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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Post [Story]Gellert und die überdimensionale Reifeprüfung

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Gellert
    Person B: Hogs
    Person C: Sigrid
    Person D: Xyz
    Person E: Ixidia III.
    Ort A: Xardas‘ Studierzimmer
    Ort B: Hort der Kristalldrachen
    Gegenstand A: Rune der Beschwörung des Dämonenkönigs
    Gegenstand B: Ring der Telepathie
    Gegenstand C: Sigrids Leichnam, obere Hälfte
    Entscheidung A: Den König der Amethystdrachen zu töten.


    Endlich. Der Blick durch das Quaternionenteleskop auf dem Dach des neunundzwanzigsten Eckturms hatte seine Berechnungen bestätigt. Er glitt von dem schlichten Hocker, den sein Vater stets vor der filigranen Apparatur stehen ließ. Sein lilafarbener Mantel bauschte sich, als er den Wehrgang entlang schritt. Unter ihm klatschte das tobende Meer des Schicksals gegen die uralten Fassaden der Burg Götterfall. Er hatte seinen Vater schon vor Jahren gefragt, warum er sie ausgerechnet mitten im unwirtlichsten Meer des Morgrads erbaut hatte und keine ehrliche Antwort bekommen. Letzteres war ihm allerdings erst vor wenigen Monaten klar geworden. Sein Vater hatte vorgegeben, dass dieser Ort der Dämonensphäre Beliars am nächsten war. Doch er, sein eigener Sohn, hatte seine Lüge entdeckt, als er die trianguläre Deistronomie revolutionierte. Auf der Suche nach den Grenzen seiner Macht als Avatar Innos‘ war ihm aufgefallen, dass dieser Ort nicht dem Reich der Dämonen, sondern der Sphäre der Schicksalsgöttin am nächsten war. Sein Vater konnte sagen, was er wollte: Bei der Wahl des gemeinsamen Wohnortes hatte Mutter die Hosen angehabt.
    Er warf einen Blick auf seine goldene Taschenuhr. Mutter war noch annähernd ein Tausendstel Äon auf der Schicksalshexenkonferenz, vor ihr brauchte er sich dieses Mal nicht in Acht nehmen. Sein Vater war das Problem. Es war schwer einzuschätzen, wie lange sein Erzeuger brauchen würde, um den König der Amethystdrachen zu unterjochen. Seinen Einschätzungen nach würde der Krieg mit den Amethystdrachen auf die Sekunde genau drei Jahre dauern, was bedeutete, dass er bei Morgengrauen sein Ende finden würde. Allerdings beruhte diese Einschätzung auf vielen unsicheren Annahmen. Zum Beispiel konnte er nur vermuten, dass die Amethystdrachen immer noch kein wirksames Mittel gegen den Regenbogentitanen seines Vaters gefunden hatten. Doch letzten Endes vertraute er seinen Überlegungen, kalkulierten sie derlei Ungewissheiten doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausreichend ein.
    Er warf einen siegesgewissen Blick an den dunkelgrauen Horizont, während er noch weiter ausschritt. Wolkenberge türmten sich spiralförmig über den Strudeln des Schicksalmeeres und verweigerten jeden Blick zur Sonne. Das letzte Mal, dass er die Sonne zu Gesicht bekommen hatte, war ironischerweise vor seiner Geburt gewesen. Damals, als seine Eltern in beispielloser Zusammenarbeit nicht nur ihren eigenen Sohn, sondern auch sich gegenseitig, unsäglich behindert und die Welt erneut ins Chaos gestürzt hatten.
    Doch nun war die Zeit reif. Die Planeten standen günstig. Seine Eltern waren weit weg, wo sie seine neuesten Pläne nicht rechtzeitig bemerken würden. Natürlich hatten sie ihm Aufpasser hinterlassen, doch dieser hatte er sich schon lange entledigt. Seit seinem Fehlschlag vor drei Jahren hatte er seine magischen Kräfte ebenso wie seine göttlichen unermüdlich gemehrt. Dieses Mal würde nichts schiefgehen. Er, Gellert, würde seinen Fußabdruck in den Annalen des Morgrads hinterlassen, die Taten seiner Eltern und aller Magier vor ihnen weit in den Schatten stellen.
    „Gellert, da bist du ja endlich! Ich hab dich überall gesucht!“ Aufgeregt flatterte ein halbmetergroßer Jungdämon um seinen Kopf.
    „Was ist los, Hogs?“ Gellert blieb stehen, um nicht mit seinem ungestümen Diener zusammenzustoßen. „Ist mein Vater schon unterwegs?“
    „Nein, nein, es geht nicht um den ehrenwerten Meister Xardas!“, jammerte der Dämon.
    Gellert hatte Hogs schon einige Male verboten diese schmalzige Anrede für seinen Vater zu verwenden, solange dieser nicht in Hörweite war. Doch dies war nicht die rechte Zeit, um die Erinnerungen des armseligen Geschöpfes zu erneuern. „Was gibt es dann, Hogs? Du weißt, wir haben zu tun! Warum hast du deinen Posten verlassen?“
    Hogs erstarrte mitten in der Luft und plumpste zu Boden. Beide Klauen über dem Kopf zusammengeschlagen, zog er seine Flügel eng an seinen Körper und zitterte.
    Gellert machte sich allmählich ernsthafte Sorgen. Seit er den Dämon von seinem Vater zum dreizehnten Geburtstag bekommen hatte, hatte Hogs ihn schon viele Male enttäuscht. Doch nur selten hatte Hogs solch eine Furcht vor der Reaktion seines Meisters gezeigt. Kurz flammte in ihm der zufriedenstellende Gedanke auf, dass er endlich eine so einschüchternde Präsenz wie sein Vater geworden war. Doch Hogs nächsten Worte ließen seine wohligen Gedanken zerplatzen.
    „Das werte Fräulein ist erwacht und hat getobt, ehrwürdiger Meister Gellert! Das Studierzimmer befindet sich in einem ganz und gar desolaten…“
    Gellerts strahlendweiße Augen weiteten sich. Dann ließ er den Dämon mitten im Satz stehen, breitete einfach seine Arme aus und stürzte sich von den Zinnen. Die feuchte Luft schlug ihm ins Gesicht, während sich blaue Magiefunken um ihn scharten und seinen Sturz abfingen. Die Levitation erreichte ihre volle Wirkkraft, ehe er am fünften Stock vorbeigerauscht war. Mit einem Schlenker wechselte er die Richtung und schoss die Fensterreihen entlang. Sigrid, dieses kleine Miststück!
    Er knallte einfach durch ein geschlossenes Fenster in den Hauptkorridor der vierten Etage. Scherben und Holz splitterten und stoben um ihn herum. Er spürte, wie ihm einige Bruchstücke in Gesicht und Hände schnitten, doch die Wunden schlossen sich augenblicklich. Den Instantheilzauber hatte er schon gemeistert, da hatte er seine göttlichen Kräfte noch gar nicht im Griff. Er musste dran denken, ein paar Skeletten aufzutragen, das Fenster zu erneuern. Sein alter Herr musste ja nicht schon von weitem Sehen, dass etwas nicht stimmte.
    Er flog um eine Ecke und hatte endlich die Flügeltür aus Nordmarer Purpuresche vor Augen, hinter der das Studierzimmer des bis heute mächtigsten Magiers aller Zeiten lag. Die würde er nicht einmal mit einem Helm aus gebeiztem Mythril durchschlagen können. Doch er kannte ja die Zauberformeln, um die Schlösser zu entriegeln. Hastig begann er sie vor sich hin zu murmeln, während er in den Landeanflug überging. Dreihundertdreiunddreißig Mal klickte das unscheinbare Türschloss. Seit dem Vorfall vor drei Jahren hatte sein Vater die Sicherheitsvorkehrungen verzehnfacht. Gellert hatte es lediglich eine Nacht gekostet, die neuen Schlösser zu überwinden, war seitdem jedoch so vorsichtig gewesen, seinen Vater dies nicht bemerken zu lassen. Als das letzte Klicken verhallt war, schlug die Flügeltür krachend auf.
    Gellert betrat den runden hohen Raum, dessen Wände über und über mit Bücherregalen bedeckt waren. Weit über ihm schimmerte die Glaskuppel, die den höchsten Raum von Burg Götterfall ungefähr auf Höhe des achten Stocks beendete. Auf dem Boden, inmitten des Pentagramms aus hochkonzentriertem Drachenblut, stand eine zerbrochene Streckbank. Gellert hatte wenig Vertrauen zu den modrigen Foltermöbeln aus einem der Kellergewölbe tief unter den Fundamenten gehabt. Doch dass selbst die zweijährige Sigrid die rostigen Armfesseln sprengen konnte, überraschte ihn. Die Zaubertränke, die er ihr regelmäßig verabreichte, schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Seine Eltern waren bisher nicht mal auf die Idee gekommen, dass er etwas mit der abnormalen Entwicklung seiner Schwester zu tun haben könnte. Lyrca betonte stets, dass die Magiepunkte, auf denen die Burg lag, für das rasche Gedeihen ihrer kleinen Tochter verantwortlich waren. Und sein Vater scherte sich natürlich einen feuchten Kehricht um seine einzige Tochter. Seit sein einziger Sohn den Einfluss der Götter zurück in die Welt gebracht hatte, bereitete er sich akribisch auf die Schlacht mit dem Avatar Beliars vor. Was ihm daneben noch an Freizeit übrig blieb, forderte der andauernde Krieg mit den Amethystdrachen ein, der in dieser Nacht sein Ende finden würde.
    „Puh, bist du schnell!“ Hogs war schweißüberströmt und japsend wieder an seiner Seite aufgetaucht.
    Für solche Floskeln hatte Gellert jetzt keine Zeit. Er musste seine Schwester schnellstens wiederfinden. Sein Blick glitt über die Gerätschaften und Artefakte, die eigentlich fein säuberlich in den unteren Regalreihen gehortet wurden, nun aber, jeweils in eine zufällige Anzahl Bruchstücke zerschlagen, überall auf dem Boden verstreut lagen. „Wo ist sie hin, Hogs? Die Tür war noch verschlossen und die Glaskuppel ist mit einer bruchsicheren Barriere beschichtet.“
    „Woher weißt du, dass die Barriere nicht zu brechen ist?“
    „Hab mich selbst davon überzeugt.“
    „Weiß der ehrwürdige Meister Xardas davon?“
    „Hogs, wo ist Sigrid?“, knirschte Gellert gereizt. Sein Plan durfte nicht scheitern. Nicht schon wieder. Wenn er mit seinen Einschätzungen bezüglich des Kriegsendes auch nur ein bisschen daneben lag, konnte sein Vater jeden Moment zurück kommen. Und bis eine ebenso günstige Planetenkonstellation wie in dieser Nacht eintrat, würden Jahrtausende vergehen. Er erinnerte sich daran, dass er seine Gefühlsausbrüche kontrollieren musste, wenn er von anderen ernst genommen werden wollte. Doch bei Innos, er war fünfzehn und kurz vor seinem großen Durchbruch, da war sowas jawohl erlaubt. Sein Blick huschte die hundert Meter hohen Regelwände empor.
    „Sie hat wieder einen Chamäleonanfall, nicht wahr?“, erkannte er das ganze Ausmaß seiner Probleme. Seine Schwester neigte seit einem nicht ganz ausgereiften Elixier zu Anfällen von unsichtbarkeitsähnlicher Assimilationen an ihre Umgebung. Beim letzten Mal hatte Lyrca ihre Tochter zwei Wochen gesucht, ehe sie in einem lecken Nachttopf wieder aufgetaucht war. Doch damals hatte Gellert seiner Mutter nicht ohne Hintergedanken seine Hilfe verweigert. Damals war es ihm ganz gelegen gekommen, dass seine Mutter keine Zeit hatte, sich mit ihrem anderen Kind zu befassen. Dieses Mal durfte die Suche keine zwei Wochen dauern. Und darum würde er sich auch nicht zurückhalten.
    Langsam hob Gellert seine Arme. Wenn er die kostbare Bibliothek zerstörte, würde sein Vater vermutlich nicht auf seiner, sondern auf der Seite des Baliaravatars in den bevorstehenden Götterkrieg ziehen. Eine einfache Telekinese musste genügen. Sorgfältig tastete er mit seinen Sinnen jedes einzelne Buch ab, bis er jedes von ihnen gepackt hielt. Mit einem Ruck zog er alle Bücher gleichzeitig aus ihren Regalen – nur an einer Stelle spürte er einen Widerstand. „Hogs! Dritter Stock, südsüdöstliches Regal! Dort, wo die Originalnotizen des ewigen Wanderers stehen!“
    Der Dämon schoss sofort los, während Gellert mühsam jedes Buch wieder an seinen Platz hievte. Eigentlich hätte er diesen Job selbst erledigt, war er doch um ein Vielfaches schneller als der tollpatschige Jungdämon, doch mit einer achtstelligen Anzahl Büchern in den Händen konnte selbst er seine Schwester nicht einholen.
    Flügelschlagend raste Hogs auf einen verschwommenen Fleck auf einem ramponierten Ledereinband zu. Er stieß ein Röhren aus, wobei grünliche Dämpfe aus seiner dämonischen Kehle quollen. Sofort wurde Sigrid sichtbar. Bleich und dürr klammerte sie sich an die schwebenden Wälzer. „Plöder Pruder!“, spuckte sie und stieß sich mit einem Satz von den Notizen des ewigen Wanderers ab. Im Zickzack sprang sie auf die Glaskuppel zu. Hogs hatte keine Chance, mit ihr mitzuhalten. Gellert lächelte siegesgewiss, flüchtete seine Schwester doch in eine Sackgasse. Mit einem dumpfen Geräusch landete auch das letzte Buch wieder an seinem angestammten Platz im Regal. Doch plötzlich stieß seine Schwester ein schrilles Kreischen aus, das Gellert nicht einmal einer Harpyie zugetraut hätte. Hogs klappte die Flügel ein und stürzte wie ein Stein gen Boden. Gellert beschwor Barrieren in seine Ohren, um seine Trommelfelle zu schützen, und übernahm für den Dämonen. Reihe um Reihe zogen die Bücherregale an ihm vorbei, während er seiner Schwester nachjagte. Das Pentagramm unter ihm wurde zu einem winzigen Stern. Der Schrei seiner Schwester hielt an. Damit konnte sie vielleicht Hogs beeindrucken, ihn aber nicht!
    Doch schon im nächsten Moment musste er sich korrigieren. Risse zogen sich über die heftig vibrierende Glaskuppel. Gellert legte noch einen Zahn zu. Er musste sie erreichen, bevor… Es knackte ohrenbetäubend. Glassplitter und Barrierenfetzen prasselten auf ihn nieder, während seine Schwester den Eingeweiden der Burg entkam. Seine dumme, kleine Schwester hatte geschafft, woran er gescheitert war. Der Stolz auf seine Forschungsergebnisse hielt sich allerdings in Grenzen, musste er seinem Experiment nun doch erst einmal wieder Herr werden. Bei ihrem Vorsprung konnte es Stunden dauern, bis er sie einholte. Stunden, die er nicht hatte.
    Leichtfüßig landete er auf den Zinnen von Burg Götterfall. Hinter sich die zerstörte Glaskuppel. Die würde er nicht mehr vor seinem Vater verbergen können. Er konnte sich auf ein Donnerwetter gefasst machen, das selbst auf dem östlichen Archipel noch die Mammuts aufschrecken würde. Versagen kam nun erst recht nicht mehr infrage. Wenn er seinen Vater schon gegen sich aufbrachte, dann musste es sich auch gelohnt haben. Eigentlich hatte er nicht so weit gehen wollen, doch Sigrid ließ ihm keine Wahl. Sie wurde immer kleiner und kleiner, während sie drei Zinnen auf einmal nehmend dem offenen Meer entgegen strebte.
    Hogs hatte ihn abermals eingeholt. Und da seine Schwester ihren Schrei beendet hatte, löste Gellert die Barrieren in seinen Ohren wieder auf. „Meister, sie hat die Barriere gesprengt! Ich dachte…“
    „Ich weiß“, würgte Gellert seinen Jungdämon ab. Er ließ einen Runenstein aus dem Ärmel seiner Kutte in seine Hand fallen. Den Göttern sei Dank hatte er seine Schwester markiert. Die Reichweite der Rune war begrenzt, doch innerhalb der Burg sollte sein erster selbstentwickelter Zauber funktionieren.
    Hogs Dämonenaugen wurden groß, als er das Symbol auf der Rune erkannte. „Aber die Nebenwirkungen! Wenn sich das Ziel zu schnell bewegt, kann es doch sein, dass der Zauber den Anwender zerlegt! Der ehrenwerte Meister Xardas wird nicht rechtzeitig zurück sein, um…“
    Doch Gellert verschwand in einem Wirbel aus Funken, noch ehe Hogs seine Bedenken zu Ende geäußert hatte. Er wurde durch einen Strudel von Farben durch Zeit und Raum katapultiert, konnte nicht sehen, wohin ihn die Reise verschlug. All sein Denken war darauf konzentriert nicht zu zersplittern. Dann verblasste der Farbenstrudel urplötzlich. Über ihm waren die spiralförmigen Wolkenberge des Schicksalsmeeres, unter ihm erkannte er seine Schwester. Die Teleportrune hatte ihn genau ans Ziel geführt. Obendrein noch in einem Stück.
    Göttliche Magie ließ die Fingerspitzen seiner freien Hand prickeln. Wie in Zeitlupe wandte seine Schwester ihren Kopf, warf einen Blick zurück auf ihren Bruder, den sie gerade erst passiert hatte. Die Distanz zwischen ihnen war optimal für das Wort der Herrschaft. Augenblicklich bremste Sigrid ihren Lauf und kam zwanzig Zinnen weiter zum Stehen. Gellert landete auf dem Wehrgang und konnte ein Keuchen nicht unterdrücken. Die Teleportation hatte besser funktioniert als erwartet, doch er musste sich mit aller Macht zurückhalten, um die Seele seiner Schwester nicht mit seiner Magie zu zerquetschen. Es war nicht leicht, einem Wirt keinen Schaden zuzufügen, ihn aber trotzdem unter vollkommener Kontrolle zu behalten. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Die vielen mächtigen Zauber, die er in den letzten Minuten benutzt hatte, forderten ihren Tribut.
    „Meister Gellert, geht es Ihnen gut?“, quiekte Hogs dicht neben seinem Ohr.
    „Fang Sigrid wieder ein“, befahl er barsch. „Die Streckbank ist zerstört worden, ich werde sie mit einem Eiszauber in dem Pentagramm fixieren müssen.“ Der Dämon machte sich sogleich an die Arbeit. Gellert warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Mitternacht. Ihnen blieben nur noch wenige Stunden bis zur Dämmerung.
    Sie kehrten in das verwüstete Studierzimmer zurück. Zu den Bruchstücken der filigranen Gerätschaften hatten sich nun auch noch die der Glaskuppel gesellt. Der Wind heulte und es begann zu regnen. Gellert ersetzte die Glaskuppel durch eine Barriere und wandte sich dann Hogs zu, der das zierliche Mädchen in seinen Klauen hielt. „Leg sie in die Mitte des Pentagramms.“ Mit einer unwirschen Handbewegung fegte er die Trümmer an die Wand, sodass der rote Stern aus Drachenblut freigelegt wurde. Hogs gehorchte und nahm flügelschlagend einen Sicherheitsabstand ein.
    Die kleine Sigrid lag ganz brav in der Mitte des magischen Kreises, ihre dunklen Locken ergossen sich über den kalten Steinboden. Er fror sie mit einer seiner Runen vollständig ein. Das magische Eis würde ihrem Kreislauf keinen Schaden zufügen, sie in einen Zustand vollständiger Zeitlosigkeit versetzen. Erst hatte er überlegt, ihren Kopf frei zu lassen, doch dann hatte er sich wieder an ihren Schrei erinnert. Er durfte jetzt kein Risiko mehr eingehen. Als er den göttlichen Zauber von ihr nahm, fühlte er sich erleichtert. Nichts war für ihn zu kräftezehrend wie ein Innoszauber. Er konnte nur zu gut verstehen, warum sein Vater die Feuermagier verraten hatte.
    Umso merkwürdiger war es für ihn, dem Avatar Beliars als natürlicher Feind entgegen zu treten. Dies war einer von vielen Gründen dafür, dass er beschlossen hatte, nicht nur einen Gott auf seine Seite zu bringen. „Hogs, es ist soweit. Die Planeten stehen perfekt. Du musst jetzt das transsphärale Portal herstellen. Verbinde uns mit dem Reich Beliars!“
    Hogs nickte gewichtig, flatterte zu einem Punkt direkt über Sigrid und legte die Klauen aneinander. Dämonen aller Altersstufen waren in der Lage, in die Sphäre ihres Gottes zurückzukehren. Doch nur den mächtigsten unter ihnen gelang auch die umgekehrte Sphärenwanderung. Das Machtwort, das Adanos einst gesprochen hatte, um sie aus seiner Sphäre fernzuhalten, war auch heute noch mächtig. Dämonen brauchten Hilfe von jemanden aus der Sphäre Adanos, um sie zu betreten. Doch selbst diese Beschwörungen gelangen nur mit den niederen Dämonen mittlerer Boshaftigkeit. Der Avatar Beliars würde nicht schlecht staunen, wenn er ihm den König aller Dämonen auf den Hals hetzte. Die Grenze zwischen den Sphären war heute Nacht schwach. Zu Ochse und Krieger hatten sich auch noch der Skorpion und die Schicksalsgöttin gesellt.
    Er holte zwei Runen hervor. Einer der beiden Steine war ein Rohling. In ihn würde er heute Nacht die Beschwörung des Dämonenkönigs bannen. Die andere beherbergte einen weiteren Zauber, den er selbst entwickelt hatte. Über Hogs war inzwischen ein kreisrundes Loch in der Luft erschienen. Gellert wirkte den Zauber seiner Rune auf den Jungdämonen. Hogs fauchte und grollte, als die Kraft des Zaubers ihn durchfloss, doch alles schien nach Plan zu verlaufen. Das Loch wurde größer und größer. „König der Dämonen!“, schrie Gellert und hielt den Runenrohling empor. Die Anwesenheit einer so übermächtigen Jungfrau wie Sigrid musste ihn einfach anlocken, da bestand gar kein Zweifel. Kurz flammte Zweifel an seinem Plan auf, doch er redete sich rasch wieder Mut zu. Wenn der Dämonenkönig kam, würde er seine Macht in der Rune versiegeln, bevor Sigrid auch nur ein Haar gekrümmt werden konnte. Sie war auf diesen Tag ebenso gut vorbereitet wie er. Das Portal wurde größer und größer. Er hatte Hogs viele Male genau erklärt, wie er die Verbindung aufbauen musste. Und doch spürte er Aufregung in sich aufsteigen. Warum bekam er nur so ein bedrohliches Gefühl? Es beunruhigte ihn zutiefst, auf seine Intuition hatte er sich schon immer verlassen können. Wenn seine Berechnungen falsch waren, hatte er das Studierzimmer seines Vaters umsonst verwüstet.
    Zum zweiten Mal in dieser Nacht zerbrach die Barriere, die das Studierzimmer überdachte. Ein Blitz fuhr aus den Wolkenbergen und traf Hogs, der verkohlt in eine Ecke geschleudert wurde. Das Portal waberte kurz und verpuffte. Gellert wusste gar nicht, was geschah, als ihn jemand an der Kehle packte und in die Höhe riss. Er spürte, wie die göttliche Magie unterdrückt wurde, die er Sekunden zuvor in seinem ganzen Körper mobilisiert hatte.
    Wenige Zentimeter vor ihm spiegelte sich sein eigenes erschrockenes Gesicht in den weißen Augen seines Vaters. Er hatte sich verrechnet, Xardas war zurück.
    Geändert von MiMo (19.04.2016 um 16:30 Uhr)

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    „Wie konntest du es wagen?“, grollte der mächtigste Magier aller Zeiten. Der Griff um den Hals seines Sohnes wurde immer fester. Gellert blieb nichts anderes übrig als hilflos zu strampeln und seinem Erzeuger einen halbherzigen Tritt gegen die Brust zu versetzen. „Nur noch ein Frontalangriff hat gefehlt, um den König der Amethsystdrachen endlich zu vernichten! Die versammelten Mächte der Kristalldrachen hätten dich in deinem Krieg gegen den Avatar Beliars unterstützt! Und jetzt? Ich musste den Regenbogentitan im Stich lassen. Ich spüre, dass er im Sterben liegt. Ich habe wegen dir einen meiner mächtigsten Handlanger verloren. Du musstest ja im ungünstigsten Moment die Barriere meines Studierzimmers zerstören, du kleine Plage! Ich dachte schon, hier sei sonst wer eingefallen!“
    „Lass mich los, du alter Zausel!“, krächzte Gellert und trommelte mit seinen Fäusten auf den unnachgiebigen Arm seines Vaters. „Damit habe ich nichts zu tun! Das war Sigrid!“
    Die weißen Augen des Dämonenbeschwörers wanderten zu seiner eingefrorenen Tochter. „Du bist ein schlechter Lügner, Sohn. Sie ist gerade mal zwei Jahre alt.“ Mit einem Schlenker seiner freien Hand ließ er das Eis schmelzen. Sigrid hustete zwei Mal auf herzzerreißende Weise und schlug ihre Augen auf. „Sie kann unmöglich…“
    „Ich kann es bezeugen, ehrenwerter Meister Xardas!“ Hogs erschien rußgeschwärzt und taumelnd wieder in Gellerts Blickfeld. Gellert hätte ihn eigentlich darauf hingewiesen, dass er von Sigrids Schrei geradezu seiner Sinne beraubt gewesen war und sich seiner Behauptung unmöglich sicher sein konnte, hielt den Einwand in diesem Moment aber für taktisch unklug. „Der ehrenwerte Meister Gellert ist ganz normal durch die Tür hereingekommen, das habe ich genau beobachtet!“
    Gellert hätte dem dummen Jungdämon am liebsten seine Flügel in den Rachen gestopft. Dass er auch nie wusste, wann er die Klappe zu halten hatte! Xardas starrte nun wieder seinen Sohn an. „Du hast alle Schlösser geknackt?“ Für einen kurzen Augenblick schwang so etwas wie Stolz in seiner Stimme mit. Doch er besann sich rasch wieder und fuhr fort: „Was wolltest du in meinem Studierzimmer? Dieses Ritual, das ich gerade unterbrochen habe…“
    „Das geht dich gar nichts an, du verkalktes Fossil!“, schrie Gellert und trat abermals nach seinem Vater.
    „Ihr werdet Hausarrest bekommen, alle drei!“, schimpfte Xardas. „Hogs, du bist zu nichts zu gebrauchen! Wieso hast du dieses Fiasko nicht verhindert? Sigrid, deine Lieblingsmurmeln kannst du vergessen, die versenke ich im Schicksalsmeer! Und du, Gellert…“ Die weißen Augen vor Gellerts Gesicht verengten sich zu Schlitzen, während die raue Stimme des Alten ganz leise wurde. „…bekommst Antimagiefußschellen. Dann kannst du nichts mehr anrichten.“
    „Versuchs doch! Du bist zu alt geworden!“, höhnte Gellert trotzig. Es war seine Nacht. Er würde jetzt oder nie in die Geschichte eingehen. Er würde seinen Vater überflügeln, lange bevor er sein magisches Zenit erreicht hatte. Xardas‘ freie Hand machte eine kreisende Bewegung. Irgendwo in den Trümmern der Apparaturen regte sich etwas. Kurze Zeit später schwebte eine Fußschelle in seine Hand. Sein Vater lächelte ihn boshaft an. „Du bist zu weit gegangen, Gellert. Und hast dich maßlos überschätzt. Den Dämonenkönig beschwören? Da hab ich schon dran geforscht, da war noch Rhobar II. an der Macht.“ Gellert horchte auf. „Hätte ich dein Ritual nicht unterbrochen, hätte Beliar selbst Macht über die Sphäre Adanos erhalten. Der Krieg der Avatare wäre überflüssig geworden, du hättest Beliar höchstpersönlich gegenübergestanden! Es schadet manchmal nicht, ausreichend zu forschen, bevor man handelt. Du bist zu unüberlegt und musst noch viel lernen, Sohnemann!“ Er rasselte mit den Fußschellen.
    „Man kann aber auch zu lange zögern!“, entgegnete Gellert selbstgefällig. Ein Runenstein fiel aus dem Ärmel seiner Kutte in seine Hand, blaue Funken begannen zu wirbeln. Zufrieden sah Gellert das erschrockene Gesicht seines Vaters, bevor ihn der Farbenwirbel verschluckte. Einen Sekundenbruchteil später tauchte er neben Sigrid wieder auf. Xardas wirbelte zu ihm herum. Gellert packte seine Schwester am Arm, wechselte seine Rune und nahm den überrascht quiekenden Hogs in den Schwitzkasten. Xardas streckte seine bleichen und von Blitzen umzuckten Finger nach ihnen aus. Gellert aktivierte seine Rune und riss Sigrid und Hogs mit sich in den Farbenstrom.
    Für den Moment wähnte Gellert sich in Sicherheit, doch er hatte nicht vergessen, dass sein Vater ihn sogar während seiner Zeitreise problemlos ausfindig gemacht hatte.
    Um ihn herum herrschte Dunkelheit, als er sich in seinem Kinderzimmer materialisierte. Der Alchemietisch und das Bett, die einzigen beiden Möbel des kargen Raums, waren in gegenüberliegende Ecken drapiert worden. Ein Fenster gab es nicht.
    Sigrid ließ sich wie ein nasser Sack zu Boden fallen. Hogs flatterte hysterischer denn je von einer Wand zur anderen. „Wir haben den ehrenwerten Meister Xardas wütend gemacht! Der ehrenwerte Meister Xardas ist wirklich wütend auf den ehrenwerten Meister Gellert! Und auf mich! Auf mich, herrje! Herrjemine!“
    Gellert versuchte seine Umgebung auszublenden, schloss seine Augen. Er hatte nicht viel Zeit, bevor sein Vater ihn finden würde. Er brauchte einen Plan. Bei Morgengrauen war die Planetenkonstellation vorüber, vorher musste er das Ritual durchgeführt haben. Blitzartig schossen ihm die Gedankenfetzen durch den Kopf. Der Regenbogentitan lag im Sterben. Sigrid war schneller denn je. Sein Vater würde ihn jeden Moment finden und seinen glorreichen Plan abermals vereiteln. Und er hatte gesagt, dass das Ritual so nicht gelingen konnte. Dass er damit lediglich Beliar ein Tor in diese Welt öffnete.
    Plötzlich packten ihn zwei kleine Hände am Arm. Gellert öffnete seine Augen und sah überrascht in das tränenüberströmte Gesicht seiner Schwester. „Mumel!“, gluckste sie heiser. „Prudi muss Mumel!“ Gellert war einen Moment überrascht. Zum einen, weil seine Schwester sich so schnell wieder auf seine Seite geschlagen hatte, obwohl sie zuvor nach Leibeskräften gegen ihn gearbeitet hatte. Und zum anderen, weil er nicht erwartet hatte, dass sie überhaupt verstanden hatte, was ihr Vater da über ihre Murmeln gesagt hatte. Es schien, als müsse er seinem Alten dankbar dafür sein, dass er ihm Sigrid so grandios in die Hände gespielt hatte.
    Er legte seiner Schwester beschwichtigend eine Hand auf ihren Lockenschopf. „Keine Sorge. Ich beschütze deine Murmeln vor Vater. Er wird sie nicht in die Finger bekommen.“ Während seine Schwester mit großen Augen zu ihm aufsah, musste er sich ein triumphierendes Grinsen verkneifen. Er wandte sich von seiner Schwester ab. Der Plan stand fest. „Hogs, Sigrid. Hört mir zu.“
    „Wir dürfen den ehrwürdigen Meister Xardas nicht noch wütender machen, Gellert!“, stieß Hogs atemlos hervor. „So wütend habe ich ihn noch nie gesehen. Am besten, wir stellen uns ihm und…“
    „Auf keinen Fall!“, würgte Gellert seinen Diener ab.
    „Plöder Hoggs!“, fügte Sigrid hinzu und verschränkte ihre Arme. „Mumel!“ Sie hatte aufgehört zu weinen. Nun zierte ein überaus mürrischer Blick ihr Gesicht.
    Wenigstens eine, die weiß, was Sache ist, dachte Gellert zufrieden. „Wenn du deine Murmeln wiedersehen willst, musst du mit mir zusammenarbeiten, Sigrid. Wenn du deine Aufgabe gut machst, werde ich deine Murmeln so verstecken, dass Vater sie nicht findet.“
    „Jawollja!“, strahlte Sigrid. Gellert lächelte in sich hinein. Kleine Kinder waren so leicht zu beeinflussen.
    „Bist du dir sicher, dass du das verantworten kannst?“ Hogs rang seine Klauen. „Ich meine, sie weiß doch gar nicht, auf was sie sich da einlässt!“
    „Ich weiß aber, was das Beste für sie ist“, entgegnete Gellert. „Nämlich, sich mit dem stärksten Magier aller Zeiten gutzustellen.“
    „Aber du könntest dich doch überschätzen. Ich meine, warum bist du denn dann gerade vor dem ehrwürdigen Meister Xardas geflohen, hä?“
    „Meine Zeit wird kommen. Schon bald. Und du wirst auch deinen Teil dazu beitragen, Hogs!“
    „Ich?“, japste der Dämon und vergaß vor Schreck, mit den Flügeln zu schlagen. Er klatschte auf dem Boden auf und sah mit großen Augen hoch zu Gellert.
    „Aber bevor wir zu deinem Part kommen, muss Sigrid ihre Aufgabe übernehmen“, wandte Gellert sich ab und trat an seinen Alchemietisch. Er öffnete eine Schublade unter der Arbeitsfläche und holte ein fein säuberlich verkorktes Reagenzglas daraus hervor, in dem eine milchige Flüssigkeit leise vor sich hin blubberte. Gellert ließ die Schublade einfach offen stehen und trat zurück an die Seite seiner Schwester.
    „Mumel?“
    „Ja, ich beschütze deine Murmeln. Wenn du Papa ein bisschen für mich ablenkst.“ Er war sich sicher, dass sie schneller war als ihr Vater. Sie war wie geschaffen für diesen Job. Er entkorkte den milchigen Trank. Sigrid war es schon gewohnt, von ihm die verschiedensten Tränke zu bekommen, sodass sie ohne zögern nach dem Reagenzglas griff und den Inhalt hinunterstürzte.
    „Was war das?“, fragte Hogs ängstlich.
    „Nur ein Serum, dass sie gegenüber Magie schlüpfrig werden lässt. In den nächsten Stunden dürfte kein Zauber in der Lage sein, sie zu halten. Insbesondere keine Telekinese meines Vaters.“ Sigrid gab ihm das Reagenzglas zurück und lächelte stolz. „Gut, und jetzt geh zu Papa und spiel mit ihm fangen. Er ist dran, dich zu fangen. Du musst dich ihm nur einmal kurz zeigen, dann fällt ihm das auch wieder ein. Wenn du dich nicht erwischen lässt, rette ich deine Murmeln. Hogs kommt zu dir und sagt Bescheid, wenn das Spiel vorbei ist. Einverstanden?“
    „Was hast du eigentlich vor, Gellert?“, fragte Hogs immer verunsicherter.
    „Ich werde mich zu dem Hort der Kristalldrachen aufmachen. Der Regenbogentitan liegt im Sterben. Das heißt auch, dass seine Macht die ihr angestammte Form verlässt. Das werde ich mir zunutze machen. Ich biete sie den Kristalldrachen im Austausch gegen ihre Gefolgschaft an. Je zerstrittener ich mit meinem Alten bin, desto eher werden sie diesem Deal zustimmen. Wenn ich erst einmal die Kristalldrachen auf meiner Seite habe, können sie mir helfen, ein Tor zum Dämonenbereich aufzubauen. Der Abstand zwischen den Sphären Adanos‘ und Beliars wird an ihrem Hort größer sein als hier, aber mit der Drachenmagie werden wir das schon hinkriegen. Mein Vater hat den stationären Teleporter auf dem Dach für die Reise benutzt. Er müsste also noch richtig kalibriert sein. Du musst mit Sigrid nachkommen, sobald es soweit ist.“
    „Alles kla, Brudi!“, rief Sigrid und streckte beide Arme in Siegespose in die Luft.
    „Aber nimm dich vor Ixidia in Acht. Ich bin mir nicht sicher, ob der Trank auch gegen Geistermagie hilft. Halt dich einfach von den Kerkern fern.“ Gellert holte seine Rune der Markierungsteleportation hervor. Die Markierung an Sigrid war eh von dem Trank abgewaschen worden. Er machte eine kreisende Bewegung mit seiner freien Hand, berührte zuerst mit Zeige- und Mittelfinger die Stirn des verdutzten Hogs‘, dann den Runenstein. „Nimm die hier mit. Wenn du mal nicht mehr weißt, wie du Vater noch entwischen sollst, benutz sie einfach. Sie wird dich zu Hogs bringen.“ Gellert schob den Gedanken, dass der Alte sich vermutlich nicht zweimal mit demselben Trick überrumpeln ließ, rasch beiseite. Immerhin würde er ihn nicht von Sigrid erwarten.
    „Aber die Risiken und Nebenwirkungen!“, hauchte Hogs entsetzt. Als er sah, wie Gellert die Rune an seine kleine Schwester weitergab, begann er wieder mit seinen Flügeln zu flattern und die beiden Geschwister zu umkreisen. „Wenn sie die Rune benutzt und zersplittert, wird…“
    „Sigrids Körper ist abgehärtet. Den juckt so eine Teleportation nicht im Geringsten. Hast du etwa vergessen, dass ich ihr den Waranschuppensud verabreicht habe, als sie gerade mal drei Monate alt war? Ihr natürliches Wachstum wird die Wirkung des Suds vervielfacht haben.“ Gellert runzelte die Stirn. „Ich frage mich, warum der Alte sich noch nicht in Bewegung gesetzt hat. Ich spüre seine Aura, aber sie scheint sich noch nicht gerührt zu haben.“ Was heckte der alte Zausel bloß wieder aus? Wollte er ihn mit einem Ritual wieder in sein Pentagramm beschwören, wie Lyrca es einst tat, als er zwischen den Zeiten gestrandet war? Er schüttelte den Gedanken ab und klopfte Sigrid auf die Schulter. „Du musst jetzt los. Viel Spaß beim Fangen spielen. Und nicht vergessen, lass dich nicht erwischen!“
    „Jawollja, Mumel!“, grinste seine kleine Schwester. Dann riss sie die Tür auf und schoss schwebend den Flur hinunter.
    Damit sollte sein Vater für eine Weile beschäftigt sein. Er wandte sich der offenen Schublade zu und durchsuchte sie nach weiteren nützlichen Gerätschaften.
    „Ich halte das für ganz und gar keine gute Idee“, lamentierte Hogs weiter. „Ich glaube nicht, dass es so leicht wird den Hort der Kristalldrachen zu erreichen. Die Drachen werden ihn verteidigen, gerade gegen den Sohn des Mannes, der eben erst gegen ihren König gekämpft hat. Sie werden dich aufhalten, noch bevor du überhaupt in der Nähe des Regenbogentitanen bist.“
    „Sie werden es zumindest versuchen.“ Gellert wählte die drei Tränke aus, die ihm am nützlichsten erschienen, und ließ sie in einem Lederbeutel verschwinden.
    „Und was war das mit Ixidia? Geistermagie? Hab ich irgendwas verpasst? Du glaubst doch nicht wirklich, dass der…“
    „Nachdem ich den Zeitreisehelm gegen den Willen des Alten benutzt habe, wollte er ihn nicht länger in seinem Studierzimmer aufbewahren. Ich glaube ein weiterer Grund dafür war, dass er mehr Platz für seine ständig wachsende Sammlung Bettpfannen brauchte. Auf jeden Fall hat er den Zeitreisehelm unter starken Bannzaubern in einem der untersten Kerkergewölbe versteckt. Und Ixidia als Wächter beschworen. Sigrid ist ihm mal beim Spielen in die Arme gelaufen.“
    „Nein“, widersprach Hogs perplex. „Das würde der ehrwürdige Meister doch nicht tun. Oder doch?“
    „Natürlich würde er das tun.“ Gellert ließ eine klimpernde Vielzahl an Kleinigkeiten in sein Säckchen fallen. „Das ist genau der Humor meines Vaters. Einen seiner ärgsten Feinde auch über dessen Tod hinaus noch als Knecht zu demütigen. Den Beliaravatar, den er zur Strecke brachte, noch bevor die Menschheit Notiz von ihm nahm.“
    Hogs nickte hastig. „Ich weiß, ich weiß. Jeder Dämon kennt die Geschichte. Bei uns ist Ixidia zur Legende geworden. Angeblich hatte er einen Meteoriten, so groß wie der Morgrad selbst, auf Gotha gelenkt, weil er mit den Paladinen dort in Streit geraten war. Er hätte die ganze Welt zerstört, wenn deine Eltern ihn nicht aufgehalten hätten.“
    „Ich glaube, dass meine Alten die Geschichte gerne ein bisschen ausschmücken. Fakt ist jedenfalls, dass nie ein derart großer Meteorit den Morgrad getroffen hat und Ixidia nach der Auseinandersetzung tot war. Bis der alte Zausel es witzig fand, ihn als seinen eigenen Diener wieder ins Leben zu rufen.“ Gellert lag inzwischen auf dem Bauch und wühlte unter seinem Bett herum.
    „Aber hat der ehrwürdige Meister denn gar keine Angst, dass Ixidia sich irgendwie einen Körper beschaffen könnte? Er könnte wieder richtig lebendig werden. Und das mitten in Burg Götterfall.“
    „Ich glaube, Vater ist dieser Nervenkitzel ganz recht.“ Er hatte einen kleinen Pappkarton unter seinem Bett hervorgezogen, dessen Inhalt er ohne weiteres in seinen Lederbeutel kippte. Den Karton warf er achtlos über seine Schulter und begann, den Beutel zu verschnüren. „Hogs“, sagte er beiläufig.
    „Ja?“ Der Jungdämon hielt in seinem Kreisen inne. Es konnte kaum offensichtlicher sein, dass er sich in seiner Haut alles andere als wohl fühlte.
    „Kommen wir nun zu deiner Aufgabe. Du musst für mich zu Xyz gehen und ihn auf meine Seite ziehen.“
    „Was? Vollkommen ausgeschlossen! Wie soll ich das denn machen? Ich steh in der Rangordnung doch am genau anderen Ende!“
    „Du musst ihm klarmachen, dass ich über den Avatar Beliars triumphieren werde und dass es für ihn und seine Jungs keinen Platz mehr auf Burg Götterfall geben wird, wenn er mir nicht frühzeitig seine Treue unter Beweis stellt. Er ist ein alter Choleriker, weiter nichts. Seit ich mit der Macht Innos‘ durchdrungen bin, sieht er auf mich herab. Es wird Zeit, das zu ändern.“
    „Ähm… Und was genau bringt dir das? Ich meine… du willst doch die Macht des Regenbogentitanen und des Dämonenkönigs, warum…“
    „…schere ich mich dann um so einen popeligen Dämonenfürst wie Xyz?“, erriet Gellert Hogs Gedanken. Er knallte die Schublade zu. „Das ist doch ganz einfach! Ich muss Burg Götterfall verlassen, ohne dass ich verfolgt werde. Sigrid lenkt den Alten ab und die olle Gewitterhexe ist nicht da. Also bleibt nur noch das finstre Heer meines Vaters, um sich an meine Fersen zu heften. Mit den Skeletten werde ich im Notfall schon fertig. Von denen kann ja fast keiner fliegen. Optimal wäre es natürlich, wenn Xyz die Dämonen gegen die Skelette ins Feld führt.“ Gellert warf Hogs einen überlegenen Blick zu. Der Jungdämon sah betreten zu Boden.
    „Ich fürchte, das wird nicht so einfach sein, ehrenwerter Meister Gellert. Was du da planst, ist eine komplette Machtübernahme von Burg Götterfall! Das geht nicht einfach so über Nacht.“
    „Muss es aber. Denn bei Morgengrauen ist es zu spät“, erwiderte Gellert. „Es reicht außerdem vollkommen, wenn die Dämonen meinem Vater den Dienst verweigern. Hauptsache, mir folgt niemand durch den Teleporter. Vater wird Xyz vermutlich schon kontaktiert haben, um uns die Dämonen auf den Hals zu hetzen.“
    „Aber wenn die Dämonen sich schon auf die Suche nach dir gemacht haben, dann bezweifle ich, dass Xyz sie alle rechtzeitig zurückpfeifen kann.“ Gellert warf Hogs einen strengen Blick zu. „Ach so… Er hat ja den Ring der Telepathie vom ehrwürdigen Meister Xardas bekommen, damit er jederzeit mit seinen Männern kommunizieren kann… Geht das denn mit so vielen gleichzeitig?“
    Ausnahmsweise war Hogs Frage gar nicht mal so dumm. Sein Vater hatte Tausende Dämonen unter sich vereint. Doch mit diesem Problem konnte er sich jetzt nicht auch noch herumschlagen. „Xyz wird sich eben etwas einfallen lassen müssen, wenn ich mit ihm zufrieden sein soll“, beendete Gellert das Gespräch und trat aus seinem Kinderzimmer auf das Schlachtfeld der Generationen.

