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    hokuspokus 
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    Ajnif ist offline

    Post [Story]Geschichten eines Toten

    Es war noch früh am Morgen, als die ersten Bürger sich allmählich auf den Weg zum Marktplatz machten. Gebrechliche Alte, Kinder mittleren Alters waren die ersten, die sich auf dem großen Platz tummelten. Der Regen hatte bereits die ganze Nacht sein Bestes gegeben, um den Schlamm aus den Pflastersteinen heraus zu schwemmen und alles in eine einzig große Pfütze zu verwandeln. Die Kinder störte es nicht, sie sprangen vergnügt durch den Matsch, störten sich nicht am Gestank, der ebenfalls mit hoch geschwemmt worden war. Egal wie oft die Straßen vom Mist befreit wurden, es blieb immer noch ein großer Rest zwischen und unter den Steinen versteckt. Sobald der Regen einsetzte, brachte er alles zutage, was angesammelt worden war und verwandelte die Stadt in eine einzige schwimmende Kloake. Johlend sammelten die Kinder das faule Obst und Gemüse auf und füllten es in große Säcke, aus denen der Saft nur so hinaus triefte. Vereinzelt hatten die Streuner und Bettler auch noch Fisch und Fleisch auf dem Boden liegen lassen, der in der Suppe des Schlamms mitgeschwemmt und von begeisterten Kindern aufgesammelt wurde. Immer wieder brach die Sonne sich ihren Weg durch die Wolken, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Als die ersten Strahlen über die Häuserdächer brachen, kamen auch die ersten Bauern in die Stadt. Schwere Karren wurden von niederen Handlangern hinter sich hergezogen. Das gammelige Obst und Gemüse hatten sie unter einem Laken versteckt. Immer wieder würden sie die Ware, die sie an den vergangenen Tagen nicht losgeworden waren, zwischen der Neuen verstecken, damit unvorsichtige Bürger sie in ihre Körbe luden und sie zum vollen Preis mit nach Hause nahmen. Der Regen hatte gänzlich aufgehört, die Wolken verschwanden und mit ihrem Verschwinden kam der Geruch. Die Sonne strahlte in ihrer ganzen Schönheit, heizte die Steine und den Schlamm auf und gab damit frei, was die vergangenen Monate verborgen unter den Füßen der Bürger gewesen war. Doch niemand störte sich daran. Die Nasen der Einwohner hatten sich bereits so sehr an den stets vorhandenen Duft gewöhnt. Niemand rümpfte mehr die Nasen oder unterdrückte den Reiz des Erbrechens. Erbrach sich doch jemand mitten im immer größer werdenden Getümmel, lag es an der vergangenen Nacht und dem Besuch in den umliegenden Gaststätten.
    Die ersten Dirnen begaben sich auf die Straßen. In den Morgenstunden sahen sie noch sehr passabel aus. Die Haare hatten sie mit feinen Nadeln nach hinten gesteckt, die Lippen strahlten in den schönsten Farben, ebenso die Kleider. Vermutlich hatten sie sich sogar ein Bad gegönnt, dufteten nach den herrlichsten Blumen.
    Allmählich begaben sich Mütter und Väter mit Säuglingen und Kleinkindern in das Getümmel. Junge Frauen und Männer und auch ältere Kinder versuchten trotz der bereits späten Morgenstunde einen guten Platz zu erlangen.
    Der Klang von schweren Hufen verkündete die Ankunft dessen, worauf sie alle warteten. Milizionäre hatten sich um den Karren positioniert, die großen Pferde, die vor dem Karren gespannt waren, stampften stoisch auf den Boden, und bahnten sich erbarmungslos ihren Weg durch die nun immer lauter werdende Meute.

    „Bastard!“, war das erste Wort, das ich im Getümmel wirklich erkannte. Eine junge Frau hatte es direkt neben mir geschrien, während sie mich wütend anstarrte, in einen der großen Säcke griff und sich eine besonders schön aussehende Tomate heraus suchte, nur um sie im nächsten Moment auf mich zu werfen.
    Innerlich musste ich lachen. Ich wusste, dass die meisten Einwohner Vengards bei Weitem keine guten Werfer waren, doch diese Frau übertraf sie alle. Die Tomate verfehlte ihr Ziel nicht nur knapp. Sie schoss über mich hinweg, nur um im nächsten Moment in der anderen Seite der Meute zu verschwinden.
    „Mörder!“, brüllte ein großer, bullig aussehender Mann, dessen linkes Auge eitrig aus seiner Augenhöhle hervorquoll. Ich erstarrte, als ich den ekelhaft dreinblickenden Fischkopf sah, den er in seinen großen Händen hielt und ihn gezielt in meine Richtung warf. Dieses Mal wurde das Ziel nicht verfehlt. Und obwohl auch ich vor nicht allzu langer Zeit wohnhaft in Vengard gewesen bin oder es bis zum jetzigen Zeitpunkt auch noch war, obwohl die Umstände sich leider rapide geändert hatten, spürte ich die aufkeimende Übelkeit, die meinen Rachen hinaufkroch, als der Fischkopf sich auf meinen schmutzigen Lumpen heftete, den die Milizionäre ein Hemd genannt hatten, und der Gärgeuch in meine Nase stieg. Tränen stiegen mir in die Augen und ich hätte schwören können, dass sich etwas in den schleimigen Augen des Tieres bewegte. Als die Maden langsam aus dem verdorbenen Tier hinaus krochen, gab ich ein angewidertes Stöhnen von mir und erbrach mich direkt zu meinen schmutzig aussehenden Füßen.
    „Du bist Abschaum!“, rief jemand aus den hinteren Reihen.
    Ich muss zugeben, es hätte mich vielleicht berühren sollen. Doch im Grunde ließ es mich kalt. Mit Worten konnte ich umgehen, was mir mehr zu schaffen machte, war das widerlich drein blickende Wurfmaterial der Vengarder, was sich immer mehr um mich herum und an mir ansammelte.
    Der große Karren kam zum Stehen und zwei Milizionäre stiegen auf die Ladefläche. Einer kniete sich direkt neben mich.
    „Bist du bereit?“, murmelte er.
    „Aber ja, ich kann mir nichts schöneres an diesem Tag vorstellen, als vor diesem Pöbel geköpft zu werden!“, erwiderte ich lakonisch und erhob mich.
    Die schweren Ketten schmerzten mir allmählich an den Handgelenken. Die beiden Milizionäre lösten die Kette aus der Verankerung des Karren und hievten mich auf die Straße. Als meine nackten Füße im Schlamm verschwanden, ich auf allerlei nicht definierbarem Untergrund stand, kam mir erneut der Wunsch mich direkt hier und jetzt zu erbrechen. Mit meinen Fellstiefeln wäre es mir wohl wie immer egal gewesen wie viel Dreck in diesem Tümpel stand.
    „Denk an deine Würde!“, drang eine mir nur allzu bekannte Stimme an den Kopf. Selbst in meiner dunkelsten Stunde konnte mein Vater an nichts anderes als an meine Würde oder eher gesagt an seine eigene denken. Denn alles, was ich in diesem Moment von mir gab, würde ja genau genommen auf ihn zurückfallen. Ich fragte mich wie mein Vater es trotz meiner Taten geschafft hatte, dass man ihn weiter achtete. Doch vermutlich war er es nicht wert, dass ich mir in den letzten Minuten meines Lebens Gedanken darüber machte.
    Aber worüber lohnte es sich noch nachzudenken? Ich wusste es nicht. Aber es gab ja auch keine Niederschrift darüber, woran man denken sollte, wenn man kurz vor seiner Hinrichtung stand. Und wenn es sie doch gab, hätte sie mich bis vor wenigen Wochen ohnehin nicht interessiert. Wieso sollte man sich auch Gedanken über seine Hinrichtung machen, wenn man nicht damit rechnete jemals hingerichtet zu werden? Für mein nächstes Leben wusste ich in jedem Fall, dass ich mir ausreichend Gedanken machen musste, damit ich mir auf dem Weg zu meinem Henker nicht mehr zu überlegen brauchte woran ich in den letzten Minuten meines Daseins nachdenken sollte.
