagen wollte“, begann Thoren dann, als er doch noch zwischen zwei Gabeln Zeit fand. „Ich hab da über einen Kunden einen anderen Auftrag an Land gezogen. Das war der Kerl mit seiner Unsinnsscheune da. Der meinte, sein Schwager in Montera hätte da was zu machen am Dachboden für sein Haus, ich müsste da was berechnen, wäre kompliziert, er würde gut zahlen. Habe ich gesagt, ich schaue es mir mal an. Ich will dann gleich so am Nachmittag los, aber du weißt ja, bei dem Wetter momentan … das ist jedenfalls schon eine ganz schöne Reise. Das ist aber abgesprochen, dass ich zur Not bei dem Kerl übernachten kann, sollte ich keine Kutsche mehr finden, mit der ich noch zurückkomme. Es könnte also sein, dass ich die Nacht über gar nicht da bin. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich. Ich kann natürlich auch noch absagen, wenn nicht. Aber ich würde mir das schon ganz gerne mal anschauen. Du weißt ja, so als Selbstständiger …“
    „Jaja“, meinte Kristina unverhohlen schmatzend. „Selbst und ständig, ne? Weiß ich ja schon.“
    Thoren nickte. „Und was sagst du?“
    „Ja, mach doch“, sagte sie möglichst ungerührt. „Ich glaube, ich komme schon eine Nacht aus, in der ich dich nicht mit meinem Schnarchen nerve.“
    „Du schnarchst ja gar nicht mehr so schlimm die letzte Zeit.“
    „Und wenn schon … ich komme jedenfalls klar! Momentan muss mich ja auch niemand wecken, dass ich pünktlich zur Arbeit komme oder so …“
    „Tja, leider, aber das trifft sich dann ja wohl ganz gut“, sagte Thoren und kratzte sich sichtlich verlegen am Kopf.
    „Ja, wie gesagt, ist okay“, sagte Kristina. „Lass dich nur nicht von diesem Kerl verführen.“
    Thoren lachte. „Also, in letzter Zeit hast du es aber auch mit solchen Sachen, was? Das wird ja immer absurder!“
    „Man weiß ja nie“, sagte Kristina grinsend. Grinsend, weil sie erstaunt war, zu welch passender Zeit Thorens Abreise kommen würde. Grinsend aber auch, weil es sie ein bisschen quälte, dass das nun hieß, dass sie ihren Plan auf jeden Fall ausführen würde.
    „Also, auch wenn du mir das sonst nie glaubst, aber bei Männern bleibe ich ganz sicher keusch, darauf kannst du dich verlassen.“
    „Ein Mann, ein Wort“, sagte Kristina. Eine Frau, eine Tat, dachte sie.

    Es dämmerte bereits, als Thoren im Mantel und mit Sack und Pack über der Schulter vor die Haustüre trat. Letzte Sonnenstrahlen aus dem gegen Abend aufgeklarten Himmel beschienen ihn von hinten und verliehen ihm eine imposante Schattengestalt.
    „Dann werde ich mal“, sagte er. „Sonst fährt die Kutsche ohne mich.“
    „Ja, sieh mal zu“, erwiderte Kristina und umarmte ihren Liebsten kurz zum Abschied. „Und mach dir keinen Stress wegen der Heimreise. Bevor du in das hinterletzte Kutschenwrack einsteigst, nur um früh nach Hause zu kommen … bei manchen fragt man sich ja schon, ob man jemals ankommt. Tu dir also nur die Ruhe an.“
    „Mach ich, mach ich. Du auch, während ich weg bin. Kannst dir ja Nawal nach Hause einladen.“
    „Oha, wie habe ich das denn jetzt zu verstehen?“
    „Siehst du halt mal, wie das ist, wenn man sich sowas anhören darf“, sagte Thoren augenzwinkernd. „Also, mach’s gut und wahrscheinlich bis morgen Nachmittag irgendwann!“
    „Wenn ich dann schon aufgestanden bin“, sagte Kristina ohne einen Anflug von Ironie und winkte Thoren zum Abschied.

    Thoren war nun schon seit zwei Stunden weg, die Sonne war längst untergegangen, und Kristina war immer nervöser geworden. Es war ein beständiges wechselhaftes Anschwellen und Ablaufen des inneren Schneesturms, der sie seit den letzten paar Tagen begleitete. Das Schlimmste daran war, dass Kristina diesem Schneesturm nicht mehr entfliehen konnte. Sie konnte nur noch ausharren. Abwarten. Es gab momentan nichts mehr zu tun, außer abzuwarten. Die vermeintlich alternativen Möglichkeiten ging Kristina nun schon seit Stunden immer und immer wieder in ihrem Kopf durch, nur, um jedes Mal aufs Neue – oder aufs Alte – zu erkennen, dass es gar keine wirklichen Alternativen waren. Sie konnte nicht nach Agneta suchen, weil sie kaum etwas über sie wusste. Sie wusste nicht, wo das Haus des Boten war, deshalb konnte sie es noch nicht aufsuchen. Sie wollte Nawal nicht fragen, um sie nicht noch ängstlicher zu machen. Jasmin hätte sie aufsuchen können, doch auch ihr wollte sie sich nicht anvertrauen – hätte sie das gewollt, sie hätte längst Gelegenheit dazu gehabt. Auch Ellis war keine Option. Thoren war nun weg. Und Sagitta war ohnehin verschwunden. Das alles machte Kristina deutlich, dass es keinen schnelleren oder anderen, sondern nur den einen Weg gab, um Klarheit in die Sache zu bringen. Verbunden mit der Hoffnung, dass die Sache doch gar keine große Sache war. Aber bis dahin hieß es: Abwarten. Abwarten, bis es spät genug war, um den ersten Teil ihres Plans auszuführen. Den Teil, der die von Kristina so sehr gewünschte Hoffnung geradezu konterkarierte. Denn hätte sie nicht doch daran geglaubt, dass die Sache eine große Sache war, sie sähe sich nicht gezwungen, sich für den Fall der Fälle mit ein paar Hilfsmitteln der aggressiveren Art einzudecken – die sie sich dann auch noch durch einen waschechten Einbruch besorgen sollte. Das alles war schon ein ganz schön dickes Brett. Zumal immer noch die Gefahr bestand, dass längst alles zu spät war.
    Kristina schüttelte sich. Sie ging noch einmal an die kleine Kommode, in der sie ihre Haarklammern aufbewahrte. Zwei hatte sie schon herausgenommen und ein wenig zurechtgebogen. Vielleicht sollte sie doch alle mitnehmen. Was auch immer es ihr bringen mochte. Aber bevor sie sich ärgerte …
    Ein Klappern an der Tür schreckte sie auf – schon zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Abend. Es war nur der Wind. Wenn die Böen weiter so durch Geldern zogen, so musste sie statt einer bloßen Fackel wohl die Lampe mitnehmen. Sie hoffte, dass der Brennstoff noch reichte. Wie sie überhaupt so Vieles hoffte.

    Es waren einige weitere Stunden des Wartens, Hoffens und Fantasierens vergangen, bis Kristina zu ihrem Mantel griff. Sie hatte alles vorbereitet, was sie vorbereiten konnte. Das war nicht viel, aber immerhin etwas. Nachdem sie ihren Mantel angezogen hatte, streifte sie ihre Umhängetasche über die Schulter. Sie enthielt außer Haarklammern nicht viel, aber ganz ohne wollte Kristina eben doch nicht gehen. Zu guter Letzt holte sie die Öllampe aus ihrem Schrank hervor. Sie prüfte kurz den Füllstand. Das musste reichen. Kristina ergriff eines der bereitgelegten Zündhölzer – ein Überbleibsel aus ihrer Arbeit im Labor, extra entwickelt für ihre Arbeit – und entzündete die Flamme. Hinter den dünnen Glasscheiben des Lampengestells wurde es rasch hell und warm. Kristina ließ die restlichen Zündhölzer in ihre Umhängetasche gleiten, nahm die Öllampe am etwas verstaubten Henkel in die Hand – und blieb noch eine Weile wie erstarrt stehen. Es war keinesfalls so, dass ihr erst jetzt bewusst wurde, was sie nun gleich tun würde. Es war lediglich so, dass sie noch ein paar Minuten Aufschub haben wollte, bevor sie es tat. Als diese beiden Minuten um waren, verließ sie endlich das Haus.
    Es war draußen nicht so windig, wie Kristina von drinnen noch vermutet hatte. Die ein oder andere scharfe Böe gab es aber schon, sodass Kristina instinktiv die Schultern hochzog und den Hals weit unter ihren Mantelkragen sinken ließ. Die Nacht war nicht mehr so klar, der Mond abnehmend, sodass selbst der sonst so grelle Schnee kaum Licht spenden konnte. Umso gespannter klammerte Kristina die Lampe in ihrer Linken fest, umso aufmerksamer besah sie sich den glatten Weg, auf dem sie wandelte. Sie hoffte außerdem, dass sie sich in der Dunkelheit nicht verlief – ihr Orientierungssinn war nie der allerbeste gewesen.
    All das führte immerhin dazu, dass Kristina nicht mehr so viel über das große Ganze nachdachte. Sie war zu konzentriert darauf, die erste Etappe ihres Vorhabens unbeschadet abzuschließen. Das einzige, was sie noch in Frage stellte, während sie angestrengt durch den Schnee stapfte, war, ob dieser Einbruch wirklich die einzige Möglichkeit war. Und vielleicht, ob sie ihn nicht vielleicht etwas früher hätte angehen sollen. Dann aber, so ahnte sie, hätte sie die Gefahr, im Nachhinein ertappt zu werden, alle folgenden Nächte verrückt gemacht. Zudem: Jetzt, wo Thoren dank eines glücklichen Zufalls, wie sie sich ihn kaum besser hätte wünschen können, auswärts war, hatte sie schon eine Person weniger, vor der sie sich wegen ihres nächtlichen Streifzugs rechtfertigen musste. Im Grunde musste sie sich nur noch vor sich selbst rechtfertigen – und darin hatte sie im Laufe ihres Lebens bereits genug Erfahrung gesammelt.
    Abseits Kristinas persönlicher Schwierigkeiten, den Weg durch das nächtliche Geldern zu finden, verlief selbiger Weg ereignis- und problemlos. Sie traf niemanden, nur von Weitem sah sie ab und zu Gestalten durchs Dunkel wandeln, entweder ebenfalls mit einer Lampe oder einer im Wind flackernden Fackel unterwegs. Behelligt wurde Kristina jedoch von niemandem. Ein Restrisiko blieb zwar noch die Stadtwache, doch seit den Friedenszeiten hatte der Stadtrat von Geldern immer weniger Veranlassung dazu gesehen, mehrere Wachen zu unterhalten, sodass pro Nacht meist nur ein bis zwei Wächter unterwegs waren, die kaum das Kerngebiet Gelderns abdecken konnten. Genau dieses Kerngebiet hatte Kristina nun erreicht, und es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Gasse fand, die sie zu ihrem Zielort bringen sollte. Insgesamt war der Weg bis hierhin einfacher als gedacht gewesen. Das weckte in Kristina gemischte Gefühle. Ganz natürlich kam ein Anflug von Erleichterung in ihr hoch. Gleichzeitig aber erhöhte sich ihre innere Anspannung dadurch umso mehr, denn jetzt, wo sie so viel Glück gehabt hatte, wollte es sie natürlich erst recht nicht mehr verbocken. Gerade weil ihr der Erfolg so greifbar erschien, wurde sie nun zitterig.
    Schließlich stand sie vor den Toren, versperrt tatsächlich nur mit einem Vorhängeschloss. Jetzt kam der kritische Moment. Wenn sie jemand, oder jedenfalls die falsche Person, mit dem Licht sah, wurde es brenzlig. Es sei denn, Nachtschichten waren hier üblich. Wenn sie aber üblich waren, dann drohten Kristina wiederum Probleme von anderer Seite. Aber es wirkte nicht so, als würde drinnen noch gearbeitet. Auch konnte Kristina in der engen Gasse keinen Beobachter erkennen. Mit unruhiger Hand angelte sie eine ihrer vorgebogenen Haarklammern aus der Umhängetasche. Das letzte Mal, dass sie so etwas versucht hatte, war sie noch zusammen mit ihren Freundinnen zur Schule gegangen. Und schon da hatte es nicht geklappt. In diesem Moment wurde Kristina noch einmal bewusst, dass ihr Plan ein hohes Potenzial hatte, schiefzugehen. Dass sie im Grunde vollkommen hilflos war, wenn das jetzt nicht funktionierte.
    Kristina führte die aufgebogene Haarklammer in das Vorhängeschloss ein und bewegte sie, mal kreisend, mal im angedeuteten Zickzack, mal auf der Suche danach, die einzelnen Pins im Schloss in eine bestimmte Richtung zu drücken. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, was sie da gerade machte und was sie hätte machen müssen. Und dann klickte es und das Schloss schnappte auf. Die Zeit des Hinterfragens war nun endgültig vorbei.
    Kristina zog das Vorhängeschloss aus der Mitte der beiden Tore ab und steckte es in ihre Tasche. Nicht, dass sie noch jemand einschloss, während sie drin war. Dann öffnete sie die Tore einen Spalt und betrat Peraturs Alchemiestube.
    Im Innern sah Kristina natürlich erst einmal nicht viel. Der Schein ihrer Lampe reichte nicht gerade weit, das hatte sie schon draußen immer wieder gestört. Hier kam noch hinzu, dass die Strahlen rasch von Schränken, Regalen und sonstigen herumstehenden Gegenständen unterbrochen wurden. Wenn Kristina hier also vernünftig arbeiten wollte, brauchte sie erst einmal großes Licht, beim bloßen Handlampenschein würde alles nur furchtbar schiefgehen.
    Glücklicherweise fand Kristina beim Absuchen der Wände schnell die Gaslampen, die auch sonst das Labor erhellten. Mithilfe eines Zündknopfs und einer Drehvorrichtung brachte sie zunächst zwei von ihnen zum Brennen, wodurch der Eingangsbereich schon ausreichend erhellt wurde.
    Kristina wollte nun zu den Alchemietischen – und erschrak, als für einen Moment der Boden unter ihren Füßen zu Luft wurde. Zum Glück konnte sie sich noch fangen. An die kleine Treppe hatte sie nicht mehr gedacht. Unten auf dem Parkett angekommen, ging sie auch hier erst einmal die Wände ab und suchte nach den Lampen, die sie alsbald fand und zumindest in solcher Anzahl entzündete, dass jedenfalls der Alchemietisch, den sie sich ausgeguckt hatte, ausreichend beleuchtet wurde. Dann atmete sie einmal tief durch. Bis jetzt war alles gut gegangen. Sie hatte das Labor für sich. Fläschchen, Gläser und alle weiteren Utensilien standen parat. Diverse Zutaten, die sie auch bei schwachem Licht fast alle zweifelsfrei erkannte, lagen in Töpfen, Glasbehältnissen und bloßen Kisten bereit. Während Sagittas Labor zwar auch nicht chaotisch, aber durchaus ein wenig lockerer strukturiert war, war hier alles straff durchorganisiert. Kristina fand das nicht sonderlich sympathisch, aber nun sollte es ihr zum Vorteil gereichen. Als es wenig später dann zum ersten Mal in den Apparaturen auf dem Tisch blubberte, war Kristina binnen Sekunden voll in ihrem Element.

    So lange und konzentriert am Stück hatte Kristina oft nicht einmal in Sagittas Labor an den Alchemietischen gestanden – zumindest war das gerade ihr Gefühl. Seitdem sie angefangen hatte, mithilfe der vielfältigen, teils aber etwas veralteten Apparaturen Mixtur um Mixtur herzustellen, hatten sich auf dem Ablagetisch zu ihrer Rechten einige gefüllte Beutelchen, Fläschchen und Phiolen aufgereiht, sodass Kristina schon Zweifel bekam, ob die alle in ihre mitgebrachte Tasche passen würden. Nach etlichen zerhackten Feuerwurzeln und Feldknöterichen, zerriebenen Drachenwurzeln und Dunkelpilzen und dem unangenehmen Hantieren mit Pech und Schwefel sowie vieler weiterer Substanzen hatte Kristina daher beschlossen, nun ihre letzte Mixtur für heute herzustellen. Für dieses besondere Pulver fehlte ihr allerdings – sofern sie nicht durch ihre Erinnerung getrogen wurde, was sie angesichts der bisherigen Erfolge aber nicht ernstlich befürchtete – eine entscheidende Zutat: Zerstampftes Gletscherquartz. Kristina hatte bereits bei den nahegelegenen Schränken, Regalen, Schubladen, Töpfen und sonstigen Gefäßen nachgesehen, doch hatte sie kein Gletscherquartz finden können. Bei der zutatenmäßig so guten Ausstattung der Alchemiestube konnte sie aber auch nicht so recht glauben, dass kein Gletscherquartz vorrätig gehalten wurde. Deshalb wollte sie nun noch einmal nach vorne zum Tresen gehen, um die dortigen Schubladen nach irgendetwas Brauchbarem zu durchforsten – als sie hörte, wie die Eingangstore geräuschvoll aufgedrückt wurden. Wind klang anders.
    In diesem Moment begannen in Kristina zwei entgegengesetzte Kräfte zu wirken. Die eine Kraft wollte sie weiter vom Eingangsbereich wegzerren, in die hinterletzte Ecke der Alchemiestube, um sich dort irgendwie zu verstecken. Die andere Kraft zog dagegen zum Eingangsbereich hin, der ja auch ein Ausgangsbereich war und ihr vielleicht zu einer derart raschen Flucht verhelfen konnte, dass sie der Neuankömmling gar nicht so schnell erkennen konnte. Die beiden Kräfte glichen sich aus, und so blieb Kristina wie angewurzelt stehen, schaffte es dann aber immerhin noch, in die Hocke zu gehen und sich direkt auf dem Parkett hinter einen Schrank zu stehlen, an dessen Seite sie vorbeispähen konnte.
    „Wer da?“, schnitt die Stimme vom Eingangsbereich zu ihr herüber, und im selben Moment wurde der kahle Kopf des Mannes von einer der Lampen angestrahlt, sodass für Kristina kein Zweifel mehr daran bestand, dass es tatsächlich Peratur war, der mitten in der Nacht nichts Besseres zu tun hatte, als seine Alchemiestube aufzusuchen. Von allen Mitarbeitern oder sonstigen Personen, die sie bei ihrem Einbruch hätten ertappen können, war der Laborchef zweifellos die ungünstigste Variante.
    „Warum ist das Schloss offen? Mateos? Rafi? Ist das einer von euch hier?“
    Kristina sah nun, dass Peratur, der sich langsam seinen Weg gen Treppe bahnte, selbst eine Lampe in der Hand hielt. Kristina fragte sich, ob die doch recht naiv anmutenden Fragen Peraturs tatsächlich dessen Blödheit entsprangen oder nur strategischer Natur waren, um etwaige Einbrecher in Sicherheit zu wiegen. Sie vermutete fast Letzteres. Wenn es ums Hab und Gut ging, schätzte Kristina den Alchemisten als ziemlich gewitzt ein. Einen Augenblick später führte Kristinas rechte Hand eine ganz eigene strategische Bewegung aus, über deren übergeordneten Plan sie sich eigentlich noch gar nicht ganz sicher war.
    „He! Hinter dem Schrank! Rauskommen, sofort! Oder ich garantiere für nichts!“
    Kristinas Herz pochte so laut, dass sie schon Angst bekommen musste, dass Peratur es hören konnte – aber da sie offenbar ohnehin bereits entdeckt war, machte das wohl nicht mehr viel aus. Entdeckt, aber noch nicht erkannt. Es raschelte, als sie mit bebenden Händen das Säckchen öffnete, das sie sich geradezu reflexhaft vom Beistelltisch geschnappt hatte. Sie zerrieb etwas vom Pulver zwischen ihren Fingern und roch dann daran. Es war das Aroma von Sumpfkraut. Hoffentlich atmete der Kerl hier nicht ständig so viel davon ein, dass er schon Toleranzen entwickelt hatte.
    „Das war deine letzte Chance! Jetzt bist du dran!“
    Was auch immer Peratur vorhatte, als er geräuschvoll über die Treppenstufen und dann übers Parkett eilte, Kristina hoffte, dass er es nicht würde vollenden können. Sie griff einmal tief in den Beutel, fühlte die leicht klebende, wie feuchter Sand anmutende Substanz in ihrer Hand, wartete auf den richtigen Moment – und schoss dann hinter dem Schrank hervor, mit ihr eine ganze Wolke des Pulvers. Peratur brüllte auf. Direkt im Anschluss griff sie nach dem letzten Rest im Beutel und schleuderte auch ihn den Umrissen Peraturs entgegen. Dann ging sie wieder hinter dem Schrank in Deckung, um nicht selbst zu viel von diesem tückischen Puder abzubekommen. Kristina warf rasch einen Blick auf den halb ausgeleuchteten Beistelltisch. Einen weiteren Beutel hatte sie noch in Reserve, wenn es nötig sein sollte.