    Xardas stand allein am Rand seines blutroten Pentagramms. Den Arm hatte er immer noch nach seinem widerspenstigen Sohn ausgestreckt, der Sekunden zuvor noch zum Greifen nah gewesen war. Gedankenverloren starrte er in die Leere, die er hinterlassen hatte. Sein Sohn hatte seinen Hang zum Aufrührerischen zweifelsfrei geerbt, von dem Potenzial seiner magischen Kräfte ganz zu schweigen. Gerade die Aufnahme der göttlichen Kräfte Innos‘ in jungen Jahren schien Gellerts Entwicklung noch exponentiell beschleunigt zu haben. Er selbst war erst in einem Alter mit der Macht Beliars erfüllt worden, in dem gewöhnliche Menschen, wenn überhaupt, nur noch an einem Gehstock laufen konnten. Langsam ließ er seinen Arm sinken. Er hatte seinen Sohn unterschätzt, keine Frage. Die Plage hatte eine Rune entwickelt, mit der er die naturgegebene Kraft seines Dämons nutzen konnte, um die Grenze der Sphären einzureißen. Doch das konnte nicht alles sein. Er musste einen Blick durchs Quaternionenteleskop werfen, um sich sicher zu sein, doch er vermutete, dass die Planeten in diesem Moment die Grenzen zwischen den Sphären bedeutsam schwächten. Und sein Sohn schien sich darüber im Klaren.
    Xardas spürte, wie die Verbindung zwischen ihm und dem Regenbogentitan flackerte. Stetig verlor sie an Kraft. Er musste wenigstens dafür sorgen, dass die Macht des Titanen nicht den Amethystdrachen in die Hände fiel. Dies wäre ein Rückschlag wie ihn die Titanen seit Schöpfung des Morgrads nicht hatten hinnehmen müssen. Seine jahrhundertelange Arbeit an dem Sieg der Titanen über die Götter wäre in nur einer Nacht zunichte gemacht.
    Seine weißen Augen wanderten über das verwüstete Zimmer. Die aufgehäuften Bruchteile glitzerten von Glas und Gold. Viele der Instrumente waren Unikate gewesen. Einige würden diesen Akt der Zerstörung gewiss unbeschadet überstanden haben. Andere wiederum waren wohl für immer verloren. Es klimperte und klapperte, als er mit seinem Telekinesezauber durch die Bruchstücke fuhr, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Amulett. Xardas schloss die Augen, um die Dinge besser spüren zu können. Der Spiegel der Missgunst aus dem Orakel der korshaanschen Naturgottheit war zerbrochen. Die Stimmgabel der dritten Konkubine Sassun des Zehnten lediglich verbogen. Ob sie noch in der Lage sein würde, die verbleibende Lebenszeit zu messen? Die Flasche mit dem Unsichtbarkeitselixier des Druiden Thortortronthron war zerschellt und hatte ihren Inhalt über einen nun unsichtbaren Satz Bannstempel vergossen. Xardas ärgerte dieser Verlust, er hatte die Rezeptur der letzten Tropfen dieses jahrhundertealten Gebräus noch nicht ergründet.
    Im Moment blieb ihm jedoch nicht viel Zeit, diesen Verlust zu bedauern. Darum stöberte er weiter, bis er endlich das Amulett gefunden hatte, das er suchte. Mit leise klimpernder Kette schwebte es aus dem Gerümpel auf ihn zu. Elegant legte es sich um seinen Hals. Und sobald das schwere, goldene Amulett seine Brust berührte, erschien ein helles Licht vor ihm. Er erlaubte sich einen kleinen Schmunzler bei der Vorstellung, was Saturas und seine Wassermagierkollegen wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass er sich nach ihrem Tod ihre Artefakte unter den Nagel gerissen hatte. Ein Gedanke, der ihn stets erheiterte, wenn er das Irrlicht benutzte.
    „Richte Xyz aus, dass er sämtliche Dämonen zusammenrufen soll, die mit Blutvertrag an mich gebunden sind. Sie sollen meine verdorbene Brut einfangen, in die Kerker bringen und dort festhalten. So lange, bis ich persönlich komme und sie dort abhole. Wenn einer von ihnen gefunden wurde, will ich davon sofort hören. Ich dulde kein Versagen. Dieser Befehl hat oberste Priorität. Das heißt, dass auch der Krieg mit den Amethystdrachen und die Suche nach dem Avatar Beliars bis auf Weiteres ausgesetzt werden.“ Das Irrlicht pulsierte zustimmend und zischte durch den Türschlitz davon.
    Xardas wandte seinen Blick zur nicht vorhandenen Decke. Regentropfen benetzten sein tief gefurchtes Gesicht. Eine Rune flog von einem Regalbrett in seine Hand, dann war die Glaskuppel wieder durch eine provisorische Barriere ersetzt. Er verließ sein Studierzimmer und versiegelte es mit den üblichen dreihundertdreiunddreißig Schlössern. Burg Götterfall besaß acht überirdische und noch mehr unterirdische Stockwerke. Allein in ihrer Außenmauer ragten sechsundsechzig Türme auf, insgesamt beherbergte die Burg wohl über hundert von ihnen. Gellert zu finden konnte dauern, gerade wenn er nicht gefunden werden wollte. Doch immerhin waren nun eintausend Dämonen auf der Suche nach ihm. Er hatte jetzt keine Zeit, sich um seinen naseweisen Nachwuchs zu kümmern. Er musste schnellstens zurück zum Regenbogentitan, bevor es zu spät war. Sein Sohn würde ohnehin nichts mehr anstellen können, wenn das gesamte Dämonenheer es auf ihn abgesehen hatte. Mental gab er denselben Befehl auch an seine Untoten weiter. Die Säuberung des neunten Untergeschosses musste warten. Die Markierung, mit der er und Lyrca Gellert zwischen den Zeiten aufgespürt hatten, war leider schon vor Monaten erloschen. Sie hätte ihm einige Scherereien erspart.
    Seine Schritte führten ihn eine achteckige Wendeltreppe hinab, die an einem Säulengang im dritten Stock endete. An jeder Säule hing das Banner irgendeines Königs. Er hätte diese mottenzerfressenen Überbleibsel vergangener Tage ja in den Schatzkammern verrotten lassen, doch Lyrca hatte sich allzu regelmäßig über die Kahlheit der Burg beklagt und energisch darauf hingewiesen, dass in den Schatzkammern kein Platz mehr für neue Schätze war. So hatte er sich dazu erweichen lassen, ein paar Skeletten zu befehlen, die besser erhaltenen Exemplare in diesem Säulengang anzubringen. Immerhin führte auch Lyrcas Weg regelmäßig hierher.
    Die Flügeltür am Ende des Korridors glitt auf, als er bis auf wenige Schritt herangenaht war. Ebenso selbstständig schloss sie sich wieder hinter ihm und die Fackeln an den Wänden loderten bläulich auf. Sie beschienen das sechzehneckige Becken, das Lyrca wöchentlich zum Baden verwendete. Sie erhoffte sich davon ewige Jugend, obwohl jeder, dem sie diese Hoffnung anvertraute, ihr zu verstehen gab, dass diese doch offensichtlich vergebens war. Was bei den Dienern stets mit einer Exekution, bei den Kindern mit einer Tracht Prügel und bei ihm mit einem abfälligen Kommentar über sein Augenlicht endete.
    Xardas musterte die klare glatte Oberfläche der magischen Substanz in dem Becken. Sie war mit Mana angereichert, was in vielerlei Hinsicht praktisch war. Er öffnete seine Robe einen Spalt breit und ließ die fünf Foki, grau und verbraucht, aus seinen Taschen schweben. Sie waren ebenfalls aus den Hinterlassenschaften der Wassermagier und höchst nützlich gewesen, um schnell vom Hort der Amethystdrachen zurück nach Burg Götterfall zu kommen. Bis sie wieder aufgeladen waren, würde es einen Tag dauern. Bei seiner nächsten Rückreise würde er also auf sie verzichten müssen. Platschend ließ er die magischen Steine in das Manabad fallen und kehrte ihnen den Rücken.
    Die Flügeltüren öffneten sich wieder vor ihm, die Fackeln erloschen. Doch er hielt inne. Vor ihm auf dem Boden hockte ein Rabe. Als ihre Blicke sich trafen, stieß das Viech ein heiseres Krächzen aus.
    „Du bist wirklich nur eine klischeehafte alte Kräuterhexe“, schnarrte Xardas.
    „Nun halt aber den Mund, du alter Zausel“, giftete der Rabe mit der Stimme seiner Gattin zurück. „Auf dem Blocksberg gibt es nun mal keine Kolibris. Dieser Rabe muss reichen.“
    „Ich habe es ziemlich eilig. Unser Sohn hat einiges Durcheinander gestiftet“, brachte er sie beiläufig auf den aktuellen Stand.
    „Das ist dein Problem. Ich bin auf dem Schicksalshexenkongress, weit weg! Du musst dich schon selbst drum kümmern. Ich kann ja nicht immer da sein, wenn die Blagen mal wieder Echsenmenschen gegen Bergtrolle antreten lassen.“
    „Er war kurz davor eine Verbindung mit der Sphäre Beliars herzustellen, wenn du es genau wissen willst. Um ihn aufzuhalten, musste ich den Regenbogentitan im Kampf gegen den König der Amethsystdrachen im Stich lassen. Er liegt im Sterben. Ich muss zurück und das schlimmste verhindern, also sag, was du zu sagen hast, und lass mich dann in Ruhe.“
    „Der finale Kampf war schon heute? Ich dachte, erst nächste Woche“, klackerte der Rabe zerstreut mit dem Schnabel. „Aber nun gut. Eigentlich wollte ich dir ja nur mitteilen, was mir beim Rat der Schicksalshexen Interessantes zu Ohren gekommen ist.“
    „Dann solltest du das endlich tun.“ Xardas war die Verzögerung leid und hatte sich wieder in Bewegung gesetzt.
    „Bleib stehen, du ergrauter Schimmelpilz!“, kreischte der Rabe, flatterte los und krallte sich dann in den Schulterstoff von Xardas‘ Schwarzmagierrobe. „Es gibt Gerüchte über einen Avatar der Götter. Wir sind dem ein bisschen nachgegangen und konnten die Gerüchte tatsächlich bestätigen. In einer kleinen Stadt auf dem östlichen Archipel schart ein Mädchen Männer um sich. Sie hat sich verschiedene Pseudonyme zugelegt, unter denen sie in verschiedenen Verkleidungen auftritt, aber es ist immer dieselbe Person.“
    Xardas geriet innerlich in Aufruhr. Endlich hatten sie den wahren Feind entdeckt. Nun konnte er die Titanen in ihrem ewigen Wettstreit um die Herrschaft über den Morgrad endlich wieder zum Sieg führen. Dieses Mal für immer. Doch da er seiner Frau nicht zeigen wollte, wie interessant er ihre Entdeckung fand, sagte er schlicht: „Aha, sonst noch was?“
    „Du eitler Gnomköttel, du!“, zeterte der Rabe, der ihn sofort durchschaut hatte. „Das ist alles, was die anderen Hexen bisher über sie wissen. Im Moment debattieren sie eifrig darüber, welcher Gott sie wohl erwählt hat. Doch ich denke, wir wissen, dass es nur Beliar gewesen sein kann. Adanos wird sich wohl kaum einmischen. Nicht, nachdem Fortriantes so ein unrühmliches Ende genommen hat.“
    „Dann hätte Beliar nach Ixidia erst recht keinen Menschen mehr erwählen dürfen. Aber ich verstehe, was du meinst.“ Er bog in einen schmalen Seitengang ein. Durch Fenster auf der rechten Seite konnte man nun den südlichen Beschwörungstempel Beliars sehen, den er vor den Paladinen in Sicherheit gebracht hatte, nachdem diese den nördlichen und westlichen zerstört hatten. „Ich werde mich sofort um diese Frau kümmern, sobald die Macht des Regenbogentitanen sichergestellt ist.“
    „Ich kehre dann mal endlich zu meinen Schwestern zurück. Sie werden sich schon fragen, ob ich Verdauungsstörungen habe“, sagte der Rabe. Gleich darauf begann er erschrocken zu krächzen und flatterte davon. Offensichtlich war nun wieder der Rabe Herr über seinen Körper.
    Doch Xardas beachtete ihn schon gar nicht mehr. Ihm kam jemand entgegen, mit dem er nicht gerechnet hatte. Sigrid lief den schmalen Gang entlang auf ihn zu, ignorierte dabei den eindrucksvollen Beschwörungstempel zu ihrer Linken.
    „Ah, Sigrid. Schön, dass du zu Vernunft gekommen bist“, sagte Xardas so freundlich es ihm nur möglich war.
    „Mumel!“, schrie Sigrid wütend und machte auf dem Absatz kehrt. Jetzt rannte sie vor ihm davon und wurde dabei immer schneller und schneller.
    „Na warte, du ungezogenes Balg!“, rief Xardas ihr hinterher und holte mit seinem Telekinesezauber aus.

    Hogs bebte vor Aufregung am ganzen Körper und schluckte zweimal übertrieben laut. Dann erinnerte er sich daran, was Gellert mit ihm anstellen würde, wenn er seinen Auftrag nicht ausführte, und griff nach dem eisernen Türklopfer. Dreimal klopfte er. Damit signalisierte er Xyz sofort, dass er nur einen sehr niedrigen Rang innehatte. Die Dämonenlords durften sogar eintreten ohne zu klopfen. Doch wenn jemand so Niederes wie er anklopfte, dann ließ sich der Dämonenfeldherr aller Wahrscheinlichkeit nach eine Menge Zeit, bis er öffnete. Zeit, die er nicht hatte, wie er nur zu gut wusste. Der Morgen war Gellerts unabwendbares Ultimatum. Und wenn seine jahrelange Vorbereitung umsonst war, dann würde Gellert seinen Unmut nicht nur an sich selbst auslassen. Hogs rang seine Klauen und hoffte inständig, dass ihm endlich aufgetan werde. Er warf einen Blick nach links und nach rechts, doch überall war nur gähnende Leere. Müssten jetzt nicht überall Dämonen auf der Suche nach Gellert und Sigrid umherstreunen? Oder wussten sie ganz genau wo die beiden waren, und verirrten sich deshalb nicht in diesen meilenweit entfernten Teil der Burg?
    „Wer ist da? Waren meine Befehle nicht deutlich?!“, grollte eine Stimme durch die eisenbeschlagene Tür. „Oberste Priorität sagte ich!“
    „Ähm…“ Hogs brach der Schweiß aus. Wenn er von Xyz gehört werden wollte, musste er vermutlich die Stimme erheben, doch im Moment fehlte ihm zu nichts mehr der Mut als zum Erheben seiner knabenhaften Piepsstimme. Er schüttelte sich den Selbstzweifel aus dem Kopf, räusperte sich und holte tief Luft. Er durfte jetzt nicht versagen!
    Mit einem Knall flog die Tür auf. Schwarze Aura strömte in den Flur und fegte Hogs an die gegenüberliegende Wand, wo er von Todesangst gepeinigt liegen blieb. Drei Meter groß und von schlanker, humanoider Gestalt. Pechschwarz und mit Muskeln bepackt wie kein Mensch es sich je würde ausmalen können. Vier Hörner auf dem Kopf, spitz und scharf. Und die Augen… die rot leuchtenden Augen in dem Kopf, der an den Schädel einer Raubkatze erinnerte. So stand der Feldheer des Dämonenheers breitbeinig vor ihm und starrte mit gefletschten Reißzähnen zu ihm herab.
    Hogs zitterte nicht mehr. Irgendein Urtrieb schien seinem Körper befohlen zu haben, sich totzustellen. Es musste ein ziemlich kluger Urtrieb gewesen sein, doch im Moment empfand Hogs ihn als höchst hinderlich. Lag er nun doch recht erbärmlich in seiner Ecke und konnte nicht einmal ansatzweise seinen Auftrag durchführen. Er musste die selbstauferlegte Leichenstarre abschütteln, seine Kiefer auseinander nehmen und eindrucksvoll verkünden…
    Xyz‘ klauenbewehrte Hand packte Hogs Kopf und hob ihn auf Augenhöhe. Die schlohweißen Nägel der Finger drückten tief in Hogs junges Dämonenleder. „Du bist es, Wurm?“, schnurrte Xyz. Das boshafte Lächeln, das seinen lippenlosen Schlund verzerrte, zeigte die spitz zulaufenden Zähne des Feldherren. Hogs entfuhr ein Quieken. „Entschuldige meinen Fehler, kleiner Wurm. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du es bist, der mich da mit einem Besuch beglückt.“ Er lachte, kurz und trocken, über seinen eigenen Witz. „Du bist natürlich nicht an meine Befehle gebunden. Als einziger Dämon dieser Burg gehörst du ja zu diesem…“ Er grunzte verächtlich. Dann ließ er die Fassade vorgetäuschter Freundlichkeit fallen und brüllte: „Du wertloses Stück Dreck hast nicht an diese Tür zu klopfen! Hast du mich verstanden? Uns beide trennen Welten. Deine mickrigen Fähigkeiten sind eine Schande für jeden ehrbaren Dämonen!“ Seine glühenden Augen verengten sich. „Ich könnte dich in einem einzigen Haps verschlingen, damit du bei lebendigem Leibe von der Säure in meinem Höllenmagen zersetzt wirst… Ich mag es, wenn das Essen noch ein bisschen zappelt, bevor das Sättigungsgefühl einsetzt. Aber das würde dem ehrwürdigen Meister wohl nicht gefallen. Menschen können so sentimental sein.“ Hogs schluckte geräuschvoll. Es war lebensmüde gewesen. Von Anfang an lebensmüde. Hätte er Gellert doch nur davon überzeugen können, dass dies kein guter Plan war. „Verpiss dich!“, schnarrte Xyz und schnipste den Dreck zwischen seinen Fingern davon.
    Hogs flog durch die Luft. Noch nie hatte er sich so erbärmlich gefühlt. Nicht mal in den Momenten, in denen er Gellert einen seiner größeren Fehler gestehen musste. Es war das eine von seinem Meister auf unkontrollierte Art und Weise getadelt zu werden, doch etwas völlig anderes, von Dämon zu Dämon derart herablassend behandelt zu werden. Xyz hatte recht gehabt. Sie beide trennten Welten. Im Kampf war der Dämonenfürst ihm haushoch überlegen. Und die Stärke eines Dämonen war der einzige Indikator für seinen Platz in der Hierarchie. Zudem diente er auch noch Xardas, dem mächtigsten Mann aller Zeiten. Er hingegen diente nur einem unreifen Jungen, dazu noch einem Avatar Innos‘. Was konnte es für einen Dämon im Auge eines anderen Dämons für eine größere Schmach geben? Dabei kämpfte Gellert gar nicht für Innos, widersetzte sich Tag für Tag seiner Bestimmung. Er war trotz seines zarten Alters einer der mächtigsten Magier der Welt, so viel stand fest. Und eines Tages würde er den Platz seines Vaters einnehmen. Eines Tages, wenn auch er selbst, der kleine Dämon Hogs, groß, stark und angesehen war. Dann würde er Xyz Platz einnehmen. Gellert kämpfte seit Anbeginn seiner Pubertät jeden Tag darum, den Thron seines Vaters zu besteigen, und was hatte er gemacht? Er war immer nur in Gellerts Windschatten mitgeflattert, hatte es sich bequem gemacht und die leichten Aufgaben erledigt, die ihm aufgetragen wurden. Er hatte sich nur um die Anerkennung Gellerts bemüht und sich nicht um die anderen Dämonen von Burg Götterfall geschert.
    Da erkannte Hogs, dass er selbst schuld war an seiner Mickrigkeit. Kurz bevor er auf dem Boden des Korridors aufschlug, breitete er seine Flügel aus und bremste seinen Sturz ab. Xyz, der ihm bereits den Rücken zugewandt hatte, um zurück in sein Büro zu gehen, hielt inne. Argwöhnisch warf er einen Blick über seine pechschwarze Schulter. Sein langer, schlanker Schwanz zuckte unruhig hin und her.
    Hogs sammelte all seinen Mut. Er würde seinen Teil zu Gellerts Erfolg beitragen und sich seinen Platz in der Hierarchie der Dämonen verdienen. „Ich habe dir noch nicht gesagt, warum ich hier bin, Xyz.“
    Xyz wandte sich wieder zu ihm. Verachtung sprach aus den leeren Augen. Der lange Schwanz peitschte bei der Drehung durch die Luft und zerschmetterte wie zum Spaß einen Kronleuchter. Glitzernd prasselten die Scherben zu Boden. „Du kannst mir nichts von Interesse sagen, du Wurm.“
    „Ich kann es tatsächlich nicht“, gab Hogs zu. Er unterdrückte ein Schaudern. „Aber mein ehrwürdiger Meister Gellert kann es. Er hat ein Angebot für Euch. Ein Angebot, das Ihr euch gut überlegen solltet.“
    Der riesige Xyz lachte dröhnend. „Und wo ist er dann, dein toller Meister? Wieso sehe ich ihn nirgendwo, wenn er mir, Dämonenfürst und Feldherr des größten Dämonenheeres des Morgrads, ein Angebot unterbreiten möchte? Ich rate dir ein letztes Mal, Wurm, verpiss dich.“
    „Er kann nicht persönlich erscheinen.“ Hogs Kehle war trocken und sein Dämonenherz pochte schmerzhaft in seiner engen Brust. Sein Blick verschwamm, doch er wich den kalten Augen Xyz‘ nicht aus. „Bis zum Morgengrauen wird er seinen Vater übertroffen haben und der mächtigste Mensch des Morgrads sein. Dies erfordert im Moment seine ganze Aufmerksamkeit, weshalb er mich an seiner statt schickt. Ihr braucht nur mit dem Ring der Telepathie Kontakt zu ihm aufnehmen, dann wird er Euch alles Weitere erzählen.“ Hogs zitterte. Sein Mut war aufgebraucht. Er konnte nichts mehr tun als tapfer weiter mit seinen Flügeln zu schlagen und sich in der Luft zu halten. Nicht dem Blick des Dämonenfürsten nachzugeben und sich zu einer Kugel auf dem Boden zusammenzurollen. Im Stillen entschuldigte er sich bei seinem Meister Gellert. Er hatte nicht geschafft, worum er gebeten worden war. Er hatte Xyz das Angebot nicht unterbreitet. Die Aufgabe hatte seine Fähigkeiten überstiegen. Er hatte Gellert mal wieder enttäuscht. Doch Gellerts Plan konnte aufgehen, wenn Xyz ihn nur kontaktierte. Dann konnte Gellert weitermachen, wo er versagt hatte.
    Der schwarze Riese sah mit rot glühenden Augen auf den Jungdämon herab. Bis auf die langsam pendelnde Schwanzspitze bewegte er sich nicht, nur ein Muskel direkt neben seinem Mundwinkel zuckte unheilverkündend. Ein Knurren löste sich tief aus der Kehle: „Du erbärmlicher Wurm…“

    Bücher schwebten in der Luft. Ihr Papier raschelte, während ihre Seiten mit hoher Geschwindigkeit durchblättert wurden, als führe eine steife Brise über sie hinweg. Pergamentrollen spulten ihren Inhalt ab. Inmitten der schwebenden Schriftstücke stand Gellert, beide Arme von sich gestreckt und mit geschlossenen Augen. Bücher fielen zu Boden, wenn sie fertig durchgeblättert waren. Pergament und Rollen häuften sich schon auf den quadratischen Steinfliesen. Doch aus der Dunkelheit kamen immer neue Stenografien herangeflogen und entblößten ihren Inhalt. Gellert las mit Lichtgeschwindigkeit alles, was sein Vater während seiner Zeit in der Barriere zu Papier gebracht hatte. Er war seinem Erzeuger dankbar, dass er ihm verraten hatte, während wessen Herrschaftsperiode er sich mit der Beschwörung des Dämonenkönigs beschäftigt hatte. So hatte er gleich gewusst, in welchem der vielen Archive er hatte suchen müssen. Die Aufzeichnungen seines Vaters waren detaillierter als jedes Tagebuch. Denn Xardas hatte schon während seiner Zeit beim Kreis des Feuers ein Verfahren entwickelt, mit dem ein Skelett die Gedanken seines Beschwörers mitschreiben konnte. In all den Jahrhunderten, die sein Vater nun schon lebte, waren natürlich tonnenweise Mitschriften entstanden, denn er hatte jede Sekunde seines Denkens protokolliert. Mit diesen Schriftrollen konnte er das gesamte Wissen seines Vaters in sich aufnehmen. Und zwar in einem Bruchteil der Zeit. Es musste sein eigener Hochmut gewesen sein, der ihn bisher davon abgehalten hatte, in eines der Archive einzudringen und das Wissen seines Vaters zu schnorren. Doch in diesem Fall war es unabdinglich. Noch vor Tagesanbruch musste er wissen, was er bei dem Ritual falsch gemacht hatte. Im Hort der Kristalldrachen musste es unbedingt gelingen.
    Er wurde aufgeregt, als er in einer Schriftrolle endlich die richtigen Schlagwörter entdeckte. Sofort ließ er auch alle anderen Stenographien aus demselben Regal herbei fliegen. Bilder und Visionen, Wissen und Hypothesen durchfluteten seinen Kopf, während er zwanzig Schriften auf einmal las.
    Knarzend öffnete sich die Tür des Archivs. Die Bücher und Pergamentrollen erstarrten. Gellert öffnete seine Augen. Fünf Dämonen strömten in den dunklen Raum und umzingelten ihn.
    „Da haben wir ihn ja!“, gackerte einer und kaute vorfreudig auf seiner Pranke herum.
    „Dassss wird ein Fesssstmahl“, zischte ein anderer mit meterlangem Körper.
    Noch ehe weitere Jäger ihre Freude zum Ausdruck bringen konnten, begann die ganze Wand zu bröckeln. Tonnenschwere Gesteinsbrocken brachen aus der Wand des zehn Meter hohen Kellergewölbes. Schließlich stürzte die Wand gänzlich in sich zusammen. Gellert hoffte nur, dass sie keine tragende Funktion besessen hatte.
    „Die Tür war leider zu klein“, dröhnte ein Dämon, dessen gedrungener Körper nicht aufrecht in die Burg passte. Mit sechs Armen stützte er sich auf dem Boden auf. Auf seinem länglichen Kopf thronte ein riesiges Geweih, das den Raum in seiner ganzen Breite ausfüllte und tiefe Kratzer in der Decke hinterließ.
    „Schön dich zu sehen, Druga“, begrüßte Gellert den Dämonenlord.

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    Uraltes Gestein barst, als sich das Geweih in den Raum bohrte. Die Wand gab nach, zentnerschwere Brocken zerquetschten Regale und Mitschriften unter sich. Die Dämonen wichen den niedergehenden Mauerstücken mit Leichtigkeit aus. Nur einer von ihnen verharrte einfach an Ort und Stelle, doch an seinem Rückenpanzer zerschellten die Gesteinsbrocken ohnehin wie Schneebälle. Der Dämonenlord Druga setzte eine seiner sechs riesigen Hände auf den kläglichen Stumpf, der von der Wand übrig geblieben war. Die vielen Enden seines Geweihs hinterließen tiefe Kratzer in der Decke.
    „Die Tür war leider zu klein“, dröhnte er mitleidslos.
    „Schön dich zu sehen, Druga“, empfing Gellert den Anführer des Jägertrupps. Die Namen der Dämonenlords, die seinem Vater dienten, hatte er noch vor seinem ersten Lichtzauber gelernt.
    „Meissster Xxxardasss wird zzzufrieden sssein mit unsss“, zischte der Schlangendämon mit dem Sprachfehler und schnalzte mit seinem länglichen Körper spielerisch ein Regal um. Die sinnlose Verwüstung eines wertvollen Archivs schien ihnen Vergnügen zu bereiten.
    Gellert hatte gehofft, dass die Dämonen noch ein wenig zum Plaudern aufgelegt waren, musste nun jedoch einsehen, dass dem wohl nicht so war. Druga rammte seine sechs Arme tief in den Boden, um einen festen Stand zu haben. Dann öffnete er seinen Schlund und begann eine Lavakugel zwischen seinen Kiefern zu laden. Der Dämon mit dem Rückenpanzer rollte sich zu einer Kugel zusammen und stieß sich mit seinen Hinterläufen ab, sodass er als tödliches Geschoss auf Gellert zu flog.
    Gellert hätte lieber noch ein wenig Zeit zum Lesen gehabt, musste sich aber mit einer Telekinese aus der Schussbahn retten. Der Kugeldämon durchschlug den Boden und mindestens noch zwei weitere Stockwerke. Gellert schwebte nun über einem Loch in dem meterdicken Boden des Kellergeschosses. Von hinten flog ein Dämon mit einem fünf Meter langen und rot pulsierenden Schwert auf ihn zu. Gellert griff mit seiner Telekinese nach dem Schwert und riss es dem verdutzten Dämon einfach aus der Hand. Der Schlangendämon hatte sich aufgebäumt, um mit seinen langen Zähnen den widerspenstigen Jungmagier zu packen, doch Gellert nagelte den Oberkörper des Dämons einfach mit dem Schwert an den Boden.
    „Nun denn, törichter Innos-Avatar“, hallte plötzlich eine Stimme durch Gellerts Kopf. „Dein Gewürm von einem Dämon hat mich tatsächlich neugierig gemacht, was du mir anzubieten hast. Schieß los, ich werde dir nicht ewig zuhören.“ Gellert war von Xyz' Stimme so überrascht, dass er den scharfen Krallen des nächsten Dämons nicht rechtzeitig auswich. Sie gruben sich tief in seine Schulter. Gellert schleuderte den Dämon mit seiner Telekinese von sich und gegen das senkrecht im Boden stehende Schwert, sodass der Dämon in zwei Teile zerhackt wurde. Die Instantheilung setzte ein und schloss die Wunden in Gellerts Schulter in Sekundenschnelle. „Wie viel hat Hogs dir erzählt?“, antwortete er dem Dämonenfürst in Gedanken. Mit einem Eiszauber fror er einen weiteren Dämon ein, der gerade von hinten nach seinem Kopf gegriffen hatte. Es war der, dem er das Schwert entwunden hatte. „Nichts. Nur, dass ich mit dir in Kontakt treten soll“, kam die ernüchternde Antwort postwendend. Gellert konnte ein genervtes Seufzen nicht unterdrücken. Hogs hatte also mal wieder alles vermasselt.
    Die Lavakugel, die in Drugas Schlund zu enormer Größe angeschwollen war, würde jeden Moment auf ihn abgeschossen werden. Der Kugeldämon kroch gerade wieder aus seinem Loch. Und ein Dämon mit ungewöhnlich langen Armen und einem riesigen Horn auf dem Kopf hielt vorsichtig Abstand. „Ich habe gerade keine Zeit, alles ausführlich zu erklären, aber ich werde noch heute Nacht die Macht des Regenbogentitanen unter meine Kontrolle bringen, die Amethystdrachen unterjochen und so meinen Vater überflügeln. Jeder, der sich mir dabei in den Weg stellt, wird schon morgen Burg Götterfall verlassen müssen.“ Gellert nahm es hin, dass ihn das Horn des Dämons durchbohrte. Nun konnte er in aller Ruhe seine Hand auf die Stirn des Dämons legen und dessen Kopf schmelzen. Der Dämon schrie qualvoll, das Horn brach ab. Gellert zog es sich aus der Brust. Dampfend schloss sich die Wunde durch Instantheilung. Er ermahnte sich, dass er sie nicht überbeanspruchen durfte. Irgendwann waren auch ihre Kapazitäten ausgereizt.
    Gelächter hallte durch seine Gedanken. „Du kleiner Wicht willst deinen Vater überflügeln? Wie viele Dämonen hast du denn auf deiner Seite, hä?“
    „Zehn Dämonen reichen nicht aus, um einen Kristalldrachen zu besiegen“, konterte Gellert. „Ich kann verstehen, dass es für euch zu riskant ist, sich gegen meinen Vater zu erheben, Xyz.“ Er positionierte sich zwischen Druga und dem Kugeldämon. Der Kugeldämon sprang wieder auf ihn zu. Gellert wich aus. Die gepanzerte Kugel schoss direkt in Drugas Rachen. Die Lavakugel zerplatzte zwischen den Reißzähnen des Dämonenlords. Druga bäumte sich röhrend vor Schmerz auf. Das Geweih riss die gesamte Decke ein. Noch mehr Stenografien stürzten in das Kellergewölbe. Noch größere Gesteinsbrocken hagelten auf sie herab. Der festgenagelte Schlangendämon wurde unter ihnen begraben. So eine Zerstörung hatte es in Burg Götterfall nicht mehr gegeben, seit die Amethystdrachen vor drei Jahren einen direkten Angriff gewagt hatten.
    Zufrieden ließ Gellert seinen Blick schweifen. „Ich habe soeben Druga und fünf weitere Dämonen ausgeschaltet. Und so wird es auch jedem anderen Dämonenlord ergehen, der sich mir in den Weg stellt.“ Dieses Mal antwortete Xyz nicht mit Gelächter. Er schien zu wissen, dass sein telepathischer Gesprächspartner die Wahrheit sagte und seine Drohung ernst meinte. Druga wälzte sich brüllend auf dem Boden und fegte ein Regal nach dem anderen einfach zur Seite. Die Bücher mit den wichtigen Abschnitten schwebten unversehrt hinter Gellert.
    Xyz klang nun um einiges berechnender. „Druga ist nur einer von zwanzig Dämonenlords, die deinem Vater bis in den Tod folgen würden.“
    „Das heißt nicht viel. Das Reich der Toten ist immerhin eure Heimat“, unterbrach Gellert den Fürst kühn. Krachend brach der Boden unter Druga ein. Der sich windende Lord stürzte eine Etage tiefer. Immer größere Teile des Kerkergeschosses gaben nach. „Mein Vater ist alt geworden und längst über den Höhepunkt seiner magischen Kraft hinaus. Ohne die Hilfe des Regenbogentitanen ist er ein Niemand.“ Nun hatte Gellert endlich Zeit sich auf die Verhandlung mit Xyz zu konzentrieren. „Und was bringt es einem Dämonenheer, jemandem zu dienen, der nur stark ist, weil er eben dieses Dämonheer hinter sich hat? Haltet euch heute Nacht raus. Dann werden wir ja sehen, wer morgen über Burg Götterfall herrscht. Derjenige, der aus der heutigen Nacht als Sieger hervorgeht, ist der Stärkere. Dem solltet ihr dienen und niemandem sonst.“ Xyz schwieg. Gellert wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte. Kein Dämon wollte einem schwachen Magier dienen. Die stärksten Dämonen ließen sich nur von dem stärksten Magier beschwören. Und Xyz wollte zu den stärksten Dämonen gehören. Gellert nutzte die Pause, um weiter in den Büchern und Schriftrollen zu lesen.
    „Du Wurm wirst es niemals schaffen, Meister Xardas zu besiegen“, tönte Xyz überheblich.
    „Wenn es jemand schafft, dann ich. Ich bin der Sohn meines Vaters und habe von ihm alles gelernt. Ich werde die Macht des Regenbogentitanen und die Amethystdrachen auf meiner Seite haben. Und…“, er legte eine dramatische Pause ein, um seine letzte Trumpfkarte auszuspielen, die für Xyz zugleich der größte Dorn im Auge war, „…ich besitze die Macht Innos‘.“
    Wieder schwieg der Dämonenfürst eine Weile, bevor er weitersprach. „Fordere deinen Vater doch offen zu einem Duell um das Dämonenheer heraus, wenn du so scharf auf unsere Gefolgschaft bist, Wurm“, murrte er angriffslustig. „Wir haben jetzt einen Auftrag und den werden wir durchführen. Alles Weitere hat uns nicht zu interessieren.“
    „Eine platte Phrase, wie man sie nur von dummen Söldnern und niederen Dienerkreaturen zu hören bekommt. Ich wäre überrascht, wenn man dich zu einem von beidem zählen müsste. Du bist der Kopf einer Armee, viel mehr als bloß die rechte Hand meines Vaters. Kein Werkzeug, das dazu verdammt ist, all das zu tun, was sein Meister mit ihm vorhat. Ihr Dämonen seid nicht so treu, dass ihr mit eurem Meister untergeht. Ihr sucht euch einen neuen Herren, wenn es an der Zeit ist, und überdauert so auch die finstersten Magier ihrer Epochen. Ihr schert euch nicht um die Fronten der menschlichen Gesellschaft, sondern dient stets dem Magier, der euch den größten Wohlstand, die fetteste Beute verheißt. Heute seid ihr noch auf der einen Seite, morgen schon auf der anderen. Immer dort, wo es was zu holen gibt. Was würden nur die Dämonenlords sagen, wenn ihr Fürst nicht mehr den richtigen Riecher hat. Wenn ihnen vom einen Tag auf den anderen die Aufenthaltsgenehmigung auf dem Morgrad entzogen wird und sie wieder in ihre langweilige Welt zurückkehren müssen? Die Zeiten dort müssen trübselig sein, während ihr darauf wartet, vom nächsten Schwarzmagier beschworen zu werden. All die Jahre ohne einen ordentlichen Happen Menschenfleisch, ohne mal wieder einem Blutrausch anheim zu fallen.“
    „Du redest und redest, und doch steckt nichts dahinter. Dir sind die Argumente ausgegangen, Innosabschaum!“
    „Das habe ich mal überhört. Aber um auf den Punkt zu kommen: Du hast nichts zu verlieren, Xyz. Wenn du mich und meine Leute unbehelligt zum Teleporter auf dem Dach kommen lässt, werde ich dich und deine Untergebenen im Falle meines Sieges übernehmen. Im Falle meiner Niederlage werdet ihr weiterhin meinem Vater dienen, nichts wird sich ändern. Aber wenn du dich weiter so unkooperativ zeigst, gehst du ein Risiko ein. Sollte ich auch ohne deine bescheidene Hilfe über meinen Vater triumphieren, werdet ihr die längste Zeit auf dem Morgrad zuhause gewesen sein. Ein Risiko also, das ohne jedes Risiko vermieden werden kann.“
    „Du willst doch nur einen Keil zwischen mich und deinen Vater treiben, du Unglücksrabe. Du spazierst gleich sofort zu ihm und verpetzt mich, damit er mir die Hölle heiß macht, da gehe ich jede Wette ein.“
    „Davon hätte ich nichts. Ich brauche keine Sympathiepunkte bei meinem Vater zu sammeln. Ich will ihn einzig und allein verdrängen. Ihm noch Honig um den Mund zu schmieren, um ihn in Sicherheit zu wiegen, das ist überhaupt nicht meine Art. Ich will es direkt machen. Ich werde nicht durch List und Tücke gewinnen. Wenn ich meinem Vater von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehe, wird es allein meine Macht sein, die ihn niederringt.“
    Es folgte das längste Schweigen bisher. Druga hatte aufgehört sich in den Trümmern zu wälzen und atmete nur noch rasselnd ein und aus. Von den anderen Dämonen war nichts mehr zu sehen. Nur das meterlange Schwert ragte noch aus den Trümmern. Gellert hatte endlich die Seiten gefunden, die ihn interessierten. Sein Vater hatte in der Tat eine Menge interessante Vorüberlegungen zur Beschwörung des Dämonenkönigs niederschreiben lassen. Und nun hatte Gellert auch endlich seinen Fehler entdeckt.
    „Wir lassen dich unbehelligt zum Teleporter gelangen. Allerdings muss unsere Verfolgung authentisch wirken. Solltest du unseren Angriffen zum Opfer fallen, ist das dein Pech. Die Dämonenlords werden dir zufällig nicht in die Quere kommen. Das sollte dir reichen. Tanzt du uns in einer Stunde immer noch auf der Nase herum, werden wir dir allerdings mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Hals umdrehen. Und solltest du deinem Vater unterliegen, bin ich der erste, der einen Happen von deinem lebendigen Leib vernascht.“
    „In Ordnung“, telepathierte Gellert gelassen. „Wärest du so freundlich, mich mit Hogs zu verbinden?“

    Xardas flog über die zentrale Kuppel des Beschwörungstempels hinweg. Dicht vor ihm floh Sigrid. Er ließ eine neue Salve Vereisungsgeschosse auf seine Tochter los, wiederum wich sie mit grazilen Zickzacksprüngen aus. Seit wann war sie so schnell? Und wieso bekam er sie mit Telekinese nicht zu fassen? Es schien fast so, als würde sie bloß mit ihm spielen. Der Abstand vergrößerte sich zusehends, bis sie mal wieder einen Blick über ihre Schulter warf und abrupt einen Schlenker machte, der ihrem Verfolger nur zugute kam. Es war beinahe offensichtlich, dass sie ihm gar nicht wirklich entkommen wollte. Doch was war dann ihr Ziel? Wollte er sie an einen bestimmten Ort locken? Sie steuerte grob auf den Kräutergarten mit den allesfressenden Pflanzen zu. Den Eingang des Beschwörungstempels jedenfalls hatte sie ignoriert. Oder würde sie im nächsten Treppenhaus nach oben verschwinden? Dann war vermutlich ihr Zimmer das Ziel. Ob Gellert sie irgendwie manipuliert hatte oder ob sie in ihrem eigenen Interesse handelte, vermochte er noch nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er sie damit nicht durchkommen lassen würde.
    Zehn Dämonen mit je mindestens zwei Flügelpaaren holten nun zu ihm auf. Sie waren die schnellsten seiner Diener. Angeführt wurden sie von Dämonenlord Tiamat, dessen Rücken mit acht Flügeln gespickt war. „Schnappt sie euch endlich!“, befahl er ihnen barsch. Zehnfaches Nicken, dann zogen die Dämonen an ihm vorbei. Xardas beschlich ein unangenehmes Gefühl dabei, dass er nicht mehr der schnellste war. Von seinen Kindern und Dienern überholt zu werden, war kein angenehmes Gefühl.
    Tiamat war als erstes bei Sigrid, packte ihren dunklen Haarschopf und schleuderte sie schonungslos auf das Dach des Beschwörungstempels. Sigrid fauchte wie eine wütende Katze, doch ehe sie sich wieder in die Luft erheben konnte, packten Dämonen sie an Armen und Beinen. Sie wand sich und strampelte, konnte sich aber nicht losreißen. Dann schlug sie die Köpfe der vier Dämonen gegeneinander, die sie festzuhalten versuchten. Ihre Griffe lockerten sich für einen Sekundenbruchteil. Sigrid nutzt die Chance, rollte sich unter ihnen weg. Tiamat stand breitbeinig über ihr. Den berühmten Himmelsspeer in Händen, mit dem einst ein Drache an die Sonne geheftet worden war. Sigrid stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus. Tiamat ließ seinen Speer los, presste sich beide Hände auf die Ohren. Die anderen Dämonen klappten ihre Flügel ein und fielen wie Steine zu Boden. Sigrid fing den Speer auf, bevor er den Boden berührte, und stieß ihn durch Tiamats Brust.
    Xardas konnte seinen Augen und Ohren nicht trauen. Nie hätte er einer Zweijährigen zugetraut das gehärtete Leder eines Dämonenlords zu durchstoßen, nicht einmal mit dem Himmelsspeer. Und der Schrei… an irgendetwas erinnerte er ihn, doch er kam noch nicht darauf an was.
    Die Dämonen hatten so oder so ihren Zweck erfüllt. Xardas hatte nun endlich seine Tochter eingeholt, landete leichtfüßig hinter ihr. Dem nächsten Eisgeschoss konnte sie unmöglich ausweichen. Xardas lud den Zauber in seiner Hand, seine Tochter hatte ihn noch nicht einmal bemerkt. Sie versuchte noch den Speer wieder aus Tiamats Brust zu ziehen, der sich dort verkeilt hatte. Und plötzlich war sie verschwunden. Xardas hielt verdutzt inne, den fertigen Zauber leuchtend in der Hand. Seine Tochter war einfach verschwunden. Sie hatte keine Rune in der Hand gehabt, auch das charakteristische Funkeln für eine Teleportation hatte gefehlt.
    Und plötzlich tauchte sie wieder auf. Fünfzig Meter entfernt auf der zentralen Kuppel des Tempels. „Grigrid unsichba gemachd, Papa!“, rief sie stolz.
    Verärgert ließ Xardas den Zauber verpuffen. Mit diesem Mädchen stimmte etwas nicht. Diese Fähigkeiten ließen sich nicht mehr beschönigen. Mit ihr war eindeutig etwas faul. Nun war Schluss mit lustig. Er holte eine andere Rune hervor. Der Zauber würde ihn eine beträchtliche Menge Energie kosten, doch das musste er in Kauf nehmen. Anders schien dieses Kind nicht mehr zu bändigen.
    Funkelnd spannte sich eine zweite Kuppel über die Kuppel des Tempels. Es war eine Barriere. Die Rune war sein ganzer Stolz. Er hatte jahrelange Forschung darin investiert. Und nun konnte er kleine Barrieren allein und ohne Artefakte beschwören. Er hatte es satt gehabt, für so etwas zwölf andere Magier und fünf voll aufgeladene Foki zu brauchen. Die Zeiten des Minentals waren längst vorbei.
    „Darf ich das Miststück zerquetschen? Bitte, Meister Xardas!“, grollte Tiamat wütend. Er hatte sich den blutigen Speer aus der Brust gerissen.
    „Das ist meine Tochter, du Dilletant!“, wies Xardas ihn zurecht. Er vergrub seine Hände in den weiten Ärmeln seiner Robe und ging gemessenen Schrittes auf die von ihm errichtete Barriere zu. Sigrid starrte ihm böse entgegen. Ihm fiel auf, dass sie eine Teleportrune in Händen hielt. Da merkte man wieder, dass sie noch jung war. Kein erwachsener Magier wäre auf die Idee gekommen, einer Barriere mit einer Teleportation zu entkommen. Die Hierarchie der Magie verschloss diesen Ausweg auf natürliche Weise.
    „Mumel!“, sagte sie trotzig, als ihr Vater sie erreicht hatte.
    Xardas brauchte einen Moment, um darauf zu kommen, was sie meinte. „Um deine Murmeln werde ich mich kümmern, sobald ich Zeit habe. Solange kannst du dir in der Barriere Gedanken darüber machen, wie du in Zukunft eine bessere Tochter sein kannst. Bis ich die Barriere auflöse, werden deine Murmeln schon den Meeresgrund erreicht haben. Ein kleiner Vorgeschmack dafür, was dir blüht, wenn du weiterhin so ein ungezogenes…“ Xardas presste sich die Hände auf die Ohren. Unvermittelt und mit dem Ausdruck grenzenloser Wut im Gesicht hatte Sigrid zu schreien begonnen. Ihr schrilles Kreischen wurde lauter und lauter, zirkulierte in nicht enden wollenden Schwingungen durch seinen Kopf. Die Dämonen im Hintergrund gingen abermals zu Boden. Xardas löste seine Hand für einen Augenblick von seinem linken Ohr, um an die Rune zur Barrierenerschaffung zu gelangen. Als er seine Trommelfelle endlich magisch geschützt hatte, war das Linke der beiden bereits geplatzt. Blut troff ihm aus dem Ohr. Abermals erinnerte der anhaltende Schrei ihn an irgendetwas, doch erst als er seinen Blick wieder auf seine Tochter richtete, kam ihm endlich die Erleuchtung. Feine Risse breiteten sich in der Barriere aus. „Der Schrei des Schläfers!“, keuchte Xardas, zweifelsohne für niemanden hörbar.
    Die Kuppel barst in Millionen kleine Splitter und regnete auf den südlichen Beschwörungstempel herab. Sigrid stieß sich vom Dach ab und schwebte davon. Xardas wankte. Sein Gleichgewichtssinn war angeschlagen, die weitere Verfolgung seiner Tochter schien ihm für einen Moment unmöglich. Doch er war nicht der mächtigste Magier aller Zeiten geworden, weil er sich von solch kleinen Unvorhersehbarkeiten unterkriegen ließ. Sie war zu schnell für ihn, war weder durch Telekinese noch von Barrieren zu bändigen. Aber er war immer noch ihr Vater. Er sammelte seine magischen Kräfte für eine Aura des Schreckens, die sich als dunkler Schatten im ganzen Raum manifestierte. „Hier geblieben, Sigrid! Ich befehle es dir!“ Xardas‘ Stimme war verzerrt. Das Böse troff aus allen Silben, die überirdisch laut aus allen Richtungen zurückgeworfen wurden. Ein vielstimmiges Hallen über dem altehrwürdigen Tempel. Was das Wort der Herrschaft für Feuermagier war, war die Aura des Schreckens für Schwarzmagier. Die schwächeren Dämonen jaulten auf oder fiepten. Sigrid landete unsanft auf einem Felsen und hielt sich die Ohren zu. Xardas wusste, dass sie in diesem Moment eine nie dagewesene Angst vor ihm verspürte. Und es stellte ihn zufrieden. Endlich hatte er sie gebändigt. Sie war ihm auch lange genug auf der Nase herumgetanzt.
    Mit einem halbherzigen Heilzauber reparierte er sein Trommelfell wieder so weit, dass er geradeaus laufen konnte, und schwebte zu seiner Tochter. Sie hatte sich auf dem nackten Stein zusammengerollt, beide Arme um den Kopf geschlungen und zitterte am ganzen Leib. Ihm kam der Gedanke, dass ein menschlicher Betrachter nun wohl so etwas wie Mitleid oder Reue von ihm erwartete. Sie ist doch deine Tochter! Sie ist noch so jung! Das würden sie alle sagen. Und er würde im Stillen den Kopf über sie schütteln. Hier stand viel Wichtigeres auf dem Spiel als das Glück dieses Mädchens. „Steh auf. Du lässt dich jetzt widerstandslos von Tiamat einsperren. Hast du verstanden?“
    Sigrid kam auf die Beine. Ihre Knie waren aufgeschürft. Sie hielt etwas an ihre Brust gepresst, dass er nicht sofort erkannte. Dann sah sie mit verquollenen Augen zu ihrem Vater auf, jede Pupille winzig in ihren riesigen Kulleraugen. „Mumel?“, fragte sie mit bebender Unterlippe.
    Xardas verstand nicht, wie sie noch an etwas anderes als ihre Angst denken konnte. Die urtriebliche Angst, die jedem Menschen von Geburt an den Lebenswillen zu rauben vermochte, sollte eigentlich alles andere Denken verdrängen. Doch nun erkannte er, was sie da an ihre Brust drückte. Erste Funken sprangen glitzernd aus dem Teleportstein hervor.
    „Nein!“, schrie Xardas hoch und unnatürlich. Der ganze Raum wurde finster. Die Dämonen schrien vor Angst. Doch Sigrid hatte einen winzigen Moment lang ihrer Angst getrotzt und die Rune aktiviert. In einem glitzernden Wirbel verschwand sie direkt vor Xardas‘ Augen. Hilflos hatte der mächtigste Magier aller Zeiten seine Hand nach ihr ausgestreckt und nur noch Luft zu fassen bekommen. Seine Wut entlud sich in einem Schrei, der dem des Schläfers in nichts nachstand.
    „Solltest du unseren Angriffen zum Opfer fallen, ist das dein Pech“, hallte plötzlich Xyz‘ Stimme durch seinen Kopf. „Die Dämonenlords werden dir zufällig nicht in die Quere kommen. Das sollte dir reichen. Tanzt du uns in einer Stunde immer noch auf der Nase herum, werden wir dir allerdings mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Hals umdrehen.“ Xardas runzelte die Stirn. Sein Feldherr schien nicht mit ihm zu reden. „Und solltest du deinem Vater unterliegen, bin ich der erste, der einen Happen von deinem lebendigen Leib vernascht.“
    „In Ordnung“, antwortete nun die Stimme seines Sohnes. „Wärest du so freundlich, mich mit Hogs zu verbinden?“
    „Gellert?“, ertönte nun die Stimme des unsäglich nutzlosen Jungdämons, den er seinem Sohn zu einem Geburtstag geschenkt hatte. Langsam wurde es interessant. „Sigrid ist gerade bei mir aufgetaucht. Sie wirkt ziemlich fertig, scheint aber unverletzt. Bis auf zwei aufgeschürfte Knie. Was sollen wir jetzt tun? Du bist ja noch gar nicht drüben!“
    Kurze Stille, dann hörte Xardas wieder die Stimme seines Sohnes. „Kommt sofort zum Teleporter. Mein Vater weiß nicht, wo wir hin wollen, und die Dämonen werden uns nicht behelligen, dafür sorgt Xyz. Wir haben also freie Bahn. Beeilt euch.“
    „Wars das endlich? Mein Kopf ist keine Taverne!“, grummelte Xyz gereizt.
    „Nichts für ungut. Wir haben alles geklärt. Ich werde mich an unsere Abmachung erinnern, Xyz!“
    Der Funkverkehr brach ab. Xardas starrte ins Leere. Er wusste noch nicht, wie er das soeben gehörte einordnen sollte. Hinterging Xyz Gellert und hatte ihn absichtlich mithören lassen? Nein, dann hätte er ihn schon eher in die telepathische Konferenz aufgenommen. Es hatte ganz den Anschein gehabt, dass er nur das Ende von Verhandlungen mit weitreichenden Auswirkungen gehört hatte. Obwohl er nun wusste, dass Gellert zum Teleporter wollte, wusste er zum Beispiel nicht, wo er damit hinwollte. Es war also wahrscheinlicher, dass Xyz wirklich hinter seinem Rücken mit seinem Sohn paktierte. Wie zur Bestätigung hallte nun wieder Xyz‘ Stimme durch seinen Kopf.
    „An alle Dämonenlords. Haltet euch von dem Teleporter auf dem Dach fern. Die gesuchten Personen sollen ihn unbeschadet erreichen, ohne dass sie merken, dass wir sie absichtlich dort ankommen lassen. Meister Xardas hat verkündet, ihnen dort eine Falle zu stellen!“
    Xardas wusste nicht, warum er diese Kommunikationen hatte mithören können. Aber sie waren sehr aufschlussreich gewesen. Wer hatte gedacht, dass Xyz ihn mal so hintergehen würde?