    Bei all diesen Überlegungen war mir nicht aufgefallen wie weit wir uns bereits dem Schafott genähert hatten. Mit einem schmatzenden Geräusch lösten meine Füße sich aus dem Dreck und Matsch und setzten sich auf die erste Treppenstufe. Mit einem Mal bekam ich Panik. Dies sollte es also sein. Ich würde sterben. Mein Herz pulsierte wild unter meiner Brust, schwarze Punkte tanzten vor meinem inneren Auge und ich sackte keuchend zusammen.
    „Na, na. Du willst doch auf die letzten Meter nicht schlapp machen. Die Leute sind schließlich gekommen um eine richtige Hinrichtung zu sehen“, sagte der Milizionär zu meiner linken und entblößte dabei eine Reihe verfaulter Zähne.
    Wie gerne hätte ich mich auf ihn geworfen und ihm die vergilbte und vermoderte Kauleiste aus dem Kiefer geschlagen. So weit hatte mich der Kerker bereits gebracht. Ich begann wie sie zu denken. Fort war das Gefühl der Würde und der Überlegenheit. Ich war nun einer von ihnen. Schlimmer noch, ich war niederer als der niederste, der Dreck unter den Nägeln, wie man mir während meines Prozesses erklärt hatte. Mir war schleierhaft wie man die Anhörung einen Prozess hatte nennen können. Vielmehr war mein Schicksal doch bereits im vorne herein besiegelt gewesen, als hätten sie um mein Leben gepokert und der Henker hätte gewonnen.
    Der Henker, hatte sich in einen schwarzen Umhang geworfen. Er hatte sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht diesen von dem Blut meiner vorherigen Leidensgenossen zu reinigen. Dabei war die letzte Hinrichtung vor vier Nächten gewesen und doch erkannte ich ganz klar den dicken Leberfleck meines Zellengenossen an seinem linken Ärmel und mir kam es erneut hoch. Sie hatten ihm bei lebendigem Leib die Haut vom Körper gezogen. Konnte ich mich glücklich schätzen, dass man mir die Gnade eines schnellen Todes erwies? Mit einem Blick auf die Axt, die man eigens dafür vorbereitet hatte, wurde mir ganz anders. Das stumpfe Stück Metall wirkte matt und lieblos. Bei dem Gedanken daran, dass der Henker mehrmals auf meinen Hals einschlagen musste, um meinen Kopf von meinem Rumpf zu trennen, begann ich an die Götter dieser Welt zu denken. Doch an wen sollte ich mein stummes Gebet richten? An Innos, der mich bereits die ganzen letzten Wochen ignorierte, als hätte es mich und mein schillerndes Leben niemals gegeben? Oder an Beliar, dem ich in Kürze ohnehin von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen würde?
    Wir hatten die Empore erreicht und ich begab mich zitternd auf die Knie. Ich versuchte meinen Vater in der Meute auszumachen. Mir war nur allzu bewusst, dass ich nicht damit rechnen musste, dass meine Mutter sich hier blicken lassen würde. Den Anblick ihres einzigen Kindes, wie seine Haut und Sehnen stöhnend unter der brachialen Gewalt einer stumpfen Streitaxt nachgaben und sämtliches Leben seinen Körper verließ, würde sie nicht ertragen.
    Grob packte der Henker mir in die verfilzten Haare und spuckte mir in das abgemagerte Gesicht. Denk an deine Würde hatte mein Vater mir gesagt. Ich dachte an seine Worte, als ich meine Hand aus der Umklammerung des Milizionärs riss und im nächsten Moment nach den Eiern des Henkers griff. In diesem Moment bereute ich, dass ich vor lauter Hunger im Kerker peinlich genau sämtliche Reste meiner Fingernägel gekaut hatte. Ich hatte sie lange gekaut, um meinem Körper das Gefühl zu geben etwas zu essen zu bekommen. So hatte ich einzig die mir noch verbliebene Muskelkraft in den Fingern, die seine Eier so fest packten und quetschten, dass er wie ein kleines Mädchen aufheulte. Die ganze Situation gab mir einen kurzen Augenblick des Triumphs. Ich hatte ihn an den Eiern und wenn ich wollte, konnte ich ihn noch mehr heulen lassen. Der Milizionär zu meiner rechten riss mich zurück und schlug mir zeitgleich seine gepanzerte Faust mitten in das Gesicht. Unter lautem Knirschen gaben die Knorpel in meiner gerade noch wirklich gut aussehenden Nase nach und sie knickte zur Seite weg. Ich jaulte laut auf, Tränen stiegen mir in die Augen und ich ließ vom Henker ab. Dieser beugte sich unter Schmerzen und brauchte eine Weile um wieder richtig nach Luft schnappen zu können. Meine einst so wunderschöne Nase würde nie wieder richtig atmen. Doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Die Meute war durch das Spektakel noch aufgeheizter als vorher, sie hoben gelöste Pflastersteine auf und warfen diese gröhlend in meine Richtung. Genau in diesem Augenblick ergab ich mich endgültig meinem Schicksal. Sollten sie mich doch richten, gepeinigt wie ich war, konnte es nur noch eine Erlösung geben und das war mein eigener Tod oder der Tod aller, die sich um mich herum versammelt hatten. Einschließlich meinem Vater, der es überhaupt erst so weit kommen lassen hatte.
    Mein Oberkörper wurde auf den Holzstamm gepresst, unter dem Druck entwich mir bereits jetzt sämtliche Luft aus den Lungen. Vermutlich würde ich also eher an Luftnot als durch die Axt sterben. Schicksalsergeben warf ich einen letzten vernichtenden Blick über die Meute und traf direkt auf das Gesicht meines Vaters, der alleine durch seine Größe aus der Masse heraus stach. Er sah mich an, hatte seine Gefühle gänzlich unter Kontrolle. Er zuckte nicht einmal mit dem Mundwinkel, als der Henker seine Axt hob und unter lautem Gebrüll auf mich niederfahren ließ. Keuchend entwich der Rest aus meinen Lungen. Dieser Bastard hatte meinen Rücken, statt dem Hals getroffen. Ich spürte wie alles davon driftete, mein Körper mir nicht mehr gehorchte, fühlte die Wärme, die sich zwischen meinen Beinen ausbreitete. Der Henker hob die Axt erneut, und schlug sie dieses Mal genau auf die richtige Stelle. Knackend brach mein Genick und ich starb mit hervorgequollenen Augen und heraus hängender Zunge.


    Dies war sie also, meine Hinrichtung. Traurig und tragisch, trotz Sonnenschein. Und doch irgendwie nicht das Ende.
    Geändert von MiMo (27.03.2017 um 20:31 Uhr)

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    hokuspokus 
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    Ajnif ist offline
    „Hallo? Hallo?“
    Ich konnte nichts sehen. Eine tiefe Dunkelheit umgab mich. Irgendwie fühlte ich mich auch nicht wie ich selbst. Sondern eher so, als würde ich den ganzen Raum, wie groß er auch sein mochte, ausfüllen. Ich war mir sicher, dass ich mich in einem Raum befinden musste. Komisch oder? Man sieht nichts und glaubt sich dennoch sicher zu sein. Und obwohl ich mich wie ein schwereloses Etwas fühlte, bildete ich mir tatsächlich ein sprechen zu können.
    „Wo bin ich hier?“
    Keine Antwort. Aber das konnte doch nicht sein. Wo auch immer ich war, musste es doch noch mehr wie mich geben. Oder war dies nun mein Leben nach dem Tod? Ein freudloses und vor allem leb- und farbloses Dasein im schwarzen Nichts?