    Aber es war nicht nötig. Peraturs Stöhnen, seine langsamen Bewegungen und wie er sachte zu Boden ging, waren Beweis genug dafür, dass das Schlafpuder seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Kristina war zufrieden. Das war Qualitätssicherung am lebenden Objekt.
    Als Peratur dann tatsächlich anfing, zu schnarchen, hätte Kristina fast gegrinst. Nur fast, weil sie dann doch noch zu aufgeregt und aufgebracht war, um irgendetwas an dieser Situation amüsant zu finden. Sie war sich nicht sicher, wie laut Peratur gewesen war, ob er andere Personen in den Nachbarhäusern damit aufgeschreckt hatte. Deshalb stopfte Kristina rasch alles an Tinkturen, Mixturen und Tränken, die sie am Alchemietisch fabriziert hatte, in ihre Tasche. Tatsächlich hätte ohnehin kein weiteres Säckchen mehr hineingepasst, sodass Kristina sogar froh sein musste, dass zumindest eine ihrer Schlafpuder-Bomben bereits ihren Abnehmer gefunden hatte.
    Als sie fertig war, setzte sie sich sofort in Bewegung. Im Lichte ihrer Lampe besah sie sich noch einmal den schlafenden Peratur. Er lag etwas unbequem auf dem Parkett, nicht jedoch in einer Position, die ihm irgendwie hätte gefährlich werden können. Und er atmete – schnarchte – noch. Das musste reichen, vermutlich würde der Alchemist auch nicht besonders lange schlafen.
    Angekommen am Eingangsbereich – die Treppe hatte Kristina diesmal sogar bedacht – überlegte sie, die Lampen an den Wänden wieder zu löschen. Sie entschied sich dagegen, weil es erstens zu lange gedauert hätte und sie Peratur zweitens nicht in einem stockfinsteren Raum aufwachen lassen wollte. Wer wusste schon, wie der Kerl reagierte. Sie hatte jedenfalls keine Lust, die nächsten Tage das Gerücht zu hören, dass der berühmte Alchemist Gelderns aufgrund eines unglücklichen Sturzes in ein Flaschenregal leider schlimmen Schnittverletzungen erlegen war, oder so etwas in der Art.
    Der Wind zog scharf in die Alchemiestube, als wollte er Kristina packen und sie mit sich nach draußen ziehen. Sie kam dem pfeifenden Gebot nach. Nachdem sie die offenen Torflügel passiert hatte, drückte sie sie von außen wieder zu, aber der Luftzug hier in der Gasse ließ sie sofort wieder aufschwingen. Kristina fingerte das Vorhängeschloss aus ihrer Hosentasche hervor und überlegte. Einschließen wollte sie Peratur ganz sicher nicht. Deshalb schmiss sie das Schloss lediglich in die Stube hinein, drehte ihr dann wieder den Rücken zu, und marschierte so ruhig und unauffällig wie sie konnte davon. In ihrem Inneren brodelte es dabei so heftig, wie es das nicht einmal am Alchemietisch getan hatte.

    Beim Weg zurück war es Kristina vorgekommen, als wäre sie auf Watte gewandelt, was bei einer dichten Schneedecke zwar nicht ganz fernlag, jedoch nicht allein durch sie hervorgerufen war. Jedenfalls war Kristina froh, dass sie nun in ihr Haus zurückkehren konnte. Als sie eintrat, zitterte sie noch ein wenig, dabei war ihr trotzdem heiß. Der Ofen war langsam herabgeglommen, spendete im Haus aber noch genug Wärme.
    Wenig später hing der Mantel am Haken. Kristina spürte, wie sich eine unruhige Ruhe, oder eine ruhige Unruhe in ihr ausbreitete. Die Spannung und Aufgedrehtheit ihres nächtlichen Ausflugs fiel langsam von ihr ab. Fast schon ärgerte es sie, dass die erste Etappe ihres Plans zwar nicht reibungslos, aber doch erfolgreich verlaufen war. Das hieß, sie musste bereits morgen weitermachen.
    Ihre Beine wurden mit einem Mal sehr schwer, ebenso, wie ihre restlichen Glieder. Der Einbruch und die konzentrierte Arbeit am Alchemietisch zollten ihren Tribut, auch körperlich. Dabei lohnte es sich vermutlich nicht einmal mehr, schlafen zu gehen, zumal Kristina morgen früh unbedingt rechtzeitig wach sein musste. Deshalb würde sie nur ruhen. Ruhen, nicht schlafen. Und selbst wenn sie einschlief, so dachte sie, als sie sich aufs Bett fallen ließ, selbst wenn sie einschlafen sollte, so hatte sie doch immer noch ihre innere Uhr, die sie schon wecken würde, wenn es an der Zeit war. Aber das war nur ein wenn, ein falls. Sie wollte ja nicht einschlafen. Sie wollte nur für einen Moment die Augen zumachen und

    ***

    Kristina öffnete die Tür. Wind kam rein. Wind und eine Frau.
    „Nawal, schön, dass du da bist.“
    „Ja, sehr gerne, Kristina! Schau, ich habe dir diesmal auch den Tee mitgebracht, wie versprochen!“
    „Oh … danke … aber wann hast du mir denn versprochen, Tee mitzubringen?“
    „Ach … ach, das muss ich verwechselt haben! Ich habe nämlich meinem Cousin versprochen, ihm Tee zu bringen, weißt du? Dir wollte ich doch das Parfüm … das ist ja peinlich jetzt.“
    „Macht nichts, Tee ist doch auch gut. Solange du jetzt nicht deinem Cousin das Parfüm gegeben hast …“
    Nawal lachte. „Nein nein, das ganz bestimmt nicht!“
    Kristina schloss die Tür hinter Nawal und wollte ihr sodann den Mantel abnehmen, als sie bemerkte, dass Nawal gar keinen Mantel trug. Sie hatte jedoch gar keine Gelegenheit, sie darauf anzusprechen.
    „Ist Thoren gar nicht da?“, fragte Nawal, während sie sich demonstrativ im Raum umschaute. Kristina konnte nicht ganz ausmachen, ob ihre Kollegin mit Bedauern oder Erleichterung fragte.
    „Nein, der ist unterwegs, außerhalb von Geldern“, erklärte Kristina. „Ich weiß nicht, wann er wiederkommt.“
    „Achso“, sagte Nawal und setzte sich wie selbstverständlich auf den Esstisch. Sie wirkte heute so selbstbewusst. Kristina musste sie unbedingt fragen, ob irgendetwas passiert war, dass sie so gut gelaunt schien. „Ja“, sagte Kristina stattdessen erst einmal. Irgendetwas an Nawal roch wieder ganz eigentümlich. Eigentümlich, aber leicht betörend. Das musste noch ein anderes, neues Parfüm sein.
    „Das muss doch einsam für dich sein, oder? So ganz alleine in eurem großen Bett schlafen.“
    „Ach, ich könnte mich glatt dran gewöhnen“, meinte Kristina lächelnd. „Den ganzen Platz für mich alleine. Aber naja, es ist ja auch nur für eine kurze Zeit, von daher.“
    Kristina wusste nicht, wie ihr geschah, als sie den Duft Nawals plötzlich ganz intensiv spürte und die Augen schließen musste. Im nächsten Moment saß nicht mehr ihre Kollegin auf dem Tisch, sondern Kristina selbst, und Nawal war ganz nah herangekommen. Einen Augenblick später spürte sie Nawals Hände auf ihren Schenkeln. Ihre Fingernägel waren wunderschön zurechtgemacht. Ihre Haare auch. Und sie kamen ihrem Gesicht immer näher.
    Kristina versuchte sich auf den Blick Nawals zu konzentrieren, sie war neugierig, wie sie dabei aussah, wie sie wohl darüber dachte, was gerade geschah. Es fiel ihr allerdings schwer, sich nur auf einen Punkt zu konzentrieren, denn in diesem Moment wollte sie alles von Nawal.
    „Kristina … ?“, flüsterte Nawal in fragendem Ton, kurz, bevor sich ihre Lippen berührten.
    „Ja?“
    „Das mit Agneta, das verzeihst du mir aber doch, oder?“

    Noch bevor Kristina nach dem ersten Atem schnappte, saß sie bereits aufrecht im Bett. Ihr Körper hatte sich sozusagen selbst in die Senkrechte katapultiert. Kristina hatte geschwitzt, ihre Haare klebten platt und wild an ihrer Stirn. Ihr Oberkörper hob und senkte sich im Rekordtempo, ihren Puls fühlte sie hart am Halse pochen.
    Sie drehte den Kopf. Durch die geschlossenen Fensterläden kam nur wenig Licht. Der Morgen konnte noch nicht so lange angebrochen sein.
    Kristina sprang förmlich aus dem Bett. Sie ging nicht so weit, zu beten, aber sie hoffte mit aller Kraft. Sie klappte die Fensterläden auf, mit dem Ziel, nach Fußstapfen im Schnee zu schauen. Die sah sie auch – und einige Meter weiter weg einen Mann, der sich gerade wieder von ihrem Haus entfernte und drohte, im Schneenebel zu verschwinden.
    „Mist, Mist, Mist!“, entfuhr es Kristina, während sie vom Fenster wegeilte und nach ihren Ausgehklamotten suchte. Sie zog sich schnell um, schnell genug, um in der kalten Stube nicht zu frieren, aber es kam ihr alles immer noch viel zu langsam vor. Sie schwang sich ihre Umhängetasche über, die sie gestern Nacht wohl noch irgendwie neben ihrem Bett abgelegt hatte, und eilte zur Tür. Dann fiel ihr ein, dass sie ja noch ihren Mantel überziehen musste. Umhängetasche wieder ab. Mantel vom Haken. Mantel an Körper, erst falsch herum, dann richtig herum hinein, nach wilder Hatz im Kreis auf der Suche nach dem zweiten und letzten Ärmel. Umhängetasche wieder auf. Kurz die Haare wieder aus dem Gesicht. Und raus.
    Draußen schaute Kristina, die sich immer noch nicht ganz sicher war, ob sie ihren Mantel richtig angezogen hatte, kurz in den Briefkasten. Drinnen befand sich ein Kuvert, das, geschüttelt, Goldmünzen klingen ließ. Es war also tatsächlich der Geldbote gewesen. Kristina machte die Haustür noch einmal auf und schmiss das gefüllte Kuvert hinein. Sie mochte sich selbst nicht besonders für diese Überlegung, aber: Wenn schon alles schief ging, dann sollte ihr wenigstens noch ihr Wochenlohn bleiben.
    Nachdem das auch noch erledigt war, stapfte Kristina los. Ganz in der Ferne konnte sie noch die Umrisse des Boten erkennen, der sich aufgrund seines schwarzen Mantels dankbarerweise vom Weiß um ihn herum abhob. Hätte es jedoch kräftig geschneit, so war Kristina sich bewusst, hätte sie ihn wohl schon nicht mehr gesehen. Das war Glück – und wie immer spiegelbildlich dazu das Pech, nun gezwungen zu sein, ihren Plan weiter zu verfolgen. Verfolgen war dabei auch das richtige Stichwort, denn der Zeitpunkt, den Geldboten schon an der Haustür abzufangen und ihn entweder direkt oder indirekt zur Rede zu stellen, der war längst vergangen.
    Kristinas Füße versanken im nassen Schnee, Knirschen begleitete jeden ihrer Schritte. Weil diese kürzer waren als die des Boten, musste sie sie schneller machen. Es strengte an, aber nach einiger Zeit entwickelte Kristina eine Art angenehme Verbissenheit. Es tat gut, nicht abwarten zu müssen, sondern dem Ziel im wahrsten Sinne des Wortes immer näher zu kommen – selbst, wenn das Ziel sich momentan noch bewegte.
    Und dann rutschten ihre Füße auf der festgetretenen Schneedecke weg. Kristina ruderte mit dem Armen, sodass ihre Umhängetasche umherschwang wie bei einem Hammerwurf, doch sie ließ sie nicht los, und tatsächlich konnte sie sich diesmal auf den Beinen halten.
    „Wieder spät dran, was?“, erschallte eine Stimme zu ihrer Rechten, und Kristina konnte es kaum glauben und kaum ertragen, wie es dieser Bauernkerl schon wieder geschafft hatte, sie in der unmöglichsten Situation zu beobachten.
    „Scheinst ja ganz schön beschäftigt zu sein, wenn du ständig hier vorbeiflitzen musst“, fügte der Kerl hinzu, aber er musste nicht mehr rufen, denn er hatte die Schubkarre an seinem Arbeitsplatz gelassen und schloss nun zu Kristina auf. Das kam ihr alles ziemlich ungünstig vor.
    „Ja, ist auch so“, sagte Kristina etwas atemlos. Zusätzlich zur Geschwindigkeit musste sie sich nun auch noch – ganz automatisch – bemühen, halbwegs elegant oder jedenfalls nicht total unelegant beim Schneestapfen auszusehen. Vor dem jungen Bauernkerl wollte sie sich jedenfalls nicht die Blöße geben.
    „Hat eine Frau wie du denn so etwas verdient?“, säuselte der Jüngling grinsend.
    In diesem Moment hätte Kristina am liebsten seine Zähne fliegen sehen, doch sie besann sich – noch.
    „Was ich verdiene und was nicht, das entscheide immer noch ich selbst.“
    Sie richtete ihren Blick stur nach vorne. Den Geldboten hatte sie glücklicherweise noch nicht aus den Augen verloren. Es waren noch kaum Leute auf den Wegen unterwegs, und der Bote machte noch immer keine Anstalten, weiter ins Stadtinnere vorzudringen. Stattdessen nahm er weiter den großen Außenweg, der sie früher oder später auch an Sagittas – ehemaligem – Labor vorbeiführen würde. Wenn Kristina Nawals grobe Lagebeschreibung noch richtig im Kopf hatte, würde das auch noch eine ganze Weile so weitergehen, dieses Geradeaus. Das konnte ihr nur recht sein.
    „Du wirkst selbstbewusst, ich mag das“, versuchte es der Kerl weiter. Er ging nun direkt neben ihr her und starrte ihr die ganze Zeit ins Gesicht. Kristina war bemüht, nicht zurückzuschauen. Wenn sie das tat, dann gab sie ihm nur die falschen Signale. Dann würde sie ihn heute wohl nicht mehr los werden. Einen Moment lang dachte sie sogar darüber nach, ihn absichtlich an sie zu binden, damit sie jemanden dabei hatte, wenn sie den Geldboten traf. Dieser Moment aber dauerte nur zwei, drei Schrittlängen: Kristina hatte die Fährte alleine aufgenommen, sie würde auch den Rest alleine machen. Und deshalb wollte sie sich möglichst bald etwas einfallen lassen, um den Bauern wieder loszuwerden.
    „Sag mal, wenn du mit dem fertig bist, wo du hin unterwegs bist … bei mir zu Hause ist’s warm und kuschelig. Nur so zur Info.“
    Kristina biss sich auf die Lippe. „Ich habe einen besseren Vorschlag“, sagte sie.
    „Achja?“
    „Du gehst zurück auf deinen Hof und schiebst erstmal ordentlich Schnee.“
    „Und dann?“
    „Dann holst du dir eine Schaufel und hoffst, dass der Boden nicht zu vereist ist.“
    „Aha?“
    „Und dann fängst du an zu graben. Aber nicht zu breit, eine kleine Schaufel muss es deshalb sein. Zur Not gräbst du auch nur mit den Fingern, so, dass es passt.“
    „Wie, dass es passt? Was meinst du damit?“
    „Was ich damit meine, fragst du am besten deine Bauernkollegen, die wissen das sogar noch besser“, schnauzte Kristina zurück. „Die können dir vielleicht sogar Tipps geben.“
    „Tipps wofür?“
    „Wann das Loch die optimale Größe für deinen Schwanz hat. Aber wer weiß, vielleicht lassen die dich ja auch in ihres reinficken.“
    Den folgenden Moment der Überraschung nutzte Kristina aus, um stehenzubleiben und ihr Bein nach rechts auszustrecken. Es klappte wie geschmiert: Der Bauernkerl sah nicht, was passierte, eilte einfach weiter und stürzte über das Hindernis in den Schnee. Sein erstauntes Rufen ließ Kristina grinsen. Er zeterte noch ein wenig und klagte über Schmerzen, aber auch davon ließ sie sich nicht beirren. Ganz im Gegenteil: Sie erlaubte es sich sogar, darauf zu hoffen, dass sich der Kerl ordentlich wehgetan hatte. Verdient hatte er es jedenfalls.
    Kristina sah wieder nach vorne und war froh, zu erkennen, dass sie dem Geldboten noch immer an den Fersen hing – oder zumindest einige Meter hinter seinen Fersen. Der junge Mann bewegte sich äußerst zielstrebig vorwärts, als hatte er es selber sehr eilig. Kristina hoffte, dass das hieß, dass er seine Tour bereits vollständig hinter sich hatte. Wenn er erst noch die anderen Frauen abklappern musste, würde sich das Ganze nur in die Länge ziehen – und Kristina würde Gefahr laufen, doch noch von ihm oder eben ihren Kolleginnen entdeckt zu werden. Andererseits, wenn der Bote sie nun vielleicht sogar zu Agnetas Haus führen würde …
    Kristina schreckte kurz auf, als sie bemerkte, dass der Geldbote nun doch von der großen Straße nach links einbog, in ein Außenviertel Gelderns, in dem nur wenige Häuser standen. Kristina war nun hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, noch weiter auf Abstand zu bleiben und der Notwendigkeit, die Distanz nun zu verringern, um den Boten nicht doch noch auf den wahrscheinlich letzten Metern irgendwo zwischen den Häusern zu verlieren. Zur Auflösung dieses Konflikts wählte Kristina einen Mittelweg, der vor allem beide Ängste – die des Entdecktwerdens und die des Fährtenverlusts – voll zur Geltung brachte. Aber so angespannt, wie Kristina war, hätte sie es sich selbst sowieso nicht recht machen können, von daher war das verschmerzbar.
    Sie passierten ein paar Häuser. Es waren eher hüttenartige Gebilde, sehr ähnlich dem Haus, in dem sie selbst lebte, vielleicht etwas größer. Im Grunde schien dieser Stadtteil wie ein kleines Dorf im Dorf zu sein. Kristina kramte in ihren Erinnerungen, weil sie glaubte, vor Jahren mal bei besserem Wetter hier gewesen zu sein, aber das konnte täuschen. In Geldern, und das gab sie unumwunden zu, kannte sie sich so gut auch nicht aus. Man blieb eben in seinem Viertel – wen kümmerten denn auch die Wohngebiete anderer Leute, wenn man nun nicht gerade dabei war, eben diese anderen Leute bis zur Haustür zu verfolgen?
    Wie, als hätte er das gedankliche Stichwort gehört, steuerte der Bote nun auf eines der Häuser in der Umgebung zu. Es war das größte im näheren Umkreis, wenn auch nicht um besonders viel größer als die anderen. Die Haustür besaß anscheinend auch eine Verriegelung, denn der junge Mann nestelte ein wenig an ihr herum, bevor er eintrat. Kristina hielt sich noch ein wenig im Hintergrund, in der Halbdeckung eines anderen Hauses, von dem sie hoffte, dass sein Bewohner nicht gleich herauskam und sie fragte, was sie denn eigentlich da machte. Leise drang das Geräusch der zugeschobenen Tür zu ihr herüber, der Geldbote war endgültig im Haus verschwunden. Fast im selben Moment begann es zu schneien.
    Für Kristina ging nun wieder das Überlegen los. Die Tür war nun nicht mehr versperrt, sofern sie der Bote nicht von innen wieder verriegelt hatte. Sie konnte womöglich einfach eintreten. Das aber würde beim Boten Misstrauen wecken. Das konnte Kristina in keiner der möglichen Geschehensvarianten gebrauchen: Entweder sie verspielte ihre Gelegenheit, dem nun doch immer düsterer erscheinenden Geheimnis um ihn und Agneta auf die Spur zu kommen. Oder aber es gab dieses Geheimnis gar nicht, sodass Kristina dann in der Summe gleich zwei Einbrüche ohne Not begangen hatte. Deshalb entschied sie, nun möglichst unumwunden, damit sie nicht tatsächlich noch die Aufmerksamkeit der hiesigen Nachbarschaft auf sich zog, dass es das Beste war, einfach mal an der Tür des Boten zu klopfen. Wenn er herauskam, würde sie ihn in ein Gespräch verwickeln. Wenn dagegen nichts geschah, konnte sie immer noch eigenmächtig eintreten – und dies zur Not mit irgendeiner diffusen Sorge begründen oder schlicht andere Mittel zur Entschuldigung einsetzen. Ihr würde schon etwas einfallen.