    Gellert zog unruhig Kreise um die flache Felskonstruktion, aus deren Rand fünf gekrümmte Steinstacheln empor ragten. Der raue Wind fegte vom Schicksalsmeer über den höchsten Turm der Burg, auf dem der Teleporter erbaut worden war. Xardas hatte ihn schon vor Jahrzehnten konstruiert und dafür gesorgt, dass man ihn über einen komplizierten Zauber mit jedem Steinkreis des Morgrads verbinden konnte. Und da er ihn für seine Reise zum Hort der Amethystdrachen verwendet und seitdem noch keine Zeit gehabt hatte, ihn neu zu kalibrieren, war Gellert sich sicher, dass der Telepoter für sie den schnellsten Weg zum Regenbogentitan darstellte.
    Ungeduldig zog er seinen nächsten Kreis. Wo blieben Hogs und Sigrid bloß? Jede Sekunde war kostbar! Allein für die Verhandlungen mit den Amethystdrachen hatte er eine Stunde eingeplant. Und ihnen blieben nicht mal mehr vier, bis der Sateliar am Neptanos vorüber gezogen und somit die günstige Planetenkonstellation dahin war.
    Endlich hörte er Hogs auf der Wendeltreppe schnaufen. Nur wenige Zentimeter über den Stufen flatternd erschien er in der Dachluke. Mit einem letzten Keuchen hievte er Sigrid aufs Dach und ließ sich neben sie fallen.
    „Was ist mit ihr?“, fragte Gellert argwöhnisch. Seine Schwester lag schlaff auf dem Boden und regte sich nicht, doch ihre Augen waren geöffnet und schienen ihn zu erkennen.
    „Mumel“, murmelte sie schwach.
    „Ich weiß es auch nicht, ehrenwerter Meister Gellert“, plapperte Hogs überstürzt los. „Sie war schon so, als sie mit der Rune bei mir angekommen ist. Obwohl, nein, da hat sie sogar noch am ganzen Leib gezittert.“
    Gellert beugte sich über Sigrid und sah ihr in die verängstigten Augen. „Wenn mich nicht alles täuscht, hat Vater die Aura des Schreckens benutzt, um sie sich gefügig zu machen. Dass er so weit gehen würde…“ Er hatte nicht viel Erfahrung mit diesen Zaubern, formte aber trotzdem einen Heilzauber aus seiner göttlichen Kraft und legte die Hand auf Sigrids Kopf. Ihre Gesichtszüge entspannten sich sofort. „Vater schien keinen anderen Ausweg mehr zu sehen. Diesen Zauber hat er noch nie gegen mich oder Sigrid angewandt. Da kann sie stolz auf sich sein.“ Er richtete sich auf. Sigrid setzte sich langsam hin.
    Gellert wandte sich nun der Teleportplattform zu, über der es türkisfarben funkelte. „Seid ihr soweit? Wir können uns keine weiteren Verzögerungen erlauben.“
    „Wir kommen“, antwortete Hogs und begann wieder mit seinen kleinen Flügeln zu schlagen. Er packte Sigrid sanft unter den Achseln und trug sie zum Teleporter.
    Gemeinsam ließen sie sich in den Farbenstrom saugen. Berge, Inseln, Wälder und Meere zogen an ihnen vorbei. Bruchstücke von Gesprächen, das Röhren eines brünftigen Molerats und das Tosen eines Sturms drangen an ihre Ohren. Gellert warf einen Blick auf seine Taschenuhr, die sich von solch profanen Dingen wie Raumkrümmungen nicht irritieren ließ und ihm verlässlich die aktuelle Sternenzeit mitteilte. Dann erlosch der Farbenstrom und die Welt wurde grau.
    Um sie herum standen die sechs Monolithen des Steinkreises. Der Boden bestand aus einem grobkörnigen, feuchten Sand, dessen Grau sich in alle Himmelsrichtungen erstreckte. Hinter einem der Monolithe konnte man ferne Berge erkennen, in alle anderen Richtungen lag bloß die öde Ebene, karg und ohne jede Erhebung. Nur wenige verdorrte Bäume lockerten das Landschaftsbild auf. Und über ihnen hing eine dicke schwere Wolkendecke. Gellert kam es so vor, als hinge sie in diesem Teil der Welt deutlich tiefer als in anderen Regionen.
    Sigrid sah sich mit gerunzelter Stirn um. Gellert konnte ihre Neugierde verstehen. Sie hatte Burg Götterfall noch nie verlassen. Für sie hatte es noch nie eine andere Landschaft als das Meer des Schicksals gegeben. Ihr Mund stand leicht offen, während ihre Augen ganz groß wurden. Hogs hingegen verbarg das Gesicht in den Händen: „Uiuiui, was haben wir nur getan? Jetzt sind wir so weit weg von Burg Götterfall und haben nicht mal eine Möglichkeit uns zurückzuteleportieren.“
    „Die Gegend gefällt mir auch nicht“, gab Gellert zu. Genau in diesem Moment zuckte ein Blitz über den Himmel, doch der Donner blieb aus. „Mich würde es nicht wundern, wenn Vater diesen Steinkreis selbst errichtet hat. Der Krieg dauert immerhin schon drei Jahre. Und wer sonst sollte in dieser ungastlichen Gegend Interesse am Bau eines Steinkreises gehabt…?“ Er unterbrach sich. Plötzlich lief ihm ein Schauer den Rücken hinab. Seine magischen Sinne sträubten sich wie die Haare einer fauchenden Katze. Er legte seinen Kopf in den Nacken und starrte in die tiefhängenden Gewitterwolken über ihnen.
    „Gellert, Gellert! Was ist los?“, rief Hogs, von dem ungewöhnlichen Verhalten seines Herren in Panik versetzt. Sigrid hatte es ihrem Bruder schweigend gleichgetan und ihre Augen zu Schlitzen verengt. Sie spürte instinktiv die Gefahr, die dort auf sie zukam. Keiner von ihnen gab sich die Mühe, Hogs zu antworten.
    Die Wolkendecke brach auf. Vor der hellen Scheibe des Vollmonds schwebte Xardas in der Luft. Seine weißen Augen sahen auf seine Kinder herab. Umkreist wurde er von fünf Dämonenlords und niemand geringerem als Xyz. Langsam schwebten sie aus dem Himmel zu ihnen herab.
    Gellert versuchte den Überblick zu behalten, während er sich das Hirn zermarterte wie sein Alter ihm hier hatte auflauern können. Sein Blick huschte von Dämonenlord zu Dämonenlord. Tiamat hatte ein Loch in der Brust. Der Himmelsspeer in seiner Rechten war blutverkrustet. Sellibels filigrane Gestalt wirkte so zerbrechlich wie immer, doch Gellert wusste, dass die meterlangen Krallen an jedem ihrer siebzehn Finger noch nie abgebrochen waren. Und das obwohl sie damit schon gegen einen früheren Avatar‘ Innos zu Felde gezogen war. Der riesige Garthur hielt seine Arme verschränkt. Sein Höllenschwert, das doppelt so groß war wie er selbst, war noch auf seinem breiten Rücken geschnallt. Mit seiner gigantischen Klinge hatte er die Meerenge zwischen Myrtana und Varant geschlagen. Gottromp war ein einziges Knäuel aus Gliedmaßen. Gellert hatte schon miterleben dürfen, wie er sich bei Bedarf neue wachsen und alte verlängern konnte. In der Schlacht um Ixidia hatte der knäuelförmige Dämon mit eintausend Schwertern gleichzeitig gekämpft. Draxax erinnerte wie üblich eher an einen Drachen mit Menschenkopf als an einen Dämon. Das purpurne Leder, das seinen Körper anstatt von stählernen Schuppen bedeckte, wiesen ihn jedoch zweifelsohne als Anhänger seiner Rasse aus. Sein Dämonenfeuer hatte beim Untergang von Atlantis eine tragende Rolle gespielt.
    Er blieb an Xyz hängen, der grimmig auf ihn herab blickte. Der Feldherr musste ihn verraten haben. Nur Sekunden nachdem er ihm ein Versprechen gegeben hatte. Da zeigte sich wieder, dass Dämonen sich niemandem verpflichtet sahen, der mit Innos im Bunde stand.
    „Es mag dir unwahrscheinlich vorkommen“, hallte plötzlich Xyz‘ Stimme in Gellerts Kopf wider. „doch ich habe dich nicht verraten. Ich weiß nicht warum, aber dein Vater konnte unsere Unterhaltung mithören.“
    „Und das soll ich dir glauben?“
    „Du wirst es mir glauben, wenn du siehst, was für eine Strafe der Meister sich für mich ausgedacht hat, wenn das hier alles vorüber ist.“
    Damit war das Gespräch auch schon beendet. Die Dämonen waren im grauen Sand gelandet. Die riesigen Klauenfüße von Garthur und Draxax versanken tief in dem weichen Boden. Gottromp balancierte seinen Körper auf einem dürren Ärmchen, was Gellert auf groteske Weise an eine Pusteblume erinnerte.
    Während die Dämonen einen gewissen Sicherheitsabstand einhielten, landete Xardas samtfüßig auf einem der Monolithen des Steinkreises. Die erhöhte Position erlaubte es ihm, seine drei Opfer weiterhin von oben herab über seine gekrümmte Nase anzufunkeln. „Du bist zu weit gegangen, Gellert“, eröffnete Xardas das Gespräch, ruhig und ernst. „Ich fordere dich nun zum letzten Mal auf, mich nach Burg Götterfall zurück zu begleiten. Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast.“
    „Hab ich deinen tollen Weltenplan durcheinander gebracht, Paps?“, höhnte Gellert stolz. Die Geschichte hatte er damit schon mal geändert. Doch leider würde die Welt davon nichts mitkriegen.
    „Du siehst, dass ich selbst in der kurzen Zeit, die mir blieb, genug Diener finden konnte, die sich mit mir in den Hinterhalt legen. Wenn nötig, werde ich dich mit Gewalt meinem Willen beugen. Ihr seid mehr als zwei zu eins unterlegen.“
    „Sagen wir drei zu eins. Der Wurm kann unmöglich mitzählen“, kicherte Sellibel aus der Ferne. Hogs empörte sich kleinlaut, so dass es niemand außer Gellert und Sigrid hören konnte.
    „Ich mache mir nichts aus zahlenmäßiger Unterlegenheit“, entgegnete Gellert. „Was zählt ist die Qualität. Ich kann es locker mit deinen Lords aufnehmen. Und Sigrid scheint dich ja ganz gut beschäftigen zu können. Nicht wahr, Vater?“ Tiamat entfuhr ein Prusten.
    „Du bist so aufsässig wie eh und je“, bemerkte Xardas müde. „Wenn du dich den Worten verschließt, kann ich nur noch mit Taten zu dir durchdringen. Also lassen wir das Geplänkel und kommen zu dem handgreiflichen Teil.“ Mit einem Mal verdunkelte sich das Grau um sie herum. Das Loch in den Wolken, durch das die Sterne gefunkelt hatten, der volle Mond – alles wurde pechschwarz. Gellert spürte wie die Aura an ihm nagte, hörte Hogs winseln und Sigrid keuchen. Er musste rasch etwas unternehmen. Doch noch während er dies dachte, wurde das Dunkel um ihn herum weniger. Er spürte wie die Mächte des Lichtgottes ihn vor der Aura der Finsternis schützten. Und plötzlich wusste Gellert, was zu tun war. Der Schreckenszauber griff das Angstzentrum des Gehirns an und ließ die Umgebung bedrohlicher, die Stimme des Magiers gruseliger und sich selbst mickriger erscheinen. Es war alles eine Sache der eigenen Wahrnehmung. Und auch wenn er nichts gegen den Zauber an sich unternehmen konnte, konnte er einen Teil seiner Macht an seine Mitstreiter abgeben. Sigrid lag zusammengerollt auf dem Boden und schluchzte hemmungslos. Er legte eine Hand auf ihren Kopf und schickte einen Schwall götllicher Magie in sie, der zumindest für eine Weile Schutz bieten sollte. Unvermittelt wurde ihm klar, was er da eigentlich tat. Er segnete sie. Noch nie hatte er sich mit solchen Zaubern auseinandergesetzt, doch es ergab Sinn. Die Menschen sehnten sich nach Innos‘ Segen, weil er ihnen half, Beliars Schrecken in der Welt auszublenden.
    Für ihn selbst waren die Schatten vollends verschwunden. Wie praktisch es doch war, Avatar Innos‘ zu sein. Er bezweifelte, dass er als Avatar Beliars dieselbe Immunität genossen hätte. Sigrid kam nun wieder auf die Beine. Sie wischte sich mit einem Arm die Tränen aus dem Gesicht und warf ihrem Vater einen zornfunkelnden Blick zu.
    Er wandte sich Hogs zu, der noch immer wimmernd im Staub kauerte. Gellert wusste, dass der Segen bei ihm noch ganz andere Folgen haben würde. Doch wenn er sich die Übermacht an Dämonenlords so ansah, konnte es eigentlich keinen besseren Zeitraum geben. Er legte seine Hand auf den Kopf des Jungdämons. „Hogs, hör mir jetzt gut zu“, sprach er leise, während er seine Kraft in das Wesen Beliars fließen ließ. „Dein Körper wird sich gleich verändern, doch du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das gehört alles zum Plan. Eigentlich hättest du darauf kommen können, dass ich auch mit dir gewisse Experimente durchgeführt habe. Dämonen sind schließlich ein ganz anderes Studiengebiet als kleine Mädchen. Darum habe ich deinem Futter von Zeit zu Zeit gewisse Kapseln beigemischt. Sie werden sich in deinem Körper abgelagert haben. Ich wollte dir möglichst viele von ihnen verabreichen, bevor ich sie aktiviere, weil mir klar war, dass du dich gegen die Aufnahme weiterer Kapseln sträuben würdest, sobald du von ihnen erfährst. Leider muss ich sie jetzt aktivieren. Nur Innosmagie lässt die Kapseln aufbrechen und die gespeicherten Energien frei werden. Darum war ich mir sicher, dass sie so lange in dir schlummern würden, bis ich beschließe, dass es für sie an der Zeit ist, sich zu öffnen. Ich habe die Entscheidung nun nicht ganz freiwillig getroffen, aber es ist schon gut so. Erhebe dich, Dämonenlord Hogs!“
    Gellert nahm seine Hand von Hogs‘ Stirn und trat ein paar Schritte zurück. Sigrid zog er am Arm mit sich. Hogs Blick hob sich, bis er gerade nach oben auf die helle Scheibe des Monds stierte. Seine Pupillen wirkten merkwürdig leer. Dann riss er seinen Schlund auf und stieß ein Brüllen aus, das auf der ganzen Grauen Ebene zu hören sein musste. Es zeugte von ungebändigter Macht, durchtriebener Wildheit, dem Willen zur Zerstörung. Die Dämonenlords gerieten in Aufruhr. Xardas brachte sich in Sicherheit, als eine schwarzrote Lichtsäule aus dem Zentrum des Steinkreises hervorbrach. Ein Paar Flügel brach aus dem Rücken des kleinen Dämons, viel größer als das kleine Paar direkt darunter. Die Spannweite musste über zehn Meter betragen. Dann bohrten sich fünf Hörner aus dem kleinen Schädel des Jungdämonen, pechschwarz und glänzend. Der Kopf begann anzuschwellen, die Arme schossen in die Länge. Die kleinen, ungefährlichen Klauen expandierten. Der Unterkörper, bislang nur ein Zipfel ohne Hinterbeine, zog sich in die Breite und bildete krallenbewehrte Hinterläufe aus. Der Schwanz wurde so lang wie der restliche Körper und dick wie eines von Xyz‘ Beinen. Noch war der Körper hager und dürr, doch jetzt sammelte sich das rote Licht in Hogs‘ Körper. Muskeln blühten am ganzen Körper und bedeckten die Knochen.
    Gellert und Sigrid hatten sich noch weiter zurückgezogen. Nun stieß Hogs‘ Körper zu allen Seiten gegen die Monolithe des Steinkreises. Mit dem nächsten Wachstumsschub sprengte er das magische Bauwerk. Hogs‘ Schrei verstummte. Das Echo hallte noch in der Ferne wider, als auch das letzte Bisschen Licht verschwand. Rot glühend erschienen Augäpfel in den eben noch leeren Höhlen. Gellert war höchst zufrieden mit seinem Werk. Hogs‘ Gestalt erinnerte nun an die eines riesigen Gargoyles, nur dass seine Krallen und Hörner vernichtender, seine lederne Haut undurchdringlicher war.
    Xardas beobachtete das Schauspiel mit eiserner Miene. „Da staunst du, was?“, rief Gellert. „Heute Nacht werde ich alles geben, um dich zu übertreffen. Heute werde ich endlich aus deinem Schatten in das Licht der Öffentlichkeit treten!“ Gellert hob beide Arme und der Boden vor ihm brach auf. Riesige, knöcherne Hände griffen nach den Kanten des Erdbodens und zogen monströse Skelette an die Oberfläche. „Erinnerst du dich noch daran, dass ich einst Trolle gegen Echsenmenschen kämpfen ließ? Nun, die Trolle haben gewonnen. Sie sind es wert, meine Diener zu sein.“ Drei Trollskelette bauten sich vor ihm und seiner Schwester auf. Er hatte ihre Knochen mit verschiedenen Legierungen überzogen, sodass die Knochen im fahlen Mondlicht bläulich phosphorizierten. Die natürliche Härte der Knochen wurde durch die Legierungen noch vervielfacht.
    Gellert war zufrieden. Nun stand es immerhin sieben gegen sechs. Die Trollskelette würden zwar keinem der Dämonenlords ernsthaft gefährlich werden können, Zeit konnten sie ihnen aber auf jeden Fall verschaffen.
    „Du bist weiter, als ich erwartet habe, Sohn“, sagte Xardas und seine Stimme trug weit über die Ebene hinweg, obwohl er sie nicht erhob. „Vielleicht hätte ich mich mehr mit dir als mit deinen Gegnern befassen sollen. Doch nun lässt sich ein Kräftemessen wohl nicht mehr vermeiden. Deine Geltungssucht zwingt dich zu dieser Konfrontation. Ich werde dir zeigen, wie nutzlos dein Aufbegehren ist, damit du zukünftig meinen Worten wieder Gehör schenkst.“ Xardas hob eine Hand. Überall auf der Ebene brach der Boden auf. Tausende Skelette krabbelten an die Oberfläche. Die graue Landschaft wurde übermalt von dem weißgelben Farbton der Untoten.
    Gellert musste grinsen. Sein Alter setzte also auf Masse statt Klasse. „Sigrid? Kannst du Vater noch einen Augenblick ablenken? Ich helfe dir, sobald ich mit den Dämonenlords fertig bin. Das dauert nur eine Sekunde.“
    „Jawollja!“, rief Sigrid und stieß sich vom Boden ab. Dies war der Startschuss für eine Schlacht, wie sie die Götter schon lange nicht mehr gesehen hatten.
    „Hogs, kümmer du dich um Xyz!“, rief Gellert. In Burg Götterfall hatte sein tollpatschiger Dämon noch vor Angst geschlottert, wenn er dem Fürsten gegenüberstand. Nun hatte sich dies wohl geändert. Hogs stieß ein vorfreudiges Brüllen aus und schoss in die Luft.
    Am Boden wimmelten die menschlichen Skelette wie Ameisen in ihrem Bau. Die ersten von ihnen trafen auf die untoten Trolle und wurden von ihren massigen Pranken gnadenlos zerquetscht. Die Dämonenlords schienen sich im Klaren, dass die Skelette es allein nicht gegen die Trolle aufnehmen konnten und kamen ihnen zu Hilfe.
    Gellert hatte sich Garthur als sein erstes Opfer auserkoren. Der humanoide Dämon schwang sein gigantisches Schwert gerade gegen einen der Trolle und hätte ihn damit gewiss auch entzwei geschlagen, wenn Gellert den Troll nicht mit einer Barriere gerettet hätte. Gellert wusste, dass er diesen Kampfstil nicht lange durchhalten würde. Eine Barriere verbrauchte zu viel magische Energie. Um Garthur zu besiegen, musste er in die Offensive gehen. Er glaubte nicht, dass der Dämon sich sein Schwert so leicht entreißen ließ wie der Dämon im Archiv. Also musste er zu anderen Mitteln greifen. Er formte mit seiner göttlichen Kraft einen Zauber, dessen Name Programm war: Böses vernichten.

    Draxax spie sein schwarzes Dämonenfeuer gegen einen der untoten Trolle. Das blau leuchtende Skelett stapfte unbeirrt weiter auf den Schlund des drachenartigen Dämons zu. Die Flammen leckten an den phosphoreszierenden Knochen. Ein Dutzend von Xardas‘ Skeletten geriet ebenfalls in den Feuerstrom und zerfiel augenblicklich zu Staub. Ein erster Tropfen leckte über den breiten Trollschädel. Langsam aber sicher schmolz die Legierung des Trolls in dem Höllenfeuer.
    Tiamat ging im Sturzflug auf das zweite Trollskelett los, alle acht Flügel eng an den Körper geschmiegt, den Himmelsspeer mit beiden Händen gepackt. Der Troll wandte sich von den schartigen Schwertern ab, mit denen die kleineren Skelette nichts gegen ihn ausrichten konnten. Er hob seine Pranken, um den nahenden Dämonenlord noch in der Luft zu ergreifen, doch Tiamat schlängelte sich geschmeidig durch die knöchernen Finger hindurch und rammte den Himmelsspeer in die Brust des Trollskeletts. Zwei Rippen brachen krachend, doch den Troll schien das nicht zu stören. Er schloss den Dämonenlord in eine Umarmung, aus der es kein Entrinnen gab.
    Sellibel säbelte mit ihren Krallen auf den dritten Troll ein. Splitter um Splitter ließ sie aus der Legierung bröckeln, während sie mit einer Hand die gefährlichen Pranken des Skeletts am Boden festgenagelt hatte. Von der anderen Seite versuchte Gottromp den Troll zu erlegen. Je mehr der Skelette fielen, desto mehr seiner vielen Gliedmaßen waren bewaffnet. Doch auch mit zwanzig schartigen Klingen konnte er gegen die Legierung nichts ausrichten.

    Kraft pulsierte durch Hogs‘ Körper. Zuerst hatte ihm die einsetzende Mutation Angst eingejagt. Nun jedoch fühlte er sich, als müsse er nie wieder Angst haben. Vor nichts und vor niemandem. Er lechzte nur nach einer Gelegenheit seine Kraft ausprobieren und demonstrieren zu können. Schneller als er es zu hoffen gewagt hatte, schien die Zeit vorbei gegangen zu sein, in der man ihn herumgeschubst und auf ihn herabgesehen hatte.
    Der Schub seiner neuen Flügel war überwältigend. Mit blanken Krallen flog er auf Xyz zu, der wortlos sein Höllenschwert beschwor. Hogs dachte nicht daran, auszuweichen. Er war nun stark. Er würde nie wieder jemandem ausweichen. Er hieb mit seinen Krallen nach Xyz‘ Brust, sah vor seinem inneren Auge schon das schwarze Blut spritzen. Doch der Fürst wich seinem Angriff mit Leichtigkeit aus und rammte ihm das Schwert durchs Brustbein.
    Xyz unterschätzte ihn, hatte sich nicht schnell genug zurückgezogen. Hogs packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und würgte eine grüne Qualmwolke hervor. Sie hüllte den Dämonenfürst vollständig ein. Xyz begann am ganzen Körper zu dampfen. Der ätzende Qualm zerfraß das Dämonenleder in Sekundenschnelle. Er ließ das Schwert in der Brust seines Kontrahenten stecken, riss sich von dessen Klauen los und entkam mit einem kräftigen Flügelschlag der gefährlichen Gase.
    Hogs zog sich das Schwert aus der Brust. Nun war Xyz derjenige ohne Waffe.

    Xardas wurde von seiner rasend schnellen Tochter umschwirrt. Mal war sie direkt vor seiner Nase, dann schon wieder in einem toten Winkel hinter ihm und als nächstes direkt unter seinen Füßen. Er gab den Versuch auf, ihr mit den Augen zu folgen. Er musste zugeben, vor einer Herausforderung zu stehen. Nun, da Sigrid auch noch gegen die Aura des Schreckens immun geworden war, hatte er noch weniger gegen sie in der Hand als in Burg Götterfall. Nur die Barrieren hatten ihr kurz Einhalt gebieten können. Gerade als ihm dieser Gedanke gekommen war, löste Sigrid sich einfach in Luft auf. Diese Unsichtbarkeitsanfälle waren zwar lästig, für ihn aber nicht weiter von Bedeutung. Er schloss einfach die Augen und konzentrierte sich auf sein Gehör. Bewaffnet mit einer Rune und einem Zauber wartete er auf den richtigen Moment, um zurückzuschlagen.

    „Glaubst du, nur weil du gewachsen bist, wärst du jetzt stärker als ich?“, höhnte Xyz und beschwor sich vier weitere Höllenschwerter. Seine Sammlung schien grenzenlos. Mit jeder Hand hielt er nun einen rot glühenden Knauf umklammert. „Du bist nicht mehr der Wurm von vorhin, das gebe ich ja zu. Aber mehr als ein Baby in einem Riesenkörper bist du auch nicht. Du hast gar keine Ahnung, wie man mit solch einer Macht umgeht.“
    Hogs‘ fletschte die Zähne. In den Worten des Fürsten schien zu viel Wahrheit zu stecken, um sie mit einer gehässigen Erwiderung einfach zur Seite wischen zu können. Die pochende Wunde in seiner Brust bewies ihm nur allzu sehr, dass er sich überschätzt hatte. Doch er war nun groß. Jetzt hatte er endlich die Chance, der Stärkste zu werden, Xyz von seinem Thron zu stoßen. Verzweifelt klammerte er sich an diesen Traum. Wenn er jetzt aufgab, würde er sich das nie verzeihen. Mit diesem Körper durfte er nicht kneifen. Wenn er jetzt den Schwanz einzog, würde er nie wieder Mut aus seiner Größe schöpfen können. Denn noch konnte er daran glauben, dass der ängstliche Hogs gestorben war. Und für diesen Glauben würde er jetzt stark sein.
    „Hätte dir dein Meister mal mehr Vertrauen geschenkt, dann hätte er dir diesen Körper schon eher geschenkt. Dann hättest du mehr Zeit gehabt, dich mit ihm vertraut zu machen“, stichelte Xyz weiter. „Im Moment weißt du doch nicht einmal, wie du das Bein heben sollst! Hattest bis eben ja nicht mal eins.“
    „Und du hörst dich wohl nur so gerne reden, weil du dich nicht traust mich anzugreifen, wie?“, nahm Hogs all seinen Schneid zusammen.
    Xyz‘ Mundwinkel zuckte ungehalten. Plötzlich stürzte er sich auf Hogs, der nichts weiter tun konnte, als sein gerade erst erobertes Schwert zu erheben. Nie hatte er gelernt, wie man mit einer Waffe kämpfte. Plötzlich war Xyz hinter ihm. Die Klinge eines weiteren Höllenschwerts spross aus Hogs‘ Bauch, direkt unter dem ersten Loch. Dann spürte er wie eine weitere Klinge sich in den Ansatz seines Schwanzes bohrte. Er konnte nicht anders als wütend aufzujaulen. Der Schmerz war schlimmer als alles, das er je gespürt hatte.
    „Du bist ein jämmerlicher Anfänger!“, grollte Xyz und stieß ein drittes Schwert direkt in den Flügelansatz. Vor Hogs Augen verschwamm alles. Als sein Blick sich kurz wieder klärte, sah er, wie einer seiner schönen großen neuen Flügel schlaff zu Boden glitt, wie das Blatt eines Herbstbaums.
    Xyz stand ihm nun mit seinem letzten Schwert von Angesicht zu Angesicht gegenüber. „Mit dem Fliegen wird es jetzt schwer, was? Aber gib dir keine Mühe, extra laufen zu lernen.“ Die letzte Schwertspitze bohrte sich in Hogs‘ rechtes Knie, der Länge nach das Schienbein entlang und trat aus der Fußsohle wieder hervor. „Und das, nehme ich wieder an mich. Ist nämlich mein Bestes.“ Mit einem Ruck hatte er Hogs das Höllenschwert aus der Hand gerissen. „Ich hab mich getäuscht. Du bist doch noch ein Wurm. Und je größer Würmer sind, desto ekliger werden sie.“
    Hogs begann zu fallen, immer schneller kam der von Skeletten überwimmelte graue Grund auf ihn zu. Trübe dachte er daran, wie schmerzhaft der Aufprall werden würde. Er musste sich mit Magie in der Luft halten. Doch die Schwerter steckten noch in ihm und lösten ein aggressives Brennen in seinem ganzen Körper aus.

    Xardas aktivierte die Rune. Endlich war Sigrid ihm zu nahe gekommen. Als sich ein Barrierewürfel um sie schloss, wurde sie vor Schreck wieder sichtbar. Xardas wusste, dass einer nicht reichen würde. Der Würfel war so klein, dass sie nicht einmal grade in ihm stehen konnte. Er traktierte die Rune weitere Male. Ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Würfel aus glitzernden Barrieren schloss sich um Sigrid. Jetzt ließ er die Rune in seinem Ärmel verschwinden und holte mit der anderen Hand aus. Ein simpler Schlafzauber. Damit würde er seine Tochter bändigen. In Burg Götterfall hatte sie einen zu großen Abstand eingehalten, um sich von so einem simplen Zauber erwischen zu lassen. Doch hier hatte sie ihn nicht bloß ablenken wollen, sie hatte ihn schlagen wollen. Er hatte es in ihrem Blick gesehen, an ihrem stetigen Kreisen abgelesen. Dass sie beständig auf der Suche nach einer Blöße gewesen war, um ihm einen wütenden Tritt zu versetzen. Selbst ein zweijähriges Mädchen konnte also schon von Rache getrieben sein. Mit der Schreckensaura hatte er sie sich endgültig zum Feind gemacht.
    Sigrid riss den Mund auf und stieß einen Schrei aus, der außerhalb der fünffachen Würfelbarriere nicht zu hören war. Xardas wirkte den Schlafzauber.
    Alle fünf Würfel explodierten auf einmal. Xardas wurde hinweggefegt, der Schlafzauber verpuffte ungenutzt. Er war zu langsam gewesen. Wie Gellert es ihm prophezeit hatte. Doch der Schrei hatte noch weitere Auswirkungen. Die Dämonen griffen sich an ihre Köpfe und versuchten sich verzweifelt auf den Beinen beziehungsweise in der Luft zu halten.
    Garthur ließ sein turmgroßes Schwert mitten in die Skelettmenge fallen, um sich die Ohren zu halten zu können. Draxax‘ Feuerstrom brach abrupt ab. Das halb geschmolzene Trollskelett stand direkt vor ihm und packte mit einer glitschigen Klaue nach dessem länglichen Hals. Tiamat kämpfte immer noch mit der eisernen Umarmung eines Trolls, so dass er dem Schrei schutzlos ausgeliefert war. Sellibel schlitzte sich vor Hast mit ihren eigenen Krallen das Gesicht auf. Aus dem knäuelförmigen Gottromp fielen ein paar Ohren zu Boden. Er schien beschlossen zu haben, sich seiner Ohren zu entledigen und sich später Neue wachsen zu lassen. Xyz krachte direkt neben dem durchlöcherten Hogs zu Boden. Der Schrei verstummte. Erst war es ruhig, doch dann ertönte ein neues Geräusch.

    Gellert sah als erstes auf. Er war nie fromm gewesen. Ob die Magie von den Göttern kam oder nicht, es war ihm gleich. Er akzeptierte, dass es unterschiedliche Arten von Magie gab und dass sie sich gegenseitig widersprachen, doch er fühlte sich nicht dazu verpflichtet nach den Regeln eines Gottes zu leben, nur weil er angeblich ihre Magie benutzte. Und doch hatte selbst er die heilige Schrift gelesen. Die heilige Schrift war nach der einstweiligen Verbannung der Götter um ein Kapitel erweitert worden. Man hatte damit auch die neuesten Geschehnisse in Bezug auf die Götter für die Glaubenskreise der Nachwelt festhalten wollen. Und eine Passage aus diesem neuen Kapitel schoss ihm durch den Kopf, bei dem Anblick, der sich ihm bot: Der Schläfer hat mit seinem letzten, wutentbrannten Schrei die Armeen der Finsternis in Bewegung gesetzt. Es war ein Befehl an alle bösen Kreaturen. Ein Wort der Macht, dem sie alle gehorchen mussten. Sein letzter Befehl war: Kommt! Und sie kamen. Alle. Sogar die Drachen.
    Mit Schuppen, die im Mondlicht lilafarben schimmerten, Flügeln, die weitaus kräftiger waren als die der Dämonen, und Augen, die weise auf alle Lebewesen auf der Ebene herabsahen. Mit einer Aura, die jedem Geschöpf sagte: Wir richten die Welt. Mit einer Erhabenheit, die ihnen kein anderes Wesen streitig machen konnte, flogen sie in zwei konzentrischen Kreisen zu je sechs Drachen. Die Amethystdrachen waren gekommen.
    Diejenigen in dem inneren Kreis flogen andersherum als diejenigen in dem äußeren Kreis. Gellert hatte den Eindruck, dass allein dieser Auftritt schon hypnotische Kräfte besaß.
    „Mensch, der du Xardas genannt wirst“, donnerten die zwölf Stimmen über das karge Land hinweg. Sie sprachen vollkommen synchron, wie ein Wesen, nicht wie zwölf. „Du bist auf unserem Morgrad nicht länger erwünscht.“ Gellert bekam Gänsehaut, etwas, das ihm sonst vollkommen fremd war. „Wir haben deinen Diener gestürzt, als du vor uns die Flucht ergriffest. Er ist ein Wesen uralter Stärke und wird sich noch für eine Weile ans Leben klammern. Doch er wird nie wieder auferstehen. Er wird dir in diesem neuen Kampf keine Hilfe sein. Du bist erfahren und weißt das, Mensch, der Xardas genannt wird. Und doch kamst du hierher zurück. An den Rande unseres Territoriums. Du hättest dich lieber in deinem steinernen Hort verkriechen sollen. Dann hättest du noch drei letzte Tage zu leben gehabt. Nun werden wir dir gleich hier ein Ende setzen. Dir und all deinen Dienern wird das weitere Wandeln auf dem Morgrad verwehrt bleiben. Zu groß ist der Schaden, den du angerichtet hast. Nie wieder wirst du den Titanen behilflich sein, Macht über unseren Morgrad zu gewinnen. Er ist das Schlachtfeld der Götter und das ist das Schicksal, das nicht verändert werden darf.“
    „Gellert, Sigrid, Dämonen, hört mir zu!“, zischte Xardas‘ Stimme zeitgleich durch Gellerts Kopf. „Es steht schlimm um uns. Wenn wir überleben wollen, müssen wir jetzt zusammenarbeiten. Ich werde dir deinen Kampf auf Augenhöhe geben, Gellert, aber erst müssen wir die Amethystdrachen besiegen. Ich hoffe, dass ich dir wenigstens so viel Verstand eingetrichtert habe, dass dir das klar ist!“
    „Ist gut“, stimmte Gellert widerstrebend zu. „Es gilt ein Waffenstillstand, so lange bis wir uns diese Drachen vom Hals geschafft haben. Sigrid, wir kämpfen jetzt gegen die Drachen. Erst danach wieder gegen Papa.“
    „Jawollja, Prudi!“, telepathierte Sigrid.
    „Ich danke dir, Sohn.“
    Die zwölf Drachen lösten sich aus ihrer Formation. Jeder von ihnen flog auf ein anderes Ziel zu. Gellert überflog in Gedanken die Situation. Wenn man die schwächlichen Skelette seines Vaters und den demolierten Hogs nicht mitzählte, waren sie genau zu zwölft. Für jeden Amethystdrachen ein Gegner. Allerdings kam ernüchternd hinzu, dass kaum einer von ihnen in der Lage war, einen Drachen zu besiegen. Die Trolle würden ihnen ganz gewiss nichts entgegenzusetzen zu haben. Das bedeutete allerdings nur, dass er selbst eben mehr als einen erlegen musste.
    Furchtlos schwebte er dem Drachen entgegen, der sich ihn als Ziel ausgesucht hatte. Der Drache schickte ihm einen weißen Flammenschwall entgegen. Gellert nahm den hohen Preis in Kauf und beschwor einen Barrierenwürfel um sich herum. Nur eine Seite ließ er offen. Die Flammen prallten von der Barriere ab. Die offene Seite hatte er vom Drachen weggedreht, sodass ihn nicht einmal ein Funke erreicht. Der Flammenstrahl versiegte. Er wandte die Öffnung dem geflügelten Ungeheuer zu und wirkte den größten Eiszauber, den er in petto hatte. Die Flügel des Drachen froren komplett ein. Der Drache stieß ein Fauchen aus, dann stürzte er zu Boden. Der Aufprall wirbelte grauen Staub auf. Dutzende Skelette wurden zerquetscht.