    Ein kräftiger Sog begann plötzlich an meinen vielen Einzelteilen zu ziehen, zerrte mich mit sich, der schwarze Raum nahm mir die Luft zum Atmen, schien immer kleiner zu werden. Ich fühlte mich mit einem Mal so winzig, so zusammengepresst.
    Ein kleiner weißer Punkt erschien in der Ferne, der Sog zog mich immer schneller näher an den kleinen Hoffnungsschimmer, der sich mir bot, bis ich zusammengepresst durch ein Loch geschoben wurde, das für meine ganze Masse viel zu klein erschien.
    Ich landete direkt vor einem großen Tisch, so kam mir die ganze Optik der ganzen Skelette, die sauber übereinander gestapelt waren, in jedem Fall vor. Links und Rechts waren zwei Brustkörbe direkt neben das Gebilde drapiert, die jeweils einer großen Kerze Platz boten.
    „Toter Nummer M1036728!“, brüllte eine tiefe Stimme, deren Ursprung ich nicht ausmachen konnte.
    „Steh auf! Der Herr der Unterwelt hat nicht ewig Zeit sich deiner anzunehmen!“, blaffte die Stimme erneut.
    Ich wusste nicht wer gemeint war. Doch außer meiner Wenigkeit konnte ich weit und breit nichts erkennen. Im Allgemeinen schien der opulente Tisch mein gesamtes Blickfeld einzunehmen, sodass es mir nur schwer möglich gewesen wäre noch etwas anderes zu erkennen.
    Plötzlich gab es einen lauten Knall, so ohrenbetäubend, dass ich das Verlangen hatte meine Ohren zu schließen. Als ich daran dachte, waren meine Hände wieder da, und steuerten zu meinen Ohren. Etwas verwirrt stellte ich fest, dass es mir recht schwer fiel meine Hände zu steuern, sie setzten zuerst sehr hoch an. Erst als ich sie etwas mehr nach links befahl, ergriffen sie meinen Kopf, fühlten über den Mund, die Hakennase, die sich unter meiner Unterlippe befand und meine Augen, die noch tiefer lag als meine krumme Nase. Ich erstarrte, verharrte einen Moment in dieser Position, betaste meinen Kopf genauer, fühlte über meinem Kinn eine offene Stelle, durch die es mir möglich war in mich hinein zu fassen. Meine Hände glitten weiter, ertasteten den Oberkörper, der nur noch zu einem geringen Teil an meinem Hals befestigt war. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als mich die Erkenntnis traf. Dieser Stümper hatte mich tatsächlich nur halb enthauptet!
    „Toter Nummer M1036728!“, donnerte die Stimme nun und ich war mir plötzlich ziemlich sicher, dass er mich meinte.
    „Meint Ihr mich?“, erkundigte ich mich höflich.
    „Hör auf Spielchen mit mir zu treiben! Hinter dir warten bereits die nächsten Ankömmlinge!“
    Langsam erhob ich mich, hielt dabei mit der linken Hand meinen Kopf fest, aus Angst, dass der letzte Rest spärlicher Sehnen und Hautfetzen von alleine reißen würde. Doch trotz dem dass ich stand, konnte ich nicht ausmachen wer oder was sich hinter dem Tisch befand.
    „Alter?“
    „Was spielt das denn jetzt noch für eine Rolle?“, erwiderte ich interessiert.
    „Junge, wenn du in deinem Leben genauso nervig gewesen bist, musst du dich nicht wundern wieso man sich deiner entledigt hat!“, antwortete die Stimme gereizt.
    Ich zögerte einen Moment irgendetwas Treffendes zu erwidern, besann mich dann aber eines Besseren. Was, wenn ich hier Beliar in seiner ganzen Leibhaftigkeit gegenüberstand? Ich war mir ziemlich sicher, dass er mir mein Leben nach dem Tod nicht versüßen würde, wenn ich ihn weiter erzürnte.
    „27“, gab ich stattdessen als Antwort, die grunzend zur Kenntnis genommen wurde.
    „Art des Todes?“
    „Ist das nicht offensichtlich?“, erwiderte ich trocken.
    „Ich habe nicht vor Ewigkeiten mit dir zu verbringen! Kurze und knappe Antworten auf meine Fragen!“
    „Enthauptung“, antwortete ich knapp.
    Nun war ich also eine belanglose Nummer. Man hatte nicht einmal nach meinem Namen gefragt.
    „An welchen Gott glaubst du?“
    Konnte es bei dieser Frage überhaupt eine richtige Antwort geben?
    Ich schwieg, weigerte mich diese Frage zu beantworten. In genau diesem Moment glaubte ich nicht. Innos hatte mich verlassen, Beliar würde sich meiner ohnehin annehmen.
    „Ein Zweifler, also! Dritte Tür rechts!“
    Der Raum vergrößerte sich, zu einem langen Gang, an dem sich rechts und links kleine Nischen befanden, in denen Türen eingebaut waren.
    Langsam machte ich mich auf den Weg, folgte dem Gang, der immer dunkler wurde und in einem seltsamen Rotton schimmerte.
    „Toter Nummer S14047689“, brüllte die Stimme hinter mir.
    Als ich mich umdrehte, um einen Blick auf den Besitzer der Stimme zu werfen, wurden Tisch und Brustkörbe von der allgegenwärtigen Dunkelheit verschluckt, als hätten sie dort niemals gestanden.
    Seufzend begab ich mich zu der dritten Tür von rechts. Je mehr ich mich ihr näherte, desto mehr graute es mir vor dem was dort hinter lag. Schreie drangen durch die Türen an mein Ohr. Es waren nicht die typischen Schreie, wenn man sich etwas brach oder jemand bei einem Kampf verstarb. Nein, diese Schreie krochen mir in Mark und Bein und ließen mich erzittern.

    Als ich an der Tür angelangt war, öffnete diese sich. Erwartungsvoll, aber auch verängstigt, wagte ich es, einen Blick hinein zu werfen. Doch außer dem dunkelsten Schwarz, was ich jemals zu Gesicht bekommen hatte, konnte ich rein gar nichts wahrnehmen.
    Nur zögerlich setzte ich meinen linken Fuß hinein. Er verschwand fast gänzlich im Dunkel. Vielleicht war dies nun mein endgültiges Ende?
    Der Gedanke an eine Finsternis, die niemals enden würde, überkam mich und ein Schauer kroch mir den Rücken hinab.
    Ein Poltern hinter mir ließ mich zusammen fahren.
    „Zweifler und Zögerer!“, knurrte eine Stimme und im nächsten Moment wurde ich durch die Tür gestoßen.
    Ich rechnete damit auf den Boden zu fallen, doch nichts passierte. Nichts kann man auch nicht sagen. Der Wind, der mir entgegen peitschte wurde immer stärker, ich hatte Mühe meinen Kopf in der Hand zu behalten, während meine zerfetzten Lumpen nur so an meinem Körper schlackerten. Da wurde es mir schlagartig bewusst. Ich befand mich im freien Fall!je tiefer ich fiel, desto mehr änderte sich meine Umgebung oder waren es eher meine Augen? Ich erkannte Umrisse, Schatten, die sich um mich herum zu winden schienen und plötzlich erneut im Nichts verschwanden.Die Dunkelheit war gar nicht mehr so dunkel und ich konnte noch viel mehr Schemen um mich herum erkennen.
    Neben mir erschien eine weitere Gestalt. Eine ältere Dame, die mich mit ihren giftigen Zähnen angrinste und den Fall augenscheinlich genoss.
    „Willkommen in der Unterwelt!“, rief sie mir zu, winkte und warf mir einen Kussmund entgegen. Und obwohl ich gute zehn Fuß von ihr entfernt sein musste, spürte ich den Hauch ihres Geruchs in meine Nase kriechen und würgte.Wahrscheinlicher war aber, dass ich mir die Widerwärtigkeit, die aus diesem fauligen Mund kommen musste, einfach viel zu gut vorstellen konnte.