    Schritt für Schritt durchbrach Kristina mit je einem Knirscher im Schnee diese seltsame Stille, die über dem Wohnviertel lag. Die Stimmung hatte beinahe etwas von einem Friedhof. Kristina mochte diese Assoziation ganz und gar nicht – und konnte sich leider nur zu gut erklären, woher sie kam. Das hielt sie aber auch nicht mehr davon ab, bis an die Haustür zu schreiten und an ihrem Wunsch nach Zaudern vorbei direkt mit der Faust an die Tür zu klopfen. Dreimal. Es dauerte ein wenig, dann ging die Tür langsam auf. Der Blick des Geldboten ließ keinen Zweifel daran, dass er Kristina rasch erkannte.
    „Oh je … ich hatte ja befürchtet, dass das irgendwann passieren würde, aber peinlich ist es mir ja doch irgendwie. Ich habe mich vermutlich mit dem Geld verzählt, was?“
    Kristina widerstand dem Drang, sofort in ihre Tasche zu greifen und dem Boten direkt irgendein Pulver entgegenzuwerfen, das ihn außer Gefecht setzte. Sie musste sich immer wieder darauf besinnen, dass sie nichts wusste, dass nichts bewiesen und vermutlich auch überhaupt gar nichts passiert war. Sie war hier nur zum Reden.
    „Oh, nein nein“, sagte Kristina rasch. „Da war alles … in Ordnung.“ Das konnte sie nicht wissen, aber es war auch egal, da sie dieser Gesprächspfad ganz sicher nicht weit bringen würde. „Es ist nur …“ Sie druckste ein wenig herum. Hätte sie es schauspielern wollen, es hätte nicht anders ausgesehen. Sie schauspielerte jedoch nicht. Ihre Hoffnung, dass ihr schon irgendetwas einfallen würde, war erstaunlich schnell den Bach heruntergegangen.
    „Da bin ich ja schon einmal beruhigt“, ergriff der Bote schnell wieder das Wort. „Nicht auszudenken, wenn da was schief geht … die Hexen stecken mich glatt noch bei lebendigem Leibe in einen ihrer Kessel!“
    Kristina fiel auf, dass der junge Kerl versuchte, witzig zu wirken. Das beruhigte sie, weil es nicht gerade für Misstrauen seinerseits sprach. Lustig war es natürlich trotzdem nicht.
    „Aber komm doch erst einmal rein … wenn du willst. Da können wir besser reden als hier draußen im Schnee.“
    Kristina fragte sich, ob es bei Agneta auch so gelaufen war. Bei Agneta, von der man seitdem nichts mehr gesehen hatte. Ins Haus rein – und nie wieder raus. Was auch immer Agneta vorgehabt hatte – es war möglicherweise ordentlich schief gegangen. Kristina bemerkte ihre schwitzigen Hände. Immerhin, beruhigte sie sich, war sie vorbereitet.
    „Okay“, sagte sie dann nur knapp und folgte der einladenden Geste des jungen Mannes in das Haus hinein. Schnell schloss er hinter ihnen die Tür – etwas zu schnell für Kristinas Geschmack. Bei aller gerechtfertigten Habachtstellung wollte sie sich jedoch bemühen, nicht jedes Detail des Geschehens auf die Goldwaage zu legen. Sonst, so sann sie metaphorisch weiter, sonst hatte sie im entscheidenden Moment nicht mehr genug Gewichte.
    „Es ist nichts besonders Tolles, aber es ist immerhin etwas“, sagte der junge Kerl und meinte damit offenbar sein Haus. „Als Geldbote kann man sich nur eine Villa leisten, wenn man mit dem Geld nicht ganz ehrlich ist.“ Er zwinkerte ihr zu. „Darf ich dir deinen Mantel abnehmen?“
    „Ich will eh nicht lange bleiben“, sagte Kristina rasch.
    „Gut, gut.“ Der Geldbote wirkte nun etwas unbeholfen. Möglicherweise wollte er Kristina in ihrer vom Schnee feuchten Kleidung auch nur nicht so schnell einen Stuhl anbieten.
    „Ich bin übrigens Lars“, sagte er dann. „Ich denke, wenn du schon in meinem Haus bist, dann solltest du das ruhig wissen!“
    „Kristina“, erwiderte Kristina. „Aber das weißt du ja glaube ich schon.“
    „Ja“, antwortete Lars lächelnd. „Wenn es nicht so wäre, dann hätte ich wohl schon zweimal Geld bei der Falschen abgeliefert.“ Er lachte. „Womit wir wieder beim Thema wären. Aber das war gar nicht das, weshalb du hier bist, sagst du?“
    Kristina schüttelte den Kopf. „Nein, es ist …“ Sie rang nach Worten. Sie hatte zwar einen groben Plan, wie sie weiter vorgehen sollte, angesichts der doch auffällig leuchtenden Augen des Geldboten. Der letzte Wille war es nur, der ihr noch dazu fehlte. Vielleicht sollte sie es langsam angehen lassen.
    „Ich glaube, ich hänge meinen Mantel doch lieber auf“, sagte sie. Noch bevor Lars ihr dabei seine Hilfe anbieten konnte, hatte sie sich schon von dem Kleidungsstück befreit. Ihre Umhängetasche hielt sie nun in der Hand. Wenn es ging, wollte sie die nicht mehr loslassen. Im Grunde war sie ihr einziger Schutz.
    „Dann können wir uns doch einfach vor den Ofen setzen“, sagte Lars und zog zwei Stühle herbei, von einem Esstisch, der dem von Kristina und Thoren nicht ganz unähnlich war. „Darf ich dir irgendetwas anbieten? Was zu trinken?“
    „Nein nein, das wird nicht nötig sein.“
    „Okay.“
    Er wies ihr mit einer Geste den Stuhl zu, der nun weiter von der Haustür weg stand. Kristina kam nicht umhin, auch dahinter wieder Kalkül zu vermuten. Wahrscheinlich würde das nun die ganze Zeit so weiter gehen.
    Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auch abseits des Esstisches sah der Innenraum des Hauses nicht viel anders aus als bei ihnen zu Hause. Das mochte daran liegen, dass Geldern für Vieles bekannt war, nicht jedoch für die große Vielfalt bei den Behausungen der einfachen Stadtbewohner. Immerhin besaß dieses Haus aber noch einen zweiten, abgetrennten Raum, wie die dunkelbraune Tür an der Wand schräg hinter Kristina verriet. Sie konnte es natürlich auch hier nicht lassen, gewisse Vorahnungen zu haben, was oder wer sich hinter dieser Tür verbarg. Bevor diese Vorahnungen Überhand nahmen, lenkte Kristina ihren Blick wieder von der Tür weg, hin zum Ofen. Der Ofen, der so schön vor sich her brannte und alles verschlang, was man seinen Flammen zum Opfer -
    „Nett, oder? Wie gesagt, es ist nur das Haus eines Geldboten, aber naja, ich bin ganz zufrieden.“
    „Äh, ja“, sagte Kristina, die hoffte, korrekt wahrgenommen zu haben, dass Lars irgendeine Ja-oder-Nein-Frage gestellt hatte. „Also, weswegen ich hier bin …“
    „Ja?“, fragte Lars sofort neugierig. Seine braunen Augen wirkten wach. Vielleicht ein wenig zu wach. War er schon misstrauisch geworden? Die milden Züge seines jugendlichen Gesichts ließen jedenfalls nichts dergleichen erahnen. Darauf wollte sich Kristina aber nicht verlassen. Immerhin wusste sie nur zu gut, wie selbst hinter einem ultrasüßen Zwinkern ein ungeheures Maß an Verlogenheit lauern konnte.
    „Also … wie ist es eigentlich so, für den Zirkel zu arbeiten? Also so ganz direkt als Angestellter?“
    Lars grinste. „Auf der Suche nach einem neuen Job?“
    „Vielleicht.“
    „Hm. Eigentlich habe ich über die Angelegenheiten des Zirkels ja Stillschweigen zu bewahren … das ist zum Beispiel eine Sache, wenn man für ihn arbeitet. Man darf halt wirklich so gut wie gar nix erzählen, eigentlich.“
    „Eigentlich?“
    „Eigentlich.“
    „Und das heißt?“
    „Naja.“
    Lars’ Gesichtsausdruck pendelte zwischen einer sehr geschäftsmäßigen Miene und einem unverhohlenen Grinsen hin und her, ganz unwillkürlich, als hatte er seine Mimik gar nicht mehr unter Kontrolle. Das Grinsen aber war das typische Grinsen eines typischen Mannes. Es hatte ja so kommen müssen. Kristina hatte sich vorher im Grunde schon ein wenig darauf eingestellt. Sie wollte trotzdem noch einen kleinen Schlenker im Gespräch wagen, bevor es endgültig ernst wurde.
    „Was musste Agneta denn dafür tun, damit du ihr was erzählst?“
    Das Grinsen aus Lars’ Gesicht verschwand. Er wirkte nun kühl, sehr kühl. Tatsächlich hatte Kristina das Gefühl, dass die Temperatur im Raum in diesem Moment um einige Grad sank.
    „Wer ist Agneta?“, fragte Lars ohne besondere Betonung in der Stimme.
    „Agneta eben“, sagte Kristina unbeeindruckt. „Schlank, blond …“
    „Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte Lars und schüttelte den Kopf. „Hör mal, wenn du wirklich was von mir erfahren willst – und du hattest mich schon beinahe soweit, echt – dann solltest du die Tour wirklich lassen. Ich kenne jedenfalls keine Agneta. Mir wird das etwas unheimlich gerade. Vielleicht sollte ich doch lieber gar nichts mehr sagen.“
    Kristina seufzte innerlich. Jetzt musste es wohl doch sein.
    „Aber, aber“, säuselte sie und erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Ihre Umhängetasche musste sie nun wohl doch kurz von sich streifen. Aber für das, was sie nun vorhatte, brauchte sie ihre Mitbringsel sowieso nicht. Kristina trat nun ganz nah an Lars heran. Dessen Mundwinkel zuckten.
    „Ich habe doch schon verstanden, was du gerne hättest“, sprach Kristina weiter – und ließ sich nur einen Augenblick später auf dem Schoß von Lars nieder. „Oder?“
    „Ja … schon“, rang dieser sich ab, während seine Augen immer größer wurden. Kristina seufzte innerlich in sich hinein und fühlte sich ein bisschen wie eine Verräterin. Nicht gegenüber Thoren, sondern gegenüber sich selbst, und das wurde mit jeder weiteren Sekunde, in der sie sich scheinbar begierig über Lars schob, nicht gerade besser.
    „Das gefällt dir, hm?“
    Lars nickte, seine Augen waren ganz starr. „Manchmal habe ich eben doch den besten Job der Welt.“
    Natürlich kam dann rasch der Moment, in dem Lars beim besten Willen nicht mehr verhehlen konnte, wie es um seinen Gemütszustand gerade bestellt war. Kristina ergriff diese Möglichkeit – im wahrsten Sinne des Wortes – und entlockte Lars ein wohliges Stöhnen. Kristina konnte nur mutmaßen, wie peinlich diese Szene von außen betrachtet sein musste.
    „Pass auf … wenn du willst, dass ich weitermache, dann sagst du mir jetzt mal, was so los ist … mit dem Zirkel … oder mit Agneta …“
    „Ich hab dir doch gesagt“, murmelte Lars, während er sich – bis auf diese eine Körperstelle natürlich – schlaff und entspannt auf dem Stuhl zurücklehnte und die Augen geschlossen hielt. „Wenn ich rede, gibt’s mächtig Ärger. Vergiss das doch einfach. Wir beide haben doch gerade so viel -“
    Lars konnte den Satz nicht mehr beenden, weil ihm kurzzeitig die Luft zum Reden ausging. Es war dabei nicht einmal seine Kehle, die Kristina zugedrückt hatte. Sie spürte dabei, dass sich Lars’ Körper gar nicht einmal gegen diese doch sehr harsche Art der Verwöhnung sträubte – ganz im Gegenteil. Wäre es für Kristina nicht so sehr darauf angekommen, ernst zu bleiben, sie hätte ihr Grinsen wohl nicht unterdrücken können.
    Noch dachte Lars wohl, dass gerade eine spezielle Männerfantasie voller Lust und Schmerz wahr wurde. Noch.
    „Du sagst mir jetzt sofort, was mit Agneta ist, oder ich reiße dir die Eier ab.“
    „W-Was?“
    Um ihrer Warnung etwas Nachdruck zu verleihen, verstärkte Kristina ihren Griff. Ein im wahrsten Sinne des Wortes knallhartes Verhör, dachte sie.
    „Es ist jetzt Schluss mit den Spielchen. Du wurdest mit Agneta gesehen. Sie ist hier in dieses Haus gegangen. Und dann wurde sie nicht mehr gesehen. Was hast du mit ihr gemacht? Wo ist sie jetzt?“
    „Verdammt, nun lass mich los … glaubst du denn, ich hätte ihr was angetan?“
    „Was weiß ich denn?“, blaffte Kristina zurück. „Wenn du etwas gestehen willst, dann mach es jetzt! Es wäre der beste Zeitpunkt für dich … und deinen kleinen Freund. Sonst …“
    Kristinas Fingernägel gruben sich allmählich durch den dünnen Stoff von Lars’ Hose in sein Fleisch hinein, was der Mann mit einen leicht quietschenden, unartikulierten Laut quittierte. Es sollte ja Leute geben, die anderswo für so eine Behandlung viel Geld bezahlten. Kristina fand das angesichts der Tatsache, dass Lars ein Geldbote war – oder zumindest vorgab, einer zu sein – irgendwie ironisch.
    Kristina sah Lars noch einmal tief in die weit aufgerissenen Augen. „Also?“
    „Agneta ist … da … da hineingegangen!“
    Kristina musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Lars gerade auf die Tür zum Nebenraum deutete. Also doch.
    „Was heißt, hineingegangen? Wo ist sie jetzt? Warum kommt sie nicht heraus?“
    „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du so … drückst. Bitte …“
    „Was ist mit Agneta, verdammt?“
    „Ich weiß es nicht, sie ist weg! Beim Zirkel! Sie ist jetzt beim Zirkel! Ich darf nicht mehr sagen!“
    „Beim Zirkel der Hexen? Lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen! Sprich jetzt endlich! Hast du sie entführt?“
    „Nein, habe ich nicht, sie …“
    „Dann hat der Zirkel sie entführt? Nun sag schon!“
    Kristina spürte, wie es ihr Vergnügen bereitete, Lars so in die Mangel zu nehmen. Sie versuchte, dieses Gefühl etwas zu dämpfen. Nicht, weil ihr das im Augenblick besonders unmoralisch vorkam, sondern vielmehr, damit sie einen halbwegs klaren Kopf bewahrte. Sie verzichtete deshalb auch, bei Lars noch weiter zuzudrücken. Er war ohnehin schon wieder geschrumpft. Das war erstaunlich schnell gegangen.
    „Ich kann dir nicht mehr sagen, okay? Ich kann dir nur sagen … wie du … sie findest … okay?“
    „DANN MACH!“
    „Okay okay okay! Also, die Tür ist gerade abgeschlossen, aber ich habe den Schlüssel bei mir, in meiner … Hosentasche. Du kannst die Tür aufschließen, dahinter findest du ein Pentagramm und einen Sockel mit einem Fokusstein. Wenn du den berührst, wirst du teleportiert.“
    „Erzähl keinen Scheiß!“, knurrte Kristina und drückte nun doch noch einmal etwas fester zu, bis es ihr fast selbst zu viel war.
    „Es ist wahr, verdammt!“, rief Lars nun, in einer Mischung aus Schmerzensschrei und echter Verärgerung. „Ich habe das jetzt selbst schon mehrmals gemacht! Man teleportiert sich so zum Zirkel der Hexen. Also, zu einem ihrer Türme, der irgendwie im Nirgendwo steht und der nur über Zauber zu erreichen ist. Und schau mich nicht so an, verdammt, ich weiß es doch auch nicht! Ich bin doch einfach nur ein blöder Bote, der es mal für eine gute Idee hielt, für den Zirkel zu arbeiten! Ich habe doch sonst nichts mit denen am Hut!“
    Kristina bekam nun fast ein wenig Mitleid mit Lars. Sie löste ihren Griff ein wenig. „Aber was ist jetzt mit Agneta?“, fragte sie gleichwohl streng. „Du hast ihr nichts getan, sagst du? Aber der … Zirkel?“
    „Sie wurde vom Zirkel beordert“, sagte Lars. „Ich weiß nicht … lass mich bitte endlich los, okay? Ja, sie wurde vom Zirkel entführt, kann man vielleicht sagen. Das ist alles, was ich weiß! Lass mich endlich los!“
    „Was weißt du über Sagitta?“, hakte Kristina noch einmal nach, der ein aus ihrer Sicht relativ naheliegender Gedanke in den Kopf schoss. „Wurde sie auch vom Zirkel kaltgestellt? Entführt?“
    „Ja … ja! Wurde sie! Sagitta wurde auch entführt! Und jetzt lass mich endlich los!“
    „Nur, wenn du schwörst, dass du nichts mit der Entführung zu tun hast!“
    „Natürlich habe ich nichts damit zu tun, ich bin hier nur der Bote! Ich hielt es ja auch für keine gute Idee, dass ich ausgerechnet in dem Haus wohnen muss, das diesen geheimen Teleport-Zugang hat! Ich habe aber nichts damit zu tun, verflucht! Lass mich bitte bitte endlich los! Ich habe doch jetzt alles gesagt!“
    „Du hast mir den Schlüssel noch nicht gegeben.“
    Lars griff sich ungelenk in seine Hosentasche, während Kristina ihren Griff noch immer aufrecht erhielt. So langsam bekam sie ja doch ein wenig Angst vor sich selbst, wie unverhohlen sie diese Machtstellung genoss.
    Nach einigen Versuchen hatte Lars den Schlüssel endlich aus seiner Tasche herausgepult. Kristina nahm ihn mit der freien Hand entgegen.
    „Gut“, sagte sie. „Und jetzt zeigst du mir noch, wie ich diesen Teleporter bediene.“
    „Gar nichts mache ich!“, rief Lars unmittelbar danach, und Kristina hörte bereits an seiner Stimme, dass sie jetzt einen Tick zu weit gegangen war. Kaum ein Blinzeln später spürte sie einen Stoß gegen ihren Körper, den Lars mit seinem Knie ausgeführt hatte. Sie hatte keine andere Wahl, als ihren Griff zu lockern, als sie von ihm abfiel. Ihre Überraschung vermengte sich mit einer bösen Vorahnung, dass sich Lars, jetzt, wo das Blatt gewendet war, an ihr rächen würde. Doch stattdessen warf er ihr nur einen kurzen bösen Blick zu und suchte dann das Weite. Die Haustür klapperte zweimal. Flucht aus dem eigenen Haus. Wenigstens hatte er beim Herausrennen schnell noch seinen Mantel ergriffen.
    Kristina konnte nur hoffen, dass Lars nicht irgendwen informierte, der ihr noch in die Quere kommen konnte. Aber das war im Prinzip egal, denn sie hatte ohnehin keine Zeit, nach hinten zu schauen. Ihr Weg musste jetzt rasch vorwärts gehen. Viel hatte sie aus Lars nicht herausbekommen, aber das, was sie gehört hatte, genügte, um zu wissen, dass Agneta und vielleicht auch Sagitta in Gefahr schwebten.
    Kristina bückte sich und griff nach ihrer Umhängetasche. Jetzt würde sich die Nacht in Peraturs Alchemiestube vielleicht doch noch auszahlen – zumindest, wenn Kristina nicht von einem Dutzend Hexen mithilfe allerlei Zaubern direkt zu Asche pulverisiert wurde. Aber so weit wollte sie noch nicht ernsthaft denken. Es ging jetzt Schritt für Schritt vorwärts – und das hieß, zunächst einmal durch die Tür in diesen ominösen Teleportraum, von dem Lars gesprochen hatte.
    Der Schlüssel glitzerte gülden im Lichtschein, als Kristina ihn ins Türschloss steckte. Sie war überrascht, dass er tatsächlich einwandfrei passte und sie ihn mühelos drehen konnte. Ob sie darüber auch wirklich so erfreut war, das vermochte sie nicht zu sagen. Es spielte auch keine Rolle.