    Tiamat hatte sich flugs hinter seinen Angreifer gebracht und den Himmelsspeer in die kristallenen Rückenschuppen gerammt, konnte jedoch nicht durchdringen. Sellibel hatte sich ebenfalls auf den Rücken ihres Drachen geschwungen, scheiterte aber an dem Schuppenpanzer. Eine ihrer als unzerstörbar geltenden Krallen war bei dem Versuch einfach abgesplittert. Garthur hatte mit seinem riesigen Schwert einen Drachen zu Boden geschlagen, konnte aber ebenfalls nicht durch den Schuppenpanzer dringen. Jetzt stieß sein Gegner einen schlohweißen Flammenstrahl aus, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. In einem ganz ähnlichen Feuer schmorte derzeit auch Gottromp, der seinen Kern dadurch zu schützen versuchte, dass er schneller Gliedmaßen nachproduzierte als sie von den Flammen verschlungen wurden. Draxax‘ schwarzes Dämonenfeuer prallte auf das weiße Lohefeuer eines Amethystdrachen. Keine der beiden Flammen konnte die Oberhand gewinnen. Xyz hatte einen seiner Arme geopfert, um einem der Drachen sein Schwert direkt in den geöffneten Rachen zu stoßen. Der Amethystdrache heulte und tobte, griff mit seinen Klauen nur noch rasender an.
    Die Trolle hatten gegen ihre Angreifer nichts ausrichten können. Einer war von den kristallinen Zähnen zermalmt, ein anderer von dem Lohefeuer eingeäschert und der dritte einfach von einer Pranke zerdrückt worden. Die drei siegreichen Drachen kümmerten sich nun darum, mit anhaltendem Feueratem die knöchernen Fußsoldaten zu dezimieren. Lange würden sie diese Gegner nicht mehr beschäftigen.
    Xardas ließ Totenköpfe aus schwarzem Rauch gegen seinen Gegner fliegen. Sie trafen zwar nur den Schuppenpanzer des Drachen, schienen ihm aber trotzdem große Schmerzen zu bereiten. Der Amethystdrache wand sich jaulend und kam gar nicht mehr zu einem Angriff, bevor ihn schon wieder das nächste Projektil traf.
    Sigrid umschwirrte den Kopf ihres Gegners mit spielerischen Pirouetten. Der wütende Amethystdrache schoss eine Stichflamme nach der anderen auf sie, verfehlte das kleine Mädchen aber jedes Mal um Haaresbreite.
    Gellert beobachtete besonders diese Auseinandersetzung besorgt. Sigrid hatte keine Möglichkeit dem Drachen auch nur einen Kratzer zu verpassen. Er musste ihr schnell zu Hilfe kommen. Der riesige Eisspeer, den er in der letzten Minuten gebildet hatte, schien endlich groß genug zu sein, um einen Angriff zu wagen. Unter ihm strampelte immer noch der Drache mit eingefrorenen Flügeln. Doch das Eis bekam Risse. Lange würde er nicht mehr an den Boden gefesselt sein. Mit einem Schlenker seiner Hand ließ Gellert den Eisspeer fallen. Der Drache brüllte wütend, doch das Eis zersplitterte einfach an seinem gepanzerten Bauch.
    Gellert ballte die Hand zur Faust. Jetzt schien ihm nichts anderes mehr übrig zu bleiben als das Wort der Herrschaft. Er hatte keine Ahnung, ob er dazu in der Lage war, ein so mächtiges Wesen zu zähmen. Im schlimmsten Falle verbrauchte er nur eine immense Menge Energie. Ein Schrei ließ ihn herumfahren.
    Sigrid schwebte in der Luft und hielt einen ihrer Arme. Doch er sah gar nicht mehr aus wie ihr Arm. Schwarz bröckelte das verbrannte Fleisch von ihren Knochen.
    „Scheiße!“, fluchte Gellert und raste im Sturzflug auf den halb gefrorenen Drachen unter ihm zu. Er konzentrierte all seine von Innos‘ verliehene Macht auf diesen einen Zauber, legte die Hand auf die kalten Kristallschuppen des Riesensäugers. Sofort erstarrte der Drache. Gellert keuchte auf. Sein Kopf wurde heiß, schien beinahe platzen zu wollen. Er warf einen weiteren Blick zu Sigrid, die reglos in der Luft schwebte und alles um sich herum vergessen zu haben schien. Sie starrte einfach nur geschockt auf ihren verbrannten Arm.
    „Hoch mit dir!“, schrie Gellert verzweifelt. Beinahe war er verwundert darüber, dass der Drache seinem Wort gehorchte. Er ließ das Eis schmelzen und schon hob das riesige Geschöpf von dem knochenübersäten Boden ab. Sigrid kam schnell näher. Hinter ihr bäumte sich der Amethystdrache auf, sammelte einen nächsten Flammenschwall in seinem Maul. Gellert würde sie nicht rechtzeitig erreichen, um sie zu beschützen. Weiße Flammen schossen auf sie zu.
    Plötzlich stand Xardas zwischen ihr und dem Drachen, erschuf eine Barriere, die ihr das Leben rettete. Doch der Drache, gegen den sein Vater gekämpft hatte, war noch nicht besiegt. Fauchend setzte er seinem Peiniger nach, öffnete seinen riesigen Schlund mit den rasiermesserscharfen Zähnen. Xardas schleuderte Sigrid mit einer Telekinese aus der Gefahrenzone und formte erneut einen Totenkopf aus schwarzem Rauch. Gellert korrigierte den Kurs seines Drachen, um seine Schwester einzusammeln. Sein Kopf pochte unerbittert weiter. Ihm wurde schwarz vor Augen. „Nur noch ein bisschen!“, ermahnte er sich zähneknirschend. Verschwommen konnte er wieder etwas sehen. Der Drache, dessen Feuer Sigrid fast getötet hätte, flog direkt auf sie zu.
    Gellert war immer noch zu weit entfernt, um sie zu beschützen. Er sammelte Energie für eine Telekinese. Hilfe suchend sah er nach seinem Vater, doch der war vollauf mit seinem Kampf beschäftigt. Gellert warf die Telekinese nach seiner Schwester. Der Drache öffnete seinen Schlund. Plötzlich war Xyz zur Stelle und hackte auf den Kopf des Drachen ein. Doch der Amethystdrache ignorierte ihn vollkommen. Sigrid sah auf, direkt in den reißzahnbesetzten Rachen des Untiers. Sie schrie aus Leibeskräften, doch der Schrei des Schläfers schien gegen die Drachen wirkungslos zu sein. Gellert bekam sie mit der Telekinese zu packen und zog an ihrem Körper, gerade als der Amethystdrache zuschnappte.
    Gellerts getrübtes Sichtfeld wurde für einen kurzen Moment wieder klar. Er sah Sigrid, wie sie auf ihn zu schwebte. Er spürte, dass er sie mit seiner magischen Hand am Arm gepackt hielt. Etwas bröckelte von ihrem Körper zu Boden. Wahrscheinlich weiteres Ruß von ihrem verbrannten Arm. Doch je näher sie kam, desto rötlicher wirkten die Bröckchen. Erst jetzt realisierte er, dass es Blut war. Sie landete vor ihm auf dem Rücken des gezähmten Amethystdrachen. Gellerts Herz schlug krampfhaft. Xardas und Xyz schwebten dicht neben ihm. Am Boden verendete der Drache, gegen den sein Vater gekämpft hatte.
    Sigrid sah ihren Bruder an und lächelte. „Mumel“, hauchte sie heiser. Doch was sie brauchte, war nicht ihre Aquamarinmurmel, die sie so sehr liebte. Sondern ihre untere Körperhälfte. Gedärme hingen aus dem sauber abgebissenen Oberkörper. Ihre unversehrte Hand streckte sich nach der seinen. Er ergriff sie geistesabwesend, während es in seinem Kopf raste. Er kannte Heilzauber. Viele Heilzauber. Er war der mächtigste Magier aller Zeiten. Doch das konnte nicht einmal er heilen. Nicht einmal mit der Hilfe seines Vaters. Das konnte niemand. Seine zweijährige Schwester würde jeden Moment ihr kurzes Leben aushauchen.
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Um sie herum tobte der Kampf weiter. Doch er starrte nur auf die zerfetzte Stelle, an der Sigrids Körper in zwei Hälften gebissen worden war. Langsam wanderte sein Blick zu ihrem Gesicht. Die Augen spiegelten den Mond über ihnen. „Prudi“, meinte er sie noch flüstern zu hören, obwohl ihr Blick in eine ganz andere Richtung ging. Er merkte plötzlich, dass ihre Hand ganz schlaff geworden war.
    Mehrere Drachen umzingelten sie, schienen gemerkt zu haben, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Plötzlich bäumte sich der Drache unter ihm auf. Er hatte das Wort der Herrschaft gelöst, ohne es zu bemerken. Er wurde abgeworfen und durch den Nachthimmel geschleudert. Sigrids Finger entglitten seinem Griff, ihr Körper fiel gen Boden. „Neeein, Sigriiid!“, schrie er wie ein Kind. Er wollte sie mit einer Telekinese packen, zu sich ziehen. Doch er schaffte es nicht einmal, sich selbst in der Luft zu halten. Alles in seinem Kopf war durcheinander. Nicht einmal der leichteste Zauber schien ihm zu gelingen. Oder waren seine Reserven endgültig erschöpft?
    Zwei Drachen feuerten ihr Lohefeuer auf ihn ab. Die weißen Flammen füllten schon sein ganzes Sichtfeld aus, als ihn plötzlich jemand grob im Genick packte und mit sich riss. Um Haaresbreite entgingen sie dem läuternden Feuer.
    „Was ist denn los mit dir?!“, schnarrte Hogs ungehalten und wuchtete ihn auf seinen Rücken. Er hustete Blut, während die Amethystdrachen ihre Verfolgung aufnahmen.
    „Sigrid ist tot!“, stieß er hervor. Was waren das für Gefühle? So etwas hatte er noch nie erlebt. Nur entfernt nahm er wahr, dass sein Vater mit Xyz gegen fünf Drachen auf einmal kämpfte, um ihnen die Flucht zu ermöglichen.
    „Ich weiß. Habs gesehen. Ich war unterwegs zu euch, aber ich war nicht rechtzeitig da.“ Ehrliches Bedauern klang aus Hogs‘ Stimme. Nachdem noch zwei Feuersbrünste sie um Haaresbreite verfehlt hatten, knirschte er: „Kannst du meine Wunden behandeln? Ich hab die Schwerter zwar rausgezogen, aber ich halt das nicht mehr lange durch. Ich selbst muss meine Magie einsetzen, um den verlorenen Flügel zu ersetzen.“
    „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, erwiderte Gellert. Irgendwo tief in seinem Inneren wunderte sich jemand darüber, dass solche Worte aus seinem Mund kamen. Es musste ein Gellert sein, der mit Sigrid gestorben war.
    „Gellert!“ Plötzlich erschien sein Vater zu seiner Linken. „Wir müssen fliehen! Diesen Kampf fortzusetzen wäre reiner Selbstmord. Ohne den Titanen kann ich viel zu wenig gegen die Drachen ausrichten!“
    Gellert nickte und fragte sich gleichzeitig, ob Vater mitbekommen hatte, was mit Sigrid geschehen war. Natürlich hatte er. Er war direkt neben ihm gewesen. Und trotzdem war er der Alte, kämpfte weiter.
    „Die Drachen sind allerdings schneller als wir und ich habe keine Foki bei mir. Ich weiß nicht, wie…“
    „Ich weiß, wie wir ihnen entwischen“, unterbrach Gellert ihn plötzlich. Er sagte es nicht mit seiner üblichen Überheblichkeit, sondern nüchtern. Es war eine Feststellung. „Ruf deine Dämonen zu uns. Ich werde jetzt das Portal zu Beliars Reich öffnen. Dort sind wir in Sicherheit.“
    Xardas war offenbar verblüfft, verschwendete seine Zeit aber nicht mehr mit Worten. Ein knappes Nicken genügte Gellert als Startsignal. Xardas war offenbar die ganze Zeit mit Xyz verbunden gewesen. Nur wenige Augenblicke später waren sie von den Dämonenlords umgeben. Gellert hatte die Zeit genutzt, mit seinen Sinnen das Schlachtfeld abzutasten. Endlich hatte er gefunden, wonach er suchte. Weißes Feuer verfehlte sie nur knapp.
    „Können wir dann?“, drängte Xardas.
    „Noch nicht!“, antwortete Gellert hochkonzentriert.
    Xardas wollte ihn gerade zurechtweisen, als Sigrids Leichnam an ihm vorbeischwebte.
    „Hogs, nimm Sie bitte an dich. Ich verlass mich auf dich. Vermassel es nicht wieder.“
    „Ist gut, ehrenwerter Meister Gellert.“ Er nahm den kleinen Körper sanft zwischen seine riesigen Klauen.
    Niemand fragte Gellert, wieso er das tat. „Bist du bereit, Hogs?“
    „Wir können es versuchen. Allerdings muss mich wohl jemand tragen. Ich kann nicht gleichzeitig schweben und das Portal öffnen.“
    Xyz und Tiamat packten Hogs unter den Schultern. Mitten in der Luft erschien ein Loch. Gellert aktivierte seine Rune. Hinter ihnen spuckten elf Amethystdrachen Feuer. Xardas beschwor eine Barriere. „Keine Sorge, Vater. Ich habe die Rune korrigiert. Es wird alles nach Plan laufen.“
    Das Portal raste auf sie zu. Die Drachen hinter ihnen tobten.
    „Das wird knapp!“, polterte Garthur.
    Doch dann hatten sie das Portal erreicht. Gellert schwebte von Hogs Rücken. Die anderen durchschritten die dünne Membran, die die Sphären voneinander trennte. Gellert blieb alleine zurück. Versuchsweise streckte er die Hand aus, um in die Sphäre Beliars zu greifen. Doch wie erwartet war das Portal für ihn wie eine Wand. Sein Vater und die Dämonen blickten sich um, als sie merkten, dass er nicht mehr bei ihnen war.
    Sofort flammte das Verständnis in den Augen seines Vaters auf. Entsetzt öffnete er den Mund.
    „Ich wusste, dass mir als Avatar Innos‘ der Zugang zu Beliars Sphäre verwehrt bleiben würde“, erklärte Gellert rasch. „Ihr seid nun in Sicherheit. Ihr braucht jemanden, der euch zurück in die Sphäre Adanos‘ beschwört, sonst seid ihr für immer in Beliars Reich verloren. Ich werde euch zurückholen, sobald ich zurück auf Burg Götterfall bin.“
    „Gellert!“, rief Hogs entsetzt. „Du wirst…“
    „Pass auf Sigrid auf, Hogs“, unterbrach Gellert seinen Diener.
    „Gellert, ich…“, setzte auch sein Vater zu Widerworten an. Doch Gellert schloss das Tor mit einem erneuten Impuls seiner Rune.
    Die Sphären waren wieder getrennt. Vor ihm war nur noch ein leerer Fleck Luft. Die Amethystdrachen hatten ihn fast erreicht. Er entkorkte eines seiner Fläschchen und stürzte den kompletten Inhalt hinunter. Sein Vater hatte nie erfahren, dass er das Unsichtbarkeitselixier des Druiden Thortortronthron erforscht und komplett entschlüsselt hatte. Doch sein Vorrat reichte nur für eine Person.
    Er verschwand vor den Augen der Drachen. Rasch wich er ihren Flammenstößen aus. Dann schwebte er davon, während die Drachen ihn in einer ganz falschen Richtung suchten. Dumpf dachte er daran, dass er jetzt freie Bahn hatte. Bevor er nach Burg Götterfall zurückkehrte, würde er sich wenigstens die Macht des Regenbogentitanen unter den Nagel reißen können. Sein Interesse an Macht schien im Moment gedämpft. Doch er musste die Chance nutzen. Jetzt konnte sein Vater ihm nicht mehr in die Quere kommen.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Schummriges Licht spiegelte sich an der tiefhängenden Decke. Eine Fleischwanze verharrte auf dem nackten Fels und schien sich von dem ungewöhnlichen Besuch ihrer Höhle in ihrem Gekrabbel gestört zu fühlen. Jedenfalls hatte die kleine Wanze seit drei Tagen kein Beinchen mehr bewegt, als hätte das kristalline Glimmen unter ihr sie vollends in ihren Bann gezogen. Oder auch nur ihre ans Dunkel gewöhnten Facettenaugen durchgeschmort und den dahinter liegenden Denkapparat lahmgelegt. In diesem Fall war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis der chitinbewehrte Körper von der Schwerkraft zu einem freien Fall verleitet wurde. Doch dieser freie Fall würde nicht wie sonst auf dem feuchten Höhlenboden enden, sondern auf der Lichtquelle, die in diesem Fall den Tod dieser Wanze verursacht hätte. Groß und rund projizierte die Kristallkugel Tupfen des Lichts aus ihrem Inneren an den natürlichen Stein. Groß war die Kugel nicht nur im Vergleich zu der Höhle, viel kleiner hätte der naturbelassene Unterschlupf nicht sein dürfen. Sie war auch groß in dem Sinne, dass Lyrca gerade einmal zwei ihrer Schicksalshexengefährtinnen zu ihrer Linken sehen konnte, bevor sich der Stuhlkreis des Schicksalshexenkongresses so weit neigte, dass die nächste Kollegin bereits hinter der Kugel verborgen saß.
    Nur wenn alle dreizehn Hexen versammelt waren, konnte die sagenumwobene Kristallkugel in Betrieb genommen werden. Lyrca hatte sich schon oft gefragt, ob ihr Mann nicht vielleicht einen Weg finden könnte, diesen lästigen Umstand zu umgehen. Doch sie trafen sich nur alle sieben Jahre, und bis sie wieder an der Reihe war, die Kugel zwischen zwei Treffen zu verwahren, dauerte es noch drei Kongresse. Obwohl schon Stimmen laut geworden waren, Urmeline dieses Mal mit dieser Pflicht zu übergehen. Sie wurde nicht umsonst Urmeline die Unsaubere genannt. Als die Kugel zuletzt sieben Jahre in ihrem Loch aufbewahrt worden war, war der halbe darauffolgende Schicksalshexenkongress dabei draufgegangen, die hartnäckigen Verschmutzungen von der Oberfläche des Artefakts abzukratzen. Die meisten Experimente, die Urmeline in Gegenwart des Kleinods durchgeführt hatte, schienen allein darauf abgezielt zu haben, besonders stark klebende, magieresistente und mythrilharte Substanzen herzustellen und zu verspritzen. Doch Lyrca hatte im Moment ganz andere Sorgen als die Sauberkeit der Kristallkugel oder die alleinige Inanspruchnahme derselbigen.
    Der Kongress hatte begonnen wie jeder andere. Mit mehr oder weniger Verspätung waren sie eine nach der anderen aufgetaucht, Lyrca selbst war die vierte gewesen. Vortrefflich, um ein wenig über die noch abwesenden Hexen zu tratschen. Sie hatten sich gegenseitig von den üblichen Floskeln gesellschaftlicher Zusammenkünfte verschont und sich nur die spannendsten Erlebnisse aus den vergangenen Jahren erzählt. Kaum eine von ihnen pflegte außerhalb des Kongresses regelmäßigen Kontakt mit ihren Schwestern. Und das war ja auch ganz gut so. Man wollte schließlich nicht sein ganzes Leben mit aufgesetzt freundlichen Gesprächen mit Urmeline der Unsauberen verbringen. Obwohl Lyrca zugeben musste, dass die meisten anderen der Schicksalshexen nicht viel angenehmer waren.
    Die Gespräche über Trivialitäten hatten ihr Ende gefunden, als Hedlinde endlich mit der Kristallkugel erschien und ihre Runde komplettierte. Wenn die älteste der Schicksalshexen in vierundachtzig Jahren noch lebte, sollte man ihr zum Schleppen der Kugel die Unterstützung aufzwingen. Denn dieses Mal hatte die Zweihundertfünfzehnjährige jeden Kommentar in diese Richtung vehement abgeschmettert, war dafür aber auch mit drei Tagen Verspätung eingetroffen.
    Die Hexen hatten den Magnuskreis auf dem Blocksberg wie jedes Mal dafür genutzt, sich und die Kugel in eine Höhle tief unter dem Berg zu teleportieren. Es gab keinen Zugang zu diesen Räumen, der auch nur für einen Goblin groß genug gewesen wäre. Entweder man wurde in dieser Höhle geboren, man war so klein wie eine Fleischwanze oder aber man war zu mächtiger Magie fähig. Andere Wege in diese Höhlen gab es nicht.
    Nach Inbetriebnahme der Kristallkugel hatten sie eifrig darüber debattiert, welchen Winkel der Welt sie als erstes unter die Lupe nehmen sollten. Nach einigen langweiligen Kriegen am anderen Ende des Morgrads hatten sie der Geburt eines Kinds des Schicksals beigewohnt, das der Sage nach im Alter von drei Jahren einen Drachen töten und eine Kolonie unter Wasser gründen würde. Schließlich hatten Myrthe und Aiuole sich über die Frage zerstritten, bei welchem der Könige sie des Nachts ins Schlafzimmer linsen sollten, sodass Hermione die Gunst der Stunde genutzt und ihr aller Augenmerk auf das Östliche Archipel gerichtet hatte. „Mir sind ein paar merkwürdige Flugblätter in die Hände gefallen. Ich glaube, dort braut sich etwas zusammen!“ Zwei Tage später hatten sie den Beweis dafür, dass das dort zu beobachtende Kind ein Avatar war. Hitzige Diskussionen waren losgebrochen. Alle wollten seinen Gegenpol ausfindig machen, doch Lyrca behielt ihr Familiengeheimnis für sich und so begannen die anderen Hexen eine fruchtlose Suche. Auch über die Frage, wie die Götter wieder zu Einfluss in der Welt gelangt waren, schwieg sie sich aus.
    Erst als Hedlinde alle drei ihrer Hühneraugen juckten, wechselten sie wieder die Szenerie. Die greise Magierin wischte mit tattrigen Fingern über das Kristallglas und kniff ihre fast erblindeten Augen zusammen, um noch etwas zu erkennen. Schließlich hatte sie den Grund für das Zwicken ihrer Hühneraugen gefunden. „Auf meine Hühneraugen ist Verlass, Mädels. Jede magische Interferenz innerhalb von zweihundert Meilen kann ich damit spüren wie den Phallus meines verstorbenen Mannes zu dessen Zeiten! Merkt euch meine Worte!“
    Lyrca war nicht wenig überrascht, als sie nicht nur ihren Mann sondern auch ihre Kinder in den milchigen Abgründen des Kristalls entdeckte. So etwas wie Schamgefühl war ihr vollkommen fremd. Doch anders als peinlich konnte man diesen Kleinkrieg zwischen Vater und Sohn nicht benennen. Urmeline holte ein paar Tüten Krabbenchips aus ihrem fusseligen Reiseumhang. Sie ging zwar einmal rum und bot jedem etwas davon an, doch außer Sagitta nahm niemand auch nur einen einzigen Chip an. Und Lyrca sah, wie Sagitta den Krabbenchip in Flammen aufgehen ließ, sobald Urmeline wieder um die Kurve verschwunden war. Er brannte türkis.
    Während Urmeline also lautstark vor sich hin knusperte, begannen die anderen Hexen damit, fachmännisch über Gellerts Fähigkeiten und den Kräfteverfall ihres Mannes zu tratschen. Erste Vermutungen über Gellerts göttlichen Kräfte wurden geäußert. Lyrca hätte ihnen am liebsten den Mund mit einem von Urmelines Krabbenchips verklebt. Aufmerksam betrachtete sie, wie die kleine Gruppe ihres Sohnes gegen das Heer des mächtigsten Magiers aller Zeiten aufbegehrte. Die Skelette hätte er sich sparen sollen. Das war doch bloß wieder das übliche Eindruckschinden eines sinkenden Sterns.
    Als die Amethystdrachen angriffen, verstummten die Gespräche schlagartig. Niemand wollte mehr auch nur einen Fetzen der Schlacht verpassen. Sogar Urmelines Schmatzen verstummte. Lyrca verkrampfte sich auf ihrem gepolsterten Lehnstuhl, während die Schlacht immer brutaler wurde. Sie sah zu, wie Hogs, den sie kaum noch wieder erkannte, brutal von Xyz niedergestreckt wurde. Ob die Ausmaße der Metamorphose allein Gellerts Geschick zu verdanken waren? Oder ob es doch etwas mit Hogs‘ Vater zu tun hatte?
    Ein allgemeines Aufkeuchen. Marga war glatt von ihrem Dreibein geplumpst. Urmeline hatte ihre letzten Krabbenchips vor Schreck zerdrückt. Und Lyrca starrte mit glasig werdendem Blick auf die Kristallkugel. Wie in Zeitlupe sahen sie die riesigen Reißzähne des Amethystdrachen, die sich durch den im Vergleich zu ihnen winzigen Körper des Mädchens bohrten. Die untere Körperhälfte verschluckte der Drache, ohne es zu bemerken. Gellert eroberte die andere Körperhälfte. In Lyrcas Kopf setzte ein dumpfes Wummern ein. Sie hatte sich nie groß um ihre Kinder geschert. Sie war eine Schicksalshexe, keine Mutter. Mit den Kindern hatte sie immer nur ihren Mann an sich binden wollen. Der Mann, der ihr selbst unter den Schicksalshexen einen gewissen Sonderstatus einbrachte. Doch irgendetwas passierte mit ihrem Körper, als Sigrid starb. Die Kristallkugel zoomte heran, zeigte ihnen detailliert, wie sie in Gellerts Armen starb, während Hogs, Xyz und Xardas nur tatenlos zusehen konnten. Lyrca machte ihnen keinen Vorwurf. Eine solche Verletzung konnte niemand heilen.
    Sie sahen zu, wie Xardas und die Dämonen mit Sigrids halber Leiche in das Dämonenreich entkamen, und wie Gellert kurz darauf mithilfe eines Unsichtbarkeitselixiers verschwand.
    „Seht ihr? Hab ich es euch doch gesagt!“, sabberte Aphelandra und keckerte. „Der Kleine konnte die Sphäre Beliars nicht betreten. Der Grund liegt jawohl auf der Hand!“ Sie war die erste, die seit dem Auftritt der Drachen etwas sagte.
    „Das ist doch jetzt ganz egal!“, fuhr Myrthe sie an und wandte sich zu ihrer Sitznachbarin um. „Lyrca. Wie geht es dir?“
    „Das ist mir alles ganz egal“, antwortete sie und hoffte, dass es der Wahrheit entsprach. Doch ein Teil von ihr wusste bereits, dass es eine Lüge war. Gegen ihren Willen hatte sie angefangen, ihre Tochter ins Herz zu schließen. Hatte sie nicht selbst bei Hogs‘ Verstümmelung schon einen Stich in der Brust gefühlt?
    „Die anderen können froh sein, dass sie diesem Angriff entrinnen konnten“, meldete sich die sonst so schweigsame Kiki zu Wort. „Zwölf Amethystdrachen. Das hätten nicht viele überlebt.“
    „Hoffentlich war das diesem Xardas eine Lehre“, grummelte Lesbia. „Der denkt doch, er könne machen, was er will. Ha. Die Amethystdrachen haben ihm ordentlich zugesetzt!“
    „Die arme Sigrid“, klagte Aphelandra. „Als ich sie zuletzt sah, konnte sie noch nicht einmal laufen. Und nun so etwas…“
    „Nun hört aber auf“, schnitt Cassindras harsche Stimme durch das senile Gebrabbel. „Wir sind nicht hier, um das Schicksal kleiner Mädchen zu beweinen, mögen sie auch noch so nah mit uns verwandt sein, und auch nicht, um bei den Machtspielchen diverser Urgesteine mitzufiebern – unsere Aufgabe ist nichts weiter als das Schicksal zu bewahren. So leid es mir tut, Lyrca wird ihre Trauer auf später verschieben müssen. In meinen Augen hat dieser Vorfall jedenfalls keinerlei Einfluss auf das vorbestimmte Schicksal des Morgrads genommen. Sieht das irgendjemand anders?“
    „Das vielleicht nicht“, antwortete ihre Nachbarin zur Linken, die Junghexe Hermione. „Allerdings war dieser Vorfall für unsere Beobachtungen alles andere als uninteressant. Ich stimme dir zwar zu, dass weder Sigrid noch Xardas unser Interesse verdient haben, doch uns allen wird wohl nicht entgangen sein, dass der junge Gellert ganz erstaunliche Fähigkeiten gezeigt hat.“
    Lyrcas Blick hatte sich getrübt. Sie starrte nur noch auf die funkelnde Oberfläche der Kristallkugel vor ihrer Nase. Von ihr würden sie nichts hören. Das konnte keiner von ihr verlangen. Wenn die anderen Hexen ihr zu sehr auf die Nerven gingen, würde sie halt einfach abreisen.
    „Gellert kommt nun einmal ganz nach seinem Vater“, tat Myrthe dies mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „War doch klar, dass da so etwas bei rauskommt, wenn eine von uns dem mächtigsten Schwarzmagier der Geschichte Kinder gebiert.“ Sie erntete skeptische Blicke von allen Seiten, doch niemand schien ihre Erinnerungen auffrischen zu wollen.
    Lyrca schürzte die Lippen. Irgendwo tief hinter ihrer Lethargie schien sie immer noch fühlen zu können.
    „Ich glaube nicht, dass das alles ist“, entgegnete Hermione. „Gellert konnte die Sphäre Beliars nicht betreten…“
    „Oder wollte es nicht“, unterbrach Cassindra sie.
    Hermione ließ sich zu einem gezwungenen Lächeln herab. „Wer genau hingesehen hat, wird feststellen, dass er seinem Dämon zwar kurz vor dem Riss zwischen den Sphären vom Rücken sprang, er anschließend aber probehalber versuchte seine Hand in den Riss zu stecken. Was ihm misslang.“
    „Also das hab ich auch nicht gesehen, da kann ich Cassindra nur zustimmen!“, rief Urmeline.
    „Was Hermione sagt, ist richtig“, stellte Kiki sachlich fest. Danach erhob niemand mehr Einwände.
    „Danke, Kiki“, fuhr Hermione fort. „Und wenn man mal davon ausgeht, dass Beliar nichts persönlich gegen Gellert und seine Sphäre gegen ihn versiegelt hat, dann bleibt nur eine Schlussfolgerung übrig. Das würde auch den Moment erklären, in dem er seine Schwester und den Jungdämon segnete.“
    „Du interpretierst da doch viel zu viel hinein“, blaffte Marga. „Nur weil er ihnen die Hand auf ihre Stirn legte, soll er sie gleich gesegnet haben? Tss! Das ist nun wirklich absurd, Hermione.“
    „Ganz unabhängig davon, ob diese These absurd ist“, erhob Hedlinde ihre rauchige und kaum noch zu vernehmende Stimme. „Sie würde besser als jede andere erklären, warum Gellert nicht mit seinem Vater in die Sphäre Beliars ging.“
    „Soweit ich weiß, verstanden die beiden sich überhaupt nicht gut“, warf Velaya ein.
    Hedlinde erhob langsam ihre altersfleckenbedeckte Hand. „Lass mich bitte ausreden, Velaya. Danke.“ Sie räusperte sich. „Es muss irgendwo einen Avatar Innos‘ geben, wenn es einen Avatar Beliars gibt. Es ist unvorstellbar, dass Innos seinem dunklen Bruder kampflos das Feld überlassen haben sollte. Und wenn wir bedenken, dass dies die ersten Avatare seit einigen Jahrzehnten sind, und sie die Rückkehr der Götter einläuten, dann muss mehr hinter ihrem Erscheinen stehen als bei den früheren Avataren. Die Frage ist doch, wie es den Göttern Beliar und Innos ohne einen Funken Macht innerhalb von Adanos‘ Sphäre gelungen ist, Menschen zu erwählen. Und wenn Gellert einer dieser Avatare ist… Ja, dann ergibt das alles allmählich einen Sinn.“
    „Du willst Xardas für die Rückkehr der Götter verantwortlich machen?“, hakte Sagitta nach. „Unmöglich. Er hat doch sein ganzes Leben dem Ziel verschrieben, die Götter zu verbannen. Warum sollte er sie jetzt zurückholen?“
    „Du vergisst die Details, meine Liebe. Gellert ist nicht der Avatar Beliars. Die Sphäre Beliars hat ihn abgewiesen. Er ist der Avatar Innos‘. Das wird seinem Vater ein noch viel größerer Dorn im Auge sein als die Rückkehr der Götter. Mit dem Gott des Lichts hat er seit über einem Jahrhundert gebrochen. Er nutzt nicht einmal mehr seine Magie, obwohl er sie einst perfekti beherrscht hat. Wenn er seinen Sohn zu einem Avatar machen wollte, dann nicht zu dem Innos‘. Es muss ein Unfall gewesen sein. Xardas pfuscht unablässig in der Geschichte der Welt herum. Nicht umsonst haben wir eine Spionin bei ihm eingeschleust. Eine seiner Unternehmungen scheint gründlich nach hinten losgegangen zu sein. So lautet zumindest meine Vermutung.“
    „Ich stimme Ihnen vollkommen zu, Älteste“, sagte Hermione gedämpft.
    „Dann bleibt also nur noch die Frage“, griff Velaya den Faden auf, „wieso diese Spionin nichts davon wusste. Oder sollte sie sich etwa gegen uns gewandt haben?“
    Lyrca öffnete langsam ihre Augen. Sie sah ihr eigenes Gesicht, riesig in der kristallinen Kugel. Alle Schicksalshexen starrten sie an. Entweder ihr reales Ich oder das Abbild im Kristall. Für einen Moment wünschte sie sich, wieder das Lächeln ihrer Tochter in der Kugel zu sehen, anstelle ihres eigenen faltigen Gesichts. Doch natürlich teilte keine der anderen Schicksalshexen ihren Wunsch, und so starrte sie weiter zu ihrem eigenen leeren Blick hinauf. Sie überlegte, dass sie einfach sagen könnte, dass sie es nicht für wichtig gehalten habe. Solange die Rückkehr der Götter nicht in das vorbestimmte Weltenschicksal eingriff, brauchte es ihren Zirkel nicht zu interessieren. Doch die Avatarin vom Östlichen Archipel hatte diese Option zunichte gemacht, war doch infolge ihrer Entdeckung lange über die Identität des zweiten Avatars gerätselt worden. Wenn sie etwas von Gellerts Erwählung gewusst hätte, hätte sie es spätestens zu diesem Zeitpunkt offenbaren müssen. Sie seufzte innerlich. Wer hatte geahnt, dass Gellert so schnell auffliegen würde? Und dass Sigrid ihr so plötzlich entrissen wurde. Hatte sie sich überhaupt von ihr verabschiedet, als sie zum Kongress aufgebrochen war? Sie glaubte nicht.
    „Wir warten auf eine Antwort, Lyrca“, riss Cassindra sie aus ihren Gedanken.
    „Ich weiß“, zischte Lyrca und traf fast ihren üblichen gereizten Tonfall. „Ich zermartere mir ja das Hirn, wann Gellert an diese Kräfte gekommen sein könnte, doch mir will einfach nichts Verdächtiges einfallen. Der alte Zausel schließt sich natürlich regelmäßig in seinem Studierzimmer ein. Doch Gellert hat dort keinen Zutritt.“
    „Ich glaube dir nicht“, stellte Marga prompt klar. „Du wirktest nicht sonderlich überrascht, als Gellert nicht in die Sphäre eintreten konnte. Ich habe dich genau beobachtet!“
    Lyrca wollte gerade zu einer giftigen Erwiderung ansetzen, doch Hermione kam ihr zuvor. „Zu diesem Zeitpunkt war es gerade mal ein paar Sekunden her, dass Lyrca ihre einzige Tochter hat sterben sehen. Ich glaube, wir werden alle Verständnis dafür haben, dass sie in so einer Situation mit ihren Gefühlen woanders war.“
    Es folgte noch einiges an Rede und Gegenrede, doch keine der Hexen, ob sie Lyrca nun glaubten oder nicht, schien auf irgendwelche Konsequenzen zu pochen. So lehnte Lyrca sich wieder in ihrem Lehnstuhl zurück und schloss die Augen. Xardas war im Moment weit weg. Wie würde er auf Sigrids Tod reagieren? Er hatte gewiss nicht genug Gefühle für seine Tochter empfunden, als dass er nun auf Rache aus war. Sie war auch bei weitem nicht der erste Verlust, der ihn ereilte. Xardas würde mit ihr abschließen, wie er es mit jedem unangenehmen Kapitel in seinem Leben getan hatte. Dies war für den berüchtigten Dämonenbeschwörer stets die erste Wahl gewesen. Seine Zeit im Kreis des Feuers, seine Türme auf Khorinis, seine rechte Hand Fortriantes… Alles ließ er hinter sich, sobald es an der Zeit war.
    Der Kongress wurde wie gewohnt fortgesetzt. Sie beobachteten einen Winkel der Welt nach dem anderen, diskutierten über den Plan der Göttin und potenzielle Störfaktoren. Erblickten sie eine Szene, die sich zum Ungunsten des Weltenplans entwickelte, griffen sie korrigierend ein. So zum Beispiel, als sie die Hochzeit der Sprösslinge zweier verfeindeter Königsfamilien beobachteten.
    „Wenn diese beiden Adelshäuser zusammen halten, könnten sie es in zweihundert Jahren schaffen, die Invasion der Orks zu überstehen“, schätzte Lesbia. „Doch wenn dem Vormarsch der Orks auf diesem Kontinent ein Riegel vorgeschoben wird, verzögert sich die Wiederentdeckung des Augapfel Beliars unvermeidlich. Was wiederum hieße, dass dem Kristall des Feuers nichts im Wege steht, um die orkische Rasse endgültig…“
    „Wir wissen, worauf du hinaus willst“, unterbrach Sagitta sie geringschätzig. „Kein Grund für lange Reden. Die Versöhnung der beiden Häuser muss verhindert werden.“ Sie einigten sich darauf, eine Flasche Wein als Hochzeitsgeschenk zu entsenden. Der Wein würde nicht zur Neige gehen, ehe der Bräutigam etwas von ihm getrunken hatte, und auch nur ihn in den Tod reißen. Eine sichere Methode, ihn aus dem Verkehr zu ziehen und einen neuen Streit zwischen den Adligen entbrennen zu lassen.
    „Interessant, dass ausgerechnet diese blasse Göre und ihr trolldummer Gemahl sich gegen das Schicksal erheben“, kommentierte Marga den Fall abschließend. Dann wechselten sie wieder die Szene.
    Fünf Tage waren seit der Schlacht in der Nähe des Horts der Amethystdrachen vergangen. Fünf Tage lang hatte Hedlindes Hühnerauge Ruhe gegeben. Doch nun war es wieder soweit. Lyrca fragte sich gerade, wo Gellert sich eigentlich herumtrieb, und ob er ihren Gemahl und die Dämonen schon zurückgerufen hatte. Da erschien auch schon Schloss Götterfall in der Kristallkugel. Verdutzt sah sie zu den Zinnen und Türmen auf.
    „Was richtet deine Brut dieses Mal an, hä?“, gackerte Marga neben ihr und stieß ihr einen spitzen Ellenbogen in die Seite.
    „Das ist nicht ihre Brut“, hauchte Hedlinde und verengte ihre Triefaugen zu schmalen Schlitzen. „Das ist Ixidia. Er ist von den Toten auferstanden und hat die Macht in der Burg des Schicksalsmeers an sich gerissen.“
    „Allmählich wird dieser Kongreiss richtig interessant“, flötete Aiuole.
    Der Ixidia?“, rief Cassindra fassungslos. „Darüber macht man keine Scherze, Aiuole! Du warst damals noch nicht dabei, aber ihn werden wir nicht so leicht wieder los.“
    „Und wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er die Welt aus den Fugen bringen wird“, fügte Hermione hinzu. „Was ich damit sagen will: Seine Wiederauferstehung fällt definitiv in unsere Angelegenheiten.“
    „Wir müssen ihn aufhalten, noch bevor er wieder Fuß gefasst hat“, stimmte Aphelandra zu. „Er ist zwar kein Avatar mehr, aber er wird alles in seiner Macht stehende tun, um wieder einer zu werden. Und er war schon vor seiner Erwählung ein ganz erstaunlicher Magier.“
    „Nur Xardas kam ihm gleich. Das ist seit jeher bekannt“, nickte Hedlinde gewichtig.
    „Nicht einmal wir wären gemeinsam in der Lage, etwas gegen Ixidia auszurichten“, sagte Kiki. „Ich gebe es nur ungern zu, aber wir brauchen Hilfe.“
    „Ich verstehe, was ihr sagen wollt.“ Lyrca erhob sich von ihrem Sitz. Sie wusste noch nicht, was ihr Eingreifen dieses Mal für Folgen haben würde, doch an dem nächsten Schritt führte kein Weg vorbei. „Wir sollten zum Magnuskreis aufbrechen und meinen Mann aus dem Dämonenreich zurückholen. Er wird sich dann schon um Ixidia kümmern.“

    Farben wirbelten ohne jede Struktur durch den Raum. Vornehmlich dunkles Lila und Granitschwarz, aber auch solch merkwürdig unpassenden Farben wie Sonnengelb und Giftgrün trieben umher. Karmesinrot zog es unter Xardas entlang, der auf dem, was in dieser Welt wohl das Pendant zum Boden des Morgrads war, im Schneidersitz saß. Obgleich er schon seit Jahrhunderten an der Welt der Dämonen forschte, hatte er sie bislang nie selbst betreten. Anfangs hatte ihn darum ein halbherziger Forscherdrang gepackt, der aber rasch wieder verflogen war. Was hätte er in seiner Jugend für solch einen Ausflug gegeben? Doch mit dem Alter war wohl auch dieser Antrieb seines Handelns immer mehr abgestumpft und zu dem verkommen, das ihn heute regungslos meditieren ließ, während er darauf wartete, dass sein Sohn sein Versprechen einlöste.
    Schon kurz nach seiner Ankunft in Beliars Sphäre war ihm klar geworden, dass Gellert nicht nur seine Sicherheit im Sinn gehabt hatte, als er ihn hier her verbannt hatte. Von diesem Ort konnte nicht einmal er aus eigener Kraft zurückkehren. Gellert hatte nun freie Hand, zu tun und zu lassen, was er wollte. Bedeutete er seinem Sohn überhaupt genug, als dass er sein Versprechen einhalten würde? Er zweifelte daran und bereute schon, sich so bereitwillig durch den Riss zwischen den Sphären begeben zu haben. Hatte Gellert ihn nicht immer nur als Konkurrent und Widersacher empfunden? Hatte er sich nicht allzu oft über die Schranken beklagt, die er ihm auferlegte, und hatte er nicht allzu oft nur aus dem Antrieb gehandelt, ihn, seinen weltberühmten Vater, zu übertrumpfen? Für die Menschen auf dem Morgrad war er im Moment gestorben. Niemand betrat die Sphäre Beliars, außer er lud in seinem Leben so viel Schuld auf seine Seele, dass diese von Innos abgewiesen wurde. Wäre er nicht vielleicht sogar am selben Ort gelandet, wenn die Amethystdrachen ihn getötet hätten wie seine Tochter? Dass er sie hier nicht getroffen hatte, musste nichts heißen, schließlich war die Sphäre groß. Doch er konnte sich keinen Grund vorstellen, aus dem Innos ihre Seele ablehnen sollte. Oder war es schon ein Verbrechen, seinem Samen entsprungen zu sein?
    Er öffnete seine weißen Augen und betrachtete den halben Leichnam, der vor ihm in dem Farbendurcheinander zu schweben schien. Obwohl er seinem Zeitgefühl nach schon seit mehreren Tagen hier war, hatte Sigrids Körper immer noch den Anschein von Frische. Hier schien die Zeit nicht im Entferntesten so stetig zu arbeiten wie in der gewöhnlichen Welt des Morgrads. Seitdem Sigrid die Augen für immer geschlossen hatte, mit einem kindlichen Lächeln für ihren Bruder auf den Lippen, war nur noch ein einziger weiterer Makel an ihrem Körper dazugekommen, ein tiefer Schnitt in der Brust. Selbst den Sturz aus luftiger Höhe schien ihr Körper ohne Weiteres überstanden zu haben. Auch als er Sigrid die Brust aufgeschnitten hatte, hatte ihm das Fleisch des toten Mädchens einen nicht zu erwartenden Widerstand geleistet. Ob dies mit seinem Fund zusammenhing, mochte er im Moment jedoch nur mutmaßen.
    Alles in ihm schrie danach, diese Welt des Chaos zu verlassen. Doch sein Verstand zügelte sein Verlangen. Er musste einfach nur abwarten. Gellert würde ihn gewiss irgendwann zurückholen. Ohne seinem Vater den eigenen Triumph vorzuführen, würde sein Sieg für ihn nicht vollkommen sein. Es bestand allerdings auch die Chance, dass sein Sohn während seiner ambitionierten Unternehmungen starb. Doch daran wollte er gar nicht denken. Sein Sohn war nicht nur ein Avatar Innos‘ sondern ebenso mit der Kraft Adanos‘ durchdrungen. Und die Mächte Beliars hatte er ihm höchstpersönlich eingepaukt. Die einzigen, die Gellert sich durch Fleiß hatte antrainieren müssen. Wenn es ein Lebewesen auf dem Morgrad gab, das ihm gleich kommen konnte, dann Gellert. Dass er gegen die Übermacht von Amethystdrachen trotzdem machtlos gewesen war, beunruhigte Xardas nur wenig. Gellert hatte selbst gesehen, wie mächtig diese Kreaturen waren. Er kannte sie nun und konnte sie einschätzen.
    Die Gedanken kamen und gingen. Immer wieder spielte Xardas in seinem Kopf durch, was während seiner Abwesenheit auf dem Morgrad geschah. Wie er auf die neue Situation reagieren würde, wenn er endlich zurückkehrte. Fühlten Dämonen denselben Drang, wenn sie in ihrer Welt verweilten? Xyz und die Dämonenlords hatten sich stumm von ihm abgewandt, als der Riss sich hinter ihnen geschlossen hatte. Es war offensichtlich, dass sie ihr Dienstverhältnis mit ihrer Rückkehr als beendet ansahen. Nur Hogs war noch einige Zeit geblieben. Er hatte seine Wunden geleckt und sich umgesehen. Irgendwann hatte er Xardas erzählt, dass er zum ersten Mal hier war. Er streifte durch die Umgebung, die sich überall glich und zugleich unterschied. Seine Streifzüge wurden immer ausschweifender, bis er tagelang nicht mehr zurückkehrte. Sigrids Leichnam hatte er einfach liegen gelassen. Nicht einmal Hogs schien sich seinem Herren nun noch verpflichtet zu fühlen. Und Xardas blieb allein zurück, mit einer offenen Frage mehr im Kopf. Wie konnte es sein, dass Hogs in der Welt der Menschen geboren worden war? Dämonen kamen bei vollem Bewusstsein zur Welt, geboren aus dem Chaos und den toten Seelen. Dass das Chaos einen Weg auf den Morgrad gefunden hatte, war unmöglich. Doch dass Hogs sich einfach nicht mehr an seine Zeit in der Dämonenwelt erinnerte, schien ebenso hanebüchen.
    Und da spürte er endlich eine Art Sog. Xardas erhob sich aus seinem Schneidersitz. Die Konturen seiner Arme verschwammen vor seinen eigenen Augen, als er sich nach der Leiche bückte und sie aufhob. Die wirbelnden Farben um ihn herum nahmen abstrakte Formen an, bekamen eine komplexe Art von Ordnung und waren dann plötzlich verschwunden.
    Xardas blinzelte in eine Dunkelheit, die er nicht sofort durchdringen konnte. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie hell es trotz der Gegensätzlichkeit zu Innos in der anderen Sphäre gewesen war. Die Farben hatten so intensiv gestrahlt, dass er ihr Abbild noch immer vor seinen Augen erkannte. Doch er sah auch eine glatzköpfige Frau, deren Gesicht so schrumpelig war, dass ihre Augen von den tiefhängenden, buschigen Augenbrauen vollständig verdeckt wurden. Ihr Rücken war gekrümmt, sodass ihr Kinn in etwa auf der gleichen Höhe lag wie die Kordel, die ihre schmutzige Kutte zusammenhielt. Was man von ihrem Busen nicht gerade sagen konnte, denn der schlackerte noch deutlich tiefer. Mit beiden Händen hielt sie einen Krückstock umklammert, ohne den sie sich offensichtlich nicht in der Senkrechten halten konnte.
    Xardas war verblüfft. Er hatte nicht damit gerechnet von jemand anderem beschworen zu werden als seinem Sohn.
    „Willkommen zurück in dieser Welt, Xardas“, krähte die alte Frau und zitterte am ganzen Körper von der Anstrengung zu sprechen.
    Der Dämonenbeschwörer schenkte ihr kaum Beachtung. Er hatte die Monolithen im Hintergrund erkannt, offensichtlich Teil eines Steinkreises. Doch allein sechs befanden sich schon in seinem Sichtkreis. Er wandte sich um. Ein Steinkreis aus zwölf Monolithen. Er befand sich am Magnuskreis auf dem Blocksberg, dem geheimen Versammlungsort der Schicksalshexen. Nun erkannte er auch, dass vor jedem der mächtigen Findlinge eine mullfarben gewandete Gestalt stand.
    „Lyrca?“, fragte er in die Runde.
    Eine der Gestalten löste sich von ihrem Findling und trat auf ihn zu. Erst jetzt, wo seine Frau so viel kleiner als üblich vor ihm stand, wurde ihm bewusst, dass er mit der kahlen Hexe auf einem glattgewetzten Stein in der Mitte des Kreises stand. Lyrca hob den Kopf und sah ihm mit ausdrucksloser Miene direkt in die Augen. „Ist sie das?“
    Xardas blickte an sich herab. Beinahe war ihm entfallen, dass er die Leiche ihrer Tochter in Händen hielt. Nun schien es so viel Wichtigeres zu geben. „Ja, das ist sie. Was ist mit Gellert? Wie lange war ich fort?“
    „Fünf Tage“, krächzte die gekrümmte Hexe und schwankte an ihrem Krückstock.
    „Wir wissen nichts über Gellert“, antwortete ihm seine Frau ohne jede Emotion in der Stimme. Xardas wusste, dass sie ihre wahren Gefühle zu verbergen versuchte. Dass sie hoffte, dass er trotz der Langeweile der letzten Tage nicht getan hatte, was sie fürchtete. „Wir haben den Hort der Amethystdrachen im Auge behalten, doch es hat keine Auseinandersetzungen mehr gegeben. In Burg Götterfall war er auch nicht, soweit wir das beurteilen können.“
    „Halt den Mund, du sabbernde Plapperhexe!“, keifte eine Stimme aus dem Kreis.
    „Das geht ihn gar nichts an! Das Wissen über das Schicksal ist uns anvertraut worden, nicht dem da“, stimmte eine andere Gestalt zu.
    „Wir haben dich herbeigerufen, weil…“ Lyrca verstummte, als Xardas ihr mit erhobener Hand zu schweigen gebot. Im Hintergrund zischten die Schicksalshexen über diese Unverfrorenheit.
    „Wieso lässt sie sich das gefallen?“, murrte eine Hexe aufrührerisch.
    Xardas wusste nur zu gut, dass Lyrca sich derlei Behandlungen sonst nicht gefallen ließ. Sie ihn für gewöhnlich kreischend zur Hölle gejagt hätte. Doch heute stand auch für sie viel auf dem Spiel. Sie beherrschte sich, war auf ihr Ziel fokussiert. All das las er in ihren ausdruckslosen Augen. Sie war viel durchschaubarer als sie immer dachte. Und doch hatte er sie viele Jahre lang nicht durchschaut. Sigrid hatte erst sterben müssen, damit ihm die Wahrheit bewusst wurde. „Ich muss mich zuerst um Gellert kümmern. Das dauert nur einen Augenblick.“ Er ließ Sigrid auf den glatten Stein sinken. Dann warf er schwungvoll seine Arme in die Höhe. Magische Blitze zuckten über den Magnuskreis. Die Proteste der Hexe wurden lauter. Der Raum riss und ein riesiger Dämon schlüpfte hindurch. Xyz richtete sich zu voller Größe auf. Zwischen seinen mächtigen Klauenfüßen lag die halbe Sigrid wie eines seiner vielen Opfer.
    „Xardas“, grollte der Dämonenfürst, als er seinen einstigen Dienstherrn erkannte. Seine mächtige Stimme übertönte das Gekeife der Hexen mühelos.
    „Bist du bereit, wieder in meinen Dienst zu treten?“ Er hatte sich im Jenseits lange überlegt, ob er ihn wieder in seinen alten Posten einsetzen sollte. Schließlich hatte er sich beinahe auf die Seite seines Sohnes geschlagen. Doch letzten Endes war es vielleicht genau das, was ihn besonders für den Posten des Heerführers qualifizierte.
    „Es dürstet mich nach Blut“, antwortete Xyz. „Die Zeit im Chaos wurde mir schon lang.“
    „Du hast meinen Ring noch, wie ich sehe.“ Die blinden Augen hatten das Kleinod an der Klaue des Dämons ausfindig gemacht. „Das ist gut. Ich möchte, dass du Gellert findest. Geh zu ihm, finde heraus, was er seit der Schlacht getrieben hat und was er vorhat. Dann informierst du mich mithilfe des Rings.“
    Xyz breitete seine gewaltigen Flügel aus und schwang sich in die Luft. Xardas hatte schon immer geschätzt, dass er seine Zeit nicht mit überflüssigem Gerede verschwendete. Er wandte sich wieder seiner Frau zu. „Und nun zu dir, Lyrca.“ Sie zuckte kaum merklich zusammen. Sie hatte die lauernde Betonung bemerkt, mit der er ihren Namen ausgesprochen hatte. „Ich glaube kaum, dass es Sinn macht, dich nach der Wahrheit zu fragen. Du würdest ja doch alles abstreiten.“ Sie funkelte ihn an, sagte aber nichts. „Doch deine Kolleginnen hier können mir ja bestätigen, dass meine Schlussfolgerungen korrekt sind. Was sie danach mit dir machen, überlasse ich ihnen. Ich werde mich hiernach um andere Dinge kümmern müssen.“ Er wandte ihr den Rücken zu und sah den Schicksalshexen in seinem Blickfeld nacheinander streng in die Augen. Der Stein, auf dem er stand, gab ihm das Gefühl auf einer Kanzel vor den versammelten Jüngern einer Sekte zu stehen. Passend dazu tuschelten seine Zuhörer ungehalten. „Lyrca hat bereits verraten, dass ihr die Schlacht am Hort der Amethystdrachen mit angesehen habt. Ist euch dabei nicht auch etwas merkwürdig vorgekommen?“
    „Dein Sohn ist der Avatar Innos‘!“, rief eine der Hexen angriffslustig. „Wirst du uns jetzt verraten, wie es dazu kam, dass die Götter wieder Macht über den Morgrad erlangten?“
    „Scht!“, zischten einige andere.
    „Ich wollte euer Augenmerk lieber auf etwas anderes richten“, sprach Xardas und ließ den halben Leichnam in die Höhe schweben. Langsam drehte sich das kleine Mädchen in grünem Funkeln. Für alle Hexen war der bleiche Körper nun gut sichtbar.
    „Was ist mit ihrer Brust passiert?“, hallte die Frage über den Magnuskreis.
    Xardas jedoch ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Er meinte zu spüren, wie seine Frau hinter ihm unruhig wurde. „Ihr habt gesehen, zu was dieses zweijährige Mädchen in der Lage war. Sie konnte magische Barrieren zertrümmern. Mit ihrem Schrei.“ Er machte eine kurze Pause, in der es zum ersten Mal still war auf dem Blocksberg. „Jeder Magier weiß, dass Barrieren immens kompliziert zu beschwören sind. Doch noch genauer weiß jeder, selbst der einfältigste Novize, dass sie durch fast nichts auf der Welt zu zerstören sind. Es ist sogar nur ein einziges Exemplar einer sehr seltenen Rasse bekannt, das dazu in der Lage ist, durch seinen bloßen Schrei Barrieren in Stücke zu reißen.“
    „Der Schläfer“, murmelte die gekrümmte Frau in seinem Rücken.
    „Der Schläfer“, wiederholte Xardas. „Wie kann es also sein, dass dieses zweijährige Mädchen dieselben Fähigkeiten hat wie ein jahrtausendalter Erzdämon, der obendrein schon seit über hundert Jahren tot ist?“
    „Ja, was hast du dem armen kleinen Ding angetan?“, giftete eine der Hexen zurück. „Wir sind gespannt, Dämonenbeschwörer!“
    „Dämonenbeschwörer… Vielleicht hat meine Frau diesen Namen mehr verdient als ich.“ Xardas ließ die Brust seiner vermeintlichen Tochter aufklappen. Ein ekelerregend schmatzendes Geräusch, das die Haut an der Stelle teilte, an der er den Schnitt gesetzt hatte. Schaurig drehte der Leichnam sich weiter um seine eigene Achse. Xardas wandte sich nun wieder seiner Frau zu. Lyrca starrte ihm mit verschränkten Armen entgegen. Die Hexen tuschelten aufgeregt miteinander. Sigrids Herz war karmesinrot und von schwarzen Adern durchsetzt. Träge pulsierte es noch immer in dem leblosen Körper. „Sigrid hatte das Herz eines Dämonen“, verkündete Xardas, was ohnehin schon jede Hexe gesehen hatte. „Wie erklärst du mir das, Weib?“
    Ein geradezu unverschämtes Lächeln umspielte die Lippen seiner Frau. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du wärst hinter die wirklich brisanten Dinge gekommen“, antwortete sie ihm unverfroren. „Sigrid ist ein Kind des Schläfers, das ist richtig. Aber du offenbarst meinen Kolleginnen weniger Neues als du es dir erhoffst. Jeder hier weiß von meinem Fetisch für anachronistische Sexpartner. Davon wusstest selbst du, der du froh warst, nur alle Jubeljahre mal ran zu müssen.“
    „Du hattest Sex mit dem Schläfer?“, entfuhr es einer der Hexen entgeistert. Das schien selbst in der wunderbaren Welt der Schicksalshexen eine Sensation.
    „Und es war sogar ziemlich gut“, trumpfte Lyrca auf. „Und diese Zeugungskraft… Ist dir vielleicht auch aufgefallen, dass Sigrid einen Zwillingsbruder hat?“
    Xardas gefiel nicht, wie sich sein Auftritt entwickelte. Inzwischen schien seine Gattin die Zügel in der Hand zu haben, das Publikum mit ihren Enthüllungen zu entgeistern, und nicht er. „Kommt es dir nicht merkwürdig vor, dass ich nur kurz nach Sigrids Geburt einen jungen Dämon an der Backe hatte, den ich dir für deine Sammlung überließ?“
    „Hogs…“ Xardas fiel es wie Schuppen von den Augen. Darum hatte er noch nie das Reich der Dämonen gesehen. Seine Frau hatte ihn zusammen mit Sigrid ausgetragen.
    „Was willst du eigentlich hier, Xardas? Dich darüber beschweren, dass ich dir Sigrid untergejubelt habe? Wie sollte ich dir denn sonst beweisen, dass du fruchtbar und Gellert von dir ist? Nachdem Gellert durch die Zeit gereist ist und er dich daran erinnert hat, dass Fortriantes dich scheinbar unfruchtbar getreten hat, warst du ja ganz aufgewühlt! Sofort wolltest du einen Beweis dafür haben, dass deine Lenden es noch drauf haben, weil du mich und deinen eigenen Sohn sonst vor die Tür setzen wolltest! Und auch wenn du nicht unfruchtbar sein magst, sofort kommt bei so einem alten Schrumpelsack wie dir auch kein Kind mehr dabei rum. Und dass du das jetzt vor dem versammelten Schicksalshexenkongress ausdiskutieren musstest, das hast du dir selbst eingebrockt!“ Schnaubend verschränkte sie ihre Arme wieder vor der hängenden Brust. Einige Schicksalshexen klatschten johlend Beifall. Für sie war es gewiss der beste Schicksalshexenkongress seit Äonen.
    Xardas stand auf dem Stein, Sigrids schwebenden Leichnam neben sich, und war zum ersten Mal in seinem Leben sprachlos. Er hatte sich den Hexenkongress als Versammlung nüchterner, weiser Weltenlenkerinnen vorgestellt. Stattdessen gebärten sich die meisten von ihnen wie alte Klatschweiber, die wahlweise in den Wechseljahren oder der Pubertät stecken geblieben waren. Dass eine von ihnen sich von Erzdämonen aus vergangenen Zeitaltern schwängern ließ und ihrem Mann Halbdämonenkinder unterschob, das schien hier niemanden zu stören.
    „Dann werde ich jetzt gehen“, beschloss er kurzerhand.
    „Warte“, krächzte die alte Hexe neben ihm. Sie schien die einzige zu sein, auf deren Vernunft er bauen konnte. „Wir haben dich noch nicht über unser eigentliches Anliegen informiert.“ Sie schwankte beängstigend. „Du kannst dir gewiss denken, dass wir dich nicht aus reiner Nächstenliebe in das Reich der Lebenden zurückgerufen haben. Ixidia ist zurück und hat Burg Götterfall eingenommen.“
    Xardas wusste nicht, was er erwartet hatte. Doch diese Neuigkeit veränderte alles. Hoffentlich fand Xyz schnell seinen Sohn. Er war in schier unermesslicher Gefahr. Keinesfalls durfte Gellert jetzt nach Burg Götterfall zurückkehren. Er merkte kaum, dass seine Sorge um Gellert sich vervielfacht hatte, seit er seine vermeintliche Tochter verloren hatte.

    Finsternis. Undurchdringliche Dunkelheit. Sattes, bedrückendes Schwarz. Vollständige Abwesenheit von Licht. Aufhebung von Tag und Nacht. Und die Abstinenz jeden Zeitgefühls. Denn selbst die Zeiger seiner Taschenuhr, die ihm bislang verlässlich die Sternenzeit kundgetan hatte, konnte er in diesem düsteren Winkel der Welt nicht sehen. Er kauerte auf dem Höhlenboden, die Arme um die Beine geschlungen. So saß er seit Tagen da. Oder waren es nur Stunden? Er wusste es nicht. Denn hier herrschte die Finsternis, die jede Zeit verschluckte.
    Das pulsierende Gefühl in seiner Brust verging nicht, obwohl er es anfangs gehofft hatte. Es fühlte sich an, als würden sich seine Gliedmaßen abwechselnd blähen und wieder zusammenziehen, explodieren und implodieren. Und im Mittelpunkt das schwarze Loch, Auge des Sturms, der in seinem Kopf tobte und ihn nicht schlafen ließ. Er hatte noch nie viel geschlafen, Schlaf stets zur Zeitverschwendung erklärt. Doch in diesem Moment, egal welcher es auch sein mochte, hätte er alles für einen kurzen Schlaf gegeben. Eine Auszeit von seinen Gedanken, die ihm fremd geworden waren, die er nicht mehr verstand. Hatte es mit seinem Abstecher in den Hort der Amethystdrachen zu tun? Nein. Das schwarze Loch war älter. Es zehrte an seinen Kräften und entzog sich seinem Verständnis.
    Er wusste nichts über seine Umgebung. Wie blind saß er tief unter den Bergen, die die graue Ebene am Horizont begrenzt hatten. Am Ende der Welt. Oder doch nur am Ende seiner Welt. Wer bestimmte schon darüber, wo eine Welt anfing und endete. Jeder konnte nur über das urteilen, was er sah. Und nie sah jemand alles. Vielleicht sah Adanos alles. Oder seine Brüder. Sah sein Vater alles? Nein, der nicht. Der hatte nie bemerkt, wie er in sein Studierzimmer eingedrungen war. Sigrid hatte die Barriere zerstört. Nur deswegen waren sie aufgeflogen. Sigrid.
    Er saß wie blind in der Dunkelheit und wusste nicht, was um ihn herum war. Vielleicht saß er direkt neben einem Höhlentroll. Oder einem Basilisken. Oder einem Titanen. Er sah es nicht. Das einzige, was er immer und immer wieder zu sehen bekam, war das Bild seiner Schwester. Wie sie ihn anlächelte und ihre Augen für immer schloss. Wie sie durch die Luft quälend langsam auf ihn zu schwebte. Wie ihm erst im letzten Moment aufgefallen war, dass sie ihre Gedärme hinter sich her zog wie Überbleibsel einer Fessel, die sie gesprengt hatte. Gesprengt. Nein, durchgebissen. Durchgebissen wurde sie. Von einem dieser Amethystdrachen. Er wollte nicht mehr, dass sie existierten. Er hatte sie immer zähmen wollen, sie zu seiner zentralen Kriegsmacht machen. Aber das wollte er nicht mehr. Warum eigentlich nicht? Und seit wann? Er hatte das dumpfe Gefühl, dass es etwas mit dem schwarzen Loch in seiner Körpermitte zu tun hatte. War es überhaupt die Mitte? Nein, das Loch war leicht verschoben, wie das Projektil eines schlecht gezielten Schusses. Und genauso schmerzhaft.
    Warum hatte Sigrid ihn angelächelt? Er war nie nett zu ihr gewesen. Er hatte sie bloß ausgenutzt. Hatte sie für Experimente mit unbekanntem Ausgang missbraucht. Sie fortgejagt, wenn sie ihn gestört hatte. Sie mit arkaner Macht herbeigeschleift, wenn sie nicht wollte, aber er sie wollte. Sie belogen, wenn es seinen Zielen diente. Die Murmeln. Ihre Lieblingsmurmel aus Aquamarin. Ihr letztes Wort. Sie war so naiv gewesen. Wie klein war doch der Geist eines zweijährigen Menschen, dass sich sein gesamtes Denken nur um das Wohl einer gefühllosen Perle drehte? Dass sie geglaubt hatte, in einem Kampf der zwei mächtigsten Magier aller Zeiten könnte es um ein paar Murmeln gehen. Und sie hatte ihn trotzdem angelächelt. Hatte ihn nie durchschaut. Hatte sich mit ihm gestritten, wie Geschwister es nun mal taten, aber nie mehr. Sie hatte nie erkannt, wie egal sie ihm war. Dass er die berüchtigte Geschwisterliebe nie für sie empfunden hatte, sich nie seiner Gefühle wegen mit ihr abgegeben hatte. Sondern immer nur zu seinem eigenen Vorteil. Und nun war sie für ihn in die Schlacht gezogen und gestorben. Fort, für immer. Keine Experimente mehr. Keine weiteren Langzeitergebnisse. Er musste noch einmal von vorne anfangen.
    Sein Körper pulsierte abermals und ihm entfuhr ein Keuchen. Es war ihm peinlich. Er war kaum imstande zu gehen. Nur schweben konnte er. So hatte er sich hierher gerettet. In die schützende Dunkelheit. Allein und einsam. Hier konnte er bleiben, solange er sich für seinen Zustand schämte. Niemand würde sehen, wie unfähig er war, mit seinem Körper umzugehen. Wie geschwächt er nach all dem war. Niemand würde das schwarze Loch zu sehen bekommen. Niemand. Genau wie Sigrid sein wahres Ich nie erblickt hatte. Seine einzige Schwester. Die Schwester, die nur zur Welt gekommen war, weil er die Potenz seines Erzeugers infrage gestellt und dieser auf einen Test bestanden hatte.
    Sein Erzeuger. Sein Alter. Der Dämonenbeschwörer. Xardas. Er unterdrückte ein Schaudern. Der stärkste Magier aller Zeiten. Konnte er ihn wirklich übertreffen? Klar konnte er das. Daran hatte er schon immer geglaubt. Immer. Nur jetzt nicht mehr. Das schwarze Loch hatte alles verschlungen. Sigrid wurde vor seinem inneren Auge abermals entzwei gebissen. Die riesigen Reißzähne des Amethystdrachen schlossen sich krachend. Und der kleine Punkt, den er für eine vollständige, unversehrte Sigrid gehalten hatte, kam langsam näher. Wurde größer und größer. Da tropften die Organe zu Boden, die er für Rußbröckchen gehalten hatte. Ruß von ihrem verbrannten Arm. Der Arm, der in den Flammen pulverisiert worden wäre, wenn er ihr nicht den Waransud verabreicht hätte, noch bevor sie laufen konnte. Und Sigrid hatte früh zu laufen gelernt. Er erinnerte sich noch, wie sich seine Mutter darüber beklagt hatte. Ob die Alte überhaupt schon Bescheid wusste? Sie war weg gewesen. Weit weg. Hatte nicht versucht, ihre Tochter zu beschützen. Xardas hatte es wenigstens versucht. Sie fortgeschleudert. Den Kampf mit ihrem Drachen übernommen. Ihm war es gelungen, Sigrids Leben um ein paar Momente zu verlängern. Und als es dann an ihm gewesen war… war sie in zwei Hälften gehackt worden.
    Er war nicht stark. Er hatte es nicht verhindern können. Es war nur ein schwacher Trost, dass sein Vater es ebenfalls nicht geschafft hatte. Doch das Loch sorgte dafür, dass ihm sein Vater egal war. Nun hatte er die Macht und sein Vater war in einer Dimension, weit weg von dieser Höhle und von Burg Götterfall. Er konnte alles tun, ohne dass ihm jemand dazwischen kam. Er erinnerte sich dunkel, dass er zurück nachhause gewollt hatte, um dort die Befehlsgewalt an sich zu reißen. Und einen Vernichtungskrieg gegen die Amethystdrachen zu führen. Doch das war vor dem Pulsieren in seinem ganzen Körper. Vielleicht sogar noch vor dem Loch gewesen. Nun war es ihm egal, was aus Burg Götterfall wurde. Er wusste nicht warum, doch es war so. Er verstand sich selbst nicht. In der Pubertät soll das vorkommen. Das hatte er gelesen. Aber doch nicht bei ihm. Er war längst erwachsen. Und stark? Nein, stark war er nicht. Er hatte seine einzige Schwester sterben lassen. Sie in eine Schlacht geschickt, die sie nicht gewinnen konnte. Sie geopfert. Wie einen Bauern beim Schach. Und sie hatte es ihm mit einem Lächeln gedankt.
    Schmerz pulste durch seinen Körper. Das Loch vergrößerte sich und griff nach seinen Gedanken. Zum ersten Mal seit gefühlten Jahren bewegte er sich, krümmte sich noch weiter zusammen. Krallte seine Hände in den dünnen Stoff der Robe, die ihm in Fetzen von den Schultern hing. Was war nur mit seinen blinden Augen los? Er fühlte Nässe. Und das Loch. Und er war hilflos. Allein. Schwach.
    Trotz der Kraft des Regenbogentitanen, die in seinem Körper pulsierte und ihn zu zerreißen drohte.