    „Achtung! Snapper im Anflug!“, schrie eine Männerstimme von weiter oben. Geistesgegenwärtig nahm die alte Frau mit ihren Armen einen kräftigen Schwung und stieß mit mir zusammen, während ein gewaltiges Tier brüllend an uns vorbei sauste. Ich hatte gar nicht genügend Zeit außer der Verletzungen auf seinem Rücken noch mehr von dem Tier zu sehen. Doch die Verletzungen alleine hätten ihn nicht töten können, dem war ich mir sicher, obwohl ich zu Lebzeiten niemals gegen ein solches Tier gekämpft hatte.
    Unter uns konnte ich langsam auftauchende Gebäude entdecken. Sie waren die einzige richtige Lichtquelle, die ich erblicken konnte.
    Schwarze Kreaturen näherten sich uns. Ich hatte bereits in unzähligen Büchern von ihnen gelesen, aber niemals damit gerechnet jemals selber welchen zu begegnen. Ein Dämon, mit Flügeln, die fünfmal größer als sein eigentlicher Körper waren, griff mit seinen Klauen nach mir, umklammerte meine Brust und flog mit mir weiter in die Tiefe. Wir jagten an dem Snapper vorbei, um den sich eine ganze Gruppe von Dämonen scharten, die damit beschäftigt waren ihn ordentlich zu greifen, während der Snapper seiner Natur gemäß versuchte die Dämonen mit seinen Reißzähnen zu erwischen. Jetzt konnte ich auch sehen was ihn getötet haben musste. Eine lange Wunde zog sich über seinen gesamten Brustkorb, sodass ein Großteil seiner Innereien wabernd hinab hing.
    Der Dämon sauste mit mir zwischen den Gebäuden entlang. Ich konnte geschäftige Untote sehen, die sich darum bemühten die Wege zu reinigen. Die Gebäude sahen erstaunlicherweise sehr gepflegt aus. Tatsächlich hätte ich nicht damit gerechnet, dass es in der Unterwelt so aussehen würde. Ein großer Fluss trennte die kleinen Gebäude von einer großen Burg oder einem Tempel, dem war ich mir nicht ganz so sicher. Die Mauern waren aus dunklem Stein erbaut, die Fenster leuchteten in einem warmen Blau.
    Der Dämon setzte zur Landung an und ließ mich direkt auf den Stufen zum großen Gebäude nieder. Unschlüssig stand ich eine Weile herum. Ich wusste um ehrlich zu sein nicht was ich nun machen sollte. Aber wenn man mich hier abgesetzt hatte, sollte ich mich vermutlich in das große Gebäude begeben schlussfolgerte ich. Vorsichtig ging ich die verbliebenen Stufen hoch, wandte mich immer wieder um. Doch es war niemand da der mich aufhalten wollte. Ich hatte eine große Pforte erreicht und fragte mich wie ich die massiven Türen wohl öffnen könnte. Krachend gaben die Scharniere der Türen nach und zwei große Orks schoben sie von innen her auf. Damit hatte sich meine Frage wohl erübrigt. Vorsichtig ging ich an den beiden Orks vorbei, die mich ebenso argwöhnisch betrachteten. Es kam wohl nicht so oft vor, dass ein Mensch es wagte dieses Gebäude zu betreten.
    Ein langer Gang öffnete sich vor mir. Das Innere des Gebäudes wirkte irgendwie freundlich und einladend. Ein dunkelroter Teppich war auf den Boden gelegt worden. An den Wänden hingen schwere Vorhänge, die trotz ihrer dunklen Farbtöne Wärme ausstrahlten. Ich hörte den Klang eines Instrumentes an mein Ohr dringen, folgte ganz langsam der Melodie. Bevor ich an die nächsten großen Türen angelangte, zwang mich der Klang des Liedes in eine kleine Nebentür. Die Melodie stoppte als ich den Raum betrat. Mir stockte der Atem. Es wirkte wie die Bibliothek, die wir Zuhause besaßen und die ich wohl nie wieder betreten würde.
    Ich ließ die hohen Wände und das prasselnde Feuer im Kamin auf mich wirken. Selbst die bequemen Sessel schienen dieselben zu sein. Ein jäher Schmerz durchzuckte meine Brust als eine Gestalt sich aus einem dieser Sessel erhob und zu mir wandte. Die eisblauen Augen hatten sich auf mein Gesicht geheftet, die vielen kleinen Fältchen, ließen ihn recht freundlich erscheinen, obwohl ich nur zu gut wusste, dass er vieles war, aber ganz sicher nicht freundlich. Die langsam ergrauten Haare hatte er sich sittsam nach hinten gekämmt, vermutlich in einem Zopf, den er stets zu tragen pflegte. Der rote Abendrock, den er trug, lag schützend um seinen schmalen Körper. Konnte es wirklich sein? War er es? Sollte dies also mein persönliches Erlebnis nach meinem Tod werden? Auf ewig zusammen mit ihm? Wie ein Blitz durchfuhr es mir als mir ein neuer Gedanke kam. War er etwa gestorben?
    „Vater?“, ich versuchte nicht einmal das Zittern meiner Stimme zu verbergen.
    Mein Vater lächelte mich an und schritt auf mich zu. „Da bist du ja endlich“, sagte er freudig und nahm mich in den Arm.
    Ich stutzte und betrachtete den vor mir stehenden Mann genauer, der ganz sicher eines nicht war, mein Vater! Niemals, zu keiner Lebzeit und ganz sicher auch nicht nach seinem Tod würde er mir diese Freude entgegen bringen. Doch, sagte mir eine innere Stimme, vielleicht hat sein eigener Tod ja etwas geändert? Vielleicht hat er die Fehler seines Lebens eingesehen und sehnt sich nach Versöhnung? Nach Versöhnung, die ich ihm niemals geben könnte, dachte ich verbittert.
    Mein Vater schien meine Anspannung zu bemerken und löste seine Umarmung. Er sah mich eindringlich an.
    „Schlecht siehst du aus“, sagte er mit diesem Ton in der Stimme, den nur mein Vater beherrschte.
    Ich wollte nicht mit ihm reden. Mir stand nicht der Sinn nach einer simplen Unterhaltung. Ich versuchte es mir einzureden, zwang mich nur daran zu denken, dass dieser Mann kein Gespräch mit mir verdient hatte. Wie oft in meinem Leben hatte ich mich danach gesehnt von meinem Vater gesehen zu werden? Vielmehr noch, von ihm angehört zu werden. Es hat gedauert bis ich verstand, dass er nur sich selbst sah.
    „Wieso bist du hier?“, platzte die Neugier aus mir heraus. Ich wollte wissen wem ich es zu verdanken hatte, das mein hoher Herr nicht mehr unter den Lebenden weilte und wollte ihn zeitgleich dafür verfluchen.
    „Ich bin auf der Jagd gestürzt, dabei muss ich mir das genick gebrochen haben“, erwiderte er.
    „Willst du dich nicht setzen?“, fuhr er fort, während seine schlanken Finger auf die einladenden Sessel deutete.
    Ich stutze und betrachtete den vor mir stehenden Mann eingehend, der ganz sicher eines nicht wahr, mein Vater. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Niemals, zu keiner Lebzeit und auch nicht nach seinem Tod konnte er sich so geändert haben und würde mir gleich zweimal eine solche Freundlichkeit entgegen bringen.
    „War es zu viel?“, wandelte sich die Stimme in einen tiefen Basston. „Entschuldige, ich bin ein wenig eingerostet fürchte ich. Was genau hat mich verraten?“
    Ich wusste nicht was mich dazu bewog zu antworten. Vermutlich aber war es alleine der Tatsache geschuldet, dass ich ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte.
    „Die Körperhaltung, die Mimik und Gestik, die Sprache, diese Umarmung ganz zu Beginn, die Einladung Platz zu nehmen und mein Vater hätte ganz sicher niemals ein Instrument dieser Art gespielt“, erwiderte ich und warf einen Blick auf die Flöte in der Hand des Mannes. Mein Vater hatte niemals ein Instrument gespielt, fügte ich im Stillen hinzu. Er hatte es stets für Zeitverschwendung gehalten.