    Als Kristina die Tür nach innen aufdrückte, schwang sie sehr frei und knarrte nicht. Der Raum war erwartungsgemäß nicht besonders groß. Ansonsten stimmte auf den ersten Blick alles, was Lars ihr erzählt hatte. Der Holzboden war mit einem annähernd raumfüllenden Pentagramm bemalt, in einer roten Farbe, die natürlich an nichts anderes als an Blut erinnern konnte. Drumherum war noch ein weißer Kreis gezogen, der aussah, wie aus Kreide, aber höchstwahrscheinlich nicht aus Kreide war. In der Mitte des Pentagramms stand ein schwerer, grauer Steinsockel, der Kristina der Höhe nach in etwa bis zur Brust reichte. Auf dem Sockel angebracht war wiederum ein blaues, annähernd zylinderförmiges, gläserig anmutendes Gebilde, das wohl der Fokusstein sein musste. Im Vergleich zum massigen Gestein des Sockels wirkte er ziemlich verloren. Kristina bemerkte auch noch, dass in den vier Ecken des überschaubaren Raumes je ein Kerzenständer stand, auf jedem eine dicke, weiße Kerze, unterschiedlich weit heruntergebrannt, gerade aber nicht entzündet. Das meiste Licht fiel von den Lampen im Hauptraum des Hauses ein, welches sich mit dem schwachen Glimmen, das der Fokusstein von sich gab, vermischte. Alles in allem sah das nicht gerade nach einer Vorrichtung für Teleportationszauber aus, sondern vielmehr nach einer Kammer für unaussprechlich düstere Rituale. Kristina war nun umso mehr froh, dass sie dieses Haus nicht einfach gestürmt hatte. Wäre sie unvorbereitet auf diesen Raum gestoßen, sie wäre sich sicher gewesen, dass Lars Agneta hier Beliar geopfert hatte. Andererseits: Kristina konnte sich auch nach Lars’ Worten nicht sicher sein, dass genau das nicht doch geschehen war.
    Nach einigem weiteren Herumschauen im Raum musste Kristina sich eingestehen, dass sie nicht wusste, was sie nun tun sollte. Blöderweise hatte Lars ihr nicht gesagt, wie genau sie dieses Teleportationsfeld benutzte – oder aber sie hatte es überhört. Sich einfach hineinzustellen klappte schon einmal nicht. Kristina wandte sich daher erst einmal dem Sockel zu und griff nach dem Fokusstein, um zu prüfen
    Geändert von John Irenicus (16.01.2017 um 17:17 Uhr)

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    Als Kristina wieder ein klares Bild vor den Augen hatte, sah sie sofort, dass sie nicht mehr im Haus des Geldboten war. Sie stand zwar immer noch inmitten eines Pentagramms, doch dieses war viel größer, der Raum sogar noch viel größer und vor allem … anders. Wäre Kristina nicht allein schon wegen Lars’ Worten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen, beim Zirkel der Hexen gelandet zu sein, sie hätte es wohl auch so vermutet. Hexen oder Dämonenbeschwörer, irgendetwas, das düster klang und düster aussah, eben genau so wie der Raum, in dem sich Kristina nun befand. Steinerne, abgerundete Wände bildeten einen kahlen Kreis um Kristina und das Pentagramm. Von der hohen Decke hing ein Eisenkäfig herab, der – darüber war Kristina froh – nicht das obligatorische Skelett oder Teile davon enthielt. Kerzenständer waren in großer Zahl aufgebaut und relativ willkürlich im Raum verteilt. Alle Kerzen brannten, in unzähligen Farben, von denen keine wirklich freundlich wirkte. Und es war unterschwellig kalt, auf eine Weise, dass Kristina gerade so nicht fror, sich aber beständig am Rande des Frierens wähnte.
    Einen Sockel mit Fokusstein sah Kristina nirgendwo. Der Schluss, dass für sie damit eine Rückkehr nicht ohne Weiteres möglich war, lag nahe. Immerhin, so erkannte sie an, war der Teleport nicht unangenehm gewesen. Sie hatte sich im Vorhinein alles Mögliche ausgemalt: Schwindelgefühle, Kopfschmerzen, Bewusstseinsverlust, schummerige Farben, nicht enden wollende Wege, Irrgärten voller Magiestrudel … stattdessen hatte der Teleport nicht einmal einen ganzen Atemzug gedauert und war zwar unverhofft, aber eben auch nicht unangenehm verlaufen. Die Macht der Hexen, die Sagitta in ihren Gesprächen höchstens mal in einem versteckten Nebensatz angedeutet hatte, konnte sich zumindest in Sachen Teleportationszauber auf alle Fälle sehen lassen.
    Was sich ebenfalls sehen ließ, war eine Steintreppe am gegenüberliegenden Ende des rundlichen Raums. Sie führte nur hinauf. Das nahm Kristina wenigstens die Entscheidung ab, wohin sie gehen sollte. Sie prüfte noch einmal, ob ihre Umhängetasche noch da war – was so war – und setzte sich dann in Bewegung.
    Im Treppengang wurde ihr kurz warm – allerdings so kurz, dass sie sich ihres Sinneseindrucks gar nicht sicher sein konnte. Die Wärme mochte tatsächlich in der Luft gelegen haben oder nur eine Wallung ihrerseits gewesen sein, sie mochte sie sich auch komplett eingebildet haben. Spätestens ab der Hälfte der gewundenen Treppe war es nur wieder feuchte Kälte, die sie umfing. Kristina konnte bereits den nächsten Raum sehen, aus dem leicht milchiges Licht in den Treppengang hereinstrahlte.
    Als sie auf der letzte Stufe ankam und über die Schwelle trat, gab es ein merkwürdiges Glockengeläut. Kristina zuckte zusammen. Diesmal war das Sinnesphänomen nicht so diffus wie bei der Wärme zuvor. Auch, wenn sie keine Glocken sah und das Klingeln seltsam fern klang – es war da. Genau so schnell, wie es begonnen hatte, hörte es wieder auf. Kristina ließ ihren Blick noch die Wände und die Decke abfahren, auf der Suche nach irgendeiner entsprechenden Vorrichtung zum Glockengeläut, da wurde sie schon vom nächsten Geräusch überrascht. Wie ihr später auffiel, waren es eigentlich zwei Geräusche, dabei jedoch so synchron, dass sie wie ein einziges gemeinsames klangen. Es war lange her, dass Kristina diesen Ton gehört hatte, aber er war so markant, dass auch einhundert Jahre nach dem letzten Mal hätten vergehen können, sie hätte ihn noch immer auf Anhieb erkannt. Es war das Klirren einer Klinge – nein, zweier Klingen – die aus ihren Scheiden hervorgezogen wurden. Kristina hatte Glück, dass sich ihr Blick rechtzeitig genug senkte, um die beiden gerüsteten Gestalten zu erblicken, die nun zügig auf sie zumarschierten. Die langen Schwerter hielten sie erhoben, die Häupter hielten sie von je einem Helm verdeckt. Dennoch musste Kristina nicht lange hinschauen, um zu erkennen, dass die beiden Gestalten keine Menschen waren. Das bleiche Grinsen, das unter ihren Helmen hervorlugte, war zu eindeutig. Es waren wandelnde Tote.
    Hektisch griff Kristina nach ihrer Umhängetasche und streifte sie sich dabei fast versehentlich vom Arm. Sie kramte herum, griff dann das erstbeste Fläschchen, dem sie habhaft werden konnte und zog es heraus. Sie erkannte das Gebräu auf Anhieb. Einen Versuch war es wert. Ohne allzu genau zu zielen schleuderte sie das Gefäß von sich, auf das rechte der beiden Skelette zu. Die Knochenmänner waren in ihren schweren Rüstungen zum Glück nicht allzu gelenkig, zumal ihnen die Fähigkeit des Ausweichens anscheinend gar nicht eingehaucht worden war. Das Fläschchen traf auf den Brustpanzer des rechten Skeletts auf, was weder ihm noch seinem knöchernen Kollegen groß etwas ausmachte. Offenbar war nicht einmal die Flasche zu Bruch gegangen. Das war der schlimmste Blindgänger von allen. Doch dann, als die Flasche ihren Weg vom Metall der Rüstung zum Stein des Bodens fand, brach ihr Äußeres doch noch auf und setzte das heiße Gemisch frei. Ein Bruchteil einer Sekunde später gab es eine Explosion. Kristina kam nicht umhin, reflexartig die Augen zu schließen. Sie hatte es bei der Herstellung des Explosionstranks wohl einen Tick zu gut gemeint – wobei sie hoffte, dass ihr das nun aber gerade zugute kommen sollte. Als sich ihre Augen wieder öffneten, sah sie, dass es den rechten Knochenmann tatsächlich fast vollständig zerlegt hatte. Er hatte beide Beine samt Rüstungsteilen sowie seinen Arm verloren. Der Schwertarm war noch dran, doch das restliche Knochengerüst, so gruselig es auch aussah, wie es hilflos am Boden zappelte, konnte ihr nicht mehr gefährlich werden, wenn sie sich aus seiner Reichweite fernhielt. Gerade das war aber das Problem mit dem übrig gebliebenen Skelettmenschen, der sich – auch physisch unbeeindruckt von der Explosion an seinem Kollegen – mittlerweile gefährlich genähert hatte. Vorsichtig, aber dennoch nicht zu langsam bewegte sich Kristina rückwärts, auf die Treppe zu. Sie wollte Zeit gewinnen. Sie glaubte, genau das richtige Mittel gegen diesen Untoten zu haben, hatte sie doch in einem von Peraturs Schränken während ihrer Arbeit ein Fläschchen gefunden, dessen Inhalt man üblicherweise purifizierende Wirkung zuschrieb. Zuschrieb, wohlgemerkt – Kristina hatte es noch nie testen können, worüber sie eigentlich auch sehr froh war. Nun war aber der passende Moment gekommen – wenn sie dieses vermaledeite Fläschchen denn fand. Kristina befand sich nun bereits im Treppengang und hoffte, dass das Skelett schlicht zu blöde für die Stufen sein würde, doch es nahm sie – klapperig zwar, aber erfolgreich. Weil Kristina keinen Sturz riskieren wollte und das Herumkramen in ihrer Tasche im Halbdunkel ohnehin keinen Erfolg versprach, drehte sie sich rasch herum und floh erst einmal zurück in den Raum ihrer Ankunft. Hier hatte sich weiter nichts geändert.
    Der Knochenmann schloss rasch zu ihr auf. Kristina wollte gerade ihre Suche aufgeben und einfach das nächstbeste Fläschchen aus der durch das Gewühle immer mehr ausbeulenden Tasche ziehen, da schloss sich ihr Griff doch noch um die markante Riffelung, nach der sie gefühlt hatte. Kristina wich weiterhin zurück, aber viel Abstand zur Wand hinter sich hatte sie nicht mehr. Das Skelett agierte langsam, aber doch schnell genug, um zusammen mit der Reichweite seiner Klinge zum tödlichen Vollstrecker zu werden, wenn sie nicht schnell handelte. Hastig schraubte sie den Drehverschluss der Flasche ab und machte mit dem geöffneten Gefäß eine schlackernde Bewegung, um die Flüssigkeit stoßweise auf dem Körper des Untoten, bestenfalls natürlich durch den Helmschlitz, zu verteilen. Und tatsächlich: Das Skelett blieb stehen. Dampf stieg von seinem fleischlosen Leib auf. Kristina machte weiter, bis sie die Flasche zusammen mit dem letzten Rest einfach als Ganzes auf ihren Widersacher schleuderte. Sie traf ihn genau am Helm, der nun von dem Mittel ganz durchtränkt war. Das Skelett knarzte, dampfte immer mehr – und marschierte irgendwann einfach weiter, die Klinge so fest gepackt wie zuvor und ohne weitere Anzeichen von Schwäche. Damit hatte Kristina den Nachweis erbracht, den Nachweis, dass geweihtes Wasser gegen Untote rein gar nichts brachte. Es war der wohl ungünstigste Moment dafür, diesen Hokuspokus aufzudecken.
    Das Skelett war nun zu nah an Kristina herangekommen, als dass sie noch problemlos hätte ausweichen können. Sie sah, wie das grinsende Knochenwesen die Klinge seines Zweihänders hob. Es gab nichts mehr zu überlegen, und Kristina tauchte ab.
    Es schepperte, das Geräusch von Stahl auf Stein. Knochen knarzten, aber sie barsten nicht – weder die Kristinas, noch die des skelettierten Mannes, der sich offenbar erst wieder sammeln musste. In dieser Hinsicht ging es Kristina ähnlich: Sie hatte es zwar geschafft, sich unter dem Hieb hinwegzuducken und sich durch die Beine des Wesens hindurchzuzwängen, aber sie war dabei so unrund gefallen, dass der Schmerz in ihrer Schulter sie einen Moment lang betäubte. Es war die schiere Panik, die sie wieder auf ihre Beine trieb. So wenig agil, wie der Skelettmensch sich bewegte, spielte Kristina kurz mit dem Gedanken, einfach vor ihm wegzulaufen. Die Vorstellung, dieses Wesen ab dann jederzeit im Rücken zu haben, für den gesamten Rest ihres Streifzugs durch den Turm, brachte sie aber davon ab.
    Ihr Widersacher hatte sich nun wieder zu ihr umgedreht, die Klinge erhoben. Das Dampfen hatte aufgehört. Kristina hatte keine Zeit, sie zog das hervor, was sie als erstes in ihrer Umhängetasche fand, und war froh, dass es nicht das bei dieser Gestalt wohl eher wirkungslose Juckpulver war. Es war eine Phiole, die sie mit einem ganz speziellen Schmiermittel gefüllt hatte – etwas, das andere wohl für einen dummen Jungenstreich verwendet hätten. Solange Kristina den zweiten Explosionstrank nicht fand, musste sie aber damit vorlieb nehmen. Sie hoffte nur inständig, dass das Moleratfett in der Mischung nicht zu sehr nachgedickt war. Die beigemischten Feuerwurzelblätter sollten das zwar verhindern, doch da gelang die Dosis auch immer nur pi mal Daumen.
    Kristina fasste sich ein Herz und schmiss die Phiole mit Wucht auf den Steinboden, direkt vor die Beine des herannahenden Skelettkriegers. Erwartungsgemäß zerbrach die Phiole und setzte das Mittel frei. Es verteilte sich auf dem Boden noch besser und breiter als gedacht. Trotz der Anspannung spürte Kristina ein bisschen Stolz in sich hochkommen. Die Mischung war ihr besser geglückt denn je.
    Tatsächlich zeigte der Schmierfilm dann auch die erhoffte Wirkung: In morbider Komik rutschten die blanken Füße des Skelettmannes weg, sodass er das Gleichgewicht verlor und von seiner schweren Rüstung krachend gen Boden gezogen wurde. Ein Bein brach durch – das Geräusch war hässlich, entfaltete in Kristinas Ohren dabei aber eine gehörige Portion seltsamer Befriedigung. Als der Skelettmann dann versuchte, aufzustehen, rutschten ihm direkt die Arme sowie sein übrig gebliebenes Bein auf dem Schmierfilm weg. Einmal, zweimal, dreimal. Es sah fast mitleiderregend aus – aber nur fast. Kristina konnte sich aber auch damit nicht zufrieden geben – niemand konnte ihr garantieren, dass das Skelettwesen ihr nicht doch noch nachkriechen konnte. Deshalb nutzte Kristina die Chance, überwand Furcht und Ekel und rannte auf das am Boden kauernde Skelett zu. Erst kurz, bevor sie ankam, wurde ihr klar, dass sie ja genauso gut auf dem Schmierfilm ausrutschen konnte, weshalb sie wieder etwas Tempo aus ihrem Lauf herausnahm. Dem Skelett verpasste sie dann einen Fußtritt direkt auf die Schwerthand und den zugehörigen Arm, mit denen die Klinge geradezu verwachsen schien. Es brauchte noch zwei weitere Tritte, aber dann hatte sie Hand und Unterarm vom Rest getrennt. Kristina war jetzt wie im Rausch. Das Schwert, das aus der zerstörten Hand des Skeletts gefallen war, schien ihr nun das passende Mittel, um die Sache zu beenden. Sie versuchte, es mit einer Hand vom Boden aufzuheben, brauchte jedoch rasch ihren zweiten Arm, und als sie es dann auf den behelmten Kopf des Skeletts hinabfahren ließ, war es mehr das Gewicht der Klinge selber als eine gewollte Bewegung, die den Hieb geschehen ließ. Kristina musste diese Prozedur noch zwei weitere Male wiederholen, jedes Mal unter der großen Anstrengung, gegen die Schwere der Klinge anarbeiten zu müssen. Dann aber, beim dritten Hieb, knackte es ein letztes Mal laut unter dem mittlerweile zerbeulten Eisenhelm, und das Skelett stellte alle Bewegungen ein. Sie hatte den Knochenmann enthauptet.
    Schweiß hatte sich auf Kristinas Haut gesammelt, am ganzen Körper. Eine dicke Haarsträhne klebte ihr quer über der Stirn. Sie atmete schwer. Sie verstand sich selbst dabei sehr gut: Nicht nur, dass sie nun zum ersten Mal in ihrem Leben Untote gesehen hatte, nein, sie hatte sie auch gleich noch außer Gefecht gesetzt. Da konnte man durchaus schon einmal ein wenig aus der Fassung geraten.
    Das Schwert ließ Kristina auf dem nun leblosen Knochengerüst liegen. Es war zu schwer, als dass sie es länger hätte mit sich führen können. Im Grunde konnte sie froh sein, dass sie sich bei ihrer ungeschickten Handhabung mit der Waffe nicht selbst verletzt hatte. Da wollte sie ihr Glück nicht noch überstrapazieren. Wo sie sich doch ersichtlich zu viel aufgehalst hatte mit Betreten dieses Turms. Was sie nun ignorieren musste, weil es ohnehin keinen Weg zurück gab. Weshalb sie sich nun wieder zum Treppenaufgang bewegte, zurück zu der Ebene, von der die zwei Skelette gekommen waren.
    Dort angekommen, hielt sie erst einmal nach dem durch den Explosionstrank geschädigten Skelett Ausschau. Es lag noch immer dort, wo es gelegen hatte, als Kristina den Raum verlassen hatte. Es zuckte nun jedoch nicht mehr, sondern war offenbar den Folgen seiner Verletzungen erlegen – was auch immer ein Skelett, welches ja ohnehin schon den Inbegriff körperlicher Einbußen darstellte, als zusätzliche Verletzung empfinden mochte. Jedenfalls lag der Knochenmann dort reglos und ungefährlich in einem verdrehten Haufen seiner selbst. Die Angst, dass er jeden Moment geisterhaft knarrend wieder auferstehen konnte, verdrängte Kristina, so gut sie vermochte. In gehörigem Abstand ging sie an dem Knochenhaufen vorbei auf den nächsten Treppenaufgang zu, denn in diesem Raum gab es außer den üblichen Steinwänden, Moos zwischen den Ritzen und ein paar rostigen Eisenketten nicht mehr viel Besonderes zu sehen. Einen Tisch noch, das Holz der Platte von einer dunkelroten Flüssigkeit getränkt, die nur Blut sein konnte, doch das passte so sehr ins restliche Ambiente, dass es im Grunde nicht weiter auffiel. Entweder, die Hexen hatten einen sehr eigenwilligen Sinn für Ästhetik, oder aber Kristina war nach dem Teleport gar nicht dort gelandet, wo sie eigentlich hatte landen wollen oder sollen. Auch das war schließlich eine Möglichkeit.
    Als Kristina den nächsten Treppengang durchquerte, erwartete sie schon, erneut von einem Signal aus Glockenklingeln empfangen zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen stand sie, an der letzten Stufe angekommen, vor einer großen Schlucht. Die Schlucht zog sich von ihrem Standort aus bis weit zum gegenüberliegenden Ende des Raums hinein, dem dort nur ein schmaler Streifen an tatsächlichem Boden gegönnt war. Kristina brauchte nur einen kurzen Blick, um zu erkennen, dass sie diese Distanz niemals durch einen Sprung oder ähnlich waghalsige Manöver überwinden konnte.
    Sie schaute nach links und nach rechts, und je länger sie das tat, desto mehr zweifelte sie daran, dass sie sich überhaupt in einem Raum im eigentlichen Sinne befand. Denn zu den Seiten hin war alles offen, sie konnte gleichzeitig weit und doch nicht so weit schauen, sie sah Schwärze nah und fern und keine begrenzenden Wände. Sie glaubte sogar, so etwas wie das Leuchten von Sternen zu sehen, obwohl es nach ihrem Zeitgefühl wohl kaum bereits Nacht sein konnte. Diese vermeintlichen Sterne waren es dann wohl auch, die überhaupt genug Licht spendeten, um hier etwas zu sehen. Kristina fühlte sich so wie inmitten eines abendlichen Himmelszelts gefangen.