    Es stank nach Schimmel und Pilz, Schweiß und Fleischwanzen. Ein Kribbeln fuhr jede Schuppe seines Körpers hinab. Es lullte seine Sinne ein und ließ ihn ruhig werden. Es war etwas Verlockendes in der Luft, das er noch nicht genauer beschreiben konnte. Er stieg den Schacht hinab. Die Wände waren glatt, ein Kletterer wäre hier verloren gewesen. Als hätte jemand einen Tunnel senkrecht ins Erdreich schmelzen wollen. Vielleicht hatten die Amethystdrachen ihn mit ihrem Feuer in den Stein getrieben. Doch er roch keinen der Drachen. Nicht in der Nähe. Nur viel weiter entfernt, in ihrem Hort. Sie interessierten sich nicht für ihn, zu seinem Glück. Er stieg hinab in die Tiefe. Um ihn herum wurde es immer schwärzer, als unternähme er einen Ausflug in seine Seele statt in den Morgrad. Doch dort war auch wieder dieses betörende Kribbeln. Seine Flügel stellten sich auf, als es ihm abermals die Schuppen hinab rann.
    Der Tunnel öffnete sich in eine natürliche Höhle. Stalagmiten, Stalaktiten und Stalagnate säumten den Fels. Das Tropfen des Wassers hallte ihm in den Ohren. Die Aura, die ihn schaudern ließ, war hier stärker. Er spürte sie mit jeder Zelle seines chaosgeborenen Körpers. Einerseits vertraut, andererseits fremd lockte sie ihn immer weiter. Doch auch Gellerts Geruch wurde hier stärker. Er war ihm dicht auf den Fersen. Seine rot glühenden Augen fanden auch im Dunkeln einen Weg an den Felssäulen vorbei. Das magische Herz in seiner Brust, um das ihn die meisten Alchemisten dieser Welt nach dem Leben trachteten, begann schneller zu schlagen, als er der Quelle näher kam. Er vergaß seinen Auftrag, gab sich der Verlockung hin, folgte nur noch der verlockenden Aura. Sie verhieß Macht und Beute, war aber auf eine mysteriöse Art und Weise zu diffus, um sie einschätzen zu können. Das Unbekannte, womöglich sogar die Gefahr, lockte ihn noch stärker als die Verheißungen. Die Tage in Beliars Reich waren zu ereignislos gewesen. Er wollte jetzt neues Blut zwischen seinen Zähnen spüren, mit seinem Schwanz eine Kehle zudrücken, mit seinen Armen die Gliedmaßen einer Kreatur zerreißen, deren purer Atem ihm schon ihre Macht bezeugte. Sich mächtiger fühlen als die mächtigsten dieser Welt und aller anderen Welten.
    Endlich hatte er die Quelle vor sich. Seine Sinne waren wie im Rausch. Und er erblickte Gellert. Sonst nichts. Nur den verlorenen Sohn zwischen Reihen von Stalaktiten. Zusammen gerollt und seine mickrigen weichen Klauen um seinen zerbrechlichen Körper geklammert. So schwebte er ganz selbstverständlich an der Decke, in dem wohl dunkelsten Winkel der Höhle.
    Sein Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. Es war ein Hämmern in seiner Brust. Er sog die Luft ein und atmete Macht. Da erkannte er ihren Geschmack. Es war die Note im Abgang, die den Regenbogentitan verriet. Die Macht schmeckte ganz anders als einst bei Xardas. Es musste mit der Macht Innos‘ zu tun haben, die sich mit der Titanenmacht den kleinen Körper teilen musste. Doch Gellert regte sich nicht. Dabei musste er ihn bemerkt haben. Einen mächtigen Dämonenfürst wie ihn konnte man nicht übersehen. Man spürte ihn mit jeder Pore seines Körpers, die den Angstschweiß aussendete, nur weil er in der Nähe war.
    „Gellert!“, rief er den Jungen. Er bekam keine Antwort, nicht die kleinste Reaktion. Er traute sich kaum seine Klaue nach dieser überwältigenden Macht auszustrecken, doch er überwand sich. Mit seiner Hand pflückte er den jungen Magier von der Decke und hielt ihn sich vorsichtig vors Gesicht. Endlich regte er sich und starrte ihn durch ein weißes Auge misstrauisch an.
    „Xyz“, sagte er tonlos.
    „Was treibst du hier?“
    „Wer schickt dich? Es kann nur Vater sein. Wie habt ihr es zurück geschafft?“ Er klang gelangweilt. In Wirklichkeit interessierten ihn die Antworten nicht.
    „Die Schicksalshexen haben uns beschworen. Ich soll deinem Vater Bericht erstatten, was du in den letzten Tagen getrieben hast und was jetzt dein Ziel ist.“
    „Ich weiß es nicht.“
    Xyz wusste nicht, was er daraufhin sagen sollte. Die Macht, die aus dem kleinen Jungen strömte, bezirzte ihn. Er wollte ihn nicht so sehen. Die Augen starrten wie tot. Hinter ihnen regte sich kein Gefühl. Tränen trockneten auf den tiefschwarzen Augenringen. Er hatte nichts mehr gemein mit dem Gellert, der ihm die Stirn geboten, seinem Vater Kontra gegeben und gegen die Amethystdrachen durchgehalten hatte. Er glaubte ihm sofort, dass er keine Ziele mehr hatte. Und plötzlich rannen neue Tränen über seine Wangen.
    „Ich…“, schluchzte Gellert. „…verstehe nicht, was mit mir los ist. Da ist etwas in mir… Nicht der Regenbogentitan, es ist älter als er. Aber nicht viel. Und es tut weh. Ich weiß nicht, wie ich es besiegen kann. Aber es frisst mich auf. Xyz, ich glaube… Ich glaube, ich sterbe. Es muss so sein. Es fühlt sich so schlimm an.“
    Xyz wusste nichts über die Gefühle der Menschen. Er wusste nur, dass Xardas vergeblich versucht hatte, die Macht eines Titanen auf einen Menschen zu übertragen. War es das, was den kleinen Körper quälte? Oder hatte er seinen Vater so beiläufig übertroffen, dass es an Dreistigkeit grenzte? „Du hast doch einen Plan, Gellert“, erinnerte ihn der Dämonenfürst. „Du wolltest mit der Macht des Regenbogentitanen die Drachen auf deine Seite…“
    „Ich werde sie TÖTEN!“, stieß Gellert hervor. „Ich werde sie mit meinen eigenen Händen in Fetzen reißen! Sie werden Schmerzen ertragen, die nie jemand vor ihnen ertragen musste! Ich werde sie in zwei Teile reißen, wie sie es mit meiner Schwester getan haben!“
    Xyz‘ Blut kochte hoch bei dieser Gewaltvorstellung. Ja… Mit seinen Klauen kraftvolle Körper zerreißen. Dieser Junge hatte die Macht, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. So viel stand fest. Die Kraft des Titanen vermischte sich mit der von Innos verliehenen Magie. Das Aroma war so kraftvoll und betörend, wie Xyz noch nie eine andere Aura verspürt hatte. Und er war für viele Magier gegen viele mystische Kreaturen ins Feld gezogen. Seine Hand kribbelte, nur weil sie Gellert umschlungen hielt. Das Verlangen wurde überwältigend.
    „Xyz… Ich bin schwach“, sagte Gellert desillusioniert. „Ich brauche Macht. Bitte, Xyz… Gib mir Macht! Gib mir die Macht, meine Schwester zu retten. Ich will nicht sterben…“
    „Ich werde an deiner Seite sein. Und dich beschützen“, versprach Xyz sofort. „Der Blutvertrag mit deinem Vater ist erloschen. Ich bin frei und kann tun, was ich will. Du wirst nicht sterben. Ich weiß nicht, was deinen Körper plagt, aber du hast so viel Macht, dass du alles bezwingen kannst.“
    „Xyz…“, hauchte Gellert und sah den Dämonenfürst mit großen Augen an. „Bleib für immer an meiner Seite. Geh nicht weg.“ Xyz hing an seinen Lippen, sog jedes machtgeschwängerte Wort in sich auf. „Ich brauche… jemanden bei mir. Jemanden, der mich mag. Der mich anlächelt, egal wie schlecht ich ihn behandle. Ich glaube, all das fehlt mir…“ Gellert erschrak, als ihm etwas klar wurde. „Was mir fehlt, ist… Zuneigung.“
    Xyz’ Verlangen wurde immer stärker. Er spürte kaum, wie er den Druck mit seiner Pranke verstärkte, doch Gellert beklagte sich nicht. Sie sahen sich in die Augen. Jeder fand in den Augen des jeweils anderen das, was er ersehnte. Wie von selbst neigte Xyz ganz langsam seinen schuppigen Kopf und küsste den viel kleineren Mund des jungen Magier. Doch Gellert streckte seine Arme nach ihm aus, hielt sich in seinen Nüstern fest und erwiderte den Kuss heftig. Er spürte den Körper des Jungen erbeben. Gleichzeitig fühlte er, wie sich in seinem eigenen Körper etwas ausbreitete, dass er so noch nie gefühlt hatte. Titanenmacht. Macht Innos‘. Ganz egal. Es fühlte sich wunderbar an. Sie waren eine Einheit, ein Wesen mit zwei Körpern. Und gemeinsam würden sie alles schaffen.
    „Ich werde den König der Amethystdrachen für dich töten, Gellert“, schnurrte er berauscht.
    „Hauptsache, du lässt mir den über, der mir Sigrid genommen hat“, erwiderte Gellert aus einer tiefen Trance erwachend.

    Schimmernde Lichtflecken tanzten noch immer über die Decke, reflektiert aus dem Inneren der Kristallkugel. Wie aus dem Nichts erschienen die dreizehn Schicksalshexen auf ihren Stühlen. Einen Moment lang beherrschten sie sich noch, dann brachen sie in schallendes Gegacker aus. Sie kugelten sich auf ihren Stühlen, schlugen sich auf ihre schwabbeligen Oberschenkel und verspritzten Rotz aus ihren krummen Nasen, während ihr Gelächter sich zu immer spitzerem Kichern steigerte.
    „Dem hast du aber einen Bergtroll aufgebunden“, japste Urmeline und fächelte sich mit einem schmutzigen Taschentuch Luft zu.
    „Und auch wenn du nicht unfruchtbar sein magst“, äffte Velaya ihre Kollegin mit spitzer Stimme nach, „sofort kommt bei so einem alten Schrumpelsack wie dir auch kein Kind mehr rum!“
    Lyrca hatte sich nur kurz dem allgemeinen Gelächter hingegeben, ehe sie sich wieder gefasst hatte. Sie stellte einfach ein breites Grinsen zur Schau und genoss die Komplimente ihrer Kolleginnen. Denn natürlich wusste jede von ihnen, dass Xardas seit jenem Tritt des berühmten König Fortriantes absolut zeugungsunfähig war. Sie hatte ihm schon Gellert nur untergejubelt, um ihn für den Zirkel ausspionieren zu können, so wie es auf dem Schicksalshexenkongress vor einundzwanzig Jahren beschlossen worden war.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Die Höhlen waren riesig. So riesig wie vielleicht nirgendwo sonst auf der Welt. Der Fels war dunkel und versuchte seine Bewohner zu verbergen. Doch wo er hinkam, da fiel auch Licht auf den Felsen, verwandelte das Granitschwarz in ein Kalkweiß. Die Kristallsplitter am Boden blitzten auf und blendeten ihn, der er aus Licht gemacht schien. Und er folgte ihnen wie ein Bluthund der Witterung. Sigrid. Bald war ihr Tod gerächt. Dann würde auch er sich besser fühlen. Und nie wieder würde so ein furchtbares Loch in seiner Brust klaffen.
    Er trat um eine Biegung und erblickte das nächste Ungeheuer. Xyz‘ Flügel stellten sich drohend auf, als der Drache brüllte. Hinter ihm versperrte der Leichnam einer seiner Brüder seinen Fluchtweg. Damit hatte diese armselige Kreatur wohl nicht gerechnet. Aus den Katzenaugen sprach nicht mehr dieser überhebliche Ausdruck allesüberwältigender Macht. Der Drache hatte Angst. Die Pupillen waren klein, die schwarze Iris zitterte zwischen den schützenden Lidern aus Amethyst.
    Gellert erhob seinen Arm, richtete die flache Hand gegen den Feind. Der Drache hatte sich selbst aufgegeben. Anders war dieser verzweifelte Angriff nicht zu interpretieren. Er hatte gesehen, dass ihn sein schimmernder Panzer nicht vor dem schützte, was sein Feind in Petto hatte. Das schlohweiße Drachenfeuer brandete über ihn hinweg. Licht in allen Farben hatte wie von selbst einen Schild um ihn und Xyz gebildet. Das Drachenfeuer konnte dem Licht nichts anhaben. Die Gestalt des Schilds ähnelte dem Kopf des Regenbogentitanen, dessen Körper die magische Kraft des Lichts entstammte. Gellert hatte den Titan zu Lebzeiten nie bei solch einer Belastungsprobe beobachten können, weshalb er nur mutmaßen konnte, inwiefern sich seine Macht von der seines Vaters unterschied, der den Titan nur unterworfen und sich nicht dessen Macht einverleibt hatte. Doch er hatte das Gefühl, dass die Kraft von Innos, dem Gott des Lichts, sich ganz hervorragend mit der Macht des Lichttitanen verstand. Eine Münze, deren zwei Seiten identisch waren. Erst einmal aktiviert, strahlte Gellert aus jeder Pore seines Körpers, so dass selbst seine zerschlissene Kutte leuchtete wie ein Buntglasfenster im Sonnenuntergang.
    Der Flammenstrom versiegte und das Licht löste sich aus seiner Form. Gellert stand noch immer mit ausgestrecktem Arm dem Drachen gegenüber, der nun so reglos verharrte, als hoffe er, dass Gellert ihn einfach vergaß. Das Licht sammelte sich um seine Hand und bildete die viel größere Faust des Regenbogentitanen nach. Sie nahm den ganzen Höhlenkorridor ein. Für den Drachen gab es schlichtweg keinen Ausweg. Gellert feuerte die Lichtfaust ab. Kristallsplitter flogen durch die Luft. Der Angriff durchbrach problemlos alle Schichten des Amethystpanzers und zerfetzte das zartrosa Fleisch darunter. Wertvolles Drachenblut strömte in Bächen über den rohen Fels. Die Kreatur röhrte noch im Fallen, dann war sie still.
    „Die Drachen, die ich bisher erwischt habe, waren alle schwach“, stellte er fest. Und er hatte schon viele erwischt. „Sie fliehen lieber anstatt sich mir zu stellen. Ihnen fehlt die Disziplin für einen geordneten Angriff.“
    „Der König ist nicht hier“, sagte Xyz. „Er wird den Hort nicht allein verlassen haben. Wenn er auszieht, dann nur um eine wichtige Schlacht zu schlagen. Dafür wird er all seine fähigen Kämpfer um sich geschart haben. Wir haben es hier nur mit den laschen Überresten zu tun. Dem Abschaum einer ehrenwerten Rasse.“
    „Es freut mich, dass du genauso denkst. Und angesichts der Tatsache, dass sie im letzten Jahrhundert nur gegen einen heute noch lebenden Menschen gekämpft haben, dürfte auch klar sein, was das Ziel der Amethystdrachen ist.“
    „Das Reich der Dämonen?“, fragte Xyz verdutzt. „Ich glaube nicht, dass sie…“
    „Ich auch nicht“, unterbrach Gellert ihn. „Sie greifen Burg Götterfall an. Sie wollen ihren Feind endgültig vernichten und hoffen, dass die Burg im Moment ungeschützt ist. Ihnen wird klar sein, dass selbst mein Vater den Schranken der anderen Sphäre nicht ohne Hilfe entkommen kann. Wir beide wissen, dass er längst zurück ist. Die Drachen nicht. Dich hat er zu mir geschickt. Wohin wird aber er seine Schritte lenken?“
    „Davon hat er kein Wort gesagt. Ich weiß es nicht.“
    „Es ist nicht leicht, zu erraten, was im Kopf meines Alten abgeht“, sinnierte Gellert. „Und wir haben nicht die Zeit, uns mit Vermutungen herumzuschlagen. Ich will, dass du Kontakt zu ihm aufnimmst.“
    „Dann wird er fragen, wie meine Suche nach dir läuft“, gab Xyz zu bedenken. „Wenn er mitbekommt, dass ich nun dir diene, wird er mir nichts über seine Pläne verraten.“
    „Wir werden ihm also etwas vormachen.“ Gellert bohrte sich mit einem leuchtenden Finger in seinem Ohr. „Das eigentliche Problem an der ganzen Sache ist, dass du von meinem Vater beschworen wurdest. Ihm reicht ein Fingerschnippen, um dich wieder in deiner Welt verschwinden zu lassen. Und ich kann dich nicht ohne Weiteres zurückholen.“
    „Ich werde ihm also sagen, dass meine Suche nach dir bislang erfolglos verlaufen ist. Das wird ihm nicht gefallen, aber deswegen wird er mich nicht zurückschicken.“
    „Nein.“
    Xyz sah verdutzt zu seinem neuen Meister herab. „Nicht?“
    „Du wirst dich für Hogs ausgeben. Seine Stimme hat sich bei der Mutation sehr verändert. Der Alte wird deine Stimme nicht von der Hogs‘ unterscheiden können, wenn du sie etwas verstellst. Sag ihm, dass wir Xyz erledigt und zurück in Beliars Reich geschickt haben, wobei wir natürlich den Ring der Telepathie erbeutet haben. Du erzählst ihm, dass wir Sigrid bestatten wollen und die andere Hälfte des Leichnams geborgen haben. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat Hogs ihre obere Körperhälfte bei ihm gelassen. Er muss sich also mit uns treffen, damit wir uns von ihr verabschieden können. Wir müssen verhindern, dass die Amethystdrachen Burg Götterfall dem Erdboden gleich machen. Die Artefakte und Archive der Burg sind für mich von unschätzbarem Wert. Mein Vater muss dafür aber aus dem Weg geschafft werden. Wir müssen sicher gehen, dass er nicht dort sein wird, indem wir ihn von der Burg weglocken. Sagen wir einfach, dass wir auf Khorinis einen schönen Platz an einer Klippe mit Meerblick gefunden haben, auf der wir Sigrid beisetzen möchten. Das ist weit genug weg, damit er uns nicht in die Quere kommen kann. Ehe er dahinter kommt, dass wir uns gar nicht auf Khorinis befinden, haben wir die Amethystdrachen besiegt und Burg Götterfall in unserer Gewalt.“
    Xyz schwieg beklommen. „Und weshalb muss ich mich ausgerechnet als Hogs ausgeben?“
    „Erstens weil er Hogs neue Stimme noch nicht gut kennt. Zweitens weil Hogs ein sentimentales Weichei ist, dem es absolut zuzutrauen ist, dass er Sigrid beisetzen will. Und drittens weil Hogs mein Partner ist und meine Wünsche vermittelt. Auch ich möchte Sigrid würdevoll verabschieden. Aber nicht im Beisein des Alten. Als Xyz hättest du keinen Grund, ihn irgendwo hinzulocken.“
    „Ich könnte ihm erzählen, dass ich dich gefunden habe und du in Schwierigkeiten steckst. Er würde herkommen und dich retten wollen.“
    „Dann würde ihm vor Ort aber sofort auffallen, dass du mit mir unter einer Decke steckst. Wenn wir wie eben geschildert vorgehen, wird er davon ausgehen, dass du in der Sphäre Beliars bist. Er wird also gar nicht mehr auf die Idee kommen, dich dorthin zurückzuschicken. Und wenn er dich von dort zurückrufen will, werden statt dir einfach andere Dämonen erscheinen. Bis er erkennt, dass der Fehler nicht bei ihm liegt, sondern du gar nicht in der anderen Sphäre zu finden bist, wird es schon dauern. So viel Zeit zum Nachdenken hat er im Moment gar nicht, dafür werden wir schon sorgen. Und ehe er uns auf die Schliche kommt, ist die Burg in unserem Besitz.“
    Xyz schwieg eine Weile. Ein Amethystdrache mit besonders dunklen Schuppen tauchte plötzlich hinter ihnen auf und stieß einen Feuerstrahl auf sie herab. Xyz warf sich schützend vor Gellert, doch das Licht war schneller. Der strahlende Schädel des Regenbogentitanen spaltete das weiße Feuer. Die Hand des Titanen packte den Hals des Drachen und bog ihn in eine andere Richtung, sodass die Flammen nun den Stein von der Decke schmolzen.
    „Rede!“, rief Gellert und das Wort war das Wort der Herrschaft. „Wo sind dein König und seine Krieger?“
    „Sie… greifen… den Ketzer… in seinem eigenen Hort an“, stöhnte der Drache und die Felsen warfen die Worte vielfach zurück.
    „Da haben wir den Beweis“, sagte Gellert zufrieden und brach dem Drachen den Hals. Ein Schauer von Amethysten prasselte auf den Lichtschädel nieder.

    Blitze zuckten über den Himmel. Wolken, so schwarz wie Ebenholz türmten sich über und unter ihnen. Es war eine Welt, aus der alle Farbe verloren gegangen war. Der Flugwind rauschte Xardas in den Ohren. Nur das stete Donnern konnte ihn von Zeit zu Zeit übertönen. Tiamat hielt ihn fest an seine Brust gepresst, während er mit seinen acht Flügeln sein möglichstes Tat, um sie schnell zurück zum Schicksalsmeer zu bringen. Xardas war bewusst, dass seine Haltung an der Brust des Dämons wenig rühmlich anmutete, aber war zufrieden mit ihr. Er hätte schon Magie bedurft, um bei den Kapriolen den Halt nicht zu verlieren, die nötig waren, um allen Blitzen auszuweichen. Und er wusste, dass er sich all seine Kräfte aufsparen musste. Für den einen Feind, den er nie wieder hatte sehen wollen. Dessen Seele er extra mit einem mächtigen alten Ritual an den Kerker der Burg Götterfall gebunden hatte, damit er sie stets im Blick behalten konnte. Doch Ixidia hatte einen Weg an seinem Bann vorbei gefunden. Wie er das vermocht hatte, war Xardas in diesem Moment noch nicht klar, doch er würde es herausfinden. Ob er es bereuen musste, dass er seine Seele in diese Sphäre geholt hatte? Nein. Es war bloß eine Frage der Zeit gewesen, bis Ixidia wieder auferstand. Und so hatte er sofort davon erfahren. Vielleicht konnte er ihn bezwingen, ehe er seine alte Kraft wiedererlangte.
    „Meister Xardas!“,grollte eine Stimme durch Xardas‘ Kopf. Er war sich zunächst nicht sicher, wem sie gehörte. Er kannte außer Xyz niemandem, der einen Ring der Telepathie besaß, und es war definitiv die Stimme eines Dämons. Und doch schien es nicht die Stimme seines Dämonenfürsten zu sein. Oder hatte ihm nur der anhaltende Donner einen Streich gespielt?
    „Bist du es, Xyz?“, fragte er.
    „Xyz haben wir erledigt. Der ist längst zurück im Reich Beliars.“
    Xardas war überrascht, ob dieser Offenbarung. Xyz konnte es selbst mit einem Amethystdrachen aufnehmen. Dass er besiegt worden war, erschien ihm auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Doch nun meinte er zu wissen, mit wem er sprach, oder zumindest, wer den Sprecher beschworen hatte. „Xyz hat also meinen Sohn gefunden, nehme ich an.“
    „So ist es. Und meine Revanche war erfolgreich. Ich bin Hogs.“
    Xardas hatte nichts anderes erwartet. Gellert hing mehr an seinem Dämon als er zugeben wollte. Und Hogs war als Sohn des Schläfers in einem alchemistisch gestärkten Körper und mit Unterstützung seines Meisters gewiss in der Lage, Xyz die Stirn zu bieten. „Ihr habt also den Ring erbeutet. Ist es das, was ihr mir mitteilen wollt?“
    „Nein“, antwortete Hogs schlicht. „Wir wollen Sigrid beisetzen. Gellert hat ihre andere Hälfte geborgen und sich nach Khorinis zurückgezogen. Er möchte, dass sie an einer der Klippen beigesetzt wird. Wo sie Ausblick aufs Meer hat, das alles war, was sie von der Welt gesehen hat.“
    Xardas wusste gar nicht, welche Offenbarung ihn am meisten überraschte. Sein Sohn hatte unerwartet große Anteilnahme am Ableben seiner Halbschwester gezeigt, ja. Ein Blitz verfehlte Tiamat nur knapp. Doch dass er gleich so gefühlsduselig wurde, dass er sie an einem Märchenort begraben wollte… kam unerwartet. Und er hatte auch nicht damit gerechnet, dass er tatsächlich alleine in den Hort der Drachen vorgedrungen war und offenbar sogar den Drachen bezwungen hatte, der Sigrid zerbissen hatte. Sein eigen Fleisch und Blut überraschte ihn immer wieder. Außer er hatte die Macht des Titanen auf Hogs übertragen. Nach der Metamorphose und dank seiner guten Abstammung war er vielleicht in der Lage, der Energie Herr zu werden.
    Doch am wichtigsten war eine dritte Neuigkeit: Gellert war auf Khorinis, weit weg von Burg Götterfall. „Ich mache mich sofort auf den Weg. Ich bin allerdings nicht zuhause, darum kann ich weder den Teleporter auf dem Dach noch die Foki benutzen. Es wird also eine Weile dauern, bis ich bei euch bin.“
    Eine kurze Pause trat ein. Dann sagte Hogs: „Gellert sagt, dass er keine Einwände hat. Wir melden uns, wenn sich etwas am Plan ändern sollte.“
    Xardas spürte das taube Gefühl, das jedes Mal in seinen Schläfen eintrat, wenn die telepathische Verbindung getrennt wurde. Er war sehr zufrieden damit, wie sich die Lage entwickelte. Nun war Gellert bis auf Weiteres aus dem Verkehr gezogen. Er würde sich um Ixidia kümmern, noch bevor sein Sohn ihn auf der Insel der Minen vermisste.
    Xardas‘ Blick folgte dem unverletzten Arm Sigrids, der im Wind hin und her geschlagen wurde. Tiamat hielt ihr totes Fleisch vielleicht ein wenig zu fest umkrallt. Die aufgedunsene Haut trat zwischen den Dämonenfingern hervor. Er hatte sie weniger aus den irrtümlicherweise entwickelten Vatergefühlen denn aus Forschungsinteresse mitgenommen. Es hatte ihn in den Fingern gejuckt, diese Schande seiner Vergangenheit einfach am Magnuskreis zurückzulassen, doch wann bekam man schon den Körper einer Kreuzung aus Hexe und Erzdämon in die Hände?