    „Oh, doch soviel“, murmelte der Mann, wandte sich ab und begab sich wieder in den Sessel. „Setz dich doch zu mir“, fuhr er fort und deutet einladend mit seiner Hand auf den anderen Sessel.
    Ich zögerte keinen Moment der Einladung nachzukommen. Seit Wochen hatte ich nicht mehr so gut gesessen und wer wusste wann sich die nächste Gelegenheit dazu bieten würde.
    „Nun bist du also hier“, sagte der Mann und lächelte mich breit an, dabei veränderte sich sein Gesicht, es wurde markanter, die Augen verfärbten sich und wirkten mehr schwarz als rot.
    „Ihr seid Beliar“, murmelte ich ehrfürchtig, während der Gott sich mit den Fingern durch die dunklen Haare fuhr.
    „So ist es“, erwiderte dieser und zeigte dabei eine ganze Reihe makelloser Zähne. Beneidenswert, dachte ich mir und versuchte es zu vermeiden ihn unverhohlen anzustarren.
    „Ich muss gestehen, dass ich nicht so früh mit deiner Ankunft gerechnet hatte“, fuhr Beliar fort, während er seinen Kopf zur Seite neigte und mich interessiert ansah. „Dein Tod war so nicht eingeplant.“
    „Lässt es sich so eigentlich gut gucken?“, erkundigte er sich und fasste im nächsten Moment an meine Kehle.
    Wäre ich nicht bereits tot gewesen, hätte es mich vermutlich gestört. Doch so ließ ich ihn gewähren und überlegte ob es sich in diesem Zustand anders gucken ließ.
    „Siehst du so nicht alles auf dem Kopf?“, fuhr der Gott fort und spielte mit meinem Kopf in seinen Händen, sodass mir leicht schwummerig wurde.
    „Ich muss gestehen, dass mir das gar nicht aufgefallen ist“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    Beliar nickte verständnisvoll. „Wenn man gestorben ist, achtet man auf eben diese Kleinigkeiten wohl nicht mehr. Aber was für ein Stümper dort nur am Werk gewesen ist, wenn er es nicht einmal geschafft hat den Kopf direkt an einem Stück abzuhacken.“
    „Die Axt war mehr stumpf als alles andere“, gab ich zurück.
    Beliar erhob sich und zog mich ebenfalls in die Höhe, drehte mich wie eine Puppe vor sich her.
    „Hat er tatsächlich beim ersten Schlag verfehlt? Wer sucht die Henker von heute nur aus?“, donnerte Beliar und ließ mich zurück in meinen Stuhl fallen.
    „Eine Schande für diesen schönen Körper, aber das werden wir alles schon wieder hinbekommen“, murmelte er mehr zu sich selbst, während er mit seinen eleganten Fingerspitzen auf das dunkle Holz des Sessels tippte.
    „Zieh dich aus“, befahl er mir mit einem Mal und beugte sich über mich.
    Erschrocken wich ich zurück.
    „Beeil dich! Ich kann diesen Gestank, der von dir und deinen Kleidern aus geht nicht mehr in meiner Nase ertragen!“
    Als der Gott sich über mich beugte kribbelte es angenehm in meiner Nase. Ich hätte damit gerechnet dass er nach vielem roch, aber am wenigstens hätte ich gedacht, dass er so gut duftete.
    Ungeduldig riss Beliar an meinen Kleidern und warf sie in das lodernde Feuer, das unter meinem alten Hemd kreischend zu flüchten versuchte.
    „Abgemagert bist du, Beulen haben sich unter deinen Armen gebildet“, grollte Beliar missmutig, während er mich einer weiteren eingehenden Prüfung unterzog.
    Zwei untote Frauen erschienen im Türrahmen, Beliar winkte sie zu sich.
    „Säubert ihn und gebt ihm auch sonst alles was er benötigt!“
    Er erhob sich mit einem wölfischen Grinsen im Gesicht und verschwand in einem dichten Nebel.
    Die beiden Frauen kamen mit einem breiten Lächeln zu mir, nahmen mich zwischen sich und geleiteten mich in einen weiteren Raum um mich dort in eine große Wanne zu befördern.
    Nachdem sie mich gereinigt hatte, saß ich in warmen Sachen am Kamin. Sie hatten mir reinweg dunkle Kleidung gegeben, die aus wirklich guter Wolle gefertigt war.
    Ich seufzte und schlug meine Beine übereinander. Wofür sollte das alles hier nun gut sein?
    „M1036728“, ertönte es von der Tür und ich blickte mich rasch um, nur um Beliar zu erblicken.
    „Kennt hier denn niemand meinen Namen?“, seufzte ich.
    „Oh, ich kenne deinen Namen. Ich kenne sämtliche Namen meiner Untergebenen. Tristan, Sohn des reichsten und mächtigsten Kaufmannes in ganz Vengard und über seine Grenzen hinaus. Herr Othis aus Vengard. Ein stolzer Mann dein Vater, doch mehr leider nicht. Viel zu sehr war er darauf bedacht seine Hände in Unschuld zu waschen. Nur so bist du überhaupt in die missliche Lage gekommen hier vor mir zu sitzen, nicht wahr?“
    Wie ein Blitz durchfuhr es mich, als ich mich an jene schicksalsträchtige Nacht zurück erinnerte.
    Seit Wochen traf ich mich heimlich mit Jasmin, wir schrieben uns lange Briefe. Ich konnte ihren Duft in meiner Nase riechen, wenn ich mein Gesicht fest in ihre Haare presste. Sie duftete nach Blumen und frischen Kräutern. An jenem Abend wollte sie mir ihre Unschuld schenken. Ich war mir bewusst, dass es riskant war, doch wir hatten für uns längst beschlossen, dass wir auf ewig miteinander verbunden sein wollten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mein Vater unsere Briefe stets abgefangen hatte, bevor sie uns erreichten. Und so war es mein Vater, den sie an jenem Abend in Empfang nahm und ihr auf brutalste Art die Jungfräulichkeit nahm. Es konnte gar nicht anders sein. Denn als ich mich frohen Mutes auf zu Jasmin machte, stolperte er kurz vor ihrem Haus direkt in meine Arme, die Haare zerzaust, die Augen hatten einen seltsamen Ausdruck.
    Und als ich durch Jasmins Fenster kletterte und langsam in ihr warmes Bett kroch um meine Liebste in die Arme zu nehmen, drangen Schritte aus dem Flur zu mir, kurz bevor die Tür aufgerissen wurde und ich mit Erschrecken feststellen musste, dass ich mich in einer einzigen Blutlache befand.
    Ich schluckte den aufkeimenden Schmerz und die blinde Wut hinunter, vermied den direkten Blick zu Beliar.
    „Tristan, ich möchte dir ein Angebot machen“, Beliars Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, das sich in meine Ohren verirrte.
    „Ich möchte, dass du für mich arbeitest. Ich möchte, dass du mein Henker wirst! Dafür gebe ich dir, was du dir sehnlichst wünscht. Deine einstige Schönheit, die Möglichkeit dich an deinem Vater zu rächen.“
    Obwohl ich Beliars Stimme klar gehört hatte, rauschte es mit einem Mal in meinen Ohren. Ich erinnerte mich an die vielen Geschichten, die ich durch meine Großmutter gehört hatte, während sie mit ihren verknorpelten Fingern meine kleinen Jungenhände festhielt. Ihr Atem hatte stets nach Minze gerochen, die blinden Augen waren auf mein Gesicht geheftet, während ihre makellosen Zähne sich bewegten und ihre flüsternde Stimme den Weg in meine Ohren fand.