    Ihre Wahrnehmung lenkte sich wieder auf ihren eigenen Körper, als sie bemerkte, dass sie sich bei ihrem Grübeln, wie sie diese Schlucht nun überbrücken sollte, unablässig mit der Hand durch die Haare gefahren war. Das bereute sie jetzt, als sie bemerkte, dass ihre rechte Hand etwas von dem Schmiermittel abbekommen hatte, dessen Moleratfett-Anteile nun doch noch nachgedickt waren. Verärgert wischte sie sich die Hand an ihrer Hose ab und befühlte danach noch einmal ihre Haare. An einer Stelle pappten die Strähnen bereits aneinander und ein kleiner Knoten war entstanden. Ihre Aufgabe hin oder her, aber das hasste Kristina wie die Pest, sodass sie rabiat Abhilfe schaffen musste. Nach ein wenig Gerupfe hatte sie ein sehr kleines Büschel Haare in der Hand, welches sie von sich warf. Sie fuhr sich noch einmal durch die Haare, und nun war nichts mehr verknotet.
    Als Kristina ihren Blick wieder nach vorne zum Abgrund richtete, stutzte sie kurz. Dort lag noch immer ihr ausgerissenes Haarbüschel. Nicht auf dem Boden, sondern in der Luft. Dort, wo es eigentlich in die Tiefen der Schlucht hinab hätte segeln müssen. So langsam dämmerte Kristina, was sie hier vor sich hatte. Das alles, die Schlucht, das Himmelszelt, es musste eine Illusion sein. Dagegen gab es zwar keine alchemistischen Mittel, wohl aber den eigenen Verstand. Kristina hatte schon in diversen mythischen Erzählungen von Glaubensprüfungen gehört, in denen es darum ging, dass der Held den vermeintlich tödlichen Sprung in die Schlucht wagte, die sich dann als von einer unsichtbaren Brücke überspannt entpuppte. Nun war Kristina kein Held und auch sicher nicht so blöd, einfach einen Satz ins Nichts zu machen. Aber sie hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass dies hier genau so eine Trickserei war, um ahnungslose Besucher dieses Ortes vom Weiterkommen abzuhalten. Aber nicht mit ihr. Sie streckte einen Fuß nach vorne aus, in etwa einen halben Meter von ihrem Haarbüschel entfernt, und ließ ihn sinken. Immer weiter, weiter, ins Leere hinein. Sie erwartete, dass sie jeden Moment den unsichtbaren Boden berühren würde. Sie traute sich Zentimeter um Zentimeter mehr – und zog den Fuß dann doch panisch zurück, als sie drohte, ihr Gleichgewicht nach vorne hin zu verlieren. Sie hatte den Fuß bereits deutlich unter die Höhe des Haarbüschels gesenkt gehabt und war noch immer bloß auf Luft getreten. Ihr Herz klopfte, aber angenehm – es war das schöne Zeugnis, dass sie den Fehler in blindem Vertrauen in die Schlucht zu springen, gerade nicht begangen hatte. Leider war es auch der Beweis, dass Kristina des Rätsels Lösung noch immer nicht gefunden hatte.
    Eine kühle Brise verschaffte ihr Gänsehaut. Als sie wieder auf die Schlucht sah, konnte sie verfolgen, wie ihre verlustig gegangenen Haare vom Windhauch erfasst und ein Stück fortgetragen wurden. Kurz, bevor sie endgültig den Abgrund hinab trudelten, wurden sie noch einmal aufgehalten, von einem unsichtbaren Hindernis, um das sie sich erst umwickeln wollten, dann aber doch davon abließen. Wenig später waren sie in den Tiefen des Schwarz unter ihnen verschwunden.
    Kristinas Herz klopfte nun noch schneller. Es war die Aufregung darüber, das Rätsel nun wirklich gelöst zu haben. Wenn es keine geradeaus durchgehende Brücke war, dann … hastig griff Kristina in ihre Umhängetasche und holte von dort zwei Beutelchen hervor. Einmal Juckpulver, einmal Schlafpuder. Beides würde sie hier wohl ohnehin nicht gegenüber irgendwelchen Widersachern verwenden können. Sie öffnete den ersten Beutel und verteilte mit einem Ruck in etwa die Hälfte des Inhalts nach vorne hin weg. Ihr Plan ging auf: Das Juckpulver glitzerte, angestrahlt vom fernen Licht, und machte so die unsichtbaren Bodenplatten sichtbar, die einen verschlungenen Weg über der Schlucht zeichneten. Kristina fasste sich noch einmal ein Herz und setzte langsam einen Fuß auf die erste dieser Platten. Sie hielt. Es war eine noch größere Überwindung, nun auch den zweiten Fuß nachzuziehen, aber Kristina zwang sich mit Erfolg. Sie fiel nicht, die Platten waren echt. Sie setzte ihren Weg so weit fort, wie das Pulver es ihr anzeigte, und musste von da aus die Reste ebenfalls verstreuen. Sie versuchte, nun etwas sparsamer mit dem Pulver umzugehen, aber sie wollte auch kein Risiko dadurch eingehen, dass sie den Weg zu ungenau kennzeichnete. Und so war sie nun gerade einmal auf der Hälfte der Schlucht angekommen, als der Beutel mit dem Juckpulver bereits leer war. Den Beutel selbst hatte sie in der Hoffnung, mit ihm eine weitere der verteilten Bodenplatten zu treffen, nach vorne geschmissen – doch er war auf Luft gefallen und verabschiedete sich in die Tiefe. Kristina ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Für jede Hälfte ein Beutel. Das sollte genau aufgehen.
    Kristina nestelte gerade am zweiten Beutel herum, es war der, der das Schlafpuder enthielt, als sie erneut Wind aufkommen spürte, von rechts, diesmal viel stärker als zuvor. Kristina drehte sich um und sah, was sie befürchtet hatte: Das Juckpulver hinter ihr war von den Böen bereits fortgeweht worden, der Weg war wieder unsichtbar. Als sie an sich herunterschaute, schien auch sie selbst in der bloßen Luft zu stehen. Mulmig war dabei noch die sanfteste Beschreibung, die ihr für dieses Gefühl einfiel. Und wie sie sich wieder nach vorne drehte und sich die ihr noch fehlende Hälfte hin zum anderen Ende der Schlucht besah, kamen ihr doch noch Zweifel, ob sie bei dem Wind mit ihrem einen Beutel Schlafpuder denn hinkommen würde. Der Wind war nicht die ganze Zeit gleich stark, sondern flaute mal ab und nahm dann wieder an Intensität zu, aber ganz versiegen wollte er nicht.
    Kristina seufzte in sich hinein. Alles andere wäre ja auch zu einfach gewesen. Da ihre Gram den Wind jedoch auch nicht abstellen konnte, wollte sie versuchen, das Beste aus der Sache zu machen. Sie griff eine Prise des Schlafpuders aus dem Beutel, wartete auf einen günstigen Moment und verstreute das Mittel vor sich in der Luft. Ein guter Teil wurde von dem natürlich ausgerechnet in diesem Augenblick wieder erstarkenden Wind davongetragen, aber es streifte eine Bodenplatte lange genug, um sie sichtbar zu machen. Sie lag etwas weiter entfernt von Kristinas aktuellem Standort, sodass sie einen recht großen Schritt machen musste, um die Leere – vermeintliche Leere, denn sicher konnte sie da nie sein – dazwischen zu überbrücken, aber es gelang ihr. Vom neuen Standpunkt aus setzte sie gleich die nächste Prise des Pulvers frei, doch diese wurde wirkungslos verweht. Kristina spürte die Nervosität in ihr heranwachsen, wollte sie aber nicht Überhand nehmen lassen. Ihr letzter Schritt war ein großer gewesen, ganz so viel fehlte nicht mehr zum rettenden Ufer. Sie wartete noch ein wenig ab, und streute dann in einem günstigen Moment erneut das Pulver aus, eine größere Hand davon, aber vorsichtig, um nicht selbst davon angeweht und mitten beim Balanceakt über dem Nichts noch schläfrig zu werden. Es gelang – und das nicht nur einmal. Zwischendurch hatte Kristina zwar immer noch Misswürfe, aber alles in allem kam sie gut voran – bis ihr dann kurz vor Schluss schließlich doch noch das Puder ausging und sie selbst nach Gebrauch des Beutels noch nicht alle fehlenden Plattformen zur Überbrückung markiert hatte.
    Die Distanz war zwar nicht mehr allzu groß, aber … Kristina hatte nicht das größte Vertrauen darin, dass ihre kurzen Beine sie wirklich über die klaffende Lücke herübertragen würden. Groß Anlauf für einen Sprung konnte sie ja nicht nehmen. Das war einer dieser Momente, in denen sie sich wünschte, ein wenig größer zu sein, genauer gesagt: länger.
    Da all das Lamentieren jedoch nichts half und der Weg zurück noch unmöglicher als der Weg vorwärts schien, hoffte Kristina entgegen ihrer nagenden Zweifel einfach mal darauf, dass sie es schon irgendwie ganz knapp auf die andere Seite schaffen würde – und sprang. Im kurzen Moment, in dem sie in der Luft war, kam noch einmal kräftiger Wind auf, und Kristina packte die Angst, von der Böe einfach wieder zurückgeworfen zu werden, doch nichts dergleichen war geschehen, als sie im nächsten Augenblick schon wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Im nächsten Augenblick hatte sie auch schon wieder festen Boden unter den Füßen. Sie hatte es geschafft. Ihre Knie zitterten gewaltig, aber sie beruhigte sich recht schnell wieder. Wer schon einmal Bekanntschaft mit zwei rabiaten Skelettkriegern gemacht hatte, der war wohl an das scharfe Wechselspiel von Anspannung und Entspannung gewöhnt.
    Als sie sich umdrehte und zurückblickte, sah die Schlucht für Kristina gar nicht mehr so weit aus, wie noch zuvor. Ihr Eindruck musste sie dabei nicht einmal im eigentlichen Sinne trügen: Was hier Illusion war und was nicht, das vermochte sie nicht auseinanderzuhalten. Es konnte ihr jetzt aber auch egal sein. Kristina richtete sich wieder nach vorne aus und stieg den nächsten Treppengang hinauf.
    Oben angekommen, erwartete Kristina ein wenig sorgenvoll, aber dennoch entschlossen, das Schlimmste. Immerhin: Sie hatte den Raum bei Betreten relativ schnell überschaut und konnte weder Skelette noch Schluchten erkennen. Letzteres fand hier aber durchaus sein Gegenstück, denn der Großteil des Raumes bestand aus einem langen und breiten Steinbecken, in das eine klare Flüssigkeit gefüllt war, von der Kristina vorsichtshalber mal nicht einfach so ausgehen wollte, dass es bloß Wasser war. Vorsichtig näherte Kristina sich dem Bassin und ging auf die Knie. Ein Geruch ging von der Flüssigkeit nicht aus, ebenso wenig wie andere Auffälligkeiten – wenn man nicht die geradezu zur Schau gestellte Harmlosigkeit dieses Wassers selbst für auffällig hielt. Da Kristinas Frisur ohnehin bereits derangiert war, machte sie mit ein, zwei weiteren Haaren von ihrem Kopf kurzen Prozess. Es tat kurz weh, dann hatte sie die Haare zwischen den Fingern. Sie fasste beide Haare am oberen Ende und ließ sie, wie ein behelfsmäßiges Lot, nach unten hängen. Dann führte sie ihre beiden Testobjekte über das Becken und tauchte sie in die Flüssigkeit ein. Kristina hörte und roch nichts, aber als sie die Haare wieder herausziehen wollte, waren sie zur Hälfte verschwunden. Da es nach Kristinas Meinung eher fern lag, dass sie hier nun das geheime Unsichtbarkeitszaubertrankbecken des Hexenzirkels gefunden hatte, musste sie davon ausgehen, dass die Haare weggeätzt worden waren. Lust, ihren Finger einzutauchen, hatte sie nun jedenfalls umso weniger.
    Kristina stand wieder auf und spähte geradeaus durch den Raum, bis zur anderen Wand. Natürlich: Auf den ersten Blick gab es keine Möglichkeit, den Treppenaufgang am anderen Ende zu erreichen, ohne durch das Becken zu waten – und dabei, je nach fortlaufender Tiefe des Bassins, die eigenen Beine oder noch viel mehr zu verlieren.
    Kristina seufzte und tastete mit wenig Eile an und in ihrer Umhängetasche herum. Dabei entdeckte sie zunächst ihre mitgebrachten Haarklammern wieder. Die hätten ihr als Wurfobjekte über die Schlucht vielleicht sogar noch helfen können, nun aber waren sie nutzlos – sofern Kristina nicht doch noch spontan Lust bekommen sollte, zu testen, wie metallene Substanzen das Bad im Becken denn so überstanden.
    Auch abgesehen von den Klammern hatten sich die Inhalte ihrer Tasche bereits spürbar gelichtet. Flammen- oder Explosionstränke würden ihr hier nichts helfen. Und so musste Kristina sich eingestehen, dass ihr hier an dieser Stelle wohl vor allem das Mittel geholfen hätte, das sie in Peraturs Alchemiestube auch unbedingt hatte mischen wollen, für das aber die entscheidende Zutat gefehlt hatte: Der Eisstaub, der, richtig eingesetzt, alle geeigneten Objekte um sich herum, getreu seines Namens, einfrieren ließ. Es war, so fand Kristina, zumindest keine unbegründete Hoffnung, dass sie die tödliche Wirkung dieses Säurewassers damit gebannt bekommen hätte. Aber es war wie es war: Weil Peratur zu blöd gewesen war, sich Gletscherquartz auf Vorrat zu kaufen, stand Kristina nun mächtig auf dem Schlauch. Hätte sie das bereits in der Stube des alten Alchemisten gewusst, sie hätte ihm …
    „Kristina!“
    Die Angesprochene zuckte zusammen, als sie eine Stimme hörte, die ihr zwar vertraut vorkam, aber nicht vertraut genug, um ihr das Gefühl von Sicherheit zu geben. Mit Schwung wandte Kristina sich um, eine Hand in ihrer Umhängetasche, bereit, dem Besitzer der Stimme zu trotzen, wenn es denn sein musste.
    Dann erkannte sie Lars, den Geldboten, dessen Mimik und Pose allenfalls eine Abwehrhaltung vermittelten, nicht jedoch irgendeine Form von Angriff. Sein besorgter Blick sprach Bände. Er war nicht gekommen, um sich an ihr zu rächen oder sonst etwas in der Richtung zu tun. Dafür wirkte er zu hektisch – und erschrocken.
    „Kristina, du musst hier weg!“
    „Was ich muss und was nicht, das entscheide noch immer ich selbst“, übertönte Kristina ihre eigene Überraschung. „Ohne Agneta werde ich diesen Turm nicht verlassen.“
    „Das fürchte ich auch“, befand Lars und ging ein paar Schritte auf Kristina zu. Sie ließ ihn gewähren.
    „Wie meinst du das?“, fragte sie.
    „Wie ich das meine? Verdammt, ich meine, dass du diesen Turm wahrscheinlich gar nicht mehr verlassen wirst, wenn du es nicht sofort tust! Du wirst Lu … Agneta nicht mit dir mitnehmen können!“
    „Du kennst mich nicht. Ich habe hier schon ganz anderes erlebt. Wenn du dich in den Räumen unten mal gut umgeschaut hast, dann …“
    „Ach, die Räume! Mit den richtigen Zauberformeln ist das doch alles kein Problem, wir Bediensteten bekommen … egal, darum geht es mir jetzt gar nicht! Du … verstehst das alles falsch! Ich …“
    Kristina verengte die Augen zu Schlitzen. So langsam glaubte sie, Lars’ Spiel zu durchschauen. „Wenn das dein letzter Versuch sein sollte, mich von der Rettung Agnetas abzuhalten, dann ist er ziemlich jämmerlich“, befand sie. „Du solltest froh sein, dass ich dich verschone. Zumindest vorerst. Immerhin steckst du wahrscheinlich mit in ihrer Entführung drin.“
    „Gar nichts tue ich!“, rief Lars atemlos, die Worte von den Steinwänden widerhallend. „Verdammt, es gibt keine Entführung! Jedenfalls noch nicht!“
    „Aber du hast doch gesagt -“
    „Vergiss, was ich gesagt habe, verdammt!“, fuhr Lars dazwischen. Er kam noch einen Schritt näher, wollte Kristina anscheinend hektisch am Arm packen, überlegte es sich dann aber doch noch anders. Er war unruhig, schien wie auf heißen Kohlen oder einem Nagelbrett zu stehen.
    „Agneta wurde nicht entführt!“, sprach Lars weiter. „Und Sagitta wirst du hier wahrscheinlich auch nicht finden! Du hast die ganze Sache nicht verstanden, es ist anders, als du denkst! Und du musst hier weg! Die Hexen werden längst bemerkt haben -“
    „Was soll das heißen, Agneta wurde nicht entführt?“, fragte Kristina streng. Sie wollte Lars’ Worte am liebsten weiterhin als verzweifelte Lüge abtun, aber so, wie Lars nun ihr gegenüber auftrat, konnte sie das einfach nicht. Es war, als hätte der Geldbote plötzlich eine Maske fallen gelassen. Sein Gesicht war zwar immer noch das selbe, aber es war trotzdem … anders. Etwas lag in seinem Blick, das Kristina den Umstand geradezu aufdrängte, dass er nun endlich die Wahrheit sprach.
    „Die Sache ist zu kompliziert, um sie jetzt zu erklären!“, rief Lars weiterhin hektisch. „Komm mit, wir müssen runter zum Pentagramm, ich habe einen Rückholstein dabei, damit können wir -“
    „Moment“, sagte Kristina. Vielleicht war Lars ein guter Schauspieler – oder wenigstens ein mittelmäßiger Schauspieler. So demonstrativ, wie er sich bemühte, Hektik zu verbreiten, obwohl aktuell keine Gefahr zu sehen war, konnte das genau so gut ein plumpes Mittel sein, um auf Kristina einzuwirken. „Warum solltest du erst behaupten, Agneta sei vom Zirkel entführt worden, um mir jetzt auf einmal das Gegenteil zu verklickern? Das überzeugt mich alles nicht, Lars. Wenn du denn mal so heißt.“
    „Ich heiße in Wahrheit Ridas, aber das spielt jetzt keine Rolle“, ächzte der junge Mann. „Vergiss einfach, was ich vorher gesagt habe. Ich weiß nicht, warum ich es so gesagt habe. Ich hielt es wohl für eine gute Idee, warum auch immer. Ich wollte nicht … ich kann mich dem Zirkel doch auch nicht widersetzen! Ich habe Verträge unterschrieben, und abgesehen davon … aber jetzt ist alles egal! Verdammt noch mal, vielleicht hatte meine Reaktion auch damit zu tun, dass ich Angst um meine Kronjuwelen hatte, raffst du das nicht? Mensch! Was hätte ich denn anderes tun sollen, als schnell das zu behaupten, was du eh schon vermutest? Das war für mich der schnellste Weg raus aus der Sache, ohne zu verraten, was wirklich los ist! Du hättest das an meiner Stelle nicht anders gemacht! Steh’ du mal zwischen allen Stühlen!“
    „Aber warum hast du mich dann hierhin geschickt? Das kann die Sache aus deiner Sicht doch auch nicht besser gemacht haben!“ Kristina sprach erneut einfach über ihr verworrenes Innenleben hinweg. Das, was Lars – oder wie er nun auch immer hieß – dort sagte, klang nicht nach einer Lüge. Im Endeffekt hatte das zur Folge, dass Kristina gar nicht mehr wusste, was sie hier überhaupt machte. Bevor sich das in Kristina jedoch so richtig festsetzte, wandte sie sich lieber weiter nach außen und attackierte den Mann vor ihr.
    „Keine Ahnung“, sagte dieser hilflos. „Ich hielt es eben für eine gute Idee! Zumindest einen Moment lang! Und dann, als ich vor dir … also, als ich dann draußen war, fiel mir ein, dass das alles ziemlich schlimm enden könnte. Aber du warst schon weg, und ich hatte so ohne Weiteres keine Möglichkeit mehr, das alles zu stoppen. Den Moment, das alles frühzeitig wieder aufzulösen, habe ich einfach verpasst.“
    „Du hättest mir doch direkt hinterher reisen können!“
    „Wie denn? Der Fokusstein musste sich doch erst wieder aufladen!“, jammerte der Geldbote. „Ich habe die Zeit dann genutzt, um zu dir nach Hause zu eilen. Ich wollte Hilfe holen. Aber dein Mann war nicht da! Aber was weiß ich, was er hätte tun können. Ich wollte nur jemandem Bescheid sagen. Aber da war eben keiner! Was meinst du, wie ich jetzt die ganze Zeit zu Hause herumgehockt bin, in der Hoffnung, dass der Fokus endlich wieder bereit ist?“
    Kristinas Kopf begann zu schmerzen, und nur deshalb hielt sie sich davon ab, kräftig mit ihm zu schütteln. Das, was der Mann vor ihr da präsentierte, waren keine wirklichen Erklärungen. Ganz im Gegenteil: Mit jedem seiner Sätze verstand sie nur noch weniger. Bis jetzt hatte sie nur kapiert, dass sie sich irgendwie in einem Irrtum befand.