    „RAAAAAAAAAAAAAAAARGH!“ Der Schrei zerschnitt das Tosen des Meeres und unterjochte das Donnern der Blitze. Seine Arme krampften, während sich das Meer des Schicksals unter ihnen aufbäumte. Wellen in der Größe von Burg Götterfall rollten über den Horizont. Xyz hielt sich einen seiner vier Arme vor die zugekniffenen Augen. Der Schützling in seinen Armen sandte das Licht des Titanen und des Gottes mit gleißender Intensität ab. Gellerts Schrei hielt an und stand dem seiner Schwester in nichts nach. Die erste Lichtfaust teilte das Meer. Eine zweite folgte, pulverisierte einen Leviathan, der auf dem Trockenen zappelte. Ein Hagel aus Lichtfäusten ging auf die Fluten nieder. Gellert vibrierte mit jedem Schlag stärker. Xyz nahm seine Hand von den Augen und fragte sich, wie lange er seinen Herren noch würde halten können, als der Schrei endlich verstummte. Schwer atmend und zitternd hing Gellert in den Armen seines Dämons. Das Leuchten war abrupt versiegt. Das Meer brach über der Schneise zusammen und nahm wieder seinen üblichen, tosenden Zustand ein.
    „Geht es wieder?“, fragte Xyz besorgt.
    „Ja“, wimmerte Gellert. Seine kleinen Finger gruben sich in die riesigen, die ihn hielten. Er musste es kontrollieren. Irgendwie. Nein. Zuerst musste er nach Burg Götterfall. Wenn er sie unter seinen Befehl gebracht hatte, konnte er sich darum kümmern, wie er die Energie zähmte, die ihn so überforderte. Der Ausbruch war heftig gewesen, heftiger als die letzten beiden. Vielleicht blieb ihm dieses Mal eine längere Pause. Die Intensivierung der Ausbrüche konnte auch bedeuten, dass er mit der Zeit immer mehr aushielt und deshalb mehr Energie aus ihm herausplatzte, wenn er die Kontrolle verlor. „Flieg weiter, Xyz. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Alte wird nicht ewig auf Khorinis bleiben.“
    „Einverstanden“, antwortete Xyz.
    Gellerts Blick streifte über den Himmel. So dunkel hatte er ihn noch nie gesehen. Selbst aus dieser Entfernung wirkten die Blitz so dick wie die Leviathane, die unter ihnen lebten. Das Meer toste wie immer. Die Tiefe schien so viel schwerer aus dem Gleichgewicht zu bringen als die Höhe. War es vergleichbar mit einem Turm, den man an der Spitze nur anzustupsen brauchte, um ihn zu Fall zu bringen, der aber standhaft blieb, wenn man ihn am Fundament angriff? Die Welt schien so vielen Regeln zu unterliegen. Die Sonne ging auf und unter. Und trotzdem wusste niemand, ob die Nacht dem Tag folgte oder der Tag der Nacht. Die Tageszeiten spiegelten den ewigen Streit von Innos und Beliar wider. Doch welches Sinnbild konnte man für den Kampf zwischen den Titanen und den Göttern finden? War es unmöglich beide Kräfte auf eine Seite zu bringen, so wie es nicht zugleich Tag und Nacht sein konnte? Oder ergänzten sie sich wunderbar, solange sie demselben Element angehörten? Er spürte schon, wie das Pulsieren in seiner Brust wieder zunahm. Die Ausbrüche folgten nun schneller aufeinander. Es vergingen keine Tage mehr zwischen ihnen, nur noch Stunden. Was würde geschehen, wenn diese Differenz gegen Null lief? Er wollte das Phänomen studieren, aber nicht mit sich selbst als Versuchsmolerat. Nirgendwo sonst hatte er eine bessere Chance, die Antworten auf seine Fragen zu finden, als in den Archiven und Laboren von Götterfall.
    Wie aufs Stichwort erschien die Burg am Horizont. Erst waren nur die Türme zu erkennen. Dann auch die Zinnen. Und schließlich die Fenster und die Skelette, die auf den Mauern patrouillierten. Gellert spürte die Muskeln an den Armen, die ihn gepackt hielten. Er war froh, dass Xyz bei ihm war. Er war stark und erfahren. Ein würdiger Diener für den mächtigsten Magier. Sein Vater hatte eine gute Wahl getroffen. Zumindest bei seinem Dämonenfürst. Bei dem Geschenk für seinen Sohn hätte er sich mehr Mühe geben können. Hogs hatte er schon so gut wie vergessen. Die Experimente waren erfolgreich gewesen, daran bestand kein Zweifel. Doch das Potenzial des Jungdämonen hatte sich in dem Kampf gegen Xyz als erbarmungswürdig herausgestellt.
    „Die Amethystdrachen scheinen noch nicht angegriffen zu haben“, stellte Xyz fest.
    Gellert war es natürlich auch schon aufgefallen, doch er rügte seinen Diener nicht für die Feststellung dieser Offensichtlichkeit. Es gefiel ihm, wenn der Dämonenfürst ihm mit scharfsinnigen Beobachtungen imponieren wollte. „Ich muss in die Archive, bevor wieder die Gefahr eines Ausbruchs besteht. Setz mich am besten im Kräutergärten ab. Du rufst die Dämonen meines Alten im Hof zusammen und bereitest alles für die Blutschwüre vor. Wenn die Dämonen auf mich vereidigt sind, gehört die Burg faktisch mir. Dann gibt es nur noch die eine oder andere Formalität zu erledigen. Und triff die nötigen Vorbereitungen für den Angriff der Amethystdrachen. Es kann nicht mehr lange dauern.“
    Xyz flog über die äußere Burgmauer. Schlagartig verstummte das Rauschen des Meeres. Gellert hatte sich bisher nie gefragt, ob dies rein physikalische oder doch magische Ursachen hatte. Anscheinend kamen einem diese Gedanken erst, wenn man im Begriff stand, diese Burg sein Eigen zu nennen. Die Türme, Mauern und Dächer machten plötzlich einen ganz anderen Eindruck auf ihn. Er würde vieles ändern müssen, bis es seinen Wünschen entsprach. Schon seit er denken konnte, hatte er gewisse Entscheidungen seines Vater nicht nachvollziehen können. Zum Beispiel der Teleporter auf dem Dach. Gerade hier am Meer des Schicksals schüttete es doch ständig wie aus Kübeln. Am besten ließ er die ganze Burg um ein Stockwerk erhöhen. Früher oder später würden die Räumlichkeiten für ihn ohnehin zu klein. Nun überflog Xyz auch die Barriere, mit der Xardas sein Studierzimmer vorläufig überdacht hatte. Dahinter erstreckten sich die Gemüsegärten, die Lyrca von ihren Leibskeletten bestellen ließ. Gellert und Sigrid war das Spielen dort stets untersagt worden. Daran hatte er sich auch stets gehalten. Was aber mehr daran lag, dass es ihm ferngelegen hatte, zu spielen. Er hatte sich lieber an den kuriosen und raren Beeren bedient, die seine Mutter dort hortete. Nicht wenige von ihren waren wertvoller als die Artefakte in seines Vaters Studierzimmer.
    „Soll ich dich wirklich allein gehen lassen?“, fragte Xyz, als er seinen Schützling auf den Gehwegplatten absetzte. Die Sorge in seiner Stimme passte so überhaupt nicht zu seinem Äußeren und erinnerte ihn unangenehm an Hogs. Oder war es ihm nur unangenehm, weil Xyz wollte, was er selbst sich insgeheim wünschte? Er mochte nicht allein in die Eingeweide der Burg hinab steigen. Er hatte Angst vor dem Loch, das Sigrid in ihm hinterlassen hatte und das ein Leid verursachte, das nur Xyz lindern konnte. Kopfschüttelnd wischte er den Gedanken beiseite. Er durfte keine Angst haben. Er hatte noch nie welche gehabt und wusste nicht mal, was es damit auf sich hatte. Er spürte den Trotz in sich aufsteigen und begrüßte ihn wie einen alten Freund. „Das schaff ich schon alleine. Kümmer du dich um die Dämonen. Ganz ohne ihre Hilfe werden wir den Angriff der Drachen nicht abwehren können. Ich will, dass der Burg nicht einmal eine Zinne gekrümmt wird!“
    Xyz nickte ergeben. Dann schwang er sich wieder in die Luft. Die Druckwelle von seinem Flügelschlag ließ die Joheimnisbeerensträuche erzittern. Gellert wandte sich ab. Sein mitgenommener Umhang bauschte sich, während er den Weg entlang schritt. Mit einer Telekinese ließ er die Tür zum Schloss aufgleiten. Als Xyz einen Schrei ausstieß.
    Gellert wirbelte herum. Sein Herzschlag setzte eine Sekunde aus, als er sah, wie Xyz sich mitten in der Luft unter Schmerzen krümmte – und sich in schwarzen Rauch auflöste.
    Nicht schon wieder. Seine Atmung wechselte zu einem hellen Stakkato. Er hatte Xyz noch nie beschworen. Er wusste nicht, wie er ihn in der Masse der Dämonen, die in der anderen Sphäre warteten, erkennen sollte. Wer einen Dämon beschwor, erinnerte sich sein Leben lang an dessen magische Signatur und konnte ihn immer wieder zu sich rufen. Doch wer ihn noch nie beschworen hatte, konnte nur so viele Dämonen beschwören, bis der richtige dabei war. Es war unüblich eine persönliche Bindung zu einem bestimmten Dämon aufzubauen, weshalb dieses Problem kaum erforscht war. Doch in ihm tat sich wegen genau dieses Problems ein neues Loch auf, direkt neben dem, das Sigrid hinterlassen hatte. Und Panik vernebelte ihm die Sinne, während er sich das Hirn zermarterte, wie er ihn zurückholen konnte.
    Der Rauch verschwand restlos. Und nur ein glitzerndes Ding stürzte von dort, wo Xyz vernichtet worden war, in den Gemüsegarten hinab. Gellert rannte die Wege entlang. Links und rechts Büsche, die drei- und achtmal so groß waren wie er selbst. Die kleine Beeren in schrillen Farben trugen und kürbisgroße Früchte oder mit schnalzenden Tentakeln nach ihm griffen. Ein Stechen in seiner Brust, das nicht nur seiner Kondition geschuldet war. Nahte der nächste Ausbruch? Wieso rannte er überhaupt? War er schon wieder zu durcheinander um eine einfache Telekinese zu benutzen? Er bog um eine Ecke. Eine Ranke mit Dornen, lang wie sein Unterarm, hieb auf ihn nieder. Ohne bewusst darüber zu entscheiden ließ er sie zu Asche zerfallen. Die Gehwegplatten rasten unter ihm dahin. Er musste dem glitzernden Etwas, das Xyz in dieser Welt zurückgelassen hatte, nun ganz nah sein.
    Abrupt blieb er stehen. Ein Mädchen stand am Ende des Weges. Sie hatte langes schwarzes Haar, das in seichten Locken über ihren Rücken fiel. So wie das von Sigrid es einst getan hatte. Aber sie war größer als seine Schwester, etwa so groß wie er. Sie bückte sich nach etwas zwischen den Trieben schnöden Heilkrauts. Es war ein Ring. Sie musterte ihn kurz, dann schloss sie ihre Hand um den Gegenstand und richtete sich wieder auf. Sie wandte sich ihm zu und warf ihm einen überheblichen Blick zu. Ihre Augen waren ohne jedes Weiß und ihre Eckzähne ragten über ihre Lippen. Gellert wusste, dass es keine Vampire gab. Es musste eine andere Erklärung für die Zähne geben. Er war gebannt von der Erscheinung des Mädchens. Ihr Gesicht war eingefallen, die Haut bleich wie Kalk und doch makellos glatt. Ihre Statur machte den Eindruck, dass sie in seinem Alter war. Doch wenn das stimmte, musste ihr etwas Furchtbares widerfahren sein. Eine schwere Krankheit, ein alter Fluch oder etwas in der Art.
    „Endlich kommst du zu mir, Gellert“, sagte sie mit einer süßen, mädchenhaften Stimme. „Ich habe deine Besuche vermisst. Willst du nicht wieder versuchen, mir meinen Schatz wegzunehmen?“
    „Ich kenne dich nicht“, sagte er verwirrt. Gleichzeitig begann ein Teil von ihm, seine Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge zu lenken. Was war mit Xyz geschehen? Hatte es etwas mit den Amethystdrachen zu tun? War den anderen Dämonen dasselbe passiert? Oder steckte sein Vater dahinter? Hatte er Xyz trotz aller Vorkehrung zurückgerufen? Nein. Das hätte anders ausgesehen.
    „Ich scheine nicht interessant genug zu sein“, sagte das Mädchen und tat, als würde sie schmollen. Ihre Augen verrieten, dass sie ihre wahren Gefühle nicht zeigte. Sie erinnerten ihn an die seines Vaters. Allwissende Augen, denen nichts entging. „Ich bin mir sicher, wir könnten uns über eine Menge spannende Dinge unterhalten. Ich beobachte dich schon lange, weißt du?“
    „Ich habe gerade andere Sorgen. Zu gegebener Zeit werde ich dich fragen, was du hier zu suchen hast. Denn das hier ist meine Burg. Bis dahin verhältst du dich gefälligst unauffällig und fasst hier nichts an. Die Pflanzen sind wertvoll.“
    „Oh, na dann.“ Sie verschwand in einem blauen Funkenwirbel. Verdutzt starrte Gellert auf die Leere, die sie hinterlassen hatte. Das Mädchen hatte keine Rune in ihrer Hand gehalten, da war er sich sicher. Ein Rauschen drang an seine Ohren. Zunächst dachte er, dass er ausgerechnet hier, in einem kleinen Innenhof der Burg, umgeben von sechsstöckigen Gebäudeflügeln, doch noch das Meer hörte. Doch als er seinen Blick nach oben richtete, sah er einen Meteor direkt auf den Garten zu steuern. Der schwarze Gesteinsbrocken war von Flammen umhüllt. Gellert hatte so etwas noch nie gesehen. Sein Vater vermied die Zauber der Feuermagier seit er ihren Zirkel verlassen hatte. Er war so von dem Schauspiel eingenommen, dass er gar nicht daran dachte, sich in Sicherheit zu bringen. Doch instinktiv scharte sich das Licht um ihn. Durch den Schleier aus Regenbogenlicht sah er, wie der Reichtum seiner Mutter zermalmt wurde. Es dauert nicht einmal einen Augenblick, bis der Meteorit sich in das Erdreich bohrte, von den darunter liegenden Verliesen ganz zu schweigen. Die Geräuschkulisse war dabei überraschend unspektakulär. Nicht das Knacken der Äste oder das Prasseln der verspritzten Erde war zu hören. Nur ein ohrenbetäubendes Brummen.
    Der Meteorit war zum Stillstand gekommen. Auf der anderen Seite des Lichts konnte er nur noch Stein sehen. Gellert schätzte, dass er mindestens drei Kellergeschosse durchschlagen hatte. Drei Geschosse seiner Burg. Was hatte unter dem Kräutergarten gelegen? Gewiss auch das eine oder andere Archiv. Er ballte seine Faust und richtete sie gen Himmel. Das Licht durchschlug den Meteor und zersprengte einen Teil zu handlicheren Brocken. Er flog im Zickzack durch die Gesteinssplitter. Ein leuchtendes Geschoss in einer Welt aus Schwerelosigkeit. Er wünschte sich, dass Xyz bei ihm wäre. Allein hatte er Sigrid nicht beschützen können. Und selbst mit der Macht des Regenbogentitanen hatte er Xyz nicht beschützen können. Er war genauso schwach wie damals. Wäre er doch nur nicht so unachtsam gewesen. Xyz würde wiederkehren. Und wenn er dazu alle Dämonen Beliars beschwören musste, er würde ihn finden.
    Er ließ den Meteorit und die Mauern von Götterfall hinter sich. Jetzt konnte er das ganze Schloss überblicken. Er musste dieses Mädchen finden. Es konnte kein Zufall sein. Sie hatte Xyz getötet. Sie stand auf der Barriere über dem Studierzimmer seines Alten. Während er auf sie zu flog, warf er einen Blick zurück auf den Garten. Der Meteorit reichte von einem Gebäudeflügel zum anderen, sowohl in der Länge als auch in der Breite. Eine Mauer war halb eingerissen. Von den Pflanzen hatte gewiss keine überlebt. Die Nüsse des Gagabaums hielten zwar das Gewicht eines Mammuts aus, aber das eines Meteoriten?
    Er landete neben dem Mädchen auf der Barriere. Sie hielt sich den Ring der Telepathie dicht vor die Augen. Als sie ihn bemerkte, wandte sie ihm jedoch wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu. Sie strahlte über ihr ganzes entstelltes Gesicht. „Ein hübsches Exemplar, nicht wahr? Ich hab schon lange nicht mehr so einen großen vom Himmel geholt.“
    „Bist du ein Feuermagier?“, fragte Gellert.
    „Nein!“ Sie funkelte ihn böse an. „Kannst du denn meine hohe Kunst nicht von Scharlatanerie unterscheiden? Feuermagier teleportieren nur einen Stein in die Luft, stecken ihn in Brand und lassen ihn auf ihre Gegner fallen. Und das schimpfen sie dann Meteor! Die wissen doch nicht mal, was der Unterschied zwischen einem Meteor und einem Meteoriten ist!“ Sie hatte ihre Worte wütend ausgespien, doch nun schien sie sich wieder zu zügeln. Gellert hatte den Eindruck, dass sie wieder ihre überhebliche Art aus dem Garten aufsetzen wollte, gelingen tat ihr das aber nicht. „Meine Kunst ist nicht die der Teleportation, sondern die der Telekinese. Ich lenke einen Meteoriten aus der Umlaufbahn in das Anziehungsfeld der Erde. Und ich bin sogar in der Lage, den Aufschlagsort exakt zu bestimmen, wie du gesehen hast. Das ist doch viel erstaunlicher, oder?“
    „Hast du Xyz erledigt?“ Gellert musste sich alle Mühe geben, die Frage beiläufig klingen zu lassen. Der Zorn, der in seinen Worten mitschwang, erschien ihm wenig eindrucksvoll.
    Das Mädchen ärgerte es offensichtlich, dass er ihr keine Anerkennung schenkte, doch sie ließ sich auf den Themenwechsel ein. „Der hat mich gestört. Ich habe das Schloss gesäubert. Die Dämonen sind fort. Meine Skelette haben Stellung bezogen. Ach, und deinen Vater hab ich auch schon aus dem Weg geräumt.“
    „Was genau meinst du damit?“ Sie bluffte nicht. Sie meinte es vollkommen ernst.
    „Der Tod wäre zu gnädig gewesen. Er wird noch mit ansehen, wie die Welt, die er so lange beschützt hat, den Bach runtergeht!“ Sie lachte schrill. „Allerdings ist sein Zustand nicht viel besser als der Tod.“ Sie warf einen Blick durch die Barriere zu ihren Füßen. „Ich habe jahrelang das Treiben in dieser Burg beobachtet. Wenn du selbst keinen Körper hast, dann stellt das Stoffliche für dich auch keine Grenzen dar. Das gilt auch für die Sinne, verstehst du? Ich war zwar an einen Ort gebunden, aber ich konnte alles sehen. Und hören. Ich hätte deinem Vater sagen können, was du so alles hinter seinem Rücken getrieben hast. Ich habe dich ausgiebig studiert. Ich weiß alles über dich, Gellert. Und du hast in mir immer nur einen nutzlosen Wächter gesehen. Ich hätte dir Dinge erzählen können, die dich sehr interessiert hätten. Dinge über deine liebe Schwester.“
    „Du bist Ixidia!“ Gellert war erleichtert und erschüttert zugleich. Erleichtert, dass er endlich wusste, mit wem er es zu tun hatte. Erschüttert, dass dieser Mann wieder auferstanden war. So wie Hogs es befürchtet hatte. Schon wieder so ein Gedanke an Hogs. Er verscheuchte ihn. Ixidia war kein Avatar mehr. Auch wenn er seinen Körper zurück hatte, seine Macht war nur ein Bruchteil dessen, was damals von seinen Eltern überwunden worden war.
    „Ich war gerade dabei, von deiner Schwester zu reden.“
    Das breite Grinsen auf dem Gesicht des Mädchens behagte Gellert nicht. Sie gierte danach, ihm etwas zu offenbaren, das ihm nicht gefallen würde.
    „Aber man redet nicht über Menschen, wenn sie nicht anwesend sind, oder?“ Und hinter Ixidia schwebte ein Körper aus dem Abgrund hinter den Zinnen hervor. Ein Blitz zuckte über den Himmel und beleuchtete für einen Sekundenbruchteil den nackten Oberkörper eines jungen Kindes, dem die schwarzen Locken über die aufgedunsenen Schultern fielen, in dessen Brust ein Loch klaffte, durch das ein pulsierendes Herz zu sehen war, und der in Fetzen unter der Brust endete. Immer noch schlingerten die abgerissenen Gedärme hinter ihr her. Und einer ihrer Arme war verrußt. Gellert drehte sich der Magen um, doch er schluckte die aufkommende Säure wieder hinunter.
    „Ich weiß, was du denkst, Gellert“, frohlockte Ixidia. „Das ist der Beweis dafür, dass ich deinem Vater tatsächlich begegnet bin. Und dass ich nun in dem Besitz der Leiche bin, beweist auch, dass ich über ihn triumphiert habe. Der erste von vielen Beweisen dieser Art, das verspreche ich dir.“ Er gab seinem Gesprächspartner Zeit, etwas zu erwidern, doch Gellert starrte nur seine Schwester an. Sie schwebte zu Ixidia und umkreiste ihn anmutig schwebend. „Wie sehr ich mich gefreut habe, als ich gesehen habe, dass er mir so ein praktisches Werkzeug mitbringt. Ich war fest davon überzeugt, dass ich mit ihrem Zombie den Schrei reproduzieren könnte, mit dem sie die Barriere gesprengt hat. Leider scheint die zerstörerische Wirkung des Schreis nicht allein den Stimmbändern zu entspringen. Es hat jedenfalls nicht geklappt. Ich bewundere dich übrigens dafür, dass du die absurd vielen Schlösser des Studierzimmers so schnell geknackt hast, Gellert. Ich selbst bin bisher dran gescheitert. Dabei möchte ich doch sichergehen, dass ein gewisser Gegenstand zerstört wird, der mir lästig werden könnte.“ Er machte abermals eine Pause. Gellert riss sich von dem schwebenden Zombie los und funkelte den Mann an, der seine Schwester ausnutzte und Xyz getötet hatte. Der Zorn, der in ihm aufwallte, brachte seinen Körper zum Strahlen.
    Ixidia ignorierte dieses Phänomen geflissentlich. Er fuhr fort, in seiner scheinbar gut vorbereiteten Rede. „Aber du, Gellert, du bist erfolgreicher als dein Vater. Dir ist es tatsächlich gelungen, mir den Schlüssel zu seinem Studierzimmer zu bringen.“ Er steckte sich den Ring der Telepathie mit einer theatralischen Geste an die Finger des Mädchens.
    „Der Ring wird dir nicht helfen“, entgegnete Gellert mit einem Anflug von Spott. Sicher war er sich jedoch nicht. Ixidias Pläne schienen bisher erstaunlich reibungsfrei abgelaufen zu sein.
    „Oh doch. Das wird er. Hast du dich nie gefragt, ob Sigrid Geschwister hat?“, flüsterte es in seinem Kopf. „Oh, natürlich. Du bist ihr Bruder, wirst du jetzt sagen. Warst du bei dem Zeugungsakt dabei? Nein? Dann erzähle ich dir jetzt mal was…“ Die Stimme in seinem Kopf kündete von Schadenfreude. Abermals wollte der Auferstandene sich an seinem Entsetzen laben. Gellert stellten sich die Nackenhaare auf. Was konnte es noch geben, das ihn aus der Fassung bringen sollte? Seine tote Schwester sah ihm mit leicht geöffnetem Mund in die Augen und er verlor sich in ihrem Blick. Sah sie wieder vor sich, wie sie ihn angestrahlt hatte, als er ihr versprach, ihre Murmeln zu retten. Und die Stimme in seinem Kopf fuhr fort, während Ixidia das Gesicht des Mädchens zu einer Grimasse verzerrte. „Allerhöchstens ist sie deine Halbschwester. Ob ihr die gleiche Mutter habt, vermag ich nicht zu wissen. Aber eins weiß ich. Du bist ein Mensch, durch und durch. Und sie… Ich hab bei dem Zeugungsakt zugesehen, weißt du? Als Geist, unten aus den Kerkern. Gedemütigt bis auf die Knochen, die mir fehlten. Doch ich schweife ab. Allein das zusehen war spannend. Vielleicht war das, was Lyrca tat, ein absolutes Novum in der langen Geschichte der Welt. Und das nur weil dein Vater, der die Welt seit Jahrtausenden zu schützen meint, von seiner Zeugungskraft überzeugt werden musste. Sigrids Vater… ist der Schläfer.“ Gellert schloss für einen Moment die Augen. Es war absurd. Und unmöglich. Der Schläfer war lange vor… Doch er wusste, was der liebste Zeitvertreib seiner Mutter war. Vielleicht war es doch nicht unmöglich. Er wollte Gewissheit, doch an die war im Moment kein rankommen. Ixidias Wort würde er nicht für bare Münze nehmen. Sein Blick wanderte von Sigrids kühlem Blick zu ihrer Brust, wo das Herz schlug. Er war so dumm gewesen. Wieso hatte er es nicht gleich gedeutet? Die Herzen von Zombies schlugen nicht. Die von Dämonen auch nach ihrem Tod.
    „Der Schläfer hat weitere Kinder, weißt du?“ Ixidia sprach nun wieder durch das Mädchen. „Sein ältester Spross, reinblütiger Erzdämon, war einst mein ergebenster Diener. So wie Xyz der deines Vaters und Hogs der deine war. Er arbeitet noch heute für mich an dem Ort, an den ich ihn einst schickte. Mir war nie klar gewesen, dass er die Fähigkeiten seines Vaters besaß. Erst die kleine Sigrid öffnete mir die Augen. Seit sie deine Barriere zerstörte, wusste ich, zu was die Kinder des Schläfers in der Lage waren. Und mit diesem Ring…“
    „Muss ich dir erklären, wie er funktioniert?“, hallte es wieder in seinem Kopf.
    Und Gellert verstand endlich, was er plante. Es war einen Moment still. Gellert war sich sicher, dass Ixidia nun mit seinem Diener Kontakt aufnahm. Er musste ihn aufhalten. Sofort. Das Licht des Titanen ummantelte seinen Arm und schwoll zu der Riesenfaust an.
    „Es ist vollbracht!“, rief Ixidia in seinem Kopf. Und es folgte ein Schrei, den er nur in seinem Kopf hörte. Das Licht erlosch, versiegte in seiner menschlichen Haut. Gellert presste sich die Hände auf die Ohren, dachte an die Barrieren, mit denen er sich einst vor dem Schrei geschützt hatte. Doch wie sollte er sich vor einem Schrei schützen, der nicht über die Ohren in seinen Kopf gelangte? Unter ihm durchzogen Risse die Barriere. Und er wusste warum. Der Ring verband magische Entitäten. Magisch unbegabte Menschen konnten ebenso wenig von dem Ring erreicht werden wie ein Sack Scavengerdung. Doch an Barrieren konnte das akustische Signal ebenso weitergeleitet werden wie an Magier.
    Unter seinen Füßen zerbrach die schützende Membran und er stürzte in die Tiefe. Er verstand nicht, wieso Ixidia sich nicht ebenso krümmte wie er. Der Träger des Rings musste an jeder Konversation teilnehmen. Und doch schwebte das Mädchen ohne ein Anzeichen von Schmerz über dem Abgrund. Sie streckte die Hände zum Himmel. Hinter ihr durchbrach ein Meteorit die Wolkendecke. Sie verschwand wie im Kräutergarten. Und wie im Kräutergarten donnerte der Meteorit zwischen die Mauern von Götterfall. Er passte genau durch das Loch in der Decke, rammte links und rechts die Bücherregale mit den teuren Folianten ein. Gellert war wie gelähmt von dem Schrei, der immer noch seine Gedanken dominierte. Er wollte die Bücher retten, die Originalnotizen des ewigen Wanderers und all die anderen wertvollen Skripte.
    Er schlug auf dem Boden auf und es brach ihm das Rückgrat. Der Schmerz traf ihn unvorbereitet. Wieso hatte sich der Titanenschädel nicht gebildet? Die Instantheilung wurde aktiv und reparierte seine Knochen, während der kosmische Fels über ihm das Holz zerbarst und tiefe Kratzer ins Mauerwerk riss. Wie ein Gletscher arbeitete sich der Meteorit zu ihm vor. Und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er in ernsthafter Gefahr schwebte. Er konnte die Titanenmacht nicht rufen, solange der Schrei anhielt. Und seine Instantheilung würde solch eine Wunde nicht reparieren können.
    Er kam nur langsam auf die Beine. Sein halb verheilter Rücken knackte protestierend. Bücher, Artefakte, Runenrohlinge und Holzsplitter prasselten auf ihn herab. Kniehoch stand er in dem Durcheinander. Alles, was in den Regalen gelegen hatte, wurde von seinem angestammten Platz geschleudert. Auf dem Pentagramm türmten sich die Regalteile wie ein Scheiterhaufen. Gellert watete durch die Bruchstücke und zerfetzten Bücher zur Tür. Obwohl der Schrei fortdauerte, wurde ihm eins klar: Er würde es nie schaffen, alle dreihundertdreiunddreißig Schlösser der Tür zu knacken, bevor der Meteorit ihn erreichte. Ganz egal wie viel Übung er inzwischen darin hatte.
    Er gab die Anstrengung auf, presste sich wieder die Hände auf die Ohren. Es befriedigte sein Gehirn, so hatte er wenigstens das Gefühl, alles gegen den Schrei zu tun, was in seiner Macht stand.
    Eine Kiste Runenrohlinge zerschellte vor ihm an einem alten Kessel, der irgendeine braune Alchemikalie verspritzt hatte. Sein Blick verschwamm unter der andauernden Qual in seinem Kopf. Es waren doch keine Rohlinge. Es waren Symbol auf den Runen. Er griff nach dem erstbesten Stein. Das Holz und die Bücher türmten sich über ihm. Hatten ihn unter sich begraben als wollten sie ihn vor der Last des Meteoriten beschützen. Er hatte im Kräutergarten gesehen, wie viele Stockwerke so ein kosmisches Projektil durchschlug.
    Er hatte den Moment erwartet. Trotzdem kam er eigenartig plötzlich. Alles war schwarz und Holzsplitter und metallische Artefakte, Bettpfannen und gebrochene Buchrücken bohrten sich überall in seinen Körper. Der Druck wurde vom einen auf den anderen Moment unerträglich. Sein ganzer Körper wurde zerquetscht. Er fühlte die Rune in der Hand. Und trotz des Schreis gelang es ihm, sie zu aktivieren. Seine Knochen brachen, seine Haut platzte auf, sein Kopf knickte nach hinten und wurde eingedrückt.
    Und dann war er endlich fort. Weit weg. In einer anderen Welt. In einer Welt, in der kein Druck auf ihm lastete. Ihm war so leicht zumute, dass er zu schweben glaubte. Er wollte atmen, aber er konnte nicht. Er konnte nicht sehen. Er spürte nur unerträglichen Schmerz. Ihm lief etwas die Atemwege hinunter, wahrscheinlich Blut. Wieso hatte er immer noch Gefühle, wenn sein Kopf so verdreht war? Er glaubte, dass seine Nase seinen Hals berührte. Seine Brust ein Bein. Dann fühlte er, wie sich sein Manavorrat füllte. Seine Instantheilung prickelte in seiner Brust. War es eine Rippe, die ihm dort solche Schmerzen bereitete? Sein Herz schlug schmerzhaft, doch seinem Kopf fehlte der Sauerstoff. Ihm schwand das Bewusstsein. Und sein letzter Gedanke war, dass er direkt in dem sechzehneckigen Becken gelandet war, in dem seine Mutter immer ihr wöchentliches Bad nahm. Und nun lag er dort, wie er einst im Schoß seiner Mutter gelegen hatte. Umgeben von nährreicher Substanz, unfähig zu leben.
    Geändert von MiMo (03.05.2016 um 22:46 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Sigrid und Hogs, der wieder klein und harmlos war, tanzten um ihn herum. Immer im Kreis hüpften sie umher. Er fragte sich, wie Hogs sich so gleichmäßig auf und ab bewegen konnte, obwohl er seine Flügel kaum bewegte. Sigrid schleuderte den kleinen Dämon immer im Kreis, immer im Kreis. Dabei wurden ihre Arme länger und länger. Und ihr Arm wurde schwarz, wurde schwarz. Und bröselte langsam vor sich hin, während Hogs albern gackerte, sodass er keinen Atem mehr hatte, keinen Atem mehr hatte. Und er sich blähte und blähte, während Sigrid ihn mit ihren bröckelnden, schwarzen Armen immer weiter und immer weiter im Kreis schleuderte. Hogs war nun rund wie ein Kugelfisch, mit grotesk abstehenden Gliedmaßen. Und er blähte sich immer weiter, immer weiter. Bröckchen von Sigrids bröselndem Arm stoben durch die Luft und Hogs atmete sie ein. Und Sigrid ließ ihn fliegen, während er versuchte mit seinen Stummelärmchen an seine juckende Nase zu kommen, Stummelnase zu kommen. Sigrid drehte weiter Pirouetten, ganz allein, während sie sich immer weiter von ihm entfernte, immer weiter. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch in genau diesem Moment nieste Hogs und platzte. Die Welt war rot und Sigrid tot. War geplatzt, als Hogs geniest hatte.
    Die leere Welt wirbelte um ihn herum. Farben rauschten dahin, doch seine Pupillen fanden nichts, an das sie sich heften konnten. Langsam, ganz langsam, verschwanden die Farben wie Wasser in einem Abfluss, aus dem er den Stöpsel gezogen hatte. Und mit ihnen auch alles Licht. Als das letzte bisschen verschwunden war, gab es nur noch Nichts. Er sah nichts. Er fühlte nichts. Er hörte auch nichts. Riechen tat er ohnehin nie viel. Und so wurde er müde. Müde von der Langeweile, die ihn umgab. Er wurde schwer, während die Dunkelheit ihn erdrückte, ja beinahe zerquetschte.
    Und dann… tauchte vor ihm ein Licht auf. Verschwommene Farben glitten vor ihn, setzten sich zu Bruchstücken zusammen. Er sah zu einem Gesicht auf und fühlte sich wie vor seinem Richter. War es nun an der Zeit, seine Sünden zu bekennen? Wer würde ihm die Buße abnehmen? Es war nur ein Gesicht, ohne Hals, ohne Körper. Doch plötzlich meinte er es zu kennen. Dieser Bart und diese markante Nase. Die Augen, die so farblos weiß waren wie seine. Der Richter war sein Vater. Ob jeder von seinem Vater gerichtet wurde? Oder nur die, die vor ihren Vätern gingen? Doch obwohl er nun erkannt hatte, wen er vor sich hatte, wurde das Bild nicht schärfer. Er konzentrierte sich darauf und doch wurden die Konturen nicht klarer. Die Schwere hatte seinen Körper noch nicht verlassen. Der Mund seines Vaters bewegte sich, doch er hörte nichts. Doch er fühlte. Fühlte das brennende Verlangen in seinen Lungen. Waren nicht einmal Tote von der Pflicht befreit, immerzu zu atmen? Doch als er atmete, drang die Welt in ihn ein und das Bild seines Vaters zerbarst. Er schlug um sich und brach durch die Phasengrenze.
    Das Wasser tropfte ihm von der Nase. Alles blendete ihn. Er hob seine Hand, die von einem vollgesogenen Ärmel unerbittlich zurück in die andere Welt gezogen wurde. Vor seinen Augen tanzten die Farben, doch er konnte das Chaos wegblinzeln und sah wieder seinen Vater vor sich. Ohne Hals und Körper. Nur ein Kopf, der über dem Becken schwebte. Er wollte etwas sagen, würgte aber nur einen Strahl Wasser in das Becken.
    „Du bist also doch noch erwacht“, stellte der Kopf seines Vaters mit schleppender Stimme fest.
    Gellert sagte nichts, sah sich in dem Raum voller Schatten um. Schatten der Vergangenheit und der Gegenwart. Und der einzigen Fackel in einer Halterung, die dem Becken am nächsten war. Sie zog seinen Blick an und für einen Moment blieb er an ihr hängen.
    „Es ist ein Wunder, dass du noch lebst, Gellert“, sprach der abgetrennte Kopf seines Vaters erneut. Er schwebte vor die Fackel und tauchte das Gesicht seines Sohnes ins Dunkel.
    Gellert blinzelte. „Ich…“ Seine Stimme brach schon nach der ersten Silbe. Es kratzte in seinem Hals. Mühsam brachte er die Worte voreinander, die ihm auf der verquollenen Zunge lagen. „Ich… lebe… noch?“ Schon während er die Frage formulierte, wurde ihm bewusst, dass sein Vater tot sein musste. Er war also doch in der jenseitigen Welt. Er sah an sich hinunter. Er saß in einem Becken voll Wasser. Die Hand, die er sich vor Augen hielt, war schrumpelig, aber vorhanden. Er hatte im Gegensatz zu seinem Vater einen Körper. Warum? Und dann sprach Xardas und stellte jede gesammelte Erkenntnis wieder auf den Kopf.
    „Ja, du lebst.“ Auf seiner Stirn entspannte sich eine steile Sorgenfalte. „Ich war mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest. Tagelang habe ich hier gewartet.“
    „Tagelang?“ Nur langsam setzte sich für ihn das Puzzle zusammen.
    „Du lagst fünf Tage in dem Manabad. Ich konnte nichts für deine Wunden tun.“
    „Manabad?“ Er wiederholte das Wort, als hätte er es zum ersten Mal gehört. Er schöpfte mit beiden Händen das Wasser, das ihn umgab, und beobachtete, wie es ihm durch die Finger rann. Das war kein Elixier, das war gewöhnliches Wasser. Doch als er sich umsah, erkannte er das vieleckige Becken wieder. Er schien tatsächlich in Burg Götterfall zu sein.
    „Wir können froh sein, dass dieser Raum nicht zerstört wurde“, sagte Xardas. „So mancher Teil der Burg kann das nicht von sich behaupten. Die Amethystdrachen haben eine Großoffensive gestartet und Ixidia musste einen Meteoritenschauer herabregnen lassen, um sie abzuwehren. Da blieb es nicht aus, dass der eine oder andere das Schloss traf. Und den höchsten Turm hat der König der Drachen mit seinem bloßen Atem eingeschmolzen.“
    Drachen. Ixidia. Meteoriten. Sengender Schmerz bohrte sich durch Gellerts Kopf, während die Assoziationen auf ihn eindrangen. Das Leben, das für kurze Zeit nur über einen seidenen Faden mit ihm verbunden gewesen war, kehrte nun mit Gewalt in seinen Körper zurück. Erinnerungen und Gefühle pulsierten durch sein Bewusstsein, bis er keuchte.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Kopf seines Vaters besorgt.
    Gellert fasste ihn haltsuchend ins Auge. Er hatte so viele Fragen. Es galt, sie in eine logische Reihenfolge zu zwängen. Welche Antwort würde er verstehen können, ohne die anderen zu kennen? „Was ist mit dir passiert?“ Er starrte auf die Schnittstelle, an der Kopf und Körper voneinander getrennt worden waren.
    „Ixidia hat mich so zugerichtet“, antwortete der schwebende Kopf. „Wie es scheint, hatten weder ich noch du, Gellert, vor, zu unserer Verabredung auf Khorinis zu erscheinen. Ich war froh, dich so aus dem Weg zu wissen und mich in Ruhe mit Ixidia befassen zu können. Die Schicksalshexen sagten mir, dass er während unserer Abwesenheit ins Leben zurückgekehrt und die Macht in Burg Götterfall an sich gerissen hatte.“
    „Aber wieso…“, ihm fiel nicht sofort ein, wie er es sagen sollte. Seine Kopfschmerzen flauten nur langsam ab. „Wieso lebst du noch?“
    „Du meinst, weil er mich enthauptet hat?“ Xardas seufzte schwer. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis mein Tod eintritt, Gellert. Er ist so sicher, wie der von Sigrid, nachdem der Drache sie erwischt hatte.“
    Die Art, wie sein Vater ihm von seinem Tod erzählte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie beide wussten, wie egal er ihm war.
    „Ixidia hat nicht lange gebraucht, um mich zu überwältigen. Obwohl ich einige Dämonenlords auf meiner Seite hatte. Ich konnte nicht ahnen, über was für eine Macht er schon wieder verfügt. Er hatte sich gut auf den Moment seiner Rückkehr vorbereitet. Vielleicht ist er sogar mächtiger als damals, als ich ihn töten musste.“
    „Aber wie hast du es geschafft, zu überleben? Man sollte annehmen, dass du tot sein müsstest, wenn er dir den Kopf abgeschlagen hat.“ Gellert drängte nach der Antwort. Er kannte es gar nicht von seinem Vater, dass er so ausschweifend um ein Thema herum redete.
    „Ixidia verwendete ein Schwert aus einer alten Legende, das ich in einer der Schatzkammern verwahrt hatte. Mir war klar, dass Ixidia von seiner Existenz wusste. Das Schwert wurde einst verzaubert. Es ist imstande, zu spalten, ohne zu trennen. Der Zauber verbleibt an der Schnittstelle und verbindet die beiden Teile auch über die Spaltung hinaus. Doch er ist nicht von langer Dauer. Wie jeder Zauber, der von seiner Quelle getrennt wird, verliert er mit jeder Minute an Kraft. Ich kann meinen Körper kaum noch spüren, den Ixidia irgendwo in Ketten gelegt hat. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Zauber verpufft und ich mich den Konsequenzen meines Versagens stellen muss.“
    Gellert fühlte einen merkwürdigen Druck in der Brust, schenkte ihm aber keine Beachtung. „Er will sich an dir rächen. Sonst hätte er es nicht so umständlich gemacht.“
    „Zweifellos. Ihm scheint die Vorstellung zu gefallen, dass ich tagelang über meinen unvermeidlich bevorstehenden Tod nachgrübeln kann, während ich zusehen muss, wie er die Welt zerstört. Er hofft, sein eigenes Leid so auf mich zu übertragen.“
    Gellert fröstelte es. Er meinte, einen kühlen Luftzug auf der nassen Haut zu spüren, obwohl die Flügeltür verschlossen war. „Wieso hast du nicht versucht, deinen Körper zurückzubekommen?“, fragte er, während er sich platschend aus dem knietiefen Wasser erhob. „Der Zauber erhält dich am Leben. Das sollte dir genug Zeit verschaffen, den Kopf wieder anzuheften.“
    „Mein Körper wird von dem Zauber zusammengehalten, doch der Magiefluss ist unterbrochen. Im Moment bin ich kaum noch dazu in der Lage, die Telekinese zu wirken, mit der ich mich fortbewege. Ich bin zu geschwächt, um die Dämonen zu überwinden, die meinen Körper bewachen.“
    Gellert kletterte über den Beckenrand. Das Wasser klatschte auf die Steinfliesen. „Hast du es versucht?“
    „Natürlich.“
    Es wurde still in dem Raum. Gellert wusste, dass sein Vater zu eitel war, um ihn direkt zu bitten. Doch es war offensichtlich, warum er hier war. Xardas klammerte sich an die einzige Person in Burg Götterfall, von der er noch hoffen konnte, dass sie ihm überleben half. „Ich habe keinen Grund, dir zu helfen. Es gibt nur eines, dass ich als angemessene Belohnung dafür akzeptiere, dir das Leben zu retten.“ Das Gefühl der Macht belebte ihn mehr, als jeder Atemzug es seit seinem Auftauchen getan hatte. Endlich konnte er alles von seinem Vater verlangen. Alles, worum er ihn insgeheim immer beneidet hatte.
    „Ich habe nicht vor, dich um Hilfe zu bitten“, sagte Xardas.
    Gellert stutzte. Das konnte nicht die Wahrheit sein. Er log.
    „Ich habe mich mit meinem Tod abgefunden. Alles, was ich wollte, war dein Überleben.“
    „Darauf willst du also hinaus? Dass du mich nicht um Hilfe bitten musst, weil meine Dankbarkeit es mir gebietet, dir zu helfen? Weil du mir mein Leben gerettet hast, nachdem der Meteorit mich beinahe zerquetscht hat?“
    „Ich habe dein Leben nicht gerettet“, entgegnete sein Vater. „Wie ich bereit sagte, konnte ich nichts für deine Wunden tun. Was dich gerettet hat, war dein eigener Heilzauber. Und das Elixier, mit dem das Bad angereichert war.“
    Gellert stutzte erneut, starrte auf die glatte Oberfläche. Das Wasser spiegelte die Fackel an der Wand. Und endlich verstand er. „Ich… Mein Körper hat das ganze Mana aus dem Bad gezogen, bis nur noch Wasser übrig geblieben ist?“
    „So ist es. Dein Instantheilzauber versuchte dich zu retten, doch ihm reichten deine eigenen Energiereserven nicht aus, um die schweren Verletzungen zu heilen, die du dir zugezogen hattest. Also bediente er sich dem Medium, das dich umgab. Manaelixier kann man atmen, deshalb bist du nicht erstickt. Doch als das letzte Bisschen Mana aus dem Elixier gesogen worden war, blieb nur Wasser zurück. Du bekamst keine Luft mehr, was dich schlussendlich aufgeweckt hat. So zumindest erkläre ich mir den Ablauf.“
    Er war seinem Vater also tatsächlich nichts schuldig. „Aber warum bist du dann hier?“
    Der Kopf schwebte näher heran. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. So ernst, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl er seinen Vater nie etwas anderes als ernst gesehen hatte. „Ich muss dir etwas erzählen, bevor ich diese Welt verlasse. Ein Geheimnis, das ich schon lange hüte und das ich auf keinen Fall mit ins Grab nehmen darf.“
    „Schieß los. Nicht dass du uns noch vorher draufgehst.“ Er wusste nicht, warum er so redete. Er tat es einfach. Obwohl seine eigenen Worte ihm einen Stich versetzten. Wo war Xyz? Er sehnte sich plötzlich nach dem Dämon.
    Xardas seufzte. Dann sprach er laut und deutlich: „Ich bin Adanos.“
    Gellert lachte auf. Es hallte grotesk von den kahlen Wänden, den Steinsäulen und dem Wasser wider.
    „Ich meine es ernst, Gellert.“ Die raue Stimme klang plötzlich schrecklich müde. „Weißt du, wie alt ich bin?“
    Gellert behagte das Gespräch nicht mehr. Er spürte, dass etwas nur darauf lauerte, ihn anzufallen. „Woher sollte ich denn? Du bist älter als ich. Schließlich bist du mein Vater. Wahrscheinlich zweihundert oder auch dreihundert Jahre. Irgendwas in der Größenordnung.“
    „Die Wahrheit ist, dass ich noch deutlich älter bin. Ich war dabei, als es noch zwei Götter gab, die den Morgrad als Spielbrett für ihre blutigen Kriege missbrauchten. Damals waren Tag und Nacht noch nicht im ständigen Wechsel begriffen. In Innos‘ Herrschaftsbereich schien seine Sonne. In Beliars Territorium herrschte die Finsternis, die die Menschen nicht zu durchdringen wussten. Die ursprüngliche Version der heiligen Schrift habe ich verfasst. Aber Innos sah, was geschehen war. Und auch er betrat das Land und er erwählte den Menschen. Erinnerst du dich? Beliar schuf seine Finsternis, um die Erwählten seines Bruders auf seinem Grund und Boden ihrer Macht zu berauben. Andersrum war es natürlich genauso. Innos schuf seine Sonne, in der das erwählte Tier Beliars nicht leben konnte. Freilich darfst du dir dabei nicht die Welt vorstellen, wie sie heute ist. Vieles war damals anders.“
    „Ixidia muss dir den Kopf verdreht haben. Das kannst du unmöglich ernst meinen“, entfuhr es Gellert.
    „Ich scherze nicht. Und ich habe auch nicht den Verstand verloren“, erwiderte Xardas immer noch mit diesem Ernst im Gesicht. „Ich war es, der das Leid in der Welt und allen Lebewesen nicht mehr ertrug und versuchte, zwischen den beiden Göttern zu vermitteln. Ich war mit außerordentlichen Kräften geboren worden. Damals waren die Menschen noch nicht so gleich wie sie es heute sind. Es gab ganz unterschiedliche Exemplare von ihnen, wie du es heute noch bei den Dämonen sehen kannst. Ich konnte mit meiner Macht nicht einfach zusehen, wie die Götter in ihrem ewig währenden Streit Tod und Verwüstung über die Welt brachten, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Ich schaffte es, eine Barriere um die Welt zu ziehen, Innos und Beliar auszuschließen. Ich sammelte ihre Mächte zu zwei großen Massen und nannte die eine Tag und die andere Nacht. Ich formte den Morgrad und erschuf die Welt, wie sie heute ist. Doch es gab viele Probleme. Die Sonne, die Innos hinterlassen hatte, war zu stark. Ich musste sie weit fort schaffen bis an den Rand meiner Barriere, damit ihre Strahlen die Geschöpfe Beliars nicht mehr töteten. Außerdem musste ich einen Teil des Lichts in Beliars Hälfte projizieren, um den Menschen in diesem Teil des Morgrads das Leben zu ermöglichen. Du kannst dir denken, dass meine Lösung für dieses Problem der Mond war. Aber damit war es noch nicht getan. Die Menschen siedelten sich im Tag an, während die Tiere in der Nacht blieben. Sie mieden den Umgang miteinander und es dauerte nicht lange, bis der Krieg wieder ausbrach, obwohl die Götter keinen Einfluss mehr hatten. Erst als ich begann, Tag und Nacht um die Welt rotieren zu lassen, begannen beide Völker sich in allen Teilen des Morgrads auszubreiten. So durchmischt vergaßen sie schon bald die Kluft, die es zwischen ihnen gegeben hatte. Und zum ersten Mal herrschte Frieden.“
    Gellert sagte nichts mehr. Er lauschte der Erzählung seines Vaters.
    „Meine Arbeit war freilich noch nicht getan. Frieden ist eine lokale und temporäre Eigenschaft. Und Krieg kann sich wie ein Virus ausbreiten, wenn man ihn nicht im Keim erstickt. Es gab wirklich viel zu tun, auch bevor es Innos und Beliar gelang, trotz meiner Barriere Avatare zu erwählen und Magie weiterzugeben. Ich war der Aufgabe kaum noch gewachsen und schuf den Mythos einer Göttin. Ich nahm telepathisch Kontakt zu mächtigen Hexen auf und gründete unter dem Pseudonym der Göttin den Zirkel der Schicksalshexen. Ich selbst war nie charismatisch genug, um Anhänger um mich zu scharen, wie es die Götter taten. Und ich hatte auch gar keine Zeit dafür.“
    „Jetzt mach aber mal einen Punkt!“ In Gellert kochte eine Wut hoch, die ihm vertraut und fremd zugleich. Er war oft wütend auf seinen Erzeuger gewesen. Doch nie aus solchen Gründen. „Wenn du angeblich so ein toller Gott bist, warum hast du Sigrid dann nicht gerettet? Wie konnte Ixidia dich dann so einfach köpfen? Die Amethystdrachen waren dir weit überlegen, als du die Macht des Regenbogentitanen verloren hattest.“ Je länger er über die Unfähigkeit seines Vaters nachdachte, desto mehr Beispiele schossen ihm durch den Kopf. „Deine berühmte Barriere ums Minental! Wieso ist sie außer Kontrolle geraten, wenn du doch ach so viel Erfahrung mit Barrieren hast?“
    „Das war alles von langer Hand geplant. Beliar hatte dieses Mal kein gewöhnliches Tier erwählt, sondern einen Erzdämon. Ich musste den Schläfer einsperren. Ich brauchte mehr Zeit, um ihn zu erforschen und einen Weg zu finden, ihn zurück in seine Welt zu schicken.“
    „Aber du brauchtest beim Erschaffen einer Barriere doch nicht die Hilfe anderer Magier? Die, die du angeblich um den Morgrad errichtet hast, muss doch viel größer gewesen sein.“
    „Ich arbeitete zu der Zeit an einigen Theorien zur Verbannung des Schläfers, die die Zusammenarbeit von mehreren Magiern erfordert hätte. Außerdem wäre es nicht klug gewesen, meine Macht so schonungslos zu demonstrieren. Ich hatte mir meine Stellung hart erarbeitet. Ursprünglich war ich lediglich in den Kreis des Feuers eingetreten um einen Geheimbund in ihrem inneren Zirkel zu zerschlagen, der sich mit der Beschwörung Innos‘ selbst befasst hat. Doch die Position erwies sich auch darüber hinaus als nützlich, weshalb ich noch nicht wieder untertauchen wollte. Dass in der Barriere alles anders kam, sich meine Theorien als falsch herausstellten und meine Forschungen zu Dämonen als gotteslästerlich aufgebauscht wurden, das dürfte dir bekannt sein. Dabei war es zwingend notwendig für mich geworden, das Wesen der Dämonen genauer zu studieren, da ich mit meinen Forschungen auf unüberwindbare Grenzen gestoßen war.“ Xardas schüttelte den Kopf, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. „Aber darum soll es jetzt gar nicht gehen.“
    Gellert wusste nicht, ob er sich mit diesen Erklärungen zufrieden geben sollte. Sie schienen auf den ersten Blick schlüssig, aber das tat vermutlich auch jede Lüge, wenn sein Vater fünf Tage lang an ihr gearbeitet hatte. Dass Xardas nun so vehement von dem Thema ablenken wollte, erschien ihm nur verdächtig.
    „Wichtig ist von dem allen nur, dass du mir glaubst, dass ich derjenige bin, der als Adanos, der Bewahrer des Gleichgewichts, in die Geschichtsbücher einging. Es war höchst amüsant zu beobachten, wie Gelehrte zu dem Schluss kamen, ich müsse ebenfalls ein Gott gewesen sein. Und ein merkwürdiger Zufall, dass Fortriantes als bislang einziger Avatar Adanos‘ angesehen wird. In gewisser Weise haben sie ja recht. Aber auch das sind andere Geschichten. Es geht hier um die Bedrohung, die von meinem erstgeborenen Sohn ausgeht.“
    Gellert warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. „Du redest nicht von mir, oder?“
    „Ich spreche von Ixidia. Lyrca ist nicht die erste Frau, deren Anziehung ich erlag. Die andere ist aber lange tot. Nahm sich das Leben, als sie von Ixidias Machenschaften erfuhr.“
    Gellert fragte sich, ob seine Mutter sich seinetwegen auch umbringen würde. Aber er wusste die Antwort sofort. Lyrca war anders. Ixidia musste von seiner Mutter viel mehr geliebt worden sein. Und trotzdem hatte er es sich zum Ziel gesetzt, die Welt zu zerstören…
    Ein Blutstropfen leckte aus dem abgetrennten Hals des Dämonenbeschwörers. Erst hielt er sich noch an dem abgeschnittenen Fleisch, dann tropfte er auf die Fliesen unter ihm. Ein leuchtend roter Fleck in der düsteren Umgebung.
    „Der Zauber verliert seine Kraft“, stellte Xardas fest. „Ich muss mich beeilen.“
    „Wie viel Zeit bleibt dir noch?“, fragte Gellert. Wieder ein Gefühl in seiner Brust, dass er nicht definieren konnte. Er hatte Angst vor diesen Gefühlen. Er brauchte Xyz an seiner Seite, wenn es wieder so weit war. Nur er konnte ihn vor dieser Bedrohung beschützen.
    „Das ist schwer zu sagen. Vielleicht noch ein ganzer Tag. Vielleicht auch nur wenige Minuten.“ Er räusperte sich. „Ich kann es dir leider nicht schonend beibringen. Aber Sigrid ist nicht meine Tochter. Wenn ich noch Zeit habe, kann ich es dir später genauer erklären, aber deine Mutter gibt zu, dass sie Sigrid mit dem Schläfer gezeugt hat. Und dass Hogs ihr Zwillingsbruder ist.“
    Sein Vater stieß ein Tor zu neuen Erinnerungen auf, die er seit seinem Erwachen gemieden hatte. Ixidia hatte ihm bereits etwas ähnliches mitgeteilt. Es war also wirklich wahr. Seine Gedanken beteten schnell wie ein reißender Fluss herunter, was das bedeutete. Vor ihm erhellte sich eine ganze Welt von Zusammenhängen. Die Experimente an Sigrid, ihr Schrei, das schlagende Herz in ihrer Zombiebrust. Das vertraute Gefühl, dass er stets bei Hogs gespürt hatte. Und…
    „Das spielt eigentlich keine große Rolle. Ich wollte nur, dass du es weißt. Wichtig ist jetzt, dass Ixidia aufgehalten werden muss. Ich habe nur zwei Söhne auf dieser Welt, Gellert. Du könntest der einzige sein, der das Potenzial hat, Ixidia zu besiegen!“
    „Wenn ich für ihn eine so große Bedrohung bin, warum hat er mich dann nicht getötet?“
    „Ich glaube nicht, dass er wusste, dass du überlebt hast.“
    „Ein mächtiger Magier wie er spürt die magische Präsenz eines anderen Magiers.“
    Xardas warf einen bedeutungsvollen Blick auf das sechzehneckige Becken. Gellert verstand augenblicklich. Es war pures Glück, dass sein Überleben nicht aufgefallen war. Seine Aura war von der des Manabads überdeckt worden.
    Wieder tropfte es rot auf die Fliesen. „Ich habe Ixidia all meine Fähigkeiten weiter gegeben. Er beherrscht alle Arten der Magie. Er hat die Telekinese weit über ihren üblichen Radius hinaus erweitert. Du hast gesehen, wie er Meteoriten aus ihrer Umlaufbahn zieht.“ Wieder tropfte Blut aus dem Hals. „Ich konnte ihn damals nur besiegen, weil ich uns in eine Barriere einschloss. Selbst Meteoriten können die magischen Strukturen nicht zerstören. Du musst gut vorbereitet sein, wenn du dich auf so ein Duell mit ihm einlässt. Du hast zwar die Macht Innos in dir, aber er ist leider wieder in den Besitz der Macht Beliars gekommen. Ich fürchte, er ist sogar noch stärker als damals.“ Aus Xardas‘ Stimme klang Reue, die Gellert nicht erwartet hatte. Sogar dem mächtigsten Magier aller Zeiten, dem Gott Adanos, fiel es also schwer, seinen Sohn zu töten. Zwei weitere Tropfen lösten sich aus dem nackten Fleisch. Für Gellert sah es nicht so aus, als würde seinem Vater noch Stunden bleiben. Sein Herz begann zu klopfen. Xyz. Er versuchte sich zu beruhigen.
    „Verstehe ich das richtig? Das Mädchen war der Avatar Beliars und er hat als Geist Besitz von ihr ergriffen?“
    Der schwebende Kopf nickte. Die Erschütterung löste einen weiteren Blutstropfen. Auf den Fliesen bildeten sie inzwischen eine Lache. „Das Mädchen scheint nach Burg Götterfall gekommen zu sein, um dich aus dem Weg zu räumen, Beliar den Triumph über Innos zu bringen. Ich weiß nicht, wie Ixidia es angestellt hat, aber er scheint ihren Körper komplett übernommen zu haben. Mitsamt der Macht Beliars.“
    „Wie ist die Macht Beliars? Du hast sie doch selbst schon einmal besessen. Ist sie vergleichbar mit der von Innos?“
    Plitsch.
    „Das kann ich dir nicht sagen. Der Kraft Innos bin ich niemals so nah gekommen. Die von seinem dunklen Bruder ist… machtvoll. Man spürt ihre Präsenz und die Kraft wie eine zweite Seele, die man nicht kontrollieren kann. Wenn sie möchte, dann unterstützt sie dich. Manchmal verleitet sie dich auch zu Dingen, die du eigentlich nicht im Sinn hattest. Ich habe lange gebraucht, bis ich die Kraft aus meinem Körper extrahieren und in eine Truhe sperren konnte.“
    „Ich nehme an, auch die Geschichte, dass du sie bei einer Wette in der toten Harpyie verloren hast, war eine Lüge.“
    Xardas kniff beide Augen zusammen. Plitsch, plitsch. War es Schmerz, der sich auf seinem zerfurchten Gesicht abzeichnete? „Ich habe dir so viele Lügen erzählt, Gellert. Zu viel von meiner Geschichte ist so unglaubwürdig und die Bürde über dieses Wissen ist zu groß für einen Fünfzehnjährigen. Ich hoffe, dass du erkennst, dass ich dir heute nichts als die Wahrheit erzähle. Im Angesicht des Todes habe ich keinen Grund mehr, dich zu belügen. Du benötigst das Wissen, um mein Erbe zu bewältigen. Wenn ich nicht mehr da bin, kann ich dich nicht mehr beschützen. Ich sah dem Tod schon einmal ins Auge. Er hatte seine stärksten Diener vereint und die finstersten Intrigen gestrickt, um mich und seine an mich verlorene Macht zurückerobern. Ja, Beliar war wütend, dass ich dem untoten Drachen seine Macht entriss. Denn ich konnte der Verlockung widerstehen und unterwarf mich nicht seinem Willen. Er war noch viel erboster, als sein Plan von Erfolg geglückt schien, und ich tot in seiner Welt vor seinen Thron trat. Und ich die Macht nicht mehr in mir trug. Wir einigten uns schließlich auf Folgendes: Er gab mir das Leben zurück und ich verriet ihm, wo die Truhe stand, in der ich seine Macht versiegelt hatte. Doch als ich ins Leben zurückkehrte, waren meine Verbrechen natürlich noch nicht gesühnt. Beliar wollte immer noch meinen Tod. Und er verleitete meinen eigenen Sohn dazu, die Truhe aufzubrechen und die dunkle Macht in sich aufzunehmen. Er hoffte ohne Zweifel, dass mein eigen Fleisch und Blut dazu in der Lage sein würde, mich zu übertreffen. Es kam wie du weißt anders. Vielleicht habe ich dir deshalb so viel Wissen vorenthalten, weil ich Angst hatte, dass Beliar auch dich verleitet.“
    Gellert lief ein Schauer über den Rücken. Noch nie hatte er diesen Mann von Angst sprechen hören. Plitsch, plitsch, plitsch. Es schallte regelmäßig von den kahlen Wänden wider. Die Fackel flackerte in einem Luftzug, den es hier eigentlich nicht geben konnte.
    Das bärtige Gesicht war inzwischen fast ebenso weiß wie die Augen. Gellert wusste nicht, ob er es sich einbildete, doch sie schienen stumpf zu werden. „Gellert. Ich bedauere, dass ich dich das bitten muss, doch es erscheint mir unausweichlich. Mein Erstgeborener ist auf die schiefe Bahn geraten. Er wird mein Erbe nicht bekommen. Er ist vielmehr die Last, die mein Erbe mit sich bringt. Bist du als mein einziger verbliebener Sohn dazu bereit, mein Erbe anzunehmen? Wirst du Ixidia für mich töten?“
    „Das werde ich, Vater“, sagte Gellert grimmig. Die Erleichterung, die diese Worte auf Xardas‘ Gesicht zauberten, waren ein Zeichen der Schwäche, das er nicht zu sehen wünschte.
    „Wir waren uns so oft uneinig. Ich hatte schon befürchtet…“
    „Ich werde Ixidia töten. Aber aus eigenen Motiven. Er besetzt das Schloss, das mein ist. Er hat mich beinahe getötet. Und… er beleidigt Sigrids Tod.“ Er spürte, wie die Wut erneut in ihm aufkochte. Dieses Mal jedoch nicht auf den Dämonenbeschwörer, sondern auf dessen Sohn. „Ich werde ohnehin nicht ewig vor ihm davonlaufen können. Wir sind eine Generation von Avataren, dazu bestimmt uns bis aufs Blut zu bekämpfen. Aber…“ Sein Blick fiel auf die beunruhigend große Lache unter dem schwebenden Kopf. „…ich bin nicht dein Sohn, Xardas.“
    Dröhnende Stille. Die weißen Augen weiteten sich erschrocken. Ein Schwall Blut unterbrach das stetige Tröpfeln kurz.
    „Ist es dir nicht aufgefallen? Es kann keine andere Erklärung dafür geben. Ich habe dir nach meiner Zeitreise den Gedanken eingeimpft, dass du schon seit mindestens einem Jahrhundert zeugungsunfähig sein könntest. Du wolltest Beweise für deine Vaterschaft, wolltest, dass Lyrca dir noch ein Kind gebiert. Sie schläft ständig mit allen möglichen Männern, die sie sich aus allen Zeitaltern beschwört, das wissen wir beide. Doch sie nimmt stets die Tränke, die ihre Keimzellen absterben lassen. Wenn sie schwanger wird, dann ist das auch ihre Absicht. Warum also wurde sie nur wenige Wochen, nachdem du Zweifel an deiner Vaterschaft hattest, schwanger? Weil sie es so wollte. Es hätte niemanden gewundert, wenn es nicht gleich mit euch geklappt hätte. Wenn es einige Monate gebraucht hätte, bis sie von dir schwanger wurde, hätte es noch niemand als bestätigt angesehen, dass du tatsächlich zeugungsunfähig bist. Hätte sie gewusst, dass du nicht zeugungsunfähig bist, hätte sie sich alle Zeit der Welt lassen können. Aber sie hatte Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie wollte den Gedanken sofort ersticken, bevor er seine Wurzeln schlägt. Ich kann nicht dein Sohn sein. Denn sonst wäre Sigrid nicht von einer ihrer Liebschaften gezeugt worden, sondern von dir.“
    Xardas starrte ihn an. Das Blut tropfte immer schneller aus dem Schädel. „Aber deine Augen…“
    „Lyrca ist eine Kräuterhexe. Ich bin mir sicher, dass sie weiß, wie sie Augen milchig werden lässt. Gerade weil diese Gemeinsamkeit zwischen uns so auffällig ist, bin ich mir sicher, dass sie fingiert wurde. Oder waren deine Augen etwa schon im Kindesalter weiß? Nein, oder? Sie sind erst im hohen Alter so geworden.“
    Der Dämonenbeschwörer war sprachlos. All seiner Illusionen beraubt starrte er in die Dunkelheit. Sein Lebenssaft versickerte.
    „Mach dir keine Sorgen. Ich trete dein Erbe natürlich trotzdem an. Wie gesagt werde ich Ixidia ohnehin gegenüber treten.“ Gellert fasste einen Entschluss. „Und du wirst mir dabei zusehen!“ Er packte nach dem verloren dahin dümpelnden Kopf und klemmte ihn sich unter seinen Arm. Dann stieß er sich vom Boden ab und schoss durch die Luft. Die Tür öffnete er mit seiner Telekinese. Seine zerschlissene und nasse Robe sog sich mit dem Blut seines ehemaligen Vaters voll.
    „Du kannst nichts mehr für mich tun, Gellert“, raunte Xardas erschrocken. „Ixidia hält dich für tot, das ist dein großer Vorteil! Den darfst du nicht für etwas so Aussichtsloses aufs Spiel setzen! Mir fehlt mein ganzer Körper. Wenn ich schon Sigrid nicht…“
    „Seit Sigrids Tod hat sich viel verändert, Vater“, widersprach Gellert. Er hatte ihn nie so angesprochen. Doch nun war es an der Zeit. „Wo ist dein Körper?“
    „Ich werde dir nicht dabei helfen, dich für mich aufzuopf…“
    „Ich habe das Manabad verlassen. Er wird jetzt schon wissen, dass jemand in sein Schloss eingedrungen ist. Nur du kannst jetzt noch dafür sorgen, dass ich meine Deckung nicht sinnlos aufgeopfert habe!“
    Xardas gab einen gequälten Laut von sich. Vielleicht waren die Schmerzen der Grund. Der Zauber, der ihn mit seinem Körper verband, wurde immer schwächer. „In dem Kerker, in dem er den Zeitreisehelm bewacht hat. Er fand diese Analogie wohl besonders erheiternd.“
    Gellert stürzte sich das nächstgelegene Treppenhaus hinunter.
    „Du musst dich in Acht nehmen. Er wird von einem Dämonenlord bewacht.“ Fackel um Fackel zog an ihnen vorbei, während sie tief ins Innere von Burg Götterfall fielen. „Ich weiß nicht, was für Fähigkeiten er besitzt. Um mich von meinem Körper fernzuhalten hat es ihn nur seiner Muskelkraft bedurft. Er ist ein Humanoid von mickriger Statur.“ Gellert stieß sich von einem Pfosten des Treppengeländers ab. Waagerecht schoss er in den Flur des fünften Kellergeschosses. Er spürte seine Robe feucht an seiner Haut kleben, dort wo der Hals seines Erbvaters endete. „Du solltest nicht zu viel riskieren. Schick vielleicht ein paar Dämonen vor und sieh zu, wie der Wächter mit ihnen umgeht. Wenn er dich erwischt, wird er keine Gnade zeigen.“
    „Danke für deine Ratschläge“, sagte Gellert grimmig. „Aber ich brauche sie nicht. Du wirst schon bald sehen, dass ich den Dämonen weit überlegen bin.“
    „Gellert! Selbstüberschätzung ist dein sicherer Untergang! Du bist nicht mein Sohn, also kannst du auch nicht meine gottgleiche Kraft geerbt haben! Wahrscheinlich haben wir dein Potenzial all die Jahre weit überschätzt.“
    Gellert ignorierte den Kopf, stoppte vor einer Flügeltür, streckte seinen Arm aus. In allen Farben des Regenbogens sammelte sich das Licht um seinen Arm. Wie er erwartet hatte. Er war sich anfangs nicht sicher gewesen, ob die Kraft noch da war. Dass die unkontrollierten Ausbrüche ausblieben hatte ihn beunruhigt. Erst als er wieder bei vollem Bewusstsein gewesen war, war er sich sicher gewesen, die warme Energie in sich zu spüren. Die Faust bildete sich in dem dunklen Gang. Sein Körper begann zu strahlen und erhellte jeden einzelnen Stein des hohen Kellergewölbes. Xardas war erstarrt. Das Blut glänzte im Schein der Faust. Er schlug die Flügeltür einfach ein. Problemlos drang die Faust durch das eisenbeschlagene Holz. Splitter und Metallbruchstücke prasselten in den dahinter liegenden Raum. Das Schloss aufzubrechen hätte in ihrem Fall zu lange gedauert. Niemand wusste, wie viel Zeit Xardas noch blieb.
    Er schwebte in den Kerker. Die Räumlichkeiten in den untersten Geschossen waren weitaus höher als die in den oberirdischen. Die Decke verlor sich in Dunkelheit. Sein Blick wurde von einem Pentagramm in der Mitte des Raums angezogen. In einem Kreis von Fackeln, die genau auf den Spitzen des Sterns positioniert worden waren, stand ein Kreuz. Und an das Kreuz genagelt, die beiden Füße übereinander geheftet, hing der nackte, kopflose Körper von Adanos, dem Dämonenbeschwörer.
    „Du hast die Kraft gebändigt“, Xardas Stimme war heiser. Ob vor Erstaunen oder vor Schwäche war schwer zu sagen. „Wie hast du das geschafft? Selbst ich habe es jahrhundertelang erfolglos versucht.“
    „Anfangs hat mir die Macht nicht gehorcht. Mein Körper war kurz davor zu explodieren. Ich musste permanent mit meiner eigenen Magie dagegen wirken und hatte Anfälle, in denen die Energie einfach aus mir herausbrach. Ich durfte tagelang nicht schlafen. Ohne die Macht Innos‘ wäre ich vielleicht tot.“ Gellert schwebte in den Kreis der Fackeln und sah zu dem kopflosen Leichnam auf. „Aber das braucht uns jetzt nicht weiter zu existieren. Wichtig ist, dass dein Kopf wieder an seinen angestammten Platz kommt.“
    „Natürlich… Die Instantheilung, das Manabad!“, murmelte Xardas und hustete Blut über sein Kinn. „Dein Körper war so zerstört, dass der Heilzauber ihn komplett neu zusammensetzen musste. Und jedes Mal, wenn die Energie deinen neuen Körper zerriss, hat er ihn wieder zusammengesetzt. Jedes Mal ein bisschen stärker, bis er der Energie standhalten konnte. Was für eine Wiedergeburt… Ich wäre das Risiko vermutlich nie eingegangen. Kein Wunder, dass ich versagt habe. Der Instantheilzauber hat dir deinen neuen Körper sozusagen auf den Leib geschneidert. Auf den magischen Leib.“
    Gellert warf einen Blick in die Runde. Es knisterte in seinen Ohren. Irgendetwas stimmte nicht. Wo war der Wächter?
    „Ich bin hier, kleiner Strahlemann“, flüsterte es aus allen Richtungen. Ein vielstimmiger Kanon, der dennoch nur von einem Wesen zu kommen schien. Ein Wesen, das den ganzen Raum ausfüllte. „Ich erkenne deine Absichten und sehe keinen Grund dich von deinem Tun abzuhalten.“ Die Stimme hatte einen schmeichelnden Klang.
    Sein beunruhigendes Gefühl verstärkte sich. Xardas hustete krampfhaft. Er spuckte karmesinroten Lebenssaft vor das Kreuz. Ein stetes Rinnsal floss aus seinem Hals. Er durfte nicht noch mehr Zeit vertrödeln. Er schwebte zu dem Stumpf des Halses empor, warf noch mal einen Blick über die Schulter, ließ seine magischen Sinne jeden Winkel des Raums abtasten. Er setzte den Kopf auf den Hals. Das Blut sickerte hinter den rissigen Lippen hervor und lief über das Kinn. Er presste die Teile des Halses mit beiden Händen fest zusammen. Er hatte nicht viel Erfahrung in dieser Art von Magie, doch mit der Kraft Innos‘, der des Titanen und der Zeit, die ihm der Spaltzauber verschaffte, musste es ihm einfach gelingen. Grüne Funken sprudelten aus seinen Händen und versanken in dem Hals.
    Der nackte Leichnam riss die Nägel aus dem Holz und zwang Gellert in eine widerliche Umarmung. Die bleichen Finger krallten sich in seine zerfetzte Robe und drückten alle Luft aus seinen Lungen. Es war so schnell gegangen, dass sich nicht einmal der Schutz des Lichttitanen rechtzeitig aktiviert hatte. Oder erkannte er den Körper seines einstweiligen Vaters einfach nicht als Feind an? Es konnte viele Gründe geben, doch in diesem Moment scherte ihn keiner davon. Xardas‘ Kopf entglitt seinen Fingern und schlug mit einem ekelerregenden Geräusch auf dem Pentagramm auf. Hatte Xardas nicht einmal mehr die Kraft für seinen Schwebezauber? Er sah wie sich die Lippen bewegten, doch sie schienen nur etwas in sich hineinzumurmeln, während immer mehr Blut aus dem Hals sickerte.
    Und dann verwandelte sich der Kopflose. Die Haut trieb pechschwarze Schuppen, aus dem Stumpf schoss ein gefiederter Kopf mit einem riesigen Schnabel. Die Arme, die er um Gellert geschlungen hatte, verwandelten sich in die Flügel einer riesigen Krähe. Die Beine verkümmerten zu einem Zipfel. Humanoid war er nicht. Gellert sah den messerscharfen Schnabel ausholen. Doch noch bevor die schwarzglänzende Spitze ihn überhaupt berührte, bildete sich endlich der Schädel des Titanen. Er hatte die väterliche Umarmung also tatsächlich missverstanden. Der Krähendämon stieß einen empörten Schrei aus, als das Licht seinen Griff sprengte. Flügelschlagend brachte er sich in vermeintliche Sicherheit. Gellert bildete die Lichtfaust und visierte ihn an. Doch unter ihm tat sich der Boden auf. Das Pentagramm verwandelte sich in einen riesigen Mund. Er fing seinen Fall mit einem Telekinesezauber ab und griff auch nach dem Kopf seines Vaters. Die riesigen Lippen waren gespickt mit Reißzähnen. Das erklärte auch, warum die Stimme von überall gekommen zu sein schien. Ein Assimilationsdämon, der in die Burg eingetaucht war.
    Plötzlich klammerte sich ein dritter Dämon um den Titanenschild. Reste von Holz in seiner Haut verrieten, dass er sich in das Kreuz verwandelt hatte. Er ähnelte einer Mischung aus Nacktschnecke und Raupe. Und er war riesig. Vermutlich hätte er alleine alle Korridore des Stockwerks verstopfen können. Gellert sah nicht, wo der riesige Leib endete. Die unzähligen Arme der Raupe klammerten sich an die Lichtgestalt des Titanen, Saugnäpfe taten schmatzend ihre Arbeit. Das Gewicht begann ihn langsam zu dem geöffneten Maul unter ihm zu ziehen. Gellert ballte seine Lichtfaust und schlug nach dem monströsen Kopf der Raupe, doch der Schlag glitt einfach an der öligen Haut ab. Der elastische Körper nahm dabei nicht den geringsten Schaden.
    Gellert stellte sicher, dass der Kopf noch in Sicherheit war. Jeden Moment konnte einer der Dämonen auf die Idee kommen, ihn anzugreifen. Er lag außerhalb des Schutzschildes, zu weit entfernt von ihm.
    Die Raupe hielt den rechten Arm des Titanen fest umklammert. Er bildete die linke Faust des Titanen und richtete sie auf das geifernde Maul unter ihm. Eine lapislazulifarbene Zunge leckte über die riesigen Zähne. Die Lippen aus Mauerstein knirschten hungrig. Der Schrei des Assimilationsdämons hallte von allen Wänden, als die Lichtfaust in seinen Rachen eindrang. Die Zähne schnappten zu und bohrten sich in das Handgelenk der Lichtgestalt. Plötzlich war der Mund nur noch Stein. Der Kerkerboden, der er schon immer gewesen war. Ein mickriger Humanoid mit fledermausartigen Flügeln stieg in sicherer Entfernung aus dem Boden und griff sich röchelnd an die Kehle. Der Krähendämon hatte seinen Schwachpunkt entdeckt und warf sich im Sturzflug auf den schwebenden Kopf von Xardas. Gellert erschrak, als er sah, wie viel Blut inzwischen aus dem Hals strömte. Er riss den Kopf im letzten Moment aus der Flugbahn. Mit einem Eiszauber attackierte er die Raupe. Die ölige Schicht gefror. Mit beiden Händen aus Licht packte er den riesigen Dämon an der Eisschicht und schleuderte ihn weit von sich.
    Ein kurzer Moment der Ruhe. Gellert löste die Lichtgestalt auf und holte den Kopf zu sich heran, ehe er das schützende Licht wieder aktivierte. Das Gesicht wirkte in dem grellen Licht noch farbloser. Xardas hatte eine Platzwunde am Kopf, wo er auf dem Boden aufgeschlagen war. Er öffnete seine Augen zitternd. Die milchigen Pupillen fanden das Gesicht seines Erben nicht. „Gellert… Danke für alles. Es tut mir leid. Alles.“ Er röchelte und hustete. Blut spritzte über Gellerts leuchtende Brust. Dieselbe Brust, in der sich das Loch fraß, das Sigrid einst dort hinterlassen hatte. Es meldete sich genau in diesem Moment zurück. Er hielt den Atem an, als Xardas noch einmal bebend seine Lippen öffnete. „Nur eins… möchte ich dir noch hinterlassen.“
    Gellert war klar, dass es zu spät war. Er konnte den Tod nicht mehr aufhalten. Beliar holte sich den mächtigsten Magier aller Zeiten, der dieses Mal keine Verhandlungsmöglichkeiten hatte, wenn er vor den finstren Richter trat. Die Nacktschnecke befreite sich krachend von dem Eis. Die Krähe krallte sich in den Lichtpanzer und harkte mit seinem Schnabel auf ihn ein. Der Assimilationsdämon versank wieder im Boden. Gellert wagte es kaum zu atmen, während er zitternd auf die letzten Worte wartete. Doch sie kamen nicht. Xardas stieß ein gequältes Keuchen aus, die Haut über seinen hohlen Wangen straffte sich. Dann blieb er reglos. Und egal wie lange Gellert auch wartete, die angekündigten Worte kamen nicht. Und in Gellerts Brust tobte das Loch, der Schmerz, die Gefühle, die er nicht verstand. Und Xyz war nicht hier, um ihm beizustehen.
    Doch gerade in dem Moment, als er an ihn dachte, tat sich ein Tor auf. Das Chaos war kurz zu sehen. Hogs flog in den Kellerraum und riss den Krähendämon von dem Lichtpanzer. Xyz folgte ihm dicht auf den Fersen und warf eines seiner Schwerter nach der Nacktschnecke, die sich aufgebäumt hatte. Und wie durch ein Wunder glitt das Dämonenschwert nicht ab, sondern bohrte sich tief in das weiche Schneckenfleisch. Nicht durch ein Wunder, schalt er sich in Gedanken. Es war natürlich Dämonenmagie.
    Xyz wandte sich ihm zu und sah ihm tief in die Augen. Es war nur ein kurzer Moment, doch Gellert fand darin alles, was er in diesem Augenblick brauchte. Halt. Hoffnung. Bestätigung. Stärke. Das Chaos in seiner Brust verstummte schlagartig. Und ihm wurde klar, was der mächtigste Magier ihm mit seinem letzten Atemzug hinterlassen hatte. Der letzte Zauber des Gottes Adanos‘ hatte seinem Erben die treuesten Diener zurückgegeben.
    Gellert ballte seine Hand zur Faust. Nicht die aus Licht, sondern die aus Fleisch und Blut. Krähe, Schnecke, Stein. Sie würden seine Rache als erste zu spüren bekommen.
    Die Wände erwachten zum Leben. Knirschend drangen sie aufeinander zu. Der Boden schlug Wellen und verschleuderte die Steine, aus denen er geformt war. Hogs hatte seine Pranken um den Hals des Krähendämons geschlossen und drückte fest zu, doch die federbedeckten Schwingen hackten erbarmungslos auf ihn ein. Blut spritzte über Hogs Körper. Xyz befand sich im Schwertkampf mit der Riesennacktschnecke, die sich schon zwei der rot pulsierenden Klingen aus ihrem elastischen Körper gezogen hatte. Xyz war ihr in der Schwertkunst weit überlegen, doch sie hatte mehr Arme.
    Gellert flog auf den Krähendämon zu, streckte die Lichtfaust nach dem schnabelbewehrten Kopf aus und zerquetschte ihn ohne Mühen. Hogs dankte ihm mit einem Rucken seines schuppigen Kopfes. Gellert hatte ganz vergessen, wie furchterregend der einst so mickrige Jungdämon nun aussah. Hogs kam Xyz zu Hilfe, indem er der Nacktschnecke die schleimigen Augen zerkratzte.
    Unter ihnen wogte noch immer der Kerkerboden. Sie mussten etwas gegen den Assimilanten unternehmen, doch Gellert wollte nicht einfallen, was. Ihm erschien es unwahrscheinlich, dass der Stein sich gegen das Wort der Herrschaft empfänglich zeigte, doch wenn ihm nicht bald etwas einfiel, blieb ihm keine andere Wahl, als das Schloss kurz und klein zu schlagen. Die Wände waren schon bedrohlich nah gerückt. Und auch die Decke trat nun aus der Dunkelheit hervor. Ganz zu schweigen von den metergroßen Felsbrocken, die der Boden gegen den Panzer des Lichttitanen schleuderte. Der Assimilationsdämon hatte mit seinen Reißzähnen schon einmal bewiesen, dass auch der Panzer des Lichttitans nicht unzerstörbar war.
    Das Schwert, das Hogs heraufbeschwor, glitt ebenso effektlos an der Nacktschnecke ab wie die Lichtfaust. Ihr Körper grollte und bäumte sich auf. Xyz beschwor immer mehr seiner Schwerter und jedes einzelne versenkte er tief in dem weichen Widersacher. Die Schnecke blähte sich und zerplatzte zu grünem Schleim und Rauch. Hogs und Xyz waren über und über mit der klebrigen Substanz bedeckt. Ihre dunklen Schuppen begannen zischend zu dampfen. Die Wände krachten nun links und rechts gegen den Lichtschild, der Gellert umgab. Rücken an Rücken rammten Xyz und Hogs die Klauen in die Steinwände und stemmten sich mit aller Kraft dagegen, obwohl der ätzende Schleim ihnen sichtbar Schmerzen bereitete.
    Gellert hoffte, dass er hinter dem Licht in Sicherheit war, doch den beiden Dämonen würde das nicht helfen. Die Wände bogen sich schon um den Lichtschild. Bald würden sie ihn ganz eingeschlossen und die beiden Dämonen zerquetscht haben. Und er würde ein weiteres Mal vor dem Problem stehen, dass er sie nicht zurückholen konnte. Ein weiteres Mal jemanden verlieren, den er nicht verlieren wollte. Der Schmerz in seiner Brust wurde schlimmer. Sigrid trat ihm vor sein geistiges Auge und verschwand wieder, als sei sie nur mal wieder unsichtbar geworden. Und er wusste plötzlich, was zu tun war. „Hogs! Benutz deinen Rauch!“
    Hogs Arme zitterten unter dem Druck der Wand. Er stieß seine Rauchschwaden aus, wie er es damals getan hatte, um Sigrids Unsichtbarkeit aufzulösen. Die Metamorphose des Jungdämonen hatte die Farbe des Rauchs intensiver werden lassen. Er brandete über Xyz und die Lichtkugel hinweg, berührte den Stein der Wand. Und der Zauber wurde gelöst. Die dürre Gestalt des Dämons stürzte aus dem Stein. Augenblicklich erstarrten die Wogen und die Wände. Auf allen Vieren lag der Dämon auf dem welligen Boden. Xyz' Klauen hatten sich tief in den Mauerstein gebohrt, doch er riss sie mühelos daraus hervor. Knöchelknackend wandte er sich dem Assimilationsdämon zu.
    Doch Gellert kam ihm zuvor, packte die Gestalt mit der Lichtfaust und zerquetschte sie. Schwarzes Blut spritzte zwischen den leuchtenden Fingern hervor. Als er die Faust öffnete, sahen sie den Rauch verpuffen, den Dämonen in dieser Sphäre hinterließen.
    Erleichtert ließ er das Licht verschwinden. Hogs und Xyz wischten sich den Schleim von den Schuppen, so gut es ging. Gellert konnte nicht in Worte fassen, wie froh er war, beide wieder bei sich zu haben. „Gute Arbeit“, sagte er nur. Jetzt, wo Hogs wieder bei ihm war, merkte er erst, wie sehr er ihm gefehlt hatte. Und Xyz linderte das Gefühl, das ihm schwer in der Magengrube lag, seitdem auch noch Xardas gestorben war.
    „Das waren ein paar hartnäckige Lords“, knurrte Xyz und schüttelte den Schleim von seiner Hand.
    „Was ist hier los, ehrenwerter Meister Gellert?“, fragte Hogs.
    „Du brauchst mich nicht mehr so anzureden“, sagte Gellert rasch. Es fühlte sich plötzlich nicht mehr richtig an. „Du bist nicht mehr mein Diener. Du bist jetzt erwachsen, Hogs. Sei mein Partner.“
    Die schuppigen Mundwinkel des Dämons hoben sich zu einem Lächeln, das die spitzen Zähne entblößte.
    „Die Beliaravatarin hat Burg Götterfall aufgesucht, um mich zu erledigen. Ixidias Geist hat von ihr Besitz ergriffen und die Burg eingenommen. Außerdem hat er Xardas getötet“, gab er die Kurzfassung zum Besten. „Unser Ziel ist es, Ixidia zu töten. Macht euch also auf einen harten Kampf bereit.“
    „Hast du denn überhaupt eine Chance gegen ihn?“ Der alte Hogs hätte so eine Frage nie ohne zu zittern gestellt. Der neue verengte seine Augen dabei zu grimmigen Schlitzen.
    „Natürlich habe ich eine Chance. Ich bin kein gewöhnlicher Innosavatar. Und er kein gewöhnlicher Beliaravatar. Er stammt von Adanos ab.“ Er konnte nur ahnen, wie viel Xyz wusste, doch er hatte keine Lust, die beiden genauer über diesen Zusammenhang aufzuklären. Er wandte sich von ihnen ab und musterte die deformierten Wände. Der Dämon war zwar ausgetrieben, doch der Stein machte keine Anstalten an seinen angestammten Platz zurückzukehren. Die Wände waren einfach in ihren Wellen erstarrt, als hätten die Skelette diesen Raum damals genau so erbaut. Der Weg zur Tür war längst versperrt. Mit der Lichtfaust schlug er ein Loch in die Wand. Hogs und Xyz folgten ihm in den benachbarten Raum. Er hatte von dem Wüten des Dämons profitiert, war nun doppelt so groß wie zuvor. Es war ein Abstellraum für alte Bettpfannen. Der Geruch hing schwer in der Luft.
    Gellert war nicht überrascht, als er das Mädchen zwischen den Regalreihen entdeckte. Ixidia hatte sie bereits erwartet.
    „Ich habe mich schon gewundert, dass drei Dämonenlords ausreichen, um dich zu erledigen“, begrüßte das Mädchen ihn mit zuckersüßer Stimme. „Hast es ja ganz schön spannend gemacht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie enttäuscht ich war, als mein Meteorit dich zerquetscht hatte. So leicht möchte doch niemand über seinen Erzfeind triumphieren. Aber neugierig bin ich trotzdem: Wie hast du es geschafft den Meteorit zu überleben? Ich war mir sicher, dass er dich getötet hätte.“
    „Hier unten werden dir deine Meteoriten wenig nützen“, entgegnete Gellert. Er hatte keine Angst. Er würde Adanos übertreffen. Das hatte er ihm versprochen. „Wo hast du den Körper deines Vaters versteckt?“ Er genoss es, beiläufig einzustreuen, dass er jetzt über alles Bescheid wusste.
    Der Blick des Mädchens verfinsterte sich. „Ich habe ihn an der tiefsten Stelle des Schicksalsmeers versenkt, in einer Kiste, die ihn ein paar Tage vor dem Druck des Wassers beschützen wird. Nun, da er endlich tot ist, wird es kein Problem mehr sein, wenn das Wasser ihn erdrückt. Ein passendes Ende, nicht wahr? Adanos, der Gott des Gleichgewichts und des Wassers, endet in dem Meer, das er rief, um das Volk von Jharkendar auszulöschen.“
    „Mein Vater war tot, seitdem du ihm den Kopf abgeschlagen hast. Nicht das Meer ist sein Mörder, sondern du.“ Gellert materialisierte die Lichtfaust. Der Titan würde leichtes Spiel haben. Das Mädchen lächelte nur geheimnisvoll. „Du hast Burg Götterfall zerstört, den größten Magier aller Zeiten ermordet und die Leiche meiner Schwester geschändet. Dafür gibt es keine geringere Strafe als den Tod!“ Er feuerte die Faust ab. Für letzte Worte hatte er nichts übrig. Strahlend flog sie auf das so unschuldig dastehende Mädchen zu. Doch aus den Schatten hinter dem Mädchen hob sich mit einem Mal der riesige Körper einer vielbeinigen Kreatur. Sie beugte sich schützend über das Mädchen und die Lichtfaust prallte einfach an ihrem Chitinpanzer ab.
    „Darf ich vorstellen?“, rief Ixidia. „Shaggai, reinrassige Tochter von dem Schläfer des Minentals und dem Erzdämon von Wünnewall!“
    Gellerts Nackenhaare stellten sich auf. Er ahnte, was nun kam. Und er lag selten falsch. Shaggai riss seine Scheren auseinander und ein Schrei zerschnitt die Stille, der jedem Lebewesen durch Mark und Bein fuhr. Er presste sich die Hände auf die Ohren. Das Licht des Titanen bot vor diesem Angriff keinen Schutz. Hogs und Xyz sanken zitternd auf die Knie. Und plötzlich war der Schrei auch in seinem Kopf. Alles Denken setzte aus, während der Ring der Telepathie ihm die Qualen durch den ganzen Körper schickte. Er war blind und taub, vergaß wer er war und was zu tun war.
    Er spürte, wie die Ohnmacht auf sein Bewusstsein zu kroch. Er durfte sich nicht ergeben, er musste ihn töten. Das war er Xardas und Sigrid schuldig. Das Ziel hatte er wieder vor Augen, doch egal wie angestrengt er nach einem Ausweg suchte, der Schrei schob jedem weiteren Denken einen Riegel vor. Er musste sich irgendwie vor ihm schützen. Wie hatte er sich so unvorbereitet dem Kampf stellen können? Wieder einmal hatte er einen schweren Fehler begangen. Vielleicht war dies endlich sein letzter.
    Er spürte eine Berührung an der Wange und er riss die Augen auf. Sigrid lächelte ihn an, mit verschrumpelten Lippen und grün angelaufenen Zähnen. Er sah das pochende Herz in ihrer aufgeschlitzten Brust schlagen. Sie lächelte ihm zu, während sie mit den Fingern der unversehrten Hand über sein Gesicht streichelte. Der Schrei verebbte augenblicklich. Doch nicht Sigrid hatte ihn beendet, sondern Ixidia.
    „Was machst du hier?“, herrschte er Sigrids Zombie an.
    Gellert war benommen. Hatte nicht Ixidia sie geschickt? Sigrid breitete ihre Arme aus. Die fünf Fokussteine flogen aus ihren Händen in die Luft und um sie herum wie die Planeten um die Sonne. Gellert verstand nicht, sie waren doch eben noch in dem Manabad gewesen. Und sie funkelten blau, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nur so vor Energie strotzten. Sein Instantheilzauber hatte die Energie wohl aus dem Wasser, nicht aber aus den Foki ziehen können.
    Hogs und Xyz wussten offensichtlich nicht, was sie tun sollten. Sigrid angreifen, bevor sie ihm Schaden zufügen konnte? Gellert hatte keine Angst vor ihr. Er spürte etwas in dem Loch in seiner Brust. Nicht nur Xyz füllte es wieder mit Leben. Sigrid wollte ihn nicht verletzten. Und ein Zombie konnte ohnehin niemals die Foki benutzen. Doch genau in diesem Moment strahlten die kreisenden Artefakte auf. Das blaue Licht übertünchte das schillernde des Titanen. Er spürte das Prickeln im ganzen Körper, das er bei jeder Teleportation spürte. Er sah Sigrid in die toten ausdruckslosen Augen. Der Wutschrei des Beliaravatars hallte ihnen noch lange hinterher, während sie durch den gekrümmten Raum geschleudert wurden.
    Erst als sich um sie herum die graue Ebene aus den Farben schälte, fiel ihm auf, dass auch Xyz und Hogs Burg Götterfall hinter sich gelassen hatten. Eine steife Brise wirbelte den Sand auf und verschlechterte ihre Sicht. Gellert spürte, dass sie nicht weit von dem Hort der Amethystdrachen entfernt waren. Warum hatte Sigrid ihn hierher gebracht?
    „Sie hat erkannt, dass wir gegen Shaggai keine Chance haben“, las Hogs ihm die Frage vom Gesicht ab.
    Zombie-Sigrid schüttelte den Kopf. Die faulenden Gedärme schlackerten dabei hin und her. Das Gefühl akuter Gefahr verebbte nur langsam.
    Sigrid wandte sich ab und schwebte auf die Berge zu. Gellert sammelte rasch die Foki ein und folgte ihr. „Sie scheint uns irgendetwas zeigen zu wollen.“
    „Vielleicht will sie, dass wir sie endlich rächen und den Drachen erlegen, der sie getötet hat“, schätzte Xyz. Ohne sich zu ihnen umzudrehen, schüttelte der Zombie wieder seinen Kopf.
    Zu Fuß wäre es ein langer Weg geworden. Xyz nahm Gellert wieder auf den Arm, damit er sich ein wenig erholen konnte. Die beiden Dämonen hielten mit dem Zombie mit, der so selbstverständlich vor ihnen her flog. Sie überquerten die öde Ebene. Die Spuren der Schlacht waren nicht zu übersehen. Knochen lagen überall verstreut. Die mythrilbeschichteten Trollschädel glitzerten selbst in dem fahlen Licht der schwarzen Wolkendecke. Der Sand war zu schwarzem Glas geschmolzen, wo er von Drachenfeuer getroffen worden war. Sie ließen das Schlachtfeld hinter sich und kamen zu den ersten Ausläufern der Berge. Gellert erinnerte sich, wie er hier unsichtbar und mit trüben Gedanken einen Schritt vor den nächsten gesetzt hatte. Erst als er einen Eingang des Horts erreicht hatte, hatte er sich wieder per Telekinese fortbewegen können.
    Er hatte erwartet, dass eben dieser Eingang ihr Ziel war. Doch als er in Sicht kam, war er mit riesigen Felsbrocken versperrt. Gellert warf dem Zombie seiner Halbschwester einen irritierten Blick zu, doch sie schwebte unbeirrt weiter, ohne sich nach ihnen umzusehen. Gellert fragte sich zum gefühlt hundertsten Mal, was mit dem toten Körper vorging. Zombies besaßen keinen eigenen Willen, keine Seele, waren wie Marionetten, die mit magischen Fäden gelenkt wurden. Nur totes Fleisch, das von einem Schwarzmagier gesteuert wurde wie eine Kutsche von einem Kutscher. All das ließ eigentlich nur den Schluss übrig, dass alles nur eine Falle von Ixidia war. Vielleicht hatte er es doch mit der Angst bekommen und wollte ihn lieber mit List und Tücke aus dem Weg räumen, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Aber dann hätte er sich gar nicht in den Kerker begeben brauchen. Oder wollte er ihn nur dafür benutzen, den Amethystdrachen den Gnadenstoß zu versetzen? Tief unten in dem Hort dieser geflügelten Wesen hätte Ixidia sich nicht auf seine Meteoriten verlassen können, die er nach Xardas‘ Aussage aber gebraucht hatte, um den Angriff der Drachen auf Burg Götterfall abzuwehren.
    Gellert folgte der schwebenden Hälfte von Sigrid, wie sie vom Weg abwich und an dem verschütteten Eingang vorbei schwebte. Er würde auf der Hut bleiben müssen.
    Der Wind über den Gebirgskämmen war eisig. Gellert begann zu zittern, als sie über die erste Gebirgsspitze in das dahinter liegende Tal sehen konnten. Wenn Sigrid sie noch lange so herum führte, war nicht auszuschließen, dass ihr wahres Ziel war, sie jämmerlich erfrieren zu lassen. Die schwarzen Wolken schienen greifbar nah. Sie bildeten eine endlose und undurchdringliche Decke, so dass es nur schwer vorstellbar war, dass hinter ihnen ein strahlend blauer Himmel wartete. Sie schienen vielmehr fester Bestandteil des Geländes, wie ein Felsvorsprung, dessen Ursprung in der diesigen Ferne nicht mehr zu erkennen war. Xyz und Hogs mochten sich ähnliche Sorgen um Sigrids Motive machen wie er, doch sprechen tat niemand mehr von ihnen. Sie wussten, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als Sigrid weiter zu folgen.
    Gellert fragte sich, was Ixidia währenddessen unternahm. Ob er wusste, wohin Sigrid sie teleportiert hatte, was ihr Ziel war? Diese Fragen zu bejahen hieß auch Sigrids Loyalität gegenüber dem Beliaravatar nicht länger infrage zu stellen.
    Dabei spürte Gellert ein Verlangen nach etwas, das von seiner Schwester in dieser Welt verblieben und mehr als nur ihr Körper war. Ein Stück ihrer jungen Seele, das Kontrolle über den Zombie erlangt hatte. Gellert hörte förmlich wie Xardas ihn scheltete: Lass deine Gefühle nie Kontrolle über dein Denken erlangen.
    Das Ende der Rationalität konnte mit Leichtigkeit auch sein eigenes sein.
    Sigrid hatte nun einige Felsen erreicht, die auf dem wüsten Talgrund verteilt lagen. Ihre Gedärme schleiften über den nackten Stein, als sie zur Landung ansetzte. Nun wandte sie sich doch noch zu ihnen um. Ihre starrenden Augen huschten zwischen den beiden Dämonen hin und her. Dann blieben sie an Gellert hängen, der frierend in Xyz‘ Armen lag. Sie wandte sich wieder ab und verschwand im Boden.
    Erst jetzt sah Gellert, dass sie ein senkrecht in den Stein geschmolzenes Loch angesteuert hatte. Es war dem sehr ähnlich, in das er hinabgestiegen war, nachdem er die Kräfte des Regenbogentitanen in sich aufgenommen hatte. Wahrscheinlich hatten es die weißen Flammen der Amethystdrachen in den Berg geschmolzen. Die glatten, schwarzen Wände ließen grob zwei Meter Platz zwischen einander. Gellert schwebte aus Xyz‘ Armen über das Loch. Dunkelheit erwartete sie. Gellert wusste zwar nicht, was sie außer dem noch erwartete, doch er aktivierte den Schädel des Regenbogentitanen. Das Licht, das sein Körper und der Schild verströmten, erhellten einige Meter des Lochs. Sigrid war nicht mehr zu sehen.
    „Ich werde vorgehen“, entschied er mit einem Kratzen im Hals. „Versucht nachzukommen. Wenn der Tunnel zu schmal für euch ist, wartet hier oben auf mich.“
    „Der Tunnel wird in den Hort der Drachen führen. Das wird nicht ungefährlich“, knurrte Xyz. „Es wird besser sein, wenn ich vorgehe. Dann weißt du auch, dass du dort unten nicht allein sein wirst.“
    „Nein“, widersprach Gellert entschieden. „Während ihr euch durch die Öffnung zwängt, seid ihr Angriffen schutzlos ausgeliefert. Und mit den Amethystdrachen komme ich immer noch am besten klar. Ich hab ja den Titan auf meiner Seite.“ Dass er Xyz und Hogs nicht verlieren wollte, sagte er nicht.
    Er ließ sich von dem Loch verschlucken und schwebte wie ein Glühwürmchen in finsterster Nacht immer tiefer in die Eingeweide des Gebirges hinein. Es wurde noch dunkler, als Xyz sich vor die Wolken schob, die von dieser Perspektive aus gar nicht mehr so schwarz wirkten wie noch an der Oberfläche. Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Was ihn noch viel mehr beunruhigte als das, war die Tatsache, dass Sigrid verschollen blieb. Wie weit war sie vorgegangen? Oder hatte Ixidia die Strippen durchtrennt, mit denen er seine Marionette gesteuert hatte? Waren sie bereits in die Falle getappt, die er ihnen gestellt hatte? Gellert spürte die mächtige Präsenz der Drachen. Und dieses Mal war auch eine Aura darunter, deren Macht es mit der des Titanen aufnehmen konnte. Dieses Mal würde sich ihnen keine Armee aus Bauern entgegen stellen. Sondern ein Heer, wie man es von einer Schachpartie kannte, mitsamt dem feindlichen König, den es zu schlagen galt.
    Er hatte das andere Ende des Schachts erreicht und tauchte die dahinter liegende Höhle jäh in sein grelles Licht. Zwei Amethystdrachen schreckten aus ihrem Schlaf. Der eine hielt seinen Flügel in einem merkwürdigen Winkel abgespreizt und sein kristallener Rücken war mit feinen Rissen übersät. Dem anderen endete sein Schwanz in einem kaum verheilten Stummel. Sie brüllten ihn an und ließen die Felsen wackeln. Das Dröhnen hallte noch in weiter Ferne wider. Ohne Frage waren nun auch die anderen Drachen über sein Erscheinen in Kenntnis gesetzt. Die beiden Amethystdrachen kamen nur schwerfällig auf die Beine. Dem einen lief Blut über den Unterkiefer, dem anderen zitterten beide Hinterläufe. Sie wollten sich auf ihn stürzten, doch genau das bereitete ihnen so große Schmerzen, dass sie sich kaum noch rühren konnten. Das war kein Heer. Das war allenfalls eine Ansammlung von Figuren, die bereits Schach gesetzt war. Die nur noch auf das Matt wartete. Plötzlich erschien ihm der verbarrikadierte Eingang in einem ganz anderen Licht. Die überlebenden Amethystdrachen von der Schlacht in Burg Götterfall hatten sich anscheinend geschlagen gegeben und hierher zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken. Vielleicht auch, um sich dem Erhalt ihrer Population zu widmen. Gellert spürte keine dreißig Auren in dem Berg. Die anhaltenden Kämpfe gegen ihn, Xardas und Ixidia mussten sie an den Rand ihrer Existenz gebracht haben.
    Xyz und Hogs schlossen zu ihm auf. Hogs Schwingen waren wund gescheuert. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, ihnen zu folgen, obwohl seine Flügel kaum durch den Schacht gepasst hatten.
    Von den beiden Drachen ging keinerlei Gefahr aus, also wanderte Gellerts Blick auf der Suche nach Sigrid durch den unterirdischen Raum. Er entdeckte sie in einem der abzweigenden Gänge, wo sie so seelenruhig auf ihn wartete, als wäre sie nur wieder auf Burg Götterfall. Als sein Blick dem ihren begegnete, wandte sie sich ab und schwebte in die Dunkelheit hinter ihr.
    Gellert folgte ihr, seine beiden Dämonen im Schlepptau. Die benachbarte Höhle, in die Sigrid sie führte, war nicht annähernd so groß wie die, in der sie angekommen waren. Sie wurde von einem toten Amethystdrachen beinahe ausgefüllt. Sigrid schwebte über den Leichnam und wartete wieder auf sie. Gellert schwebte näher und sein Licht beleuchtete die hervorquellenden Augäpfel des Geschöpfs, die Amethystsplitter, die sich über den Höhlenboden verstreut hatten. Gellert war sich sicher, dass nicht er den Drachen getötet hatte. Und in dem Moment sah er auch, woran er gestorben war: In seinem Bauch klaffte ein blutverschmiertes Loch. Die scharfkantigen Amethystsplitter umrahmten es wie den Eingang zu einem besonders gut geschützten Verlies.
    Xyz und Hogs knurrten. Sie hatten die Bewegung ebenfalls gesehen. Gellerts Herzschlag beschleunigte sich, dass es wehtat. In der Blutlache vor der durchbohrten Bauchdecke, hatte sich etwas bewegt. Das Etwas schien dieselbe Farbe zu haben wie das Blut, auf dem es hockte. Direkt über diesem Etwas schwebte der Zombie seiner Halbschwester, seelenruhig. Offensichtlich war dieses Etwas das, was Sigrid ihnen hatte zeigen wollen.
    Und dieses Etwas war wundersamerweise ein Mensch. Ein kleines Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Vielleicht hatte nur das geronnene Blut, das ihr das Haar verklebte, die Strähnen schwarz gefärbt. So wie es auch überall auf ihrer nackten Haut klebte. Sie sah aus, als trüge sie einen schwarzen Ganzkörperanzug. Doch er bröckelte, als sie sich bewegte, und darunter kam blasse Haut zum Vorschein.
    „Brudi!“ Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht, sodass noch mehr Blut von ihrem Körper bröckelte. Mit wackligen Schritten rannte sie auf ihn zu.
    Gellerts Alarmglocken schrillten. Das konnte nicht die Realität sein. Das Mädchen würde ihn töten, sobald er sich ihr zu sehr näherte, sobald er den Lichtschild auflöste. Gleichzeitig fühlte er in seiner Brust eine Sehnsucht, die er nie zuvor gespürt hatte. Er wollte sie in die Arme schließen, ohne Rücksicht auf das Risiko dabei.
    Und nun stand das Mädchen vor ihm, nur Zentimeter trennten sie voneinander. Zentimeter, in denen die hauchdünne Membran aus Licht verlief. Und er konnte jeden Millimeter ihres blutbefleckten Körpers sehen.
    „Brudi Mumel?“, fragte sie ihn erwartungsvoll. Die Augen. Es waren dieselben, die ihn angelächelt hatten, als er die sterbende Sigrid auf seinen Schoß gebettet hatte. Seine eigenen Augen brannten.
    „Dies muss der Amethystdrache sein, der Sigrids andere Körperhälfte verschluckt hat“, sagte Xyz. Noch nie hatte Gellert seine Stimme so ehrfurchtsvoll erlebt.
    „Aber warum ist sie dann in einem Stück?“, stellte Hogs die Frage, dessen Antwort sie alle überforderte.
    Gellerts Blick wanderte hinauf zu der Zombie-Sigrid, die friedlich über dem toten Drachen schwebte, ebenso Sigrid wie das blutverkrustete Mädchen vor ihm.
    „Drachenblut hat heilende Wirkung…“, begann Xyz, brach aber wieder ab, als ihm klar wurde, wie lächerlich diese Erklärung klingen würde.
    Gellert wagte es nicht, dem Mädchen vor ihm noch einmal in die Augen zu sehen. Er starrte die Zombie-Sigrid an. Konnte es wirklich sein? Lebte seine Halbschwester? Der Drache hatte sich in einem erbitterten Kampf mit Xardas und seinen Dämonenlords befunden. Dass er innere Blutungen gehabt hatte, lag im Rahmen des Möglichen. Aber die Vorstellung, dass dieses Blut Sigrids untere Körperhälfte geheilt hatte, indem es die fehlenden Körperteile hatte nachwachsen lassen, war einfach unglaubwürdig. Andererseits hatte er Sigrid so vielen Experimente unterzogen. Und sie stammte vom Schläfer ab. Ihr Körper war mit keinem anderen vergleichbar. Ihr Körper war einzigartig. Genau wie Drachenblut eine einzigartige Heilwirkung hatte. Dass sie es geschafft hatte, den Drachen von innen heraus zu töten und sich einen Weg durch die Bauchdecke zu bahnen, war noch der glaubwürdigste Teil des Wahnsinns, der in dieser Höhle stattgefunden haben musste.
    Und endlich wagte er einen zweiten Blick in die Augen seiner Schwester. Der fröhliche, vielleicht etwas naive Ausdruck. Sie würde ihm immer noch alles glauben, was er ihr erzählte. Die unerschütterliche Erwartung, dass er ihre Murmeln gerettet hatte. Er konnte nicht verhindern, dass sich Tränen über seine Wangen stahlen. Die Gefühle übermannten sein Denken. Der Lichtschild löste sich auf. Er schloss seine Schwester in seine Arme. Sie war offenkundig verwirrt über diese Reaktion. „Brudi Mumel?“, fragte sie immer wieder, während er sie schluchzend an sich drückte, Tränen und Gefühlen freien Lauf ließ, die er jahrelang verleugnet und in sich hineingefressen hatte.
    „Brudi… traurik?“, fragte sie nach einer Weile.
    „Nein“, sagte er schniefend. „Brudi sehr, sehr glücklich.“ Er ließ sie los, nun doch ein wenig peinlich berührt, und wischte sich über die Augen. „Wie lange bist du schon hier? Warum bist du nicht zurück nach Burg Götterfall gekommen?“
    „Sigrid erst schlafen, dann Sigrid alleine! Und Drachen… da! Sigrid nicht vorbei.“ Sie wies auf den Gang zu der anderen Höhle. „Sigrid warten, sehen Brudi. Dann Sigrid holen Brudi hierher.“ Der Zombie schwebte an ihre Seite. Die leeren Augen waren so viel stumpfer als die lebendigen.
    Gellert fragte sich, was Xardas wohl zu der Erkenntnis gesagt hätte, dass man auch nach dem Tod mehr Kontrolle über seinen Körper hatte als ein Schwarzmagier, der denselben Körper als Zombie benutzte. Vermutlich, dass Sigrid kein allgemeingültiges Beispiel darstellte.
    „Brudi Mumel?“, fragte sie zum vermutlich hundertsten Mal.
    „Zuhause, auf Burg Götterfall“, sagte er und zerstrubbelte ihr das verkrustete Haar. „Aber bevor du dorthin zurückkommen kannst, müssen wir Ixidia besiegen.“ Er wandte sich zu seinen beiden Dämonen um, entschlossener den letzten Willen Adanos‘ auszuführen als jemals zuvor. „Die Frage ist, wie wir uns vor Shaggais Schrei schützen.“
    „Darauf hab ich keine Antwort“, sagte Hogs düster. „Aber ich glaube, ich weiß, wer mit ihm fertig werden könnte.“
    „Der König der Dämonen.“ Gellert fiel es wie Schuppen von den Augen. Es war vielleicht das erste Mal überhaupt, das Hogs einen schlauen Beitrag geleistet hatte, doch er wog all seine bisherigen Patzer auf. „Der Hort der Amethystdrachen liegt an einer Stelle, wo die Sphärengrenze schwach ist. Die Planetenkonstellation auf die ich so lange gewartet habe, ist erst eine Woche her.“ Er begann murmelnd auf und ab zu gehen. „Hogs ist seit seiner Mutation deutlich stärker und Xyz kann ihn notfalls unterstützen. Ich bin mit der Macht des Regenbogentitans auch erheblich stärker als bei unserem ersten Versuch. Und ich weiß nun, was ich anders machen muss, damit ich die Grenze nicht komplett einreiße. Und Sigrid…“ Er stockte. Wollte er sie wirklich noch einmal einer so riskanten Beschwörung unterziehen? Er wischte die Zweifel trotzig beiseite. Nur wenn er es schaffte, den König der Dämonen zu seinem Verbündeten zu machen, konnte er auch in Zukunft für ihre Sicherheit garantieren. Sie mussten es einfach versuchen. Und er würde sie beschützen, selbst wenn Beliar selbst durch das Portal trat.
    Mit einem Zauber der Wassermagier gelang es ihm, das geronnene Blut wieder zu verflüssigen und ein Pentagramm auf den Stein zu zeichnen. Er gab allen letzte Anweisungen. Sigrid legte sich ergeben in die Mitte des Sterns. Hogs und Xyz positionierten sich über ihr. Zombie-Sigrid legte sich zu seiner Halbschwester. Er holte die Rune der Sphärenkonjunktion und einen Runenrohling aus den Ärmeln seiner zerschlissenen Robe. Alles war bereit.
    Er dosierte sein Mana dieses Mal anders, um die Sphäre nicht so grob zu zersplittern, wie er es letztes Mal getan hatte. Hogs und Xyz hoben synchron die Arme. Über ihnen tat sich das Tor ins Reich Beliars auf. Ein Fauchen ertönte, als der schwarze Wind des Jenseits ins Diesseits fuhr. Schreie von Dämonen und Geistern hallten von den Höhlenwänden wider. Sigrid lag zufrieden und neugierig da, vertraute ihm voll und ganz. Er würde dieses Vertrauen nicht missbrauchen. Nie wieder. Der Riss zwischen den Dimensionen verbreiterte sich. Schemenhafte Gestalten huschten an der Öffnung entlang. Farben wirbelten durcheinander. Gellert konzentrierte sich auf die Schwingungen aus der anderen Dimension. Sigrid musste ihn einfach anlocken, den einen mächtigen Herrscher, der alle Dämonen unter sich vereinte. Hogs und Xyz keuchten unter der Last, die auf ihren Schultern ruhte, doch sie stemmten den Dimensionsriss, obwohl die Konstellation schon so lange verstrichen war.
    Und dann tauchte ein riesiger Schatten vor der Öffnung auf und das Pfeifen des Windes erstarb. Gellert zitterte vor Angst und zugleich vor Erregung. Dies musste er sein. Er warf den Runenrohling in die andere Dimension. Er traf auf den Schatten. Gellert stieß einen Schrei aus, während er alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte auf die Herstellung der Rune konzentrierte. Innos‘ Macht sträubte sich gegen den Kontakt mit der Welt seines Bruders, doch der Titan war hilfsbereit. Der Schatten heulte auf, es blitzte krachend in beiden Sphären.
    Dann wurde es still. Wie im Auge eines Sturms. Quälend langsam fiel die Rune zurück in ihre Welt. Gellert flog über Sigrid und fing den Stein auf. Ein Symbol hatte sich in seine Oberfläche eingebrannt, wie er es noch nie gesehen hatte. Er war der erste, der diesen Zauber in Händen hielt. Ein triumphierendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Sigrid unter ihm freute sich mit.
    Der Moment der Stille war vorbei. Der Schatten auf der anderen Seite verschwunden. Doch die Blitze kamen erneut. Das Krachen war lauter als jemals zuvor. Xyz und Hogs fielen schreiend zu Boden, wanden sich vor Schmerzen unsicheren Ursprungs. Gellert huschte entsetzt zu Xyz, der ihn aber gar nicht bemerkte. Bei Hogs war es dasselbe. Er packte Sigrid mit einer Telekinese und warf sie aus der Höhle in den Gang. Ihr durfte nichts passieren. Ihr nicht. Dämonen konnten nicht sterben.
    Und dann erfüllte ein Ratschen die Dimension, das nur eines bedeuten konnte. Gellert hatte noch nie ein vergleichbares Geräusch gehört. Es hatte mühelos das interdimensionale Getöse übertönt. Überwältigt wandte er sich zu dem Riss zwischen den Dimensionen um. Er hatte den Hort der Amethystdrachen gespalten, wie es das legendäre Schwert mit dem Hals von Adanos getan hatte, die Welten linearisiert. Die Sphäre, die sein vermeintlicher Vater vor Äonen erschaffen hatte, brach in sich zusammen.
    Und das Böse kam erneut über den Morgrad. Gellert stand allein der schwarzen Flut gegenüber. Niemand würde für Innos in diese neue Schlacht der Götter ziehen. Nur er allein. Denn er war der Avatar Innos‘.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Schwarz brandete es über die Welt. Das Gleichgewicht der Götter war seinem Schöpfer in den Tod gefolgt. Und der Tod erweiterte sein Reich.
    Die steinerne Höhlendecke war verschwunden. Über Gellert hingen nur noch die schwarzen Wolken der grauen Lande. Vor ihm erstreckte sich das Reich des Chaos, aus Farben geboren, die keine Form kannten. Der Fels unter seinen Füßen schwitzte dunkle Schwaden aus.
    Ein Dämon, größer als Burg Götterfall, schob sich auf allen Vieren über die Grenze und brüllte. Der Bass vibrierte Gellert in den Knochen und ungekannte Angst lähmte seine Gedanken. Hogs und Xyz lagen am Boden. Sigrid kauerte verschüchtert hinter ihnen. Überall um sie herum überquerten Dämonen die Grenze, die jahrhundertelang ihr Käfig gewesen war, ihnen das verwehrt hatte, wonach sie sich sehnten. Gellert stand allein vor der Sturmflut. Er hatte alles in einer einzigen Sekunde zunichte gemacht. Hatte Xardas ihn nicht gewarnt? Der kolossale Dämon blähte die Nüstern seines Drachenkopfes. Anstelle von Augen glitzerten Turmaline in den Höhlen. Er schien blind.
    Gellerts rascher Atem beschlug in der Kälte der Toten, die aus Beliars Reich herüber wehte. Das Regenbogenlicht des Titanen bildete den Schädel, der ihn stets vor Schaden bewahrt hatte. Doch gegen diese Armee würde er ihm nichts nützen. Er fühlte sich wie David, der ohne Schleuder gegen Goliath antrat. Um diese Katastrophe zu überstehen, musste er noch viel weiter über sich hinaus wachsen.
    Der Koloss holte mit seiner Pranke aus, um das leuchtende Hindernis aus dem Weg zu wischen. Gellert bildete beide Arme aus und schlug sie tief in den Höhlenboden, der ihn wie eine Insel in einem Meer aus Farben trug. Die Faust des Dämonen traf ihn, dass die Welt bebte. Gellert keuchte, als sein ganzer Körper unter der Wucht erzitterte. Er durfte keinen Millimeter zur Seite weichen. Hinter ihm waren Hogs, Xyz und Sigrid. Wenn er sie nicht beschützen konnte, konnte er auch gleich sterben. Der Wille sie alle zu beschützen loderte in seiner Brust und das Licht trieb neue Formen. Eine Wirbelsäule peitschte aus dem Schädel hervor und Knochen wuchsen aus ihr in Sekundenschnelle, bildeten Rippen und Panzerplatten. Der Riesendämon brüllte erneut. Gellert konnte sich nicht vorstellen, dass sein Gebrüll weit zu hören war. Um sie herum stoben Milliarden zeternder Dämonen in die ehemalige Sphäre Adanos‘. Und nicht nur sie, auch die Geister kamen über die Lebenden, schrien ihren nie vergessenen Schmerz in die Welt, die sie längst verlassen hatten, und atmeten die Kälte aus, die ihre sterblichen Hüllen längst zerfressen hatte.
    Gellert erhob sich auf neuen Beinen aus Licht. Das Licht hatte den Körper des Titanen vollendet, ebenso hochgewachsen wie der des Dämonen vor ihm. Nie hatte Gellert sich mächtiger gefühlt. Und nie war er verzweifelter gewesen. Er kämpfte auf verlorenem Posten. Gegen alle Dämonen Beliars auf einmal konnte er nicht gewinnen. Er konnte das Ende nur hinauszögern. Darauf warten, dass ihnen jemand zu Hilfe kam. Jemand, der alles wieder gerade bog, was er verbockt hatte.
    Niemand wird kommen, Gellert.
    Er durfte sich nichts vormachen. Adanos war tot. Und er war sein Erbe. Niemand außer ihm würde das Schicksal der Welt noch herumreißen können.
    Der Dämon griff an. Gellert stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. Er ließ die Kraft aus sich hervorbrechen wie in den Zeiten, in denen er sie noch nicht kontrolliert hatte. Ein Hagel aus Lichtfäusten ging auf den Chaosgeborenen nieder, jede riss ein Stück Dämonenfleisch aus dem endlosen Körper. Der Koloss regenerierte sich umgehend. Die Wunden begannen sich zu schließen und abgerissene Flügel und Arme wuchsen nach, größer und kräftiger als zuvor. Doch Gellert dachte nicht daran, aufzugeben. Wenn er nur diesen Dämon erledigte, gab ihm das genug Zeit, um nachzudenken. Eine Lösung zu finden. Zumindest redete er sich das ein. Noch nie hatte er sich selbst so angelogen. Noch nie hatte er sich an eine solch dumme Hoffnung geklammert. Doch die Lichtfäuste bohrten sich immer tiefer in den Körper, rissen immer größere Fetzen Fleisch von den purpurnen Knochen. Und da lag das schlagende Herz offen, groß wie das frische Pentagramm auf dem Stein unter ihm. Er packte es mit beiden Armen und bohrte die strahlenden Finger tief in das pulsierende Organ. Es explodierte und schwarzes Blut strömte in Fontänen durch Zeit und Raum.
    Keuchend ließ Gellert von dem geplatzten Organ ab. Der Dämon hatte sich nicht dematerialisiert. Er hatte seine Leiche in der Sphäre Adanos‘ hinterlassen, wie ein Geschöpf des Gleichgewichts. Dass der Dämon gestorben war, führte Gellert nur noch deutlicher vor Augen, wie verloren sein Kampf war. Beliars Auswüchse hatten keinen Rückzugsort mehr, an den sie sich zurückziehen konnten, wenn sie ihren Dienst getan hatten. Die Sphären von Beliar und Adanos waren verschmolzen. Die Dämonen starben nun, wie es jedes Lebewesen in seiner Sphäre tat.
    Die Wolkendecke brach auf. Es war wirklich kein blauer Himmel hinter ihnen. Sand so weit das Auge reichte und eine Stadt mit prächtigen Türmen. Er erkannte die Wahrzeichen schon auf den ersten Blick. Die heilige Stadt Ishtar hing kopfüber über der grauen Ebene.
    Der Boden unter seinen Füßen schwitzte nun nicht nur Schatten aus, er löste sich auch auf. Große Flecken voll von Finsternis und chaotischen Farbenspielen wucherten in dem massiven Fels, aus dem der Hort der Amethystdrachen bestanden hatte. Freilich darfst du dir dabei nicht die Welt vorstellen, wie sie heute ist. Vieles war damals anders. Ich formte den Morgrad und erschuf die Welt, wie sie heute ist. Mit der Sphäre hatte er nicht nur die Barriere, sondern das ganze Lebenswerk seines geistigen Vaters zerstört. Die Form, die Xardas dem Morgrad gegeben hatte, löste sich auf in Schall und Rauch.
    Wie Insektenschwärme stoben die unzähligen Dämonen über den Wüstenhimmel. Schreie drangen aus der bedrohlich näher kommenden Stadt Ishtar. Gellert verstand nur so viel, dass Raum nun nicht mehr als konstant angenommen werden konnte. Doch ehe er mehr tun konnte, als einen besorgten Blick zurück auf Sigrid zu werfen, die dicht hinter seiner Lichttitanengestalt zwischen den beiden reglosen Dämonen hockte, kam eine Welle von Dämonen über den zerfetzten Körper des Kolossdämonen gestürmt. Gellert stieß abermals einen Schrei der Verzweiflung aus, als er eine Lichtfaust nach der anderen abschoss, mit jeder einen von Beliars Dienern tötete. Die Geister flogen einfach durch das Licht hindurch, schienen sich jedoch für nichts als sich selbst zu interessieren. Sie schwebten umher und klagten der Welt ihr leid.
    Gellert griff pausenlos an, zerquetschte Dämon um Dämon, kein einziger hatte auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn. Doch für einen gefällten Beliardiener rückte ein ganzes Dutzend nach. Die Flut war nicht zu bremsen. Der Regenbogentitan hatte einen Keil in die Armee getrieben, wie ein Fels in der Brandung. Wie jeder Fels in der Brandung würde auch der Titan irgendwann überschwemmt werden. Die Angst, seinen Feinden den Rücken zuzukehren, war zu groß, um zu fliehen. Und wohin hätte er sich auch wenden sollen? Die Dämonen waren überall. Es gab keinen Ort mehr, an dem er Sigrid, Xyz und Hogs in Sicherheit bringen konnte. Er würde sie verlieren, so wie er Xardas verloren hatte. Er ballte seine menschlichen Hände zu Fäusten. Dieses Mal nur über seine Leiche.