    „Drei Götter gibt es auf dieser Welt. Doch nur den einen solltest du wahrlich fürchten. Wenn er dich in deinen Bann zieht, gibt es kein Zurück“, Großmutters Flüsterstimme schien plötzlich überall um mich herum zu sein, während die Kerze auf meinem Nachttisch zu flackern begann und Schatten sich an den Wänden abzeichneten. „Die dunklen Augen, die wie tiefe Seen schimmern, das dunkle Haar, das weich in deinen Fingern liegt und stets gepflegt aussieht. Die feinen Hände, die sich brennend auf deine Haut legen, nur um dich zu verlocken.“
    „Großmutter!“, tadelte meine Mutter sie und funkelte wütend mit ihren Augen, „Tristan ist viel zu jung für solche Geschichten!“
    „Als du noch ein kleines Mädchen gewesen bist, habe ich dir diese Geschichten auch erzählt“, erwiderte die alte Frau, während ihr leerer Blick nach meiner Mutter suchte. Ich hatte mich stets gefragt, wie sie es mit ihrer Blindheit dennoch immer geschafft hatte mich überall zu finden, während sie die anderen nicht sah.
    Meine Mutter scheuchte meine Großmutter von meinem Bett und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, während ihre Hand auf meinem Arm ruhte. Ich konnte die blauen Flecke sehen, die ihre wunderschöne Haut übersäten. Ich fuhr mit meiner freien Hand durch ihr golden aussehendes Haar, während ihre Augen feucht wurden und sie sich von mir abwandte.
    „Schlaf jetzt ein, mein Junge“, sagte sie mit zitternder Stimme, erhob sich und verließ das Zimmer, während meine Großmutter wie ein Schatten zurück an mein Bett gelangte.
    „Eines Tages wird er auch die versuchen zu verlocken. Und nur du kannst entscheiden, welchen Weg du einschlagen wirst“, flüsterte sie, drückte meine Hand und stand wieder auf.
    „Süße Verlockung“, murmelte meine Großmutter in einem Ton, den ich noch nie von ihr vernommen hatte, während sie langsam die Tür hinter sich schloss und durch unseren großen Flur davon schlurfte.

    „Wie würde es aussehen, wenn ich Euer Henker wäre?“, erkundigte ich mich, denn das war wohl die alles entscheidende Frage oder nicht?
    „Du würdest meine Welt jederzeit verlassen können und zurück nach Myrtana kehren. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, deren Zeit bereits verstrichen ist. Du würdest sie zu mir bringen“, sagte er schlichtweg.
    Das war alles? Das konnte doch nicht alles sein? Es klang zu einfach, zu simpel.
    „Wo ist der Haken?“, fragte ich, während meine Augen sich auf Beliars fixierten.
    „Was für ein Haken?“, erwiderte er, während sein Mundwinkel belustigt zuckte.
    „Wollt Ihr mir sagen, ich muss die Menschen nur aufsuchen, ihnen sagen, dass Ihre Zeit verstrichen ist und sie dazu auffordern hierher zu kommen?“
    „Ah“, lachte er leise, „auffordern ist da wohl das richtige Stichwort!“
    „Was soll das heißen?“, meine Stimme zitterte. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen wollte.
    „Nun, da die Menschen ihrem Tod irgendwie entkommen sind, ist es an dir sie zum Sterben Aufzufordern“, Beliar betonte das Wort Aufzufordern extra und sah mich dabei eindringlich an, während seine Mundwinkel weiter belustigt zuckten.
    „Ein richtiger Henker, also?“, stockte ich.
    „Nun, nicht ganz. Du bist dann mein Henker, deine Axt wird also alles andere als stumpf sein“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
    Wollte ich das? Würde ich es schaffen einen Menschen im Auftrag eines Gottes zu töten?
    „Du musst das Ganze einmal so sehen. Diese Menschen sind eigentlich längst tot. Sie haben es aber irgendwie geschafft diesem eigentlich unausweichlichen Fakt zu entkommen. Du hast dadurch die Möglichkeit zurück unter die Lebenden zu gelangen.“
    „Ich muss also nur jene zu Euch bringen, die bereits längst tot sein müssten?“, wiederholte ich das für mich Wesentliche.
    Beliar nickte, während er sich bedächtig die Lippen leckte.
    In meinem Kopf dröhnte es. Wenn die Menschen noch am Leben waren, obwohl sie bereits tot sein müssten, handelte es sich vermutlich meist um Verbrecher die es irgendwie geschafft hatten zu entkommen oder um alte und kranke Menschen, die durch irgendetwas davon abgehalten wurden zu sterben.
    „Was ist mit Jasmin? Ist sie hier?“, erkundigte ich mich.
    Beliar schüttelte den Kopf.
    „Ich habe sie zu einem wunderschönen Ort geschickt und habe sie die letzten Minuten ihres Lebens vergessen lassen.“
    „Ich werde sie also niemals sehen können?“
    „Nein, ich kann dir vieles geben, doch Jasmin muss an dem Ort verweilen, den ich für sie geschaffen habe und du darfst jenen Ort niemals betreten.“
    Ein dicker Kloß breitete sich in meinem Hals aus. Ich würde Jasmin also niemals mehr wiedersehen.
    Ich legte meinen Kopf in meine Hände und vergrub meinen Mund tief in meinen Innenflächen. Ich wollte schreien, schluchzen aber was hätte all dies gebracht? Wenn ich keiner Aufgabe nachging, würde ich jeden einzelnen Moment nur an den Hass meinem Vater gegenüber und meine verlorene Liebe denken.
    „Du kannst es auch erst versuchen und dann schauen wir weiter“, drang Beliars Stimme an mein Ohr.
    Ich erhob mich, streckte ihm zögerlich die Hand entgegen und der Gott nahm sie mit einem Funkeln in den Augen an.
    Geändert von Ajnif (14.06.2017 um 10:44 Uhr)

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    hokuspokus 
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    Laut scheppernden die Glocken der Eingangstür. Die größten in jedemfall, während die kleinen verzweifelt versuchten die angerosteten Kugeln, hin und her zu schwingen und andere wiederum nur einen Ton von sich gaben, weil sie durch den Schwung der Tür und der damit verbundenen kräftigen Bewegung am Seil gegen andere Glocken krachten. All diese Glocken wirkten so fehl am Platz, besonders die goldig schimmernden, als sich ein kleiner Raum vor mir auftat. Bei dieser Begrüßung hätte ich mit etwas opulenterem gerechnet.
    Meine Augen brauchten einen kurzen Moment um sich an das spärliche Licht zu gewöhnen. Ich versuchte die Quelle des Lichts auszumachen, konnte aber weder Fackeln noch Kerzen entdecken.
    „Jaaaaa, bitte“, sprach eine zittrige Stimme so gedehnt langsam, dass ich beinahe das Gefühl hatte, der Besitzer müsste im nächsten Moment einschlafen.
    „Ich sollte mich hier melden“, sagte ich vorsichtig und versuchte auszumachen woher die Stimme gekommen war.
    Eine Weile war es totenstill im Raum. Ich kratzte mir am Kinn, der Beliar sei Dank wieder am rechten Platz war und biss mir auf die Lippen. Ich war durchaus geduldig, doch die Zeit zog sich hin und ich hatte nicht das Gefühl, dass sich mir einer erbarmen würde. Missmutig wandte ich mich um, riss die metallene Tür auf, die durch kleine rote Scheiben verziert war, während die Glocken über mir wütend zu schlagen schienen.
    „Jaaaaa, bitte“, ertönte erneut die Stimme aus dem Hintergrund und ich wandte mich erstaunt um, meine Augen wanderten suchend durch den kleinen Raum, konnten aber nichts entdecken.
    „Beliar schickt mich“, versuchte ich es erneut und lauschte auf eine Antwort, doch nichts dergleichen sollte mir gegeben werden.
    Meine Nase kräuselte sich und ich kniff verärgert meine Augen zusammen.