    „Aber was ist denn jetzt wirklich los hier?“, fragte Kristina dann. „Wenn das alles nicht stimmt, mit Agneta und so weiter. Ich meine, Nawal hat doch gesehen, wie Agneta mit dir in dein Haus gegangen ist. Sie muss doch etwas mit der ganzen Sache hier zu tun haben. Und du auch!“
    „Nochmal: Wenn ich dir das sage, dann gibt es nur noch viel größeren Ärger! Es ist gerade auch vollkommen egal! Du musst jetzt hier weg, bevor … zu spät. Da kommen sie auch schon.“
    Direkt vor dem Säurebecken erschien, etwa zwei Meter über dem Boden, ein weißer, leicht lila getönter Lichtpunkt in der Luft. Er war zunächst etwa faustgroß, aber in seinem magischen Sirren und Pulsieren wurde er sekündlich größer. Dann weitete er sich aus, und aus seiner Mitte schlugen zwei Lichtstrahlen einen Bogen, links und rechts, in Richtung Boden, sodass ein Oval aus Licht entstand, aus dessen freigelassener Mitte sozusagen aus dem Nichts eine schattenhafte Gestalt trat. Wenige Augenblicke später verpuffte das Lichtoval geräuschlos, und auch die Schatten über der Person verschwanden. Es war eine Frau, eine große Frau, die nicht mehr jung, aber auch nicht besonders alt war. Sie trug ein blaues Gewand, das am besten als Magierrobe modischer Art zu beschreiben war, mit zahlreichen symbolhaften Stickereien und einer angenähten, gülden anmutenden Kordel um die Hüfte. Um den Hals trug sie gleich mehrere Ketten, die wild zusammengewürfelt daherkamen, Gold, Silber, aber auch spitze Tierzähne bildeten den chaotischen Halsschmuck. Ihre dunkelbraunen Haare trug sie in einem ebenso wilden Dutt, aus dem sich einige dünne Strähnen gelöst hatten. An ihren Ohren hingen zwei übergroße Creolen-Ohrringe aus Gold, ihre langen Fingernägel trugen ein tiefes Lila. Für Kristina war dieser Aufzug jedenfalls Erklärung genug: Diese Frau musste überall, wo sie hinging, sofort als Hexe erkannt werden.
    „Gleich zwei Eindringlinge, hm?“ Ihre Stimme schnitt durch die Luft wie ein Messer aus Eis. „Ihr habt euch nicht schlecht geschlagen. Aber jetzt ist Schluss.“
    „He, Moment!“, mischte sich Lars sofort ein. „Ich bin kein Eindringling! Ich arbeite hier, quasi! Ridas, mein Name! Wir haben uns noch nicht gesehen, aber wenn du Luna fragst, dann wird sie dir sagen, dass ich schon länger im Zirkel -“
    „Das ist mir egal“, schnitt die Hexe ihm das Wort ab. „Ich kenne dich nicht. Für mich bist du ein Eindringling, genau wie sie. Damit hast du dich für den Keller qualifiziert.“
    „Was soll das heißen, was geht hier vor?“, fragte Kristina laut, die die Einschüchterung zwar in sich hochkriechen spürte, ihr aber keinerlei Raum geben wollte. „Wo ist Agneta, wo ist Sagitta?“
    „Schluss mit diesem Geplapper.“ Die Hexe hob ihre Hand und setzte einen stechenden Blick auf. Einen Augenblick später fühlte Kristina sich wie eingefroren. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass es Lars nicht anders erging. Sie hörte ein Sirren. Wenig später war sie von einem Lichtoval umschlossen, ebenso wie Lars neben ihr. Sie ahnte, was nun kommen würde, und hielt instinktiv den Atem an.

    Dieser Teleport war anders gewesen, das spürte Kristina sofort. Es musste einiges an Zeit vergangen sein, in der sie nicht ganz bei Bewusstsein gewesen war. Nun, wo sie selbiges langsam wiedererlangte, kam ihr auch erstmals ganz bewusst der Gedanke, dass sie mit ihrer ganzen Schnüffelei einen Riesenfehler gemacht und sich in wirklich ernste Schwierigkeit gebracht hatte. Dieser Gedanke bekam auch flugs neue Nahrung, als Kristina erkannte, dass sie auf dem Metallboden eines baumelnden Käfigs lag, der von der Decke hing – ein bisschen wie ein überdimensionaler Vogelkäfig. Als sie aufstand, kam die ganze Konstruktion ins Wanken, und sie musste ihre Finger in den kalten Metallstäben verkeilen, um nicht direkt wieder hinzufallen.
    „Vorsicht, mich hat es auch schon hingepfeffert“, kam eine Stimme von links. „Gut, dass du wach bist. Ich hatte mir fast schon Sorgen gemacht. Also, die mach ich mir immer noch, aber naja. Weißt ja vielleicht, was ich meine. Wir waren wohl beide eine ganze Zeit lang weg.“
    In ihrer noch andauernden Verwirrung schaute Kristina zuerst nach rechts, und sah durch die Gitterstäbe nur zwei weitere Käfige wie ihren, die allerdings leer waren. Links von ihr erspähte sie dann Lars, der seinen Käfig schon halberlei im Gleichgewicht halten konnte. Wie er sich dabei links und rechts an den Gittern festhielt, sah er allerdings ziemlich elendig aus. Das gab Kristina einen guten Anhalt, wie sie selbst gerade wirken musste. Ihr tat es nun auch fast ein bisschen leid, wie sie vorher – es wirkte bereits wie mehr als einen Tag her – mit Lars umgegangen war. Nun saßen sie hier im selben Boot. Auch wenn Kristina nicht so weit gehen wollte, sich selbst mitursächlich für Lars’ Gefangennahme zu sehen – denn daran war er im Grunde ja ganz allein selbst schuld.
    „Was passiert jetzt mit uns?“
    „Keine Ahnung“, sagte Lars mit einem verzweifelten Kopfschütteln. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt wissen will. Als ich mich mit den Hexen eingelassen habe, hatte ich mir ja ganz andere Dinge von ihnen erhofft, um ehrlich zu sein …“
    „Vielleicht wäre es jetzt mal an der Zeit, mit der Sprache herauszurücken. Was weißt du über diese ganze Sache? Und über den Zirkel?“
    „So viel mehr als du wahrscheinlich auch nicht“, gab Lars zu Protokoll. „Dass sie Eindringlinge in ihren Turm sofort in eine Art Folterkeller verfrachten, wusste ich bis gerade eben zum Beispiel nicht. Dass sie eine sehr durchsetzungsstarke Vereinigung sind, dagegen schon. Ich dachte, du hättest unter einer von ihnen gearbeitet. Dann müsstest du doch mehr wissen.“
    „Sagitta hat nie was … erzählt“, erwiderte Kristina etwas abgehackt, weil sie noch immer damit beschäftigt war, ihr Gewicht im Käfig so zu verlagern, dass er nicht die ganze Zeit in der Luft hin und her wackelte und dabei drohte, sie umzuwerfen. „Wenn sie mal was über den Zirkel angedeutet hat, dann klang das zwar auch nie besonders liebevoll, aber sowas hier … nein. Was passiert jetzt wohl mit uns?“
    „Tja, keine Ahnung, aber die Hexen sind für ihre Experimentierfreudigkeit bekannt. Wir können also nur hoffen, dass wir nicht die neuen Versuchskaninchen sind. Ich hätte dir wahrscheinlich einfach nicht nachkommen sollen, dann wäre ich jetzt einfach schön in meinem Haus vor dem Ofen …“
    „Du hättest vielleicht auch einfach von Anfang an die Wahrheit sagen können, dann wären wir jetzt wohl auch nicht hier“, zischte Kristina zurück. „Was immer die Wahrheit auch ist. Die hast du mir nämlich noch immer nicht gesagt. Du verheimlichst mir noch immer was.“
    „Es ist eben nicht so schnell erklärt“, versuchte Lars, sich zu rechtfertigen. Seinem Gesicht war abzulesen, dass er auch ein bisschen beleidigt war. Er wollte gerade zu weiteren Worten ansetzen, als ihm eine gedämpfte Frauenstimme von unten zuvorkam.
    „Alle Vögel sind schon da … und sie zwitschern so schön!“
    Kristina erschrak, und die daraus folgende subtile Gewichtsverlagerung brachte ihren Käfig wieder ganz schön zum Schaukeln. Als sie sich notgedrungen an die Gitterstäbe presste, um sich festzuhalten, hatte sie einen guten Blick nach unten – und damit auf die Urheberin der Worte.
    Es war nicht die Hexe, der sie ihren Aufenthalt hier in diesem Verlies zu verdanken hatten – zumindest schien es nicht so. Es war auch eine Frau, schlank, von Figur und Pose nicht allzu alt wirkend. Aber das war im Grunde auch schon alles, was Kristina erkennen konnte, denn neben der schlichten Kleidung trug die Frau vor allem eine maskenhafte Haube, die ihr Gesicht und ihre Haare fast vollständig verdeckte. In den Bewegungen der maskierten Dame glaubte Kristina zwar kurz, etwas flüchtig Bekanntes zu erkennen, aber sie hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, denn die Frau sprach weiter, während sie durch das Steingemäuer auf die hängenden Käfige zuschritt. Erst dadurch konnte Kristina sehen, wie hoch sie eigentlich an der Decke hingen – für die Frau unten gab es so ohne Weiteres keine Möglichkeit, den Boden der Käfige überhaupt nur zu berühren.
    „Das habt ihr davon, dass ihr hier eingedrungen seid. Und das habe ich davon, weil ich euch nun zu bewachen habe, bis Xynthia entschieden hat, was sie mit euch macht.“
    Kristina wollte gerade zu einer fauchenden Erwiderung ansetzen, einfach nur ,um zu zeigen, dass sie sich von nichts und niemandem einschüchtern lassen wollte – da kam Lars ihr auch schon zuvor.
    „Also, erstens bin ich hier nicht eingedrungen, sondern arbeite hier, und das weißt du ganz genau. Und zweitens kannst du deine Maske auch direkt wieder abnehmen, Luna. Kristina hier ist im Grunde eh schon im Bilde.“
    „Na gut“, murmelte es unter der schwarzen Haube hervor, die einen Augenblick später von zwei zarten Händen abgestreift wurde. Zum Vorschein kam ein blonder Haarschopf.
    „Agneta!“, rief Kristina aus. Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun. Sie hätte es auch nicht gekonnt, wäre sie nicht in diesem Käfig gefangen gewesen. Sie war schlicht von dem, was gerade passierte, wie paralysiert.
    „So sieht’s aus“, kommentierte Lars etwas bitter. Sein Tonfall war eher genervt denn verängstigt. Mit dem Mann, der vor ein paar Stunden noch vor ihr weggelaufen war, weil er Angst um sein bestes Stück gehabt hatte, hatte das so viel nicht mehr zu tun. Wahrscheinlich fühlte er sich im Käfig einfach sicher.
    „Darf ich vorstellen?“, fuhr er fort. „Das ist Luna! Dir wahrscheinlich eher bekannt als deine ehemalige vermeintliche Arbeitskollegin Agneta, die sich auf Geheiß des Zirkels und unter Verantwortung von Xynthia bei euch in Sagittas Labor eingeschleust hat, um herauszufinden, was ihr dort wirklich treibt. Habe ich das richtig erklärt, Luna? Weiß ich ja schließlich auch alles erst seit ein paar Tagen.“
    „So ähnlich, ja“, sagte die Frau unten zerknirscht. Jetzt, wo Agneta ihre Haube abgenommen hatte, hatte sie alles an Bedrohlichkeit verloren, was sie bei ihrem Eintritt in diese dunkle Steinkammer noch ausgestrahlt hatte. Sie trat ein paar Schritte näher unter Kristinas Käfig und war sich dabei offenbar nicht bewusst, dass Kristina sie so eher schlechter denn besser sehen konnte.
    „Kristina, es tut mir leid!“, rief sie dann hoch, die Hände gefaltet wie zum Gebet. „Ich hatte einfach keine andere Wahl.“
    „Das sagen sie alle“, schnaubte Kristina zurück, etwas zu leise, sodass Agneta – oder welcher Name nun ihr richtiger war – sie vermutlich nicht einmal verstand. Aber das war Kristina auch ganz egal. Sie wusste sowieso nicht, wie sie reagieren sollte. Sie fühlte viel, aber sie verstand noch immer kaum etwas. Leute hatten auf einmal andere Namen und spielten auf einmal andere Rollen. Es war, als wurde nun auf einmal alles auf den Kopf gestellt – während sie selbst hoch oben in einem Käfig an der Decke hing. Das alles waren nicht gerade die besten Voraussetzungen, um auch nur unter irgendeinem Aspekt Klarheit zu schaffen.
    „Ich werde schon dafür sorgen, dass euch nichts passiert!“ Agneta kam den Käfigen nun noch einen Schritt näher. Aus Kristinas Sicht war sie nun unter ihnen verschwunden.
    „Dafür ist es im Grunde ja schon zu spät“, kommentierte Lars mürrisch. „Wir sitzen hier in Käfigen fest. So behandelt der Zirkel also seine Angestellten, was?“
    „Es wird sich sicher alles aufklären!“, gab Agneta zur Antwort. Sie klang etwas weinerlich. Das ärgerte Kristina umso mehr. Denn entweder, Agneta schauspielerte immer noch das arme, kleine und unschuldige Mädchen – oder aber sie sah sich sogar tatsächlich in dieser Rolle.
    „Dann fang doch schonmal damit an, mit dem Aufklären“, rief Kristina hinunter, dem Metallboden ihres Käfigs zugewandt. „Und zwar vielleicht mal von Anfang an und die Wahrheit. Bevor das hier noch die letzte Gelegenheit ist, dass du mir die Wahrheit sagen kannst, meine ich.“
    „Kristina, ich …“ Agneta seufzte einmal auf. Es schien ihr wirklich nicht gut zu gehen. Aber das ging es Kristina gerade ja auch nicht, von daher war das nur gerecht.
    „Also gut, ich erzähle dir alles. Das bin ich dir wohl schuldig.“
    Kristina sagte nichts.
    „Was Ridas sagt, ist wahr: Der Zirkel hat mich geschickt, damit ich in Erfahrung bringe, was Sagitta in ihrem Labor vorhat. Ich habe mich als Mitarbeiterin eingeschleust und die Infos über die Entwicklung eines Heilmittels gegen die Schneepest an den Zirkel weitergeleitet. Ich war es auch, die die Info gegeben hat, dass die Antipest kurz vor ihrer Fertigstellung steht. Daraufhin musste Sagitta das Labor dicht machen. Auf Druck der anderen Mitglieder des Zirkels.“
    „Also bist du dafür verantwortlich, dass ich keine Arbeit mehr habe und die Antipest wahrscheinlich nie fertig wird?“ Kristina spürte es in sich brodeln. Der Zorn, der in ihr hochkochte, verlieh ihr die Illusion, Kraft genug zu haben, um die Gitterstäbe des Käfigs mit einem Ruck auseinanderzubiegen. Aber sie wollte weder dieser Illusion, noch ihrem Zorn selbst nachgeben. In ähnlichen Situationen – bisher natürlich alle deutlich weniger brenzlig – hatte es sich bewährt, Haltung zu wahren und nach außen hin ganz ruhig und kühl zu wirken.
    „Es ist noch etwas komplizierter“, erschallte es von unten. Das hatte sich Kristina schon in etwa so gedacht. Agneta war nun wieder in ihr Blickfeld getreten.
    „Ich habe das nur wegen meinem Bruder gemacht“, fuhr sie fort. „Du weißt vielleicht noch, wie ich erzählt habe, dass er an der Schneepest erkrankt ist. Und das stimmt auch, das war nicht gelogen.“
    „Und kurz bevor wir ein Heilmittel haben, lässt du alles platzen?“, stieß Kristina aus. „Wie dumm bist du, Mädchen?“
    „Es hätte sowieso alles nichts genutzt, die Schneepest ist nicht auf herkömmlichem Wege heilbar“, meinte Agneta traurig. „Das hat Xynthia mir erzählt.“
    „Wir haben ja auch nicht den herkömmlichen Weg beschritten“, meinte Kristina nur knapp. Sie konnte es kaum fassen, wie unglaublich dämlich Agneta sich verhalten hatte. Am liebsten hätte sie ihr nun direkt ein ätzendes Pulver oder gleich einen ganzen Brandsatz ins Gesicht geworfen – doch ihre Umhängetasche war nicht mehr bei ihr. Glück für Agneta.
    „Sagitta hatte mit den restlichen Hexen im Zirkel eine Abmachung“, erklärte Agneta weiter, ohne auf Kristinas Einwurf einzugehen. „Sie durfte ihr Labor in Geldern aufbauen und hat dafür auch die notwendige Finanzierung bekommen. Der Zirkel funktioniert wohl immer so, jede Hexe kann ihre Vorhaben durchbringen, damit die Hexen insgesamt an Einfluss gewinnen – oder irgendwie so. Xynthia hat mir nicht alles erklärt. Jedenfalls hat grundsätzlich jede Hexe volle Autonomie über ihren Kram. Es sei denn …“
    „Es sei denn was?“
    „Es sei denn, es kommt dem Geschäft einer anderen Hexe in die Quere. Oder dem gesamten Zirkel.“
    „Und bei dieser Xynthia war das so?“ Kristina schaute kurz nach links. Lars hatte seit einiger Zeit nichts mehr gesagt, nahm aber augenscheinlich nicht minder gespannt Anteil an diesem Gespräch.
    „Das weiß ich nicht“, gab Agneta zu. „Aber es schien mir eher etwas zu sein, was dem Zirkel insgesamt nicht passte. Man hatte den Verdacht, dass Sagitta mit den ihr zur Verfügung gestellten Mitteln etwas anstellte, was so gar nicht im Sinne des Zirkels war. Aber man wusste nichts Genaues.“
    „Und dann dachtest du, weil du ja schon immer Spionin sein wolltest …“
    „Nein, weil ich einen kranken Bruder habe!“, rief Agneta. Ihre schrillen Worte hallten lange in der Kammer wieder. Beim nächsten Satz hatte sie sich wieder etwas gefangen, war aber immer noch hörbar erschüttert. „Die vom Zirkel haben mir versprochen, dass sie meinen Bruder wieder gesund machen, wenn ich meine Arbeit gut mache. Meinst du denn, für mich war das einfach? Gerade, als ich dann gesehen habe, dass Sagitta tatsächlich selbst ein Heilmittel für die Schneepest entwickeln will. Ich habe mit Xynthia immer wieder darüber gesprochen. Sie war meine direkte Vorgesetzte, sozusagen. Aber sie meinte, der Zirkel ist übereingekommen, dass es kein endgültiges Heilmittel für die Schneepest gibt. Zumindest nicht auf dem Wege, wie Sagitta es versucht. Sie wollten es auf rein magischem Wege probieren, haben sie versprochen. Aber Sagittas Bemühungen, sagten sie, sind aussichtslos. Deshalb habe ich weiter Informationen geliefert. Bis dann entschieden wurde, Sagittas Labor stillzulegen. Aber im Detail weiß ich darüber nichts. Es ist mir auch … nein, es ist mir nicht egal. Aber wichtig war mir von Anfang an mein Bruder. Er leidet schon lange an der Schneepest und stirbt einen schleichenden Tod. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war seine Haut fast überall schwarz von den ganzen Beulen. Ich würde alles tun, um ihn zu retten. Es tut mir leid, dass ihr jetzt darunter leiden musstet. Aber … ich würde es wieder tun. Für meinen Bruder.“
    „Nicht schlecht erklärt, Fräulein, aber trotzdem nur die halbe Wahrheit“. Die Stimme schnitt nicht nur durch die Luft, sie schnitt geradezu durch Kristinas Kopf. Die Temperatur in diesem ohnehin schon kalten Verlies – den großen Fackeln an den Wänden zum Trotz – schien direkt um noch ein paar weitere Grad zu sinken.
    Agneta zuckte zusammen und wandte sich um. Sie starrte in den dunklen Gang, aus dem sie vor einigen Minuten selbst gekommen war, der für Kristina aber nicht einsehbar war.
    Einen Augenblick später stand die Hexe mit dem exquisiten Modegeschmack im Kerker.