    Der Wind wehte über den Blocksberg und die langen Grashalme der unberührten Natur wiegten sich in der steifen Brise. Myrthe hielt sich mit beiden Händen die Krempe ihres geflickten Huts. Aphelandra und Lesbia halfen Cassindra dabei die riesige Kristallkugel an ihrem Besen zu befestigen. Die Schicksalshexen schwiegen, hatten die letzten zwei Wochen auf engstem Raum miteinander verbracht und sich nichts mehr zu sagen. Der Abschied stand bevor, das Wiedersehen war noch Jahre hin. Und doch fühlte Lyrca keinerseits Trauer. Es war so, wie es immer gewesen war. Nichts verband sie mit den anderen Hexen als ihre gemeinsame Aufgabe, der Schicksalsgöttin zu dienen. Es stimmte sie ungeduldig, dass es so lange dauerte, die Kugel festzuzurren. Sie wollte sich schleunigst auf den Weg nach Götterfall machen. Sie hatte ein Geschenk zu überbringen, an dem sie alle gemeinsam gearbeitet hatten. Selbst Ixidia würde dieses Geschenk nicht überleben.
    Missgelaunt warf sie einen Blick auf die dunklen Wolkenfetzen, die ungewöhnlich schnell über die Hügelkuppe hinweg zogen. Und da zerriss das Blau und offenbarte ein Meer aus Farben. Eiseskälte brandete urplötzlich über sie hinweg. Lyrca erschauderte. Nicht nur wegen der Kälte, auch der Gesang der Toten hallte über die Welt und schlug alles Leben in seinen Bann.
    „Was ist das?“, fragte Urmeline verwirrt.
    „Etwas ist mit der Sphäre passiert. Sie scheint gerissen!“, rief Hermione in Panik. Ihre nächsten Worte gingen in dem Tosen unter. Der Wind hatte sich sprungartig zu einem Orkan entwickelt. Myrthes Hut flatterte davon.
    „Die Kristallkugel hat davon nichts gezeigt!“, wunderte sich Kiki.
    Sie alle spürten das Grauen, das auf sie zu kam. Die Punkte, die auf den Morgrad herab regneten waren Lebewesen mit schwarzer Aura. Als ein neuer Windstoß über sie hinweg fegte, schrien sie alle durcheinander. „Das jüngste Gericht ist da!“ „Die Welt ist wieder eine Scheibe!“ „Beliar hat es doch noch geschafft!“ „Warum hat die Göttin uns verlassen? Sie hätte uns doch gewarnt!“ Der Wind riss Kiki mit sich. Ihr schriller Schrei verebbte bald in den Fluten eines Tornados aus schwarzem Rauch. Der Wirbel schien die Materie aus der Welt zu saugen. Gräser wurden welk, Erdbrocken hoben ab und zersplitterten in Myriaden winziger Teilchen. Ein Megalith des Magnuskreises schoss quer über den Himmel wie ein Meteorit auf dem Weg zurück in den unendlichen Sternenhimmel. „Nein! Nicht der Magnuskreis!“, ächzte Hedlinde und schlug die Hände überm Kopf zusammen.
    „Wir müssen etwas tun!“, schnitt Hermione durch das panische Geplapper. „Fasst euch an den Händen. Wir beschwören einen Bannkrei-“ Der Megalith hatte sie unter sich zerquetscht, es sich wohl auf halbem Weg anders überlegt. Einen Moment stand er still, dann explodierte er. Die Kristallkugel tat es ihm krachend gleich. Glas schlitzte ihnen Granatsplittern gleich die Haut auf.
    „Hermione hatte recht!“, rief Cassindra und griff nach Aphelandras Hand. Die andere streckte sie nach Lyrca aus.
    Lyrca zögerte nur einen Moment. Eine Speerspitze aus Eis wuchs zwischen Cassindras Brüsten hervor.
    „Ich wusste schon immer, dass du am Ende der Welt arbeitest, du falsche •••••!“, schrie Urmeline und riss ihren Speer aus der toten Hexe.
    Lyrca wartete nicht länger. Sie schwang ein Bein über ihren Besen und stieß sich mit flatternder Robe vom Boden ab. Blitze zuckten über das Firmament und hinterließen Risse im Weltengefüge. Ein Ruck ging durch Lyrcas Besen. Sie wandte den Kopf und sah, dass Aiuole sich an ihren Schweif gehängt hatte. „Mein Besen ist weggeweht worden!“, schrie sie mit tränenerstickter Stimme. „Lass mich nicht hier!“ Der Besen kam keinen Millimeter voran und wurde vom Wind abgetrieben.
    „Ich kann dir nicht helfen, Aiuole“, antwortete Lyrca und schoss ihr einen Blitz mitten ins Gesicht. Die Hexe fiel zuckend zurück aufs Erdreich und der Besen war endlich frei. Lyrca schoss in den Himmel und hatte zugleich Sorge, in eines der Tore zu Beliars Welt zu fliegen. Bei einem letzten Blick zurück sah sie, wie sich unter Marga der Boden auftat und Velaya mit Lesbia Urmeline überwältigte.
    Diese armseligen Kleingeister, dachte Lyrca zähneknirschend. Da waren sie ein Mal nicht durch die Göttin vorgewarnt worden und schon verloren sie den Kopf. Sie war schon immer anders gewesen. Sie wusste, was zu tun war. Sie konnte alles wieder ins Lot bringen. Es war nun noch dringender, dass sie Ixidia dorthin zurückjagte, wo er hingehörte.