    „Findest du das etwa witzig?“, blaffte ich etwas lauter, während ich mich zum Gehen umwandte und die Tür erneut aufriss, während die Glocken wütender denn je ihren schaurigen Klang zum Besten gaben.
    Ein dumpfer, harter Schlag auf meinen Kopf, der mich zu zu Lebzeiten vermutlich niedergestreckt hätte, ließ mich in der Bewegung innehalten.
    „Jungchen, die Glocken wurden nicht zum Vergnügen aufgehangen. Man kommt rein, sie klingeln. Ich sage jaaaaaa, bittte und der Eingetroffene sagt warum er hier ist“, erklang es langsam direkt hinter mir, während etwas Festes sich in meinen Rücken drückte, mich am fortlaufen aber auch am umdrehen hinderte, sodass ich förmlich dazu genötigt wurde den beinahe einschläfernden Ton zu ertragen.
    Ich hatte eine böse Bemerkung auf der Zunge, doch ich verkniff sie mir. Der Druck löste sich von meinem Rücken und ich drehte mich erleichtert um, um im nächsten Moment erneut zu erstarren. Ich war mir nicht sicher wie schnell man sich an die Gegebenheiten nach dem Tod gewöhnte. In meinen vielen Büchern hatte ich bereits einiges über untote Wesen gelesen, die durch Myrtana wandeln sollten. Leibhaftig hatte ich bis zum jetzigen Moment aber noch keinen gesehen, wenn ich die beiden Frauen bei Beliar nicht mitzählte, aber die hatten auch alles andere als tot ausgesehen, ebenso wie die alte Frau. Die Skelette waren eindeutig nicht mehr lebendig, dem war ich mir sicher. Wobei ich nicht einmal mit Gewissheit wusste, ob das vor mir stehende Wesen nun gänzlich tot oder eher untot genannt werden wollte. Ich musste mich selber bremsen. Durch die ganzen Überlegungen hätte ich unter normalen Umständen längst Kopfschmerzen gehabt.
    Der alte Mann vor mir, jedenfalls schien das Wesen zu Lebzeiten ein solcher gewesen zu sein, griff sich mit der linken, leicht faulig aussehenden Hand in seine rechte Augenhöhle, in der definitiv ein Auge fehlte, kratzte sich mit den langen Fingernägeln, nur um sie sich im nächsten Moment mit der grauen Zunge abzulecken.
    „Spinnen“, sagte er qequält langsam, während sein noch vorhandenes Auge mich beäugte, „ich habe ihnen schon mehrfach gesagt, dass mein Auge kein Nistplatz ist. Die blöden Viecher hören einfach nicht.“
    Ich räusperte mich und suchte nach einer passenden Antwort, doch statt des Satzes kam mir nur ein wenig Galle hoch und ich überdachte meine Idee noch einmal.
    Der Alte nestelte mit seinen Fingern an einem glänzenden Horn, das in seinem linken Ohr steckte und drehte es so, dass die Öffnung in meine Richtung zeigte.
    Unbehaglich kratzte ich mir die Arme, während ich darüber nachdachte den Ort direkt wieder zu verlassen. Der Alte schien meine Gedanken zu erahnen, richtete seinen Stock auf mich und zog mich mit dessen Bogen näher an sich heran.
    „So kann ich dich besser hören“, sagte er, während sich die Andeutung eines Lächelns um seine Lippen bildete. „Was kann ich für dich tun?“
    „Vielleicht noch etwas langsamer reden“, murmelte ich trocken.
    Der Alte zog seine Augenbrauen hoch, während sein Auge mich so eindringlich musterte, dass ich es beinahe mit der Angst bekam. Hatte er mich etwa gehört?
    „Beliar schickt mich, Ihr sollt mir meine Ausrüstung geben“, brüllte ich stattdessen so laut ich konnte.
    Der Alte taumelte zurück und blinzelte kurz. „Brauchst deswegen ja nicht so zu schreien“, erwiderte er, stützte sich auf seinem Stock ab und wandte sich murrend um.
    Verwirrt starrte ich dem Alten hinterher. Hatte er mich etwa die ganze Zeit verstanden?
    Der Alte schlug mit seinem Stock gegen die Rückwand des kleinen Raumes, die mit einem ächzenden Laut nachgab und den Weg auf einen langen Gang freimachte.
    „Komm mit!“, forderte der Alte mich auf, der zu spüren schien, dass ich immernoch an meinem Platz stand. Seufzend folgte ich seiner Anweisung. Was hatte ich denn schon noch zu verlieren?
    Wir gingen gemächlich durch den Gang, wobei ich glaube, dass selbst gemächlich eine noch zu schnelle Beschreibung der Gangart des Alten war. Seine verfilzten Puschen schlurften viel mehr über den Boden, in einer Langsamkeit, die sogar verhinderte, dass der Staub auf den Dielen irgendwelche Anstalten machte hochzuwirbeln. Mein Blick wanderte an der Wand entlang, an der einige Gemälde befestigt waren. Eine dicke Dreckschicht hinderte mich daran irgendetwas zu erkennen. Interessiert fuhr ich mit den Fingerspitzen über die Schicht, in die ich so tief eindringen konnte, dass ich angewidert die Nase rümpfte, als der Dreck vor meinen Fingern hergeschoben wurde, bis meine Finger stoppten. Ich wollte meine Finger zurückziehen, doch sie reagierten nicht, bis ein kräftiger Ruck durch meinen Arm ging und ich näher zum Rahmen gezerrt wurde, wodurch mein Kopf gegen die Dreckschicht schlug.
    „Frischfleisch“, knurrte es direkt hinter dem Rahmen, als irgendetwas sich an meinen Fingerkuppen zu schaffen machte. Panisch versuchte ich mich von dem Rahmen zu lösen und stemmte mich mit voller Wucht gegen die Schicht, als diese unter dem Druck einfach zerfiel und blutrote Augen mich anstarrten, während meine Hand in einem Maul voller gieriger, sabbernder Zähne steckte. In meinen Augenwinkeln konnte ich etwas durch die Luft fliegen sehen, als das Wesen durch den Stock des Alten davon gestoßen wurde.
    „Bleib wo du bist!“, rief der Alte, während das Wesen wütend fauchte. Der Alte holte den Stock aus dem Rahmen und sah mich eindringlich an. „Nichts anfassen, habe ich gesagt!“, sagte er tadelnd.
    „Vermutlich zu meinem Vorgänger“, erwiderte ich gereizt, während ich meine Hand begutachtete, an der aber noch alles dran zu sein schien.
    „Wenn ich nichts gesagt habe, gelten trotzdem die Schilder, die hier hängen“, grummelte der Alte, schlug seinen Stock auf den Boden und zeichnete ein Rechteck, bückte sich, griff mit der Hand an eine Ecke und zog eine dicke Dreckschicht nach oben, um sie vor den Rahmen zu spannen.
    „Welche Schild..?“, begann ich, als wie durch Zauberhand ein großes, bedrohliches Schild sich mir näherte, auf dem unverkennbar zu lesen stand:
    Das Berühren der Rahmen ist ausdrücklich verboten!
    Ich spürte wie meine Schläfe zu zucken begann. Der Alte und ich würden ganz eindeutig keine Freunde werden.
    „Was war das für ein Wesen?“, erkundigte ich mich.
    „Ein Namenloser Dämon, der dich verdaut hätte, wenn ich nicht da gewesen wäre“, murmelte der Alte, während er sich wieder in Bewegung setzte.
    Ich starrte den Rahmen lange an, bezweifelte, dass die Dreckschicht einen solchen Dämon wirklich in Schach halten würde und fragte mich, was wohl nach der Verdauung mit mir geschehen wäre.
    „Kommst du endlich?“, ertönte der Alte, der gefühlt keine zwei Meter vor mir war. Seufzend machte ich einen großen Schritt und kam direkt hinter ihm zu Stehen.
    „Wir sind da“, murmelte er und zeigte auf die andere Wandseite, an der sich eine kleine Tür befand.