    „Wie schön, jetzt sind ja alle versammelt“, ächzte Lars im Nebenkäfig. Seine locker gewählten Worte konnten gegenüber Kristina nicht verhehlen, dass er schlichtweg Angst vor dieser Frau hatte.
    „Xynthia, ich …“, stammelte Agneta nervös, wurde aber sogleich wieder unterbrochen.
    „Was ist los, Luna? Schlechtes Gewissen?“, fragt die Hexe kalt. „Solltest du auch haben.“
    „Ich dachte … also ich dachte, ich kann ihnen das ruhig erklären, immerhin ist das ja offizielle Politik des Zirkels, und Ridas ist ja auch hier angestellt und …“
    „Also doch ein schlechtes Gewissen“, schloss Xynthia. Ihr stechender Blick pendelte zwischen der jungen Frau vor ihr und den beiden Eingesperrten über ihr hin und her. „Dabei sollte ich es nach Maßstäben der Gewöhnlichen wahrscheinlich sogar selbst sein, die ein schlechtes Gewissen hat. Aber so ist das eben, Luna: Wer glaubt, andere zu betrügen, der wird dabei vielleicht auch selbst betrogen. Manche mögen das als gerechte Strafe sehen.“
    „Was soll das heißen?“, fragte Agneta. Kristina konnte es von oben nicht sehen, dass die junge Frau zitterte, aber sie konnte es an ihrer Stimme hören.
    „Das soll heißen, dass du lange nicht so viel weißt, wie du glaubst.“
    Xynthia machte ein paar Schritte an ihr vorbei, um einen besseren Blick auf die Käfige zu haben. Als ihr Blick den Kristinas traf, musste sie schmunzeln. Das hielt Kristina für kein gutes Zeichen.
    „Es schadet nicht, wenn ihr mithört“, sagte die Hexe dann nach einer Weile. „Die Sache ist ja nun im Prinzip sowieso gelaufen. Sagitta ist fertig, und ihr seid es auch. Im Grunde hätte ich euch auch direkt gehen lassen können. Aber ein bisschen Respekt wollte ich euch schon noch einflößen, wenn ihr einfach in meinen Turm eindringt. In einen Turm des Zirkels, wohlgemerkt.“
    „Zum letzten Mal: Ich bin nicht eingedrungen, verdammt!“, rief Lars. „Ich arbeite hier! Frag doch mal oben im siebten Stock nach! Die Frau Ubis von der Verwaltung! Da habe ich doch immer das Geld abgeholt!“
    „Ach jaja, das Geld“, schnappte Xynthia den unwichtigsten Teil von Lars’ Worten auf. „Man hätte meinen sollen, das stellt Sagittas Damen ruhig. Aber anscheinend hat es mindestens bei einer von ihnen nicht geklappt, was?“
    Kristina ignorierte die Andeutung. Sie hatte bereits jetzt die Schnauze voll von Xynthias selbstgefälligem Gehabe. Es war wirklich ungünstig, gerade dann wie ein Wellensittich in einem Käfig eingesperrt zu sein, wenn unten drunter gerade jemand stand und schwadronierte wie ein Herold kurz nach der Belobigung.
    „Was Luna hier nicht weiß: Sagittas Mittel gegen die Schneepest war sehr wohl erfolgversprechend. Äußerst erfolgversprechend sogar. Und damit einen Tick zu erfolgversprechend.“
    „Was?“, entfuhr es Agneta in sehr vorhersehbarer Weise. „Dann gibt es also doch noch Hoffnung?“
    „Gibt es nicht“, beschied Xynthia. „Wir haben die entsprechenden Aufzeichnungen und Substanzen aus dem Labor nämlich längst vernichtet.“
    „Ihr habt was getan?“, rief Agneta erneut. Nun war es auch von Kristinas Position aus deutlich sichtbar, wie der Körper der jungen Frau bebte.
    „Hörst du schlecht, Fräulein?“, biss Xynthia zurück. „Ja, wir haben die Aufzeichnungen vernichtet. Und mit ihnen sämtliche Zwischenprodukte auf dem Weg zu eurer sogenannten Antipest. Das war doch gerade Sinn der ganzen Sache.“
    Mit einem Mal begann Lars in seinem Käfig zu lachen. Es war ein unterdrücktes Lachen, kein herzhaftes. Es klang ein wenig verrückt, durchgedreht. Aber wie Kristina sich zu ihm umsah, konnte sie kein Anzeichen von Verrücktheit im Gesicht des Geldboten erkennen. Ganz im Gegenteil, sein Blick strahlte vielmehr so etwas wie Klarheit aus.
    „Ich glaube, jetzt beginne ich, zu verstehen“, sagte er dann, nachdem er sich sicher sein konnte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. „Ihr wolltet nicht, dass Sagitta ein Heilmittel für die Schneepest entwickelt. Denn ihr wolltet es selber entwickeln. Damit ihr, ihr anderen Hexen, es verkaufen könnt. Zu brutalen Preisen, nehme ich an!“
    Jetzt war es Xynthia, die kurz auflachte. „Du Trottel bist doch noch ahnungsloser als sie.“
    Lars’ Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Er tat Kristina beinahe leid. Er musste sich ziemlich gut dabei gefühlt haben, den geheimen Plan des Zirkels vermeintlich gelüftet zu haben. Und nun hatte auch er daneben gelegen. Kristina wusste schon, warum sie sich an diesen Spekulationen gerade nicht beteiligte. Wenn sie schon von einer fiesen Hexe in einen Käfig eingesperrt worden war, dann wollte sie dabei wenigstens nicht allzu blöd wirken.
    „Natürlich wollten wir nicht, dass Sagitta ein Heilmittel für die Schneepest entwickelt“, fuhr sie fort, und ihre Stimme schnitt schärfer denn je. „Wir wollten, dass überhaupt niemand ein Heilmittel dafür entwickelt. Kleine Mittelchen zur Linderung, ja, natürlich, gerne noch und nöcher. Hier eine nutzlose Salbe, dort ein wirkungsloses Pulver, kalte und heiße Umschläge ohne Sinn, Pillchen, Kräutermischungen. Manche mit mehr, manche mit weniger Wirkstoff. Immer gerade so viel, dass es den Patienten am Leben erhält. Das ist doch gerade das Geschäftsmodell von gut zwei Dritteln der Mitglieder im Zirkel. Es wäre ein finanzieller Schaden ungeahnten Ausmaßes gewesen, hätte Sagitta es tatsächlich geschafft, ein solches Heilmittel zu entwickeln. Erst wäre es nur Geldern gewesen, aber dann rasch ganz Myrtana. Und wir hätten mit unseren Sälbchen und Pillchen da gestanden. Da hätten wir doch alle dicht machen können! Nur von zerstampften Stierhoden für verschrumpelte Männer kann man doch kein Labor unterhalten! Ohne die Schneepest wären wir doch gar nicht da, wo wir heute sind!“
    „Das … das ist doch … aber ich war immerhin ganz nah dran mit meiner Lösung!“, warf Lars empört ein. Kristina vermisste bei ihm die nötige Ernsthaftigkeit, aber vermutlich war das nur seine ganz eigene Art, mit diesen Enthüllungen umzugehen. Kristina selbst jedenfalls war davon mehr als nur hart getroffen. Die Zahnräder in ihrem Kopf begannen zu rattern. Alles, was sie bisher über die Schneepest gelernt und was sie nun erfahren hatte, schmiss sie jetzt in einen großen Gedankentopf. Im Grunde überlegte sie nur noch zur Sicherheit, gefühlsmäßig hatte sie ihre Antwort auf das Ganze längst gefunden. Es hatte auch kaum noch etwas mit Spekulation zu tun. Es konnte nur so sein.
    „Und ich nehme an“, sagte Kristina, und alle Blicke richteten sich nun auf sie. „Ich nehme an, dass es der Zirkel selbst war, der die Schneepest überhaupt erst über Myrtana gebracht hat. Aus den genannten Gründen.“
    Xynthias Augen funkelten sichtbar. Ihre Miene hatte sich zu einem kaum deutbaren Grinsen verzogen. „Muss ich darauf antworten?“, fragte sie dann.
    Kristina sog scharf Luft ein, aber im gleichen Moment durchschnitt unerwartet ein Schrei die Stille, sodass Kristina sich beinahe an sich selbst verschluckte. In dem Schrei hatten ein paar wenige Worte gelegen, aber die hatte Kristina nicht verstanden. Verstanden hatte sie nur, wer geschrien hatte.
    „Soll das etwa heißen, ihr habt mich nur benutzt?“, setzte Agneta nach. Sie hatte sich direkt gegenüber von Xynthia aufgestellt, die Hände gehoben und zu Fäusten geballt. Ihre Körperhaltung war dabei weniger anklagend als vielmehr kampfbereit.
    „Was soll die naive Frage?“, erwiderte Xynthia im Tonfall ernsthafter Verwunderung. „Sicher haben wir dich nur benutzt. Genau so, wie du eben Sagitta und deine Kolleginnen nur für deine Aufgabe benutzt hast. So ist das halt im Leben. Der eine benutzt den anderen, und dann immer so weiter. Du wirst schon drüber wegkommen.“
    „Du bist schuld, wenn mein Bruder stirbt!“
    Agneta hatte ein kleines Fläschchen aus ihrem Gewand gezogen. Die markante Form stach Kristina selbst aus der Entfernung ins Auge, sodass sie nicht anders konnte, als anzunehmen, dass dies eines ihrer mitgebrachten Fläschchen war. Offenbar hatte sich Agneta in der Zeit, in der Kristina bewusstlos in den Käfig verfrachtet worden war, an ihrer Umhängetasche bedient. Wenn sie es richtig überschlug, dann konnte der Trank, den Agneta jetzt noch in den Händen hielt, nur ein Explosionstrank sein. Mit einem Mal war Kristina sehr froh, sich außer Reichweite der beiden Kontrahentinnen zu befinden – denn nun schleuderte Agneta den Trank ohne weiteres Zögern Xynthia entgegen.
    Was dann geschah, war für Kristina nicht mehr in aller Klarheit wahrnehmbar. Es gab einen Knall und die Flasche explodierte klirrend, es wurde hell, aber gleichzeitig dröhnte ein magischer Puls durch die Kammer, der sowohl hörbar als auch fühlbar war und die Käfige an der Decke so sehr durchrüttelte, dass Kristina hilflos auf die Knie fiel. Violettes Licht leuchtete auf und es wurde kurzzeitig sehr heiß, es gab einen Schrei – und dann war der ganze Spuk auch schon wieder vorbei.
    Kristinas Käfig schaukelte sich gerade noch ein wenig aus, da konnte sie bereits wieder einen Blick nach unten wagen. Xynthias Haare hatten sich fast vollkommen aus ihrem Dutt gelöst und lagen wild und strähnig auf ihren Schultern. Man konnte sie schwer atmen hören. Sie wirkte selber überrascht von dem Verlauf, den das Geschehen genommen hatte. Von Agneta war zunächst nichts mehr zu sehen, bis Kristina sie halb aufgerichtet an der rechten Wand der Kammer liegen sah. Ein Teil ihres Gewandes war zerfetzt, ihre blonden Haare waren aber noch unversehrt. Das beruhigte Kristina zumindest etwas, denn das hieß, dass sie nicht einmal kurzzeitig in Flammen gestanden haben konnte. Beunruhigend dagegen war, dass sie sich nicht rührte. Sie lag zu weit weg für Kristina, als dass sie sicher sehen konnte, ob sie noch atmete. Was immer Xynthia auch für einen Zauber gewirkt haben musste, um den Feuertrank abzuwehren, sie musste dabei dafür gesorgt haben, dass Agneta einiges abbekommen hatte. Spionin hin oder her: So wollte Kristina ihre ehemalige Arbeitskollegin nicht sehen.
    „Jetzt geh doch zu ihr hin und hilf ihr, verdammt noch mal!“, rief Kristina deshalb hinab. Sie bemerkte, dass sie selbst nun auch das Zittern angefangen hatte und dass sich dieses Zittern auch auf ihre Stimme übertrug. Aber das war ihr gerade ganz egal. Sie warf einen hilflosen Blick nach links zu Lars, der in seinem Käfig auch wieder auf die Beine gekommen war, dabei aber äußerst derangiert aussah.
    „Das dumme Gör kann froh sein, dass ich sie nicht endgültig fertig mache“, zischte Xynthia von unten hoch, kam dann aber doch sofort Kristinas Aufforderung nach. Sie schien nach dem Puls der jungen Frau zu fühlen und ihre Atmung zu überprüfen. Dass sie irgendeinen Zauber wirkte oder sonst etwas unternahm, sah Kristina nicht.
    „Sie lebt noch“, ließ Xynthia dann verlauten. „Sie ist wohl nur bewusstlos. Mehr Glück als Verstand. Hätte ich die Hitze nicht so schnell gebannt bekommen …“
    „Du solltest sie zu einem Heiler oder so schicken, wenn du selbst schon keine Lust dazu hast“, mischte Lars sich ein. Der Geldbote hatte seine Sprache wiedergefunden, seine Fassung allem Anschein nach aber noch nicht ganz.
    „Zu einem Heiler also?“, fragte Xynthia und blickte überrascht wieder rauf, als hatte sie schon längst wieder vergessen, dass Lars ja auch noch da war. „Du hast vielleicht Ideen. Sie wird schon irgendwann wieder von selbst aufwachen. Und wenn ihr dann noch etwas weh tut, dann soll es ihr die passende Lehre sein.“
    „Das ist also der Zusammenhalt unter euch Frauen, was?“, stichelte Lars.
    In Xynthias Gesicht schlich sich eine selbst von hoch oben sichtbare Zornesfalte. „Du bewegst dich auf dünnem Eis, Junge“, raunte sie hinauf. „Glaub ja nicht, dass du dort oben sicher bist, nur weil du ein paar Metallstäbe vor der Nase hast. Wenn ich nur will, dann kann ich … na großartig. Hätte mich ja auch gewundert, wenn nicht.“
    Noch bevor Kristina nachfragen konnte, was nun los war, sah sie es selbst: Ein pulsierender Lichtpunkt schwebte nicht weit von Xynthia in der Luft und breitete sich kurz darauf zum bereits hinlänglich bekannten Lichtoval aus. Aus der Mitte des Portals trat eine Frau. Es war Sagitta.
    „Wo ist sie?“, fragte sie laut, kaum dass der Teleportzauber wieder verpufft war. Das Feuerrot ihrer Haare kam selbst im Fackellicht der Kammer deutlich hervor. Ansonsten schien sie optisch geradezu das Gegenstück von Xynthia zu sein: Ihr Gewand war schlicht, sie hielt sich frei von Schmuck, sie schien – mit Verlaub – fast doppelt so alt wie die andere Hexe zu sein, wirkte dabei aber alles andere als gebrechlich. Im Gegenteil strahlte sie eine Präsenz aus, die Kristina sofort hoffen ließ. Auf was auch immer. Auf Rettung, Befreiung, darauf, dass nun alles wieder gut wurde. Was auch immer – jedenfalls Hoffnung.
    „Kommt ganz drauf an, wen du meinst“, sagte Xynthia lässig. „Wir haben eine hier unten, eine dort oben …“
    „Agneta war der Maulwurf, richtig? Was ist mit ihr? Lebt sie noch?“
    „Nicht schlecht, Sagitta, nicht schlecht“, lobte Xynthia gehässig. „Hast es also doch recht schnell herausgefunden. Luna – das ist ihr richtiger Name – und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung. Sie hat mich zuerst angegriffen, bevor du fragst, ich habe mich nur verteidigt. Und ja, sie lebt noch. Es geht ihr den Umständen entsprechend … wie du siehst.“
    „Dann interessiert sie mich erst einmal nicht weiter“, sagte Sagitta, während sie weiter hektisch durch den Raum schaute. Sie stand gerade so, dass sie nicht sehen konnte, wer in den Käfigen war. „Kristina?“, rief sie deshalb.
    „Sagitta, hier oben!“
    „Kristina! Alles in Ordnung bei dir?“
    „So halbwegs.“
    Sagitta wandte sich mit strengem Blick an Xynthia. „Runter mit ihr. Sofort.“
    Xynthia seufzte. „Natürlich … soll mir ja keiner nachsagen, ich würde das Geschäft einer Kollegin sabotieren, indem ich ihre Mitarbeiter gefangen halte.“
    „Hey!“ Sämtliche Blicke gingen noch einmal nach oben. Lars stand ganz nah an den Gitterstäben seines Käfigs. „Mich bitte nicht vergessen!“

    „Und es ist dafür gesorgt, dass jemand nach ihr sieht?“, fragte Sagitta, und sie machte den Eindruck, dass sie sich keinesfalls in den bereitgestellten Sessel setzen würde, solange sie nicht Klarheit hatte – und wenn sie den ganzen Tag noch so stehen bleiben würde.
    „Ja doch“, murrte Xynthia, die sich bereits in einem besonders großen, violetten Sessel niedergelassen hatte, und Sagitta erneut mit einer Geste bat, sich doch ebenfalls endlich zu setzen. „Ich habe jetzt extra das Gästebett für sie herrichten lassen. Bist du damit zufrieden? Etwas Besseres habe ich hier nicht. Von meinem eigenen Bett mal abgesehen.“
    „Ist das Mindeste“, sagte Sagitta, den Zeigefinger drohend Richtung Xynthia ausgestreckt. „Maulwurf oder nicht, sie steht formal noch immer unter meiner Verantwortung. Und die nehme ich ernst. Im Gegensatz zu euch.“
    Xynthia seufzte. „Können wir das dann bitte im Sitzen besprechen? Du stehst da, als wolltest du mir gleich an die Gurgel gehen. Das macht mich etwas … nervös.“
    Sagitta setzte sich demonstrativ hin. Sie und Xynthia saßen sich nun gegenüber, die Sessel allerdings leicht in verschiedene Richtungen geneigt, sodass die Sitzordnung beinahe zufällig aussah.
    Kristina saß ebenfalls auf einem Sessel, wenn auch auf einer kleineren Ausführung, genau wie Lars rechts neben ihr. Sie beide – Lars jedenfalls war es deutlich anzusehen – fühlten sich deutlich fehl am Platz. Nachdem Xynthia sie aus den Käfigen hinaus teleportiert hatte, waren sie alle, die noch bewusstlose Agneta im Schlepptau, in das Obergeschoss des Turms befördert worden. Xynthia hatte vorgeschlagen, die ganze Sache in ihrem Empfangszimmer zu regeln, und Sagitta hatte zugestimmt. Kristina musste sich eingestehen, dass sie es lieber gehabt hätte, wenn zwischen den beiden Hexen ein Magieduell entbrannt wäre, in dem ihre Chefin dann selbstredend die Oberhand behalten hätte. Andererseits war es so wie jetzt wohl nur vernünftiger, da Kristina und Lars auf diese Weise allerhöchstens zwischen Fronten verbaler Art geraten konnten.
    „Ich werde nicht mit dir kämpfen“, meinte Sagitta dann nach einer Weile. „Ein Mitglied des Zirkels hat nicht die Hand gegen ein anderes Mitglied des Zirkels zu erheben. So sind die Regeln.“
    „Du musst mir die Regeln nicht erklären“, sagte Xynthia harsch. „Ich bin länger im Zirkel als du.“
    Sagitta ließ den Kommentar an sich abprallen. „So oder so: Ich werde vermutlich alles Weitere über den Rat regeln. Ich weiß nämlich nicht, ob ich dir vertrauen kann.“
    Xynthia lachte einmal kurz auf und griff sich an die Haare. Bevor sie angefangen hatten, zu sprechen, und während alles für Agnetas Behandlung in einem der Nebenzimmer in diesem Stockwerk getan worden war, hatte die Hexe schnell noch ihre Frisur gerichtet. Sie sah nun wieder aus, wie aus dem Ei gepellt – einem sehr bunt bemalten Ei, freilich. In ihr Empfangszimmer passte sie wunderbar hinein. Schwere Wandteppiche säumten – vollkommen überflüssigerweise – weite Teile der Holzvertäfelung, die nicht nur die Wände, sondern auch die Decke zierte, von der wiederum Kronleuchter herabhingen, die Kristina sonst nur im Gemach eines Königs erwartet hätte. Abgesehen von dem ganzen Prunk – der zusätzlich noch in Form von zahlreichen Büsten, Gemälden, Goldstatuetten und sonstigen Wertgegenständen in diesem großen Raum an der Spitze des Turms aufwartete – war dieses Zimmer auch mit einigen Utensilien bestückt, die für Kristina leicht dem Bereich der Magie zuzuordnen waren: Kristallkugeln, Runentische, exotische Pflanzen und sogar ein Alchemietisch bildeten nur eine Auswahl der gesamten Ausstattung. Wenn das hier bloß das Empfangszimmer war, dann konnte Kristina nur erahnen, wie prachtvoll die sonstigen Gemächer Xynthias hergerichtet sein mussten. So etwas hatte sie nach ihrem Gang durch die ersten paar unteren Geschosse jedenfalls nicht erwartet – und nach ihrem unangenehmen Aufenthalt im Kellerverlies des Turms natürlich umso weniger.
    „Du sprichst so, als hätte ich mich nicht nach den Regeln verhalten. Ich habe genau das getan, was der Rat beschlossen hatte. Wenn du mir misstraust, kannst du auch genau so gut dem Rat misstrauen.“
    „Vielleicht tue ich das ja sogar“, erwiderte Sagitta kühl. Der grüne Lidschatten über ihren Augen verlieh ihnen ein irgendwie magisches, zwingendes Aussehen. „Aber im Moment ist es mein einziges Mittel, die Sache im Rat vorzutragen.“
    „Und der Rat wird genau das bekräftigen, was er auch schon vorher beschlossen hat“, folgerte Xynthia, hörbar, vielleicht auch gespielt genervt von dieser Unterhaltung. „Du hast mit deinem Geschäft quergeschossen, also musste man dein Geschäft aus dem Rennen nehmen. Du kanntest die Regeln, dir wurde alles klipp und klar bei deiner Aufnahme in den Zirkel gesagt. Wenn dir das nicht mehr passt, kannst du ja zurück nach Khorinis gehen.“
    „Behalte ich mir auch vor“, knurrte Sagitta. „Aber darum geht es mir gerade nicht.“
    „Worum dann? Worüber reden wir dann eigentlich hier?“ Xynthia schlug die Beine übereinander. Sie machte den Eindruck, als stellte sie sich auf eine längere Unterhaltung ein.
    „Mir geht es darum, dass wegen dir hunderten, vielleicht tausenden von Menschen in Myrtana, die an der Schneepest erkrankt sind, die lang ersehnte Heilung verwehrt bleibt.“
    „Es war ja nicht einmal sicher, dass euer Heilmittel Erfolg haben wird.“
    „Aber du warst dir sicher genug, dass du es mal lieber vorsichtshalber aus dem Verkehr ziehen musstest.“
    Xynthia schüttelte den Kopf. „Nicht ich, der Zirkel. Der Rat. Die Institution, der du auch angehörst. Ich habe nur Ratsbeschlüsse ausgeführt, mehr nicht. Wie gesagt: Wenn dir die Politik des Zirkels nicht passt …“
    Sagitta schnaubte. „Ganz schön billig, sich hinter fremden Entscheidungen zu verstecken. Mal ganz abgesehen davon, dass du nicht nur deine Spionin, sondern auch Kristina und euren Geldboten hier in Gefahr gebracht hast. Und daran bist du, aber nur du schuld. Du setzt deine Prioritäten eher weniger mit Rücksicht auf andere, was?“
    „Von einer Hexe, die sich entgegen der Regeln des Zirkels ihr rücksichtsloses Geschäft durchfinanzieren lässt, muss ich mir sowas wie Egoismus nicht vorwerfen lassen.“
    „Rücksichtsloses Geschäft also. Menschen von ihren tödlichen Krankheiten heilen.“
    „Wir sind keine Vereinigung von Heilern. Wir sind ein Hexenzirkel. Jeder tut, was er will, solange er den anderen nicht schadet. Du wolltest uns schaden. Und damit ist alles gesagt.“
    Sagitta sagte darauf nichts mehr und schloss erst einmal die Augen. Sie überlegte wohl, sah dabei aber aus, als sei sie spontan eingenickt. Kristina glaubte nicht, dass ihre eigene Beteiligung am Gespräch erwünscht war. Aber das war ihr gerade ziemlich egal.
    „Woher wusstest du eigentlich, dass ich hier im Turm bin? Und alles? Sagitta?“
    Die angesprochene Hexe hielt den Kopf weiterhin gesenkt, als sie antwortete.
    „Man hat da eben so seine Mittel, als Hexe“, sagte sie. „Nachdem der Zirkel mir gesagt hat, dass ich keine Gelder mehr bekomme und mir per Ratsbeschluss verboten wurde, das Labor weiterzuführen, war mir klar, dass irgendwer geplaudert haben musste. Ich dachte zuerst an eure familiären Umfelder, gab mir selbst die Schuld. Ich hätte es von Anfang an klipp und klar verbieten müssen, dass ihr mit jemandem außerhalb des Teams über das redet, was wir tun. Aber dann wurde es immer klarer, dass so ein Verbot nichts gebracht hätte. Weil jemand aus dem Team selbst geplaudert haben musste. So detailliert, wie der Rat informiert war …“
    „Und wie kamst du dann auf Agneta?“
    „Ich kam recht lange nicht auf sie“, gab Sagitta zu. Sie hatte die Augen nun wieder geöffnet und schaute Kristina direkt an. „Ich habe erst einmal alle im Verdacht gehabt. Auch dich.“
    Sie machte eine Pause, wohl um Kristina Gelegenheit zur Reaktion zu geben. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie selbst hätte sich auch misstraut.
    „Aber dann fügte sich das Bild Stück für Stück zusammen. Ich war mir am Ende ziemlich sicher, dass es unsere sogenannte Agneta gewesen sein musste.“
    „Woher denn?“
    „Das werde ich dir nicht verraten“, sagte Sagitta ruhig, aber bestimmt. „Genau so wenig, wie ich verraten werde, wie ich schließlich darauf kam, dass es irgendwo in Geldern eine Teleportplattform direkt zum Zirkel gibt. Da musste ich natürlich nachschauen, weil der Zirkel so etwas normalerweise nicht macht. Jeder Dorftrottel hätte sich so in den Turm teleportieren können.“
    „Jeder Dorftrottel … und ich“, kommentierte Kristina.
    „Und ich“, fügte Lars hinzu, wobei Kristina nicht ganz klar war, warum er das tat. Sie sah ihn scharf an. Seinem Gesicht war abzulesen, dass er wohl selber nicht wusste, was das jetzt zum ganzen Gespräch beitrug. Wahrscheinlich hatte er auch nur wieder was sagen wollen. Es musste schlimm für einen Mann sein, bloß zuhören zu dürfen, wenn Frauen sprachen – statt wie üblich umgekehrt.
    „Auf dem Weg zum Teleporter habe ich dann auch erfahren, dass du ihn bereits benutzt haben musst“, fuhr Sagitta an Kristina gewandt fort.
    „Und wie genau, das verrätst du mir wahrscheinlich auch nicht?“
    Sagitta musste schmunzeln. „Nawal“, sagte sie dann bloß.
    „Nawal?“
    „Ich war gerade in dem Wohnviertel angekommen und hatte das Haus geortet – der magische Puls war deutlich spürbar – als sie plötzlich aus einem anderen Haus gestürmt war und nach mir rief. Sie hatte sich nicht einmal einen Mantel übergeworfen. Sie hat viel geplappert und war sehr hektisch. Ich hatte dann irgendwann verstanden, dass sie dich in das Haus hineingehen und nicht mehr hatte herauskommen sehen. Da hat sie sich wohl Sorgen gemacht, sich aber nicht getraut, selber nachzuschauen.“
    „Und mich?“, mischte sich Lars wieder ein. „Hat sie mich denn herauskommen sehen? Und wieder reingehen?“
    Sagitta wandte sich direkt an Lars und sah ihn an, als bemerkte sie ihn gerade zum ersten Mal. „Von einem Mann hat sie nichts erzählt. Aber das war auch nicht so wichtig.“
    „Sie muss wieder bei ihrem Cousin gewesen sein“, murmelte Kristina. „Die arme Nawal … sie hat sich die ganze Zeit über Sorgen gemacht. Sie dachte, Agneta wäre entführt worden und sonstwas wäre passiert.“
    „Ja, so etwas Ähnliches hatte sie mir in der Hektik auch erzählt“, bestätigte Sagitta. „Das war der Zeitpunkt, an dem ich dann auch ernsthafte Bedenken bekommen habe, ob das noch gut ausgeht. Die Sicherungsmaßnahmen in Hexentürmen sind oft nicht ohne. Das war hier ja anscheinend keine Ausnahme.“
    „Man tut halt, was man kann“, kommentierte Xynthia süffisant. Kristina hätte ihr dafür am liebsten direkt ins Gesicht gespuckt. Um sich davon abzuhalten, sprach sie weiter mit Sagitta.
    „Sagitta, das soll jetzt kein Vorwurf sein, aber … wo warst du denn dann eigentlich die ganze Zeit? Und warum hast du uns nicht informiert?“
    Sagitta atmete lange aus, als wollte sie erst ihre ganze Luft ablassen, bevor sie weitersprach. Kristina wusste natürlich, dass das Unsinn war. Aber die gesamte Situation, und noch dazu die drückende Wärme in diesem Zimmer, pflanzten ihr solche Gedanken förmlich ein.
    „Mir war natürlich auch verboten worden, über die Sache zu sprechen. Es gilt ohnehin das Gebot, dass Angelegenheiten des Zirkels eben Angelegenheiten des Zirkels zu bleiben haben. Da konnte ich keinen reinen Tisch machen. Was ich in der Zwischenzeit gemacht habe … sagen wir mal so: Ich habe nach Lösungen gesucht, mit dem weiter zu machen, was ich will. Aber vor Xynthia kann ich da natürlich nicht ins Detail gehen.“
    „Heißt das …“, fragte Kristina hoffnungsvoll, noch bevor Xynthia dazwischengehen konnte.
    „Das heißt, dass das Projekt Antipest weiterhin abgebrochen ist, und nichts anderes“, stellte Sagitta schnell klar. „Solange ich noch Mitglied des Zirkels bin, ist nichts anderes drin. Und ich plane nicht, auszutreten. Jedenfalls noch nicht.“
    „Gut gut, hätten wir das auch geklärt“, sagte Xynthia und legte ihre Hände zusammen. Kristina bemerkte, dass die Hexe neben all ihrem anderen Gebimsel an ihren Körper auch noch mehrere Armbänder und Armreife trug. Was auch immer ihr Geschäft im Zirkel war – sie musste ziemlich gut daran verdienen, wenn sie sich das alles leisten konnte. Kristina hatte jedenfalls genug gehört, um zu vermuten, dass auch Xynthia irgendwelche semi-alchemistischen Produkte an ahnungslose myrtanische Bürger verhökerte. Und Kristina musste zugeben, dass sie es mit Sagittas Labor so ganz anders ja auch nicht gemacht hatten. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie zeitgleich und quasi erst dadurch an einem wirklichen, einem echten Heilmittel gewerkelt hatten.
    „Die Frage ist doch nur“, fuhr Xynthia nach einer Weile fort, mit einem Blick, als sei ihr plötzlich ein äußerst unangenehmer Geruch in die Nase gestochen. „Was habe ich damit zu tun? Was willst du nun von mir, Sagitta? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“
    „Das wird dann der Rat klären“, meinte Sagitta ruhig. „Ich werde Forderungen gegen dich erheben, Xynthia.“
    „Forderungen? Gegen mich? Das ist doch lachhaft!“ Xynthia hatte ihre Hände auf den Armlehnen aufgestellt, als wollte sie sich jeden Moment aus dem Sitz hieven. „Du bist doch diejenige, die uns schaden wollte! Wenn überhaupt, dann erhebe ich Forderungen gegen dich!“
    „Auch das kannst du dann ja im Rat vorbringen.“
    „Was für Forderungen willst du denn bitte stellen?“
    „Einen Ausgleich für die Schäden, die Kristina als meine Mitarbeiterin für das ganze Spionagespiel erlitten hat“, sagte Sagitta, ohne Kristina dabei anzuschauen. Kristina hatte das Gefühl, dabei keine richtige Rolle zu spielen. Sie fühlte sich mehr wie ein Trittstein, ein Vehikel dafür, dass Sagitta ihren Machtkampf führen konnte.
    „Achso, aha“, meinte Xynthia spöttisch.
    „Und natürlich einen Ausgleich für das, was Agneta jetzt passiert ist“, machte Sagitta ungerührt weiter. „Immerhin war sie ja formal meine Angestellte, Spionin hin oder her.“
    „Ahja, sonst noch was?“
    „Ja. Meine gesamten Mitarbeiterinnen – da darfst du Agneta gerne rauslassen, denn ich werde ihr bald offiziell kündigen – brauchen dann natürlich noch eine Garantie, sagen wir mal, bis Mitte nächsten Jahres. Volles Gehalt. Immerhin bist du ja auch irgendwo dafür verantwortlich, dass mein Labor nun zu ist. Obwohl es durchaus hätte geöffnet bleiben können, wir haben ja nun auch andere Sachen gemacht, als nur das Mittel gegen die Schneepest.“
    „Jaaa, genau“, stimmte Xynthia ironisch mit ein. „Und deinen persönlichen Verdienstausfall ersetze ich dir am besten auch noch, was?“
    „Ja, so in etwa hatte ich mir das gedacht.“
    „Einen Teufel werd’ ich tun.“
    „Du oder der Zirkel, mir egal, wer. Kannst du ja im Rat aushandeln. Wenn ich das richtig sehe, ist die nächste Sitzung heute Abend, nicht wahr?“
    Xynthia nickte. „Wenn du dich blamieren willst, gerne.“
    „Das werden wir ja sehen.“
    „Werden wir. Wenn das jetzt dein letzter verzweifelter Versuch ist, mich irgendwie einzuschüchtern, dann ist er jedenfalls wirklich peinlich. Du solltest wissen, wann du verloren hast, Sagitta.“
    Sagitta stand daraufhin auf. Kristina wusste nicht, ob sie ihr darin folgen sollte. Ein bisschen fühlte sie sich in der Gegenwart der Hexen wie ein kleines Mädchen. Das hier, das war ein Spiel der Großen. Nichts für sie.
    „Ich weiß sehr gut, wann ich verloren habe. Nur glaubst du viel zu früh zu wissen, dass du schon gewonnen hast.“
    Xynthia sagte darauf nichts mehr, sondern ließ bloß ein kurzes Schnauben ertönen. Dann stand auch sie auf. Die Szene bekam aus Kristinas Sicht etwas Surreales, wie sich die beiden Hexen nun noch sekundenlang und ohne ein Wort zu sagen gegenüberstanden. Sie glaubte beinahe schon an eine Art stummes und unsichtbares magisches Duell – bis Sagitta sich dann doch wieder regte und auf Kristina zuschritt.
    „Wenn du weiter nichts zu erledigen hast, Kristina, dann würde ich uns jetzt hier rausbringen. Natürlich nur mit Xynthias Einverständnis, versteht sich.“
    „Nur zu“, erwiderte diese auf Sagittas Seitenblick hin sofort. „Macht nur, dass ihr wegkommt.“
    „Gut“, befand Sagitta. „Halt dich bitte an mir fest, Kristina.“
    „Hey, Moment!“, rief Lars und sprang auf. „Und was ist mit mir?“
    „Was soll schon mit dir sein?“, fragte Sagitta, während bereits weiße Lichtbögen um sie und Kristina herabschossen. „Ich dachte, du arbeitest hier.“
    Und dann waren sie auch schon verschwunden.

    Als Kristina die Augen wieder aufmachte, war sie allein. Sie stand breitbeinig auf Holzdielen. Um sie herum war es warm. Sie sah zwei Stühle – und erkannte dann, dass sie sich in Lars’ Haus befand. Die Tür zum Teleporterraum war zu, der Schlüssel steckte nicht mehr. Das musste Lars so eingerichtet haben, kurz bevor er ihr gefolgt war.
    Kristina schaute sich noch einmal im ganzen Raum um, aber von Sagitta gab es keine Spur. Die Hexe musste für sich einen anderen Zielpunkt der Teleportation gewählt haben, falls so etwas denn ging. Genau genommen konnte Kristina nicht einmal überprüfen, ob Sagitta sich überhaupt selbst teleportiert hatte. So oder so: Sagitta war weg, und Kristina konnte ihr – zumindest vorerst – keine der vielen Fragen mehr stellen, die sie noch gehabt hätte. Sie hoffte, dass sich ihre Chefin – und das war sie im Prinzip ja immer noch – bald wieder bei ihr meldete. Bei ihnen allen. Aber das mochte auch davon abhängen, was die Hexen in ihrem Rat so auskungelten, wenn Kristina das alles halberlei korrekt verstanden hatte.
    Ein Blick durch die halbgeschlossenen Vorhänge verriet Kristina, dass es bereits zum späten Nachmittag dämmerte. Wenn sie noch bei Licht nach Hause wollte, dann musste sie sich beeilen. Hier im Haus des Geldboten gab es ohnehin nichts mehr zu tun – offene Fragen hin oder her. Sie schnappte sich ihren Mantel vom Kleiderhaken und verließ die Hütte.

    Als Kristina in ihr Haus eintrat, war niemand da – das bemerkte sie vor allem daran, dass es eiskalt in der Hütte war. Der Ofen, der am Morgen dieses Tages noch geglommen hatte, musste bereits vor einiger Zeit ausgegangen sein. Kristina griff nach zwei bereitgelegten Holzscheiten und fachte neues Feuer an. Es dauerte ein wenig, dann brannte es im Ofen wieder aus eigener Kraft. Die erste Wärme ließ nicht lange auf sich warten.
    Als Kristina damit fertig war, wollte sie endlich ihrem Drang nachgeben, sich ins Bett zu legen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Ein Blick auf die Schlafstatt weckte aber binnen Sekunden vollkommen andere Gedanken in ihr. Dort lag ihre Umhängetasche. Die Tasche, die ihr in Xynthias Turm abhanden gekommen war und an die sie seitdem gar nicht mehr gedacht hatte. Kristina setzte sich im Schneidersitz aufs Bett, das Herz klopfend. An dem abgesetzten Außentäschchen erfühlte sie, dass ihre zurechtgebogenen Haarklammern, die sie die ganze Zeit mit sich geführt hatte, noch alle da waren. Nutzlose kleine Drähte. Als sie etwas ungeschickt die Haupttasche öffnete, bemerkte sie bereits, dass von ihren Fläschchen – fairerweise musste man wohl sagen: Peraturs Fläschchen – nichts mehr übrig war. Stattdessen zog sie ein ganzes Bündel an Papier aus der Tasche hervor, lose verschnürt mit einem schlichten Lederbändchen. Das oberste Blatt fiel fast schon vom Stapel herunter. Kristina ergriff und überflog es. Schon bei den ersten Worten machte ihr Herz mehrere Hüpfer gleichzeitig. Zunächst wegen der Handschrift. Dann wegen des Inhalts. Schnell wurde Kristina klar, dass es sich bei dem ganzen Packen um äußerst detaillierte Aufzeichnungen rund um die Antipest und ihre Entwicklung handelte. Sagitta musste im Geheimen Privatnotizen geführt haben. Sie hatte die gesammelten Erkenntnisse des gesamten Teams peinlich genau wie minutiös in ihren Privataufzeichnungen niedergelegt. Protokolle über Versuche, Wechselwirkungen, Anleitungen zur richtigen Zubereitung und Verwendung der Ingredienzien, noch nicht weiter verfolgte, aber doch aussichtsreiche Forschungsansätze … es war alles da. Nichts war verloren.
    In diesem Moment klapperte es an der Tür, nur einen Augenblick später ging sie auf. Wind kam rein, und Kristina zuckte zusammen.
    „Und da bin ich auch schon wieder!“, rief Thoren halbwegs gut gelaunt, als er hereinkam. „Mann, war das eine Fahrt … ich bin gerade nur froh, dass ich überhaupt in Geldern angekommen bin. Aber es hat sich gelohnt, der Kerl braucht für sein Haus … oh! Wolltest du etwa weg?“
    Thorens Blick war auf Kristinas Umhängetasche gefallen. Sagittas Aufzeichnungen hatte sie, noch während die Tür aufgegangen war, wieder dort hineingestopft.
    „Nein, nein, ich … hatte einfach nur mal geschaut, ob meine Umhängetasche noch gut ist oder ob ich eine neue brauche.“
    „Wenn das so ist, dann trifft sich das gut“, sagte Thoren mit einem breiten Grinsen. „Ich hab’ den Auftrag nämlich!“
    „Nichts anderes habe ich erwartet“, sagte Kristina, stand auf und fiel Thoren in die Arme. Sie freute sich aufrichtig. Über alles Mögliche. Auch wenn noch Vieles ungewiss war. Ihre Arbeitskolleginnen wollte sie auch benachrichtigen. Aber erst morgen. Oder übermorgen. Auf jeden Fall noch vor Weihnachten.
    Geändert von John Irenicus (07.01.2017 um 19:58 Uhr)

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