    Innerlich war ich zwiegespalten. Konnte sich hinter der Tür noch ein weiterer Dämon befinden, der alles daran setzen würde mich zu zerstückeln? Würde ich erneut in ein tiefes Loch fallen, das letzten Endes niemals aufhören würde? Oder sollte ich endlich erfahren warum es Beliar so wichtig gewesen war, mich in diesen Laden zu begeben?
    Am Ende siegte meine Neugier und ich drückte die dunkle Tür mit den dunkleren Metallbeschlägen langsam auf. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen und ich hielt mir keuchend die Nase zu. Der Alte schob sich an mir vorbei und entzündete eine Fackel, die den Raum schlagartig in ein angenehmes Licht tauchte. Dort waren sie, zahlreich und jede auf ihre eigene Art einzigartig. Ich betrachtete jene mit geschwungenen und gewundenen Hälsen, solche mit langen oder auch kurzen Scheiden, spiegelte mich in ihrem polierten Antlitz, legte meine Hände auf sie und fuhr mit den Fingern über jede glatte Stelle, jede Unebenheit, jeden Hügel. Besonders faszinierten mich jene, deren dunkle Farbe auf eine angenehme Art glänzte. Ich berührte den Hals, spürte wie meine Hand sich vollends um diesen legte, beinahe zärtlich legte mein Daumen sich auf die feine Struktur. Mir gefielen die vielen Verzierungen, die sich auf der Scheide ebenfalls widerspiegelten.
    „Mir gefallen die Hälse allesamt“, murmelte ich fasziniert. Wie sollte ich mich da entscheiden?
    „Ihr meint den Knauf“, korrigierte der Alte mich, dessen Hörhorn, beinahe an meinen Lippen zu hängen schien,während er nach der Scheide griff und das Schwert langsam heraus zog.
    „Ein wahres Meisterstück, gefertigt in Beliars eigenen Schmieden. Es gibt kein Schwert auf Erden, das es mit diesem hier aufnehmen könnte“, fuhr der Alte fort. Ich war so begeistert von der Schönheit der Klinge, dass ich gar nicht mitbekam wie schnell und begeistert er mit einem Mal sprach.
    „Doch für deine Aufgabe hat Beliar etwas anderes im Sinn“, sagte der Alte, während er mir das Schwert in die Hand legte.
    Es war leicht, und handlich. Mehr hätte ich über die wichtigen Eigenschaften eines Schwertes auch nicht zu sagen gehabt. Doch das wollte ich dem Alten ganz sicher nicht mitteilen.
    Er ging durch die Vielzahl an Waffen, bis er mit einem Lächeln stehen blieb.
    „Meine Schöne“, murmelte er mehr zu sich selbst, als seine Hände sich zitternd um einen langen Stiel legten. Ich schluckte den dicken Kloß hinunter, als der Alte die Waffe anhob und eine Axt zum Vorschein kam. Wie er sich zu mir umdrehte und mit der großen Waffe auf mich zuschritt, zitternden mir die Knie. Ich dachte an meinen Henker und dessen Waffe, seinen ersten gescheiterten Versuch mich damit zu köpfen und spürte wie eine seltsame Hitze in mir aufstieg.
    Die Axt, die der Alte zu mir brachte, wirkte wie die große Schwester des Schwertes. Meine Ohren rauschten als er kurz vor mir zum Stehen kam und die Axt zu mir rüber beugte. Meine Hände legten sich um den Stiel, ich war erstaunt als ich ihre Leichtigkeit spürte.
    „Beide Waffen wurden aus bestem Stahl gefertigt. Mit ihnen schneidest du problemlos durch jeden erdenklichen Gegner“, sagte der Alte, während sein Auge leuchtete, als sei er zum ersten Mal seiner großen Liebe begegnet.
    Seufzend betrachtete ich beide Waffen genau. Die Axt war durchaus sehr schön, doch in diesem Moment tendierte ich eher zu dem handlicheren Schwert, das man vermutlich auch etwas einfach unter einem Umhang verbergen konnte.
    „Ich nehme das Schwert!“, sagte ich und lobte mich für meine Entscheidung. Das war sicher die bessere Wahl.
    „Was für ein Henker willst du sein, Junge? Du nimmst die Axt natürlich auch!“, donnerte der Alte, während sein Auge aufgebracht funkelte.
    Hatte ich ihn etwa erzürnt?
    „Äh ok, ich kann es mir ja sicher noch einmal überlegen“, murmelte ich.
    Der Alte spuckte etwas Schleimiges aus seinem Mund aus und fuchtelte seltsam mit den Armen, als er sich murrend umwandte und nach etwas suchte.
    „Weiß die Schönheit gar nicht zu schätzen der Bengel“, schimpfte er.
    Wenn er wüsste, dass ich in meinem Leben nicht eine einzige Waffe besessen hatte, wäre er wohl vollends verrückt geworden. So schwieg ich lieber und enthielt ihm diese Information.
    Der Alte wickelte ein Dokument auf, dass sich über die gesamte Bodenlänge zu ergießen schien.
    „Trag hier deinen Namen ein. Du hast dir doch hoffentlich gemerkt, welchen Benutzernamen man dir an der Pforte gegeben hat?“
    „Was?“, verwirrt starrte ich auf das Dokument.
    Überall standen diese Zahlen mit den vorherigen Buchstaben. Welche Nummer hatte man mir noch einmal gegeben?
    „Zweifler, Zögerer und Gedankenloser“, dröhnte es hinter mir, während sich eine haarige Hand auf die meine legte und meine Haut heiß wurde. Im nächsten Moment war die Hand verschwunden. An ihrer Stelle war etwas in mein Fleisch eingebrannt.
    M1036728 las ich dort. Der Alte sah mich amüsiert an.
    „Geht das irgendwann wieder weg?“, erkundigte ich mich mit einem Blick auf das immer noch qualmende Brandmal.
    „Sobald du wieder auf der Erde bist, sollte man davon nichts mehr sehen“, versicherte der Alte mir.
    Ich notierte die Nummer auf dem Dokument und sah den Alten fragend an.
    „Das war es schon. Du kannst die beiden Waffen mitnehmen. Kümmere dich gut um sie. Vielleicht sollte ich dir noch etwas Fett mitgeben, damit du das Leder schön geschmeidig hältst“, murmelte er, während er auf dem Boden kramte. „Ah, hier ist es schon. Einen Beutel habe ich auch noch gefunden, mit Decke, Kissen, ein paar trockenen Brotstücken. Unter uns, das Brot solltest du vielleicht nicht mehr essen“, sagte der Alte, während er sich ein etwas grünlich aussehendes Stück in den Mund schob, „und die Decke solltest du vorher vielleicht einmal Lüften, sie müffelt etwas, aber sonst kannst du den Beutel so haben. Pass gut darauf auf, er stammt noch aus meinen Lebzeiten!“
    Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Sicher, er meinte es bestimmt nur gut mit mir, doch war ich mir in diesem Moment beinahe mehr als sicher, dass der Geruch im Raum einzig von der Tasche und der Decke herrühren musste.
    Der Alte schob mich aus Beliars Waffenkammer und verschloss diese ordentlich. Dann bewegte er sich zurück zum Eingang. Erstaunlicherweise wieder genauso langsam wie zu Beginn, was mich genervt die Augen verdrehen ließ.
    Als ich mich in dem kleinen Vorraum von ihm verabschiedet hatte, öffnete ich die Tür vorsichtig. Den Glocken war es aber egal wie langsam man diese öffnete, sodass sie ebenso laut scheppernden, wie bei meinem Ankommen. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, konnte ich aus der Ferne ein gedehntes „Jaaaaaa, bitte“, hören. Ich war mir nicht sicher was ich davon halten sollte, doch ich hoffte einfach, dass dieser Mann der Seltsamste in Beliars Reich war.
    Geändert von Ajnif (15.06.2017 um 21:38 Uhr)

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