    Gellert zitterte. Hunderte Lichtfäuste, Tausende Lichtfäuste. Er tötete mit jeder einzelnen und doch nahm es kein Ende. Er hatte es nicht anders erwartet, doch ihm blieb kaum Zeit über Alternativen nachzudenken. Sein Stand war aussichtslos. Der Gedanke drängte sich ihm auf, dass er auch einfach aufgeben könnte. Sich einfach schutzlos den finsteren Horden hingeben, ein schnelles Ende in Kauf nehmen könnte. Nur der unerschütterliche Wille, Sigrid nicht noch einmal zu verlieren, ließ ihn ausharren.
    Und alles war seine eigene Schuld. Er hatte die Sphäre eingerissen. Er war sich sicher, dass seine Berechnungen richtig gewesen waren, allerdings nur für den Fall der perfekten Planetenkonstellation. Was es für Folgen hatte, wenn man der Sphäre in einem gestärkteren Zustand ein großes Loch verpasste, hatte er zu spät bemerkt. Seine Arme brannten. Er bewegte sie mit Telekinese, um seine Muskeln nicht weiter zu strapazieren. Sein Körper hatte seine Grenzen erreicht, nur die Mächte von Innos und dem Titanen schienen heute unendlich. Doch selbst die Möglichkeiten, die allein die Unendlichkeit offenbarte, reichten heute nicht aus. Nur am Rande nahm er war, dass Xyz und Hogs sich erhoben und in den Kampf eingriffen. Auch sie kämpften diesen aussichtslosen Kampf. Warum leuchtete ihm nicht ein. Sie brauchten die Bindung zu ihrem Magier nicht mehr, um in dieser Welt zu existieren. Und sie starben, wenn sie dennoch zu ihm hielten. „Rettet euch!“, rief er ihnen zu. „Wechselt die Seiten, lasst mich im Stich!“ Doch keiner von beiden hörte ihn. Das Gebrüll der Dämonen, der Gesang der Toten, der Kampfeslärm um sie herum. Und der Blutrausch, in den sie beide verfallen waren. Sigrid stand hinter ihm und schrie so lange sie konnte, jedes Mal ein bisschen kürzer. Die Dämonen stoben auseinander, wann immer sie wieder ihre Stimmbänder traktierte. Und trotzdem hielt es sie nicht auf. Sie machten einfach einen großen Bogen um das kleine Mädchen. Ob Hogs den Schrei auch beherrschte? Wie merkwürdig der Gedanke war, dass der Mensch den Schrei vererbt bekommen hatte und der Dämon nicht.
    Es schien nicht mehr schlimmer kommen zu können. Doch dann bebte der letzte Fleck Stein, der unter seinen leuchtenden Titanenfüßen dampfte. Gellert warf einen Blick über die Schulter und hoffte für einen kurzen Moment, einen mächtigen Verbündeten gewonnen zu haben. Doch als die Kreatur sprach, war auch diese Hoffnung zunichte.
    „Du Ketzer, der du die Welt in den Ruin getrieben hast“, dröhnte die machterfüllte Stimme des Königs der Amethystdrachen. Er war viel größer als alle Drachen, die der Titan getötet hatte. Wie ein Berg thronte er hinter Sigrid und reckte den Hals bis hoch zur heiligen Stadt Ishtar. Die Kristallschuppen blitzten selbst in dem diffusen Licht des Chaos. „Das letzte, was ich in meinem sinnlosen Dasein tun werde, ist dich für deine Fehler büßen zu lassen!“ Hinter ihrem König stürzten sich die anderen Amethystdrachen auf das Meer von Beliardienern. Der König riss sein Maul auf, eine ganze Stadt hätte in den Schlund gepasst. Er gurgelte weißes Feuer. Gellert dachte in diesem Moment nicht an die Dämonenlords, denen er den Rücken zuwandte. Auch nicht daran, ob das Licht dieser Attacke standhalten würde. Nur an Sigrid, die mitten in der Schusslinie kniete und erschöpft nach Atem rang. Der Feuerstrahl überwand den Abstand zwischen ihnen, doch die rechte Hand des Titanen schloss sich rechtzeitig um Sigrid. Gellert spürte zum ersten Mal physischen Schmerz durch das Licht pulsieren, das er lenkte. Er schrie wie am Spieß, als er sich um das Tausendfache steigerte. Durch die leuchtenden Konturen der Hand war Sigrid zu sehen, wie sie geschockt in das blendend helle Feuer starrte, die Pupillen ganz klein. Die Finger aus Licht verschmolzen in der Hitze zu einem einzigen Klumpen. Die Panzerplatten an Schultern und Brust, der Schädel, in dem Gellert geborgen wie gefangen war, hielten länger stand. Der Flammenstrahl versiegte. Gellert sah Sterne vor seinen Augen blinzeln. Der Schmerz war mit nichts vergleichbar gewesen, nicht einmal mit der Wucht eines herabdonnernden Meteoriten. In dieser Sekunde spürte er aber nur die Erleichterung. Sigrid lebte, regte sich in dem deformierten Armstumpf.
    Ein halbes Dutzend Dämonen stürzte sich auf seinen ungeschützten Rücken, hieb mit Krallen, Hauern und Hörnern nach dem Licht, konnte ihm aber nichts anhaben. Gellert hatte nur Augen für den König der Amethystdrachen, der sich duckte, zum Sprung ansetzte, ihn mit seinen Katzenaugen fixierte. Gellert wurde klar, dass er noch nie Todesangst verspürt hatte.
    Der König schwang sich in die Luft und stieß auf ihn herab. Gellert hatte nur noch eine Faust, um sich zu verteidigen, und nur wenig Boden unter den Füßen. Er stand auf dem schwebenden Fels wie auf einer Eisscholle in einem kochenden Meer aus Farben. Die Lichtfaust verpasste dem Drachen einen Kinnhaken, ehe dieser mit seinen Reißzähnen die Lichtgestalt in zwei Hälften beißen konnte wie den Körper eines zweijährigen Mädchens. Der König wurde von seiner Flugbahn abgelenkt und donnerte an Gellerts Insel vorbei. Er schlug mit seinen gigantischen Flügeln, machte kehrt, bevor Gellert sich auf den nächsten Angriff gefasst hatte. Ein neuerlicher Strom weißen Feuers brandete über die Titanengestalt hinweg. Gellert schrie. Sigrid schrie, nicht wie der Schläfer, sondern wie ein hilfloser Mensch.
    Xyz stürzte sich in den Feuerstrom, alle vier Hände mit riesigen Dämonenklingen bewaffnet. Mit einem gezielten Hieb spaltete er das Feuer. „Ich hab es dir versprochen, Gellert!“, donnerte der Dämonenfürst. „Ich werde den König der Amethystdrachen für dich töten! Verlass dich drauf! Du musst dich um den Rest kümmern.“
    Gellert atmete schwer. Der Schmerz hatte ihn paralysiert. Immer mehr Dämonen krabbelten über den Körper aus Licht.
    Xyz wich den Angriffen des Königs mit waghalsigen Flugmanövern aus, teilte die Flammenströme mit seinen Schwertern und griff mit der Wildheit eines Ungeheuers an. Gellert verfolgte fasziniert den Kampf auf Leben und Tod.
    „Brudi!“ Erst Sigrids Stimme riss ihn aus seiner Trance. Er hielt die geschmolzene Hand dicht vor den Schädel. Sie presste beide Hände an die leuchtende Membran, ihre Blicke trafen sich. „Brudi geh! Brudi nicht bleiben!“, rief sie und Tränen rannen über ihr junges Gesicht. Hatte er Sigrid jemals zuvor weinen sehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Sie war schon immer etwas Besonderes gewesen.
    Die Dämonen hatten noch keinen Weg gefunden, um den Titanenpanzer zu durchdringen. Doch langsam begruben sie ihn mit ihrer schieren Masse unter sich. Hogs stürzte sich auf sie und riss einen nach dem anderen von ihm runter. „Gellert, was ist der Plan? Wir müssen doch etwas unternehmen!“ Gellert sah von den feuchten Augen zu denen ihres so unähnlichen Zwillingsbruders. Und der Zwillingsbruder erkannte die Verzweiflung in seinen Augen. Hogs erstarrte. „Du hast immer einen Plan!“, schrie er ihn an.
    „Brudi, geh!“ Sigrids Stimme brach.
    Der König der Amethystdrachen flog dicht an ihnen vorbei. Mit seinem Flügel schlug er ein großes Stück aus der Felseninsel. Xyz schwirrte um seinen Kopf herum und wich den Reißzähnen nur knapp aus. Der nächste Feuerstrahl kam zu plötzlich. Die weißen Flammen pulverisierten die beiden rechten Arme des Dämonenfürsten. Xyz verzog keine Miene, spaltete das Feuer mit Links und setzte zum nächsten Angriff an.
    Gellert war unfähig, zu denken. Er konnte die Eindrücke nicht mehr verarbeiten. Hogs, der verzweifelt auf ihn einredete und die Dämonen von ihm wegriss. Xyz, der einen hoffnungslosen Kampf kämpfte, nur um sein Versprechen zu halten. Sigrid, die ihn anflehte, zu gehen.
    Und plötzlich auch der einzige Mann, den er je Vater genannt hatte. Xardas stand neben ihm in dem Schädel aus Licht, war durch den Schild getaucht wie durch die Oberfläche einer gewöhnlichen Flüssigkeit. Im nächsten Moment sah Gellert durch ihn hindurch und er verstand, wie sein Vater hier sein konnte. Es war sein Geist, der mit all den anderen Geistern aus der fremden Sphäre herübergekommen war. Doch im Gegensatz zu den anderen gepeinigten Seelen, die über den Himmel flogen und die heilige Stadt anheulten, wirkte er merkwürdig gefasst.
    „Es ist noch nicht lange her, Sohn“, sagte Adanos und verschränkte die Arme vor seiner transparenten und nackten Brust. „Was ist geschehen?“
    „Ich war es!“, stieß Gellert hervor. „Ich habe deine Sphäre eingerissen! Ich wusste nicht, was für Folgen es haben würde. Ich war zu ungeduldig, um auf die nächste Sphärenkonjunktion zu warten. Ich wollte nur deinen Willen ausführen und Ixidia töten!“
    „Die Frage der Schuld ist nicht von Bedeutung“, sagte Xardas‘ Geist mit fester Stimme. „Es zählt allein, wie wir den Schaden wieder gut machen können.“
    Gellert knirschte mit den Zähnen. „Ich kann es jedenfalls nicht. Zu so einer Barriere bin ich nicht imstande. Avatar Innos‘, vollkommenster Titanenlord aller Zeiten. Was bringen mir diese Eigenschaften, wenn sie mir doch keine Option bescheren?“
    „Wir werden es schaffen, Gellert“, sprach Adanos mit solcher Bestimmtheit, dass Gellert nicht anders konnte, als ihm zu glauben. „Ich bin zwar erst seit kurzem tot, aber ich habe bereits herausgefunden, wie ich meinen Spiritualkörper in Mana umwandle. Es wird mir möglich sein, einen letzten Zauber zu sprechen.“
    „Aber dann…“ Sein Vater nickte, ehe er weiter sprach. Sie wussten beide, dass er damit seiner Existenz als Geist ein Ende bereiten und endgültig verschwinden würde.
    „Xyz ist kein gewöhnlicher Dämon. Ich kann es dir jetzt nicht in allen Details erklären, aber auch ich habe meinen treuesten Diener stetig verbessert. Ich fand in ihm einen Dämon, dessen Körper es mir erlaubte, andere Dämonen mit ihm zu verschmelzen. Wann immer ich Xyz mit anderen Dämonen verschmolz, wurde er stärker. Nun ist es wieder an der Zeit, da er zu schwach ist, um seinen Gegner zu besiegen.“
    Hogs hatte zugehört, während er sich die Dämonen vom Leib hielt. Xardas wandte sich ihm zu und fragte mit durchdringendem Blick. „Darf ich dich mit Xyz fusionieren, Hogs?“
    „Wenn wir dann stark genug sind, um Gellert zu helfen, mach schnell!“, knurrte Sigrids Zwillingsbruder.
    „So sei es.“
    Ein Wespendämon bohrte seinen Stachel in Hogs Rücken. Er schlug fauchend nach dem Feind und riss ihm die Flügel ab.
    „Gellert. Wenn ich Xyz und Hogs fusioniert habe, werden sie stärker sein als Shaggai. Du musst euch nach Burg Götterfall teleportieren. Gewöhnliche Teleportationsrunen werden nun, da die Sphäre gefallen ist, ausreichen. Räumlicher Abstand hat keine Bedeutung mehr, seitdem meine Ordnung zerstört wurde, verstehst du?“
    „Warum soll ich jetzt noch gegen Ixidia kämpfen? Sein Tod wird uns nichts bringen!“
    „Er besitzt das einzige Artefakt, das den Morgrad jetzt noch retten kann.“ Xardas blau glitzernde Form verschwamm, glitzernde Funken stiegen aus seiner Nebelgestalt. „Der Zeitreisehelm. Benutze ihn klug. Du weißt, es gibt bei Zeitreisen viel zu beachten.“
    Gellert fiel es wie Schuppen von den Augen. Der Helm. Er hatte selbst den verbannten Einfluss der Götter zurück in diese Welt gebracht. Die Zeit war die mächtigste Dimension, dazu imstande alle anderen zum Narren zu halten.
    „Ich glaube an dich, Gellert.“ Die Stimme verblasste wie ihr Spiritualkörper. Die Worte hallten in Gellert wider. Das Glitzern verließ den Titanen und bestäubte Hogs. Hogs stieß sich von dem Lichtpanzer ab, schleuderte die letzten Dämonen von sich. Das Gebrüll, das seinem leuchtenden Körper entdrang, schien weder aus dieser noch aus der jenseitigen Welt.
    Der König der Amethystdrachen hatte Xyz erwischt. Der Dämonenfürst stand zwischen den Reißzähnen des Drachen und stemmte sich mit seinen rechten Armen gegen den Oberkiefer, der ihn zu zerquetschen drohte. Stückweise schloss sich das gigantische Maul des Drachen, in dem selbst der riesige Xyz klein wie ein Goblin wirkte. Die Zahnreihen schlossen sich, Xyz brüllte vor Verzweiflung. Hogs schoss mit dem Schub seiner vier Flügel durch das Chaos, erreichte den König und flog todesmutig zwischen die Zähne des Drachen.
    Die Kiefer krachten aufeinander. Gellert hielt den Atem an, wischte die Dämonen vom Schädel, die seine Sicht behinderten. Der König der Amethystdrachen wandte seinen schimmernden Kopf der Lichtgestalt auf der Felseninsel zu. Der Hochmut in seinem Blick brauchte keine Worte. Er hatte gesiegt. Gellert ballte die Hände zu Fäusten. Sein Denken setzte aus. Er würde sie rächen. Jetzt und sofort! Er stieß sich von dem Boden ab, sprang direkt auf die übermächtige Kreatur zu.
    Da leuchtete es zwischen den lilafarbenen Lippen des Königs. Der Hochmut wich Überraschung. In einer Explosion aus Licht brach der Unterkiefer des Drachen in Tausend kleine Splitter. Ein Schatten fiel aus dem zerstörten Maul. Drachenzähne und Amethystbrocken stoben ins Nichts.
    Der Schatten landete auf dem Fels, bäumte sich zu voller Größe auf und manifestierte sich. Zehn Augenpaare, sechs Arme, acht Flügel. Größer als ein Amethystdrache. Mit Schuppen aus hochwertigem Karneol. Xyz und Hogs öffneten ihr Maul und stießen ein wütendes Brüllen aus, entblößten ihre sechs Zahnreihen. Gellert landete mit dem Titan direkt hinter ihnen. Er war erleichtert und beeindruckt zugleich.
    Der König heulte. Das Drachenblut strömte wie ein Sturzbach aus seinem zerstörten Maul. Doch er schien den Kampf fortsetzen zu wollen, gurgelte weiße Flammen in seiner offen liegenden Kehle.
    „Xyz, Hogs, wir müssen zurück nach Burg Götterfall!“
    „Nein, Gellert!“, antwortete die Fusion und er konnte nicht sagen, wer von beiden ihm antwortete. „Ich bleibe hier und erledige den König. Das habe ich dir versprochen. Ich komme nach, sobald seine ganze verdammte Brut tot ist. Du bist stärker als Ixidia und Shaggai zusammen, du musst es dir nur zutrauen.“
    Gellert biss die Zähne zusammen. Es war nicht an der Zeit, ein Risiko einzugehen. Doch Diskussionen halfen ihnen nun auch nicht. Der Morgrad schrumpfte mit jeder Sekunde. Wenn er sich nicht beeilte, hatte das Chaos Götterfall verschlungen, bevor er den Zeitreisehelm an sich gebracht hatte. „Wehe, ihr kommt nicht nach!“ Er löste die Lichtgestalt auf, versiegelte die Kraft wieder tief in seinem Inneren. Er griff nach Sigrids Hand, bevor die Dämonen sie aufschlitzen konnten, und aktivierte eine Teleportrune.
    Der letzte Blick zurück auf Xyz und Hogs war flüchtig, begleitet von einem komischen Gefühl im Bauch. Gellert hoffte, dass er sie wiedersehen würde. Dann verschluckte ihn der Farbenstrom und er wirbelte durch die ohnehin bedeutungslos gewordenen Dimensionen. Die Teleportrune tat ihre Arbeit trotz der enormen Entfernung, so wie sein Vater gesagt hatte. Hand in Hand flog er mit Sigrid auf ihr Ziel zu.
    Der Horizont brach auf und vor ihnen lag Burg Götterfall. Die Ausläufer der Burg waren von Meteoriten gespickt und überall lagen Trümmer in den Innenhöfen und durchzogen Risse die Wände. Er hatte sich die Zerstörung vorgestellt, aber nicht mal seine schrecklichste Fantasie hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet. Stümpfe von Türmen ragten wie Grabsteine aus dem Schutt. Das Chaos hatte diesen Ort noch nicht erreicht. Nur der Himmel war gespalten. Dämonen flogen wie Möwen über das wogende Schicksalsmeer. Die Wellen türmten sich höher als je zuvor. Vielleicht hatte das Chaos sie doch schon erreicht.
    Sie landeten leichtfüßig auf dem Wehrgang und die Gischt nieselte ihnen in die Gesichter.
    „Du musst dich jetzt gut verstecken, Sigrid“, ermahnte er seine Schwester. „Bei mir ist es zu gefährlich für dich. Erinnerst du dich noch daran, wie Mutter einmal monatelang brauchte, um dich zu finden? Genau so musst du dich auch heute verstecken! Ich komm dich holen, sobald ich alles wieder ins Lot gebracht habe.“
    „Brudi, guck mal!“, antwortete sie und deutete den Wehrgang entlang. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte.
    Gellert folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Sie wies auf das Quaternionenteleskop, dessen mächtiges Rohr über die Zinnen weit in den Himmel ragte. Doch der Grund für ihr Deuten saß auf dem dreibeinigen Schemel vor dem Himmelsstecher. Ixidias Wirtin presste ihr Auge an das Okular und schien in der Betrachtung des gespaltenen Firmaments vertieft.
    „Sigrid, du musst gehen“, wiederholte er. Doch als er sie mit einem Seitenblick streifte, stutzte er. Noch nie hatte er solch einen Hass auf dem Gesicht seiner jungen Schwester gesehen. Es war nicht das Gesicht, das sie aufsetzte, wenn ihr jemand ihre Murmeln wegnahm. Sie erschien ihm plötzlich viel reifer, der Zorn wirkte erwachsen. Er konnte es sich erst nicht erklären, schließlich war sie Ixidia oder dem Mädchen vom Östlichen Archipel nie begegnet. Doch dann erinnerte er sich wieder, dass Sigrids andere Hälfte von Ixidia missbraucht worden war und die Hälften offensichtlich in Kontakt gestanden hatten. Die menschliche Seele war ihm nie als größeres Mysterium erschienen.
    Und da rannte Sigrid los, stieß sich vom Boden ab und schoss durch die Luft, auf Ixidia zu.
    „Sigrid, nein!“, schrie Gellert und folgte ihr. Doch wie schon beim letzten Mal war sie zu schnell für ihn. Ixidia erhob sich von seinem Hocker, ohne Hast, die Ruhe selbst. Er hatte sie schon längst bemerkt und fürchtete sie offensichtlich nicht.
    Als Sigrid nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, krabbelte Shaggai über die Brüstung und stellte sich ihr mit klackenden Zangen in den Weg. Gellert war zu weit weg, um sich noch rechtzeitig zwischen sie zu werfen. Shaggai kreischte insektenhaft und schlug mit seinen scharf gezackten Beinen zu. Sigrid wurde unsichtbar und das Bein bohrte sich krachend in den Wehrgang. Sigrid tauchte direkt hinter Ixidia wieder auf und warf sich schreiend auf ihn. Ixidia presste sich die Hände auf die Ohren und wurde von Sigrid zu Boden gerissen. Selbst Shaggai schien ihr Schrei Schmerzen zu bereiten. Gellert ließ den Körper des Regenbogentitanen aus sich hervor brechen. Der Schrei seiner Schwester setzte ihm nicht halb so viel zu wie der des Erzdämonen. Er schlug Shaggai von der Mauer. Kreischend verschwand die Tochter des Schläfers in den Fluten des aufgewühlten Meeres.
    Plötzlich flogen die Dämonen nicht mehr so ziellos wie Möwen über den Himmel. Sie stürzten sich nun alle auf Burg Götterfall. Es würde nicht lange dauern, bis er einer ähnlichen Flut gegenüber stand wie am Hort der Amethystdrachen. Er fühlte nach Innos Kräften in seinem Körper und bündelte sie.
    „Sigrid, sei still!“, rief er und hoffte, dass sie gehorchte.
    Sigrid verstummte sofort und wich von dem nieder geschlagenen Avatar Beliars zurück. Eine kugelförmige Barriere schloss sich um den Abschnitt des Wehrgangs. Die Dämonen bremste ihre Sturzflüge zeternd ab. Sigrid huschte an Gellerts Seite. Er ließ den Titan verschwinden, um ihn notfalls um sie beide zu beschwören.
    Ixidia kam wieder auf die Beine und wischte sich Blut von der Nase. Er besah sich interessiert das Rot an seiner Hand, dann wischte er sie in seinem Umhang ab. „Das kam überraschend. Sie hat sich zurückgehalten und erst ihre wahre Schnelligkeit gezeigt, als sie sich unsichtbar gemacht hatte. So habe ich den Zeitpunkt ihrer Ankunft falsch vorausgesehen und wurde überrumpelt.“ Ixidia zuckte mit den Schultern. „Wie dem auch sei. Was wollt ihr hier? Euch darüber ausheulen, dass ihr verloren habt?“
    „Wir haben noch nicht verloren. Der Kampf beginnt gerade erst von Neuem“, erwiderte Gellert kaltschnäuzig.
    „Beliar selbst ist auf dem Weg hierher. Du hast ihm das Tor in das verheißene Land geöffnet. So einen Verrat an deinem eigenen Vater hatte ich dir gar nicht zugetraut.“ Er bedachte Sigrid mit einem interessierten Blick. „Du hast ihren Zombie ihrem früheren Aussehen angepasst? Erstaunlich gut gelungen, aber du musst zugeben, dass es doch von Verletzlichkeit zeugt, sich an alte Zeiten zu klammern.“
    „Du willst doch nur Zeit schinden“, entgegnete Gellert. Immer mehr Dämonen schwirrten um die Barriere wie Motten um ein Licht. „Ich weiß auch, dass Shaggai noch nicht besiegt ist. Und wenn er zurückt ist, wird er mit seinem Schrei die Kuppel zum Einsturz bringen. Also machen wir es kurz: Wo ist der Zeitreisehelm?“
    Ein wissendes Lächeln verzog die Mundwinkel des fremden Mädchens. „Du bist nicht der erste, der ihn an sich bringen möchte.“
    Gellert unterdrückte den Impuls, nachzuhaken. Wer auch immer versucht hatte, den Helm in die Finger zu bekommen, hatte es wohl nicht geschafft.
    „Mit der Zeit zu spielen ist gefährlich, Gellert. Ich habe beschlossen, ihn gut zu verwahren.“
    „In dieser Barriere bist du mir unterlegen und das weißt du. Weder deine vielgerühmten Meteoriten können mich hier erreichen noch dein Dämonenheer. Und im Gegenzug habe ich den Titanen auf meiner Seite.“
    „Es sind nicht meine Dämonen. Verstehst du immer noch nicht? Diese Zeiten sind vorbei. Sie sind nun gleichberechtigte Bewohner der Sphäre, die früher einmal der Morgrad war. Sie müssen sich nicht mehr den Menschen unterwerfen. Und doch kommen sie alle zu mir und beten mich an. Denn ich bin der Avatar ihres Gottes, König der Menschen in Beliars neuer Herrschaft.“
    Gellert beschwor den Titanenkörper. Sigrid behielt er dicht bei sich im Schädel des Lichtgiganten. Er hatte schon befürchtet, dass der Dämonenkönig ihm nach dem Einsturz der Sphäre nicht mehr helfen würde. Seine Hoffnung klammerte sich an das, was Xyz gesagt hatte. Du bist stärker als Ixidia und Shaggai zusammen…
    Er musste seiner Forderung Nachdruck verleihen. Er griff mit der gesunden Lichthand nach Ixidia. Er würde Stück für Stück immer fester zudrücken, bis Ixidia ihm sagte, was er wissen wollte. Doch der Avatar starrte ihn nur unbeeindruckt an. Und die Hand stoppte wenige Zentimeter vor ihrem Ziel. Gellert spürte, wie der Titan gegen etwas presste, das er nicht sehen konnte.
    „Ich habe dir bisher nur meine Fähigkeiten in der Anziehung gezeigt. Dir sollte aber klar sein, dass Abstoßung nur eine andere Anwendungsform von Telekinese ist. Wenn ich es nicht möchte, kannst du mich nicht einmal berühren.“
    Gellert versuchte mit aller Kraft, die Finger um den zierlichen Frauenkörper zu schließen, doch es ging einfach nicht. Ein Teil von ihm wurde von Ehrfurcht ergriffen, als ihm klar wurde, dass Ixidias Telekinese stärker war als ein Titan. Die blutverschmierte Nase Ixidias erinnerte ihn daran, dass sie ihn schon einmal verwundet hatten. Damals allerdings nur unter Einsatz des Schreis. Ihn noch einmal einzusetzen hieß auch, sich der Dämonenarmee zu stellen. Gerade schob sich ein schuppiger Körper über den letzten Fleck Himmel. Ohne den Titan wäre es in der Barriere kaum heller als in einer Halbmondnacht gewesen. Er wusste aus Erfahrung, dass Barrieren keine guten Lichtquellen abgaben.
    „Du langweilst mich!“, rief Ixidia in einem Anflug von Zorn. Und plötzlich spürte Gellert, wie die Faust zurückgeschlagen wurde. Die Abstoßung war unüberwindbar. Er stemmte sich mit dem ganzen Körper dagegen, aber die Füße aus Licht zogen nur tiefe Kratzer in den Wehrgang, bei dem kläglichen Versuch, sich zu halten. Er krachte gegen die Barriere. Hilflos musste er zusehen, wie der Regenbogentitan zwischen Kuppel und Telekinese eingequetscht wurde. Er besann sich auf seine eigenen Fähigkeiten.
    Gellerts Eiszauber verwandelte die ganze Barriere in einen einzigen Eisblock. Nur das Innere des Titanen blieb frei. Es war schwer, die Silhouette des Beliaravatars durch das dicke Eis auszumachen. Doch schon im nächsten Augenblick brach das Eis krachend. Die Telekinese zerdrückte es mühelos. Das Eis bröckelte in die Tiefe und schlug irgendwo in den Höfen der Burg auf. Der Wehrgang hatte nachgegeben. Der Flur des obersten Stockwerks lag offen.
    „Ich dachte, ich könnte mir noch ein wenig Unterhaltung gönnen, bevor ich mich auf dem ewigen Thron niederlasse und die damit verbundenen Annehmlichkeiten genieße. Aber du bist ein Nichts, für einen Avatar eine Beleidigung. Beschwörst eine Barriere, als solltest du nicht genau wissen, dass das gegen mich nichts bringt.“ Ixidia ließ ein verächtliches Schnauben hören.
    Und dann zuckte Gellert zusammen, weil seine Stimme direkt in seinem Kopf war. „Du hast doch schon am eigenen Leib erfahren, wie wirkungsvoll das Zusammenspiel von Shaggai und dem Ring der Telepathie ist.“ Wie oft hatte er den darauf folgenden Schrei in den letzten Tagen schon gehört? Wie oft hatte er ihn schon all seiner Sinne beraubt? Er hatte immer noch kein Gegenmittel gefunden. Und sich trotzdem in den Kampf gestürzt. Über ihm zerbrach die Barriere in viele kleine Glitzereien. Er spürte wie Sigrid ihn an den Schultern packte und schüttelte, vermutlich rief sie immer wieder besorgt „Brudi, Brudi“. Hören tat er es nicht. Er hörte nur eines. Und der Titan wurde von Abertausenden Dämonen unter sich begraben.

    Sie flohen vor dem schlohweißen Lohefeuer, das der König ihnen nachsandte. Sie waren zu schnell für ihn. Sein Atem versiegte abermals, ehe er auch nur eine ihrer Schuppen geschmolzen hatte. Wieder stürzten sie sich auf ihn, schlugen mit ihren Krallen nach seinem Amethystpanzer. Spuckten ätzenden Qualm nach ihm. Doch die Schuppen hielten jedem Angriff stand. Der Kampf konnte ewig so weiter gehen, ohne dass einer von ihnen nachgab. Müdigkeit war auch für den Drachen ein Fremdwort.
    „Wir schaffen es einfach nicht, ihn zu verletzen!“, ärgerte sich Hogs.
    Xyz hörte Hogs Gedanken wie seine eigenen. Als hätte ein Unterbewusstsein ihm eine Eingebung hinterlassen. Er war es nicht gewohnt, die Persönlichkeiten der Dämonen zu erhalten, die er in sich einverleibte. Dieses Mal teilte er sich den neuen Körper. Jeder von ihnen hatte Augen, Arme, Beine und Flügel, die er nach seinem eigenen Gutdünken lenken konnte. Nur beim Fliegen hinderte diese Teilung. Im Angriff machte es sie unberechenbar wie nie zuvor.
    „Der Amethyst ist wirklich unfassbar hart“, stimmte Xyz in Gedanken zu. „Xardas hat damals große Mühen auf sich genommen, den Regenbogentitan hierher zu bringen. Wahrscheinlich hat er geahnt, wie unverwundbar der König ist. Der Titan hat die schwächeren Amethystdrachen mühelos zerquetscht.“
    Wieder spuckte der Drache Feuer. Sie wichen ihm aus, knapper als beim letzten Mal. Wenn man es genauer betrachtete, konnten sie bei einem endlos andauernden Kampf nur verlieren. Sie waren robust, aber verwundbar. Ganz im Gegensatz zu ihrem Gegner. Irgendwann, und wenn es auch erst nach Jahren sein mochte, würde der Moment kommen, an dem sie nicht rechtzeitig auswichen.
    „Wir müssen angreifen, es gibt keinen Grund zu zögern! Wir müssen ihn erledigen, bevor er uns erwischt!“, drängte Hogs, ganz das Heißblut, das er seit seiner Metamorphose war.
    Der Gedanke an die Metamorphose weckte Erinnerungen an jene Schlacht. Das Bild eines entzwei gebissenen Mädchens erschien vor seinem inneren Auge. Und der drachenblutüberströmte Körper, den sie kurz vor dem Einsturz der Sphäre entdeckt hatten. Selbst das kleine Mädchen hatte einen Drachen getötet. Die Lösung fiel ihm wie Schuppen von den Augen. „Wir müssen ihn von innen heraus zerstören“, begriff Xyz. „Von innen war es selbst Sigrid möglich ihren Mörder zu töten und sich durch die Bauchdecke nach außen durchzuschlagen.“
    Hogs johlte auf. „Das klingt endlich mal nach einem Plan!“
    „Einem selbstmörderischen Plan. Wir wissen nicht, ob wir die Magensäure des Königs überleben können.“
    „Wenn nicht wir, wer dann? Selbst Sigrid hat es geschafft.“
    Sigrid. Das unnormalste Wesen des Morgrads. Kein guter Vergleich. Aber Xyz behielt diesen Gedanken für sich. Hogs hatte ja recht, sie mussten das Risiko eingehen. „Wir müssen abwarten, bis er wieder Feuer gespuckt hat. Danach braucht er eine kurze Zeit, um den nächsten Feuerschwall vorzubereiten. Bevor es soweit ist, müssen wir an den Drüsen vorbei und im Magen sein. Sonst sehe ich schwarz für uns.“
    „Der Hals von dem Vieh ist zwar riesig, aber klein sind wir auch nicht. Hoffentlich passen wir überhaupt durch.“
    Das waren die letzten Gedanken, die sie bezüglich ihres Plans austauschten. Von nun an konzentrierten sie sich nur noch auf den Drachen, jede Bewegung des kristallbedeckten Urtiers. Sie spürten ihre Konzentration gegenseitig wie ein elektrisches Feld. Eine Spannung, die mit jedem Sinn spürbar war.
    Der Drache spie sein Feuer. Ein sengend heißer Streifen Weiß, der die chaotische Welt entzweite. Der Dämon nahm mit all seinen Flügeln Schwung, landete krachend auf der Felseninsel, die noch Widerstand gegen die Auflösung leistete. Er stieß sich ab und donnerte auf den Drachen zu. Der Kopf wirbelte zu ihnen herum. Das zerstörte Gebiss richtete sich auf sie. Im Zickzack wichen sie dem Lohefeuer aus. Als sie den Drachen fast erreicht hatten, verebbte der Flammenstrom. Keiner von ihnen zögerte.
    Ungebremst tauchten sie unter den riesigen Zähnen hindurch in das Maul. Die riesige Zunge schlug sie gegen den Gaumen. Mit einem halben Dutzend Schwertern schnetztelten sie sich an dem riesigen Muskel vorbei. Der König brüllte und in seinem Rachen hallte es ohrenbetäubend von überall her.
    Jede Faser ihres Körpers brannte. „Der Speichel zersetzt uns!“, rief Hogs.
    „Jetzt gibt es kein Zurück mehr!“, knurrte Xyz, obwohl die Schmerzen ihn in den Wahnsinn trieben.
    Sie stürzten sich in den gigantischen Hals des Drachen. Ihre vielen Augenpaare fanden auch den kleinsten Lichtschimmer. Der Stumpf der Zunge schlackerte wild um sich und verspritzte das magische Drachenblut.
    Xyz packte mit all seinen Händen das längste seiner Schwerter und rammte es tief in das rosige Fleisch der Speiseröhre. Mit einem Schrei, der gleichermaßen aus Adrenalin und Schmerz geboren war, flog er den nicht enden wollenden Tunnel hinab und schlitzte den Hals des Drachen auf. Hogs spuckte seinen ätzenden Rauch. Jetzt würden sie ja sehen, wer wen zersetzte. Die Dunkelheit war nun vollkommen und selbst ihre Augen ließen sie im Stich. Von überall her besudelte sie das Blut.
    Ein Platschen. Dann wurde der Schmerz unerträglich. Sie waren in der Magensäure aufgeschlagen. Das Blut, das den Vermutungen nach Sigrids Leben gerettet hatte, tropfte von der Decke.
    Hogs schloss seine Augen. Nun konnten sie nur noch hoffen, dass sie dasselbe Glück hatten wie Sigrid. Das Gefühl in seinem Körper erstarb. Der Schmerz wich einer wohlwollenden Gefühlslosigkeit. „Selbst wenn dies mein Ende sein sollte“, dachte Hogs, „So war ich wenigstens kein Schwächling.“
    Xyz hörte die Gedanken seiner anderen Hälfte und wollte verächtlich lachen. Doch seine Muskeln waren ebenso gelähmt wie die Hogs. Licht brach durch die Finsternis. Hatte der Qualm es geschafft und ein Loch in den Hals geschmolzen? Er hatte versucht mit seinen Schwertern eine Sollbruchstelle zu schaffen, war sich aber nicht sicher gewesen, ob es funktionierte. Durch die trübe Magensäure konnte er nichts erkennen. Aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass ihm die Sinne schwanden. „Gellert… Wir können dir nicht mehr helfen. Aber du bist nicht allein. Und stärker als du denkst. Du wirst ein guter Adanos sein.“

    Gellert spürte einen Stich in der Brust, den er sich nicht erklären konnte. Griff der anhaltende Schrei jetzt schon seine Organe an? Sigrid schrie ebenfalls, um die Dämonen fern zu halten.
    Plötzlich wurde es still. Gellert merkte erst jetzt, dass er in Schweiß gebadet war und keuchend nach Luft schnappte. Die Erleichterung übermannte ihn. In diesem Moment fühlte er nichts anderes als das Glück darüber, dass die Schreie endlich seinen Kopf verlassen hatten.
    „Du Miststück!“, schrie Ixidia erbost. Gellert wurde brutal in die Realität zurückgeholt, als Sigrid aufschrie. Wie hatte er nur vergessen können, sie zu beschützen!
    Sie kauerte wenige Meter vor ihm auf dem Boden und presste sich irgendetwas an die schmale Kinderbrust. Ixidia stand über ihr und trat auf sie ein. „Gib ihn mir zurück, verdammt noch mal!“ Der nächste Tritt schleuderte sie herum. Gellert sah in ihrer Hand den Ring der Telepathie glitzern.
    „Gut so, Sigrid!“, rief er und die Gestalt des Regenbogentitanen brach aus ihm hervor. Er wollte Ixidia von ihr wegschlagen, wurde jedoch abermals von seiner Telekinese aufgehalten. Er ahnte was kam, versuchte verzweifelt nach seiner Schwester zu greifen. Der Ring schien sich ganz von selbst ihren Händen entwinden zu wollen. Ixidias Telekinesezauber zog an ihm wie ein unsichtbarer Riese. Doch Sigrid verschluckte den Ring einfach.
    Ixidia erstarrte fassungslos. Gellert nutzte den Moment und packte Sigrid mit den Titanenhänden. Dann schlug Ixidia erbarmungslos zu. Der Regenbogentitan wurde zur Seite geschleudert, durchbrach einen der kleineren Türme und schlug schlussendlich in einem Gebäudeflügel am anderen Ende der Burg ein. Gellert rappelte sich in dem leuchtenden Schädel auf. Ihm war nichts zugestoßen und er sah erleichtert, dass auch Sigrid sich in der hohlen Hand des Titanen regte. Doch in dem Flur hinter ihr konnte er eine blutverschmierte Gestalt erkennen.
    Hastig warf er einen Blick zurück. Ixidias Dämonenschwarm flatterte immer noch über dem weit entfernten Teil von Götterfall, an dem bis eben noch der Kampf getobt hatte. Sie hofften wohl, dass er sofort zu ihnen zurückkehrte.
    Er löste die Lichtgestalt auf. Sigrid landet ein wenig unsanft auf dem schuttbedeckten Korridor. Gellert schwebte zu der blutüberströmten Gestalt am Boden. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. „Mutter!“ Lyrcas Lider flatterten beim Klang seiner Stimme. Von Sigrid kam ein erstickter Laut.
    „Du hast mich noch nie so genannt, Junge“, krächzte sie trocken. Die Schicksalshexe war am ganzen Körper durchlöchert. „Es war hoffnungslos. Die Dämonen… sie haben mich verfolgt… Als ich hier ankam…“ Sie hustete krampfhaft. Blut spritzte über ihre zerstörte Brust. „…waren so viele hinter mir her… er wusste sofort, dass ich gekommen war. Der Fluch der Schicksalsgöttin… Er hat nichts gebracht. Du musst es an meiner Stelle tun, Gellert…“ Die Worte kamen immer gequälter. Ihre Augen fanden ihn nicht, sahen an ihm vorbei, hinauf zu dem farbenfrohen Himmel.
    „Mach dir keine Sorgen“, sagte Gellert. Ihn überkam nicht mehr die Verzweiflung, wie noch bei Sigrid. Es tat nicht so weh wie bei Xyz. Er hatte keine Hoffnung mehr, etwas zu ändern, wie bei Vater. Ihre Torso war so zerfetzt, dass er sie unmöglich retten konnte. Selbst wenn er Zeit gehabt hätte. Die Seite mit den Nieren war komplett ausgehöhlt. Er konnte keine Organe ersetzen. Vielleicht eines Tages, wenn er die Mischung aus Drachenblut und Magensäure erforscht hatte, die Sigrids Körper regeneriert hatte. Aber nicht jetzt. Seine Mutter würde sterben. Und er fühlte zum ersten Mal nichts. „Ich weiß, was zu tun ist. Vaters Geist hat mir den Weg gewiesen.“
    Die weiße Haut seiner Mutter straffte sich noch gequälter über ihre hervorstehenden Wangenknochen. „Er ist nicht…“
    „Ich weiß, Mutter. Er wird trotzdem immer mein Vater sein.“ Er schloss kurz die Augen, wappnete sich für das, was es zu tun galt. „Sigrid? Ich brauche den weißen Trank mit den Blasen aus meinem Alchemietisch, ja? Den, den ich dir zuletzt zu trinken gegeben habe, erinnerst du dich?“
    Sigrid sah ein wenig verstört von ihrer Mutter zu ihm, nickte aber.
    „Mach dich bitte unsichtbar, damit dich niemand findet. Wir treffen uns bei Ixidia, ja?“
    Sigrid nickte wiederum, diesmal energischer. „Hap dich liep, Mama“, sagte sie mit Tränen in den Augen, dann wandte sie sich ab und verschwand.
    Tränen glitzerten in Lyrcas Augen.
    „Weißt du, wo der Zeitreisehelm ist?“
    „Nein… Ich wollte ihn…“
    „Du brauchst nichts mehr zu sagen. Du weißt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, oder?“
    Sie schlug die Augen nieder. „Es tut weh…“
    „Ich werde es beenden.“
    Ihr Gesicht entspannte sich. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber ihr Blick schien ihm voll Dankbarkeit. „Rette die Welt, Gellert. Wie dein leiblicher Vater. Und… erlöse mich.“
    Es war kein schönes Gefühl. Er träufelte ihr ein Gift ein, das er eigentlich für die Wasserquelle der Amethystdrachen eingesteckt hatte. Die kleine Phiole aus Kristallglas hatte selbst den Meteorit überstanden. Das Gift war unverdünnt und eigentlich dazu gedacht, viel mächtigere Wesen zu töten. Seine Mutter wurde sofort steif, als er es ihr in den Mund träufelte. Seine Hand zitterte. Er ließ das Fläschchen einfach fallen. Ganz würde der Schmerz über einen Verlust wohl nie verschwinden, überlegte er dumpf. Doch jedes Mal, wenn seine Seele zerrissen wurde, schien sie stärker zusammenzuwachsen. Oder erholten sich Gefühle einfach nicht von solch einem Schlag? Verschwand jedes Mal ein Bruchteil seiner Emotionen und kehrte nie zurück? Er wusste es nicht. Unwillkürlich fragte er sich, ob sein Vater sich Gedanken dazu gemacht hatte. Vielleicht hatte die Antwort in einem der Archive gelegen, die Ixidia zerstört hatte. Er war nur froh, dass Sigrid nicht dabei gewesen war. Für sie war es das erste Mal. Wenn man ihren eigenen Tod nicht miteinschloss.
    Er wischte sich über die Augen und verbannte die Gedanken in einen gut verriegelten Teil seines Kopfes. Er durfte sich jetzt nicht seinem Schwermut hingeben. Er würde Ixidia jetzt für alles bezahlen lassen!
    Der Lichttitan brach aus ihm hervor und riss einen weiteren Teil des Korridors ein. Die verklumpte Hand trieb neue Finger. Er erhob sich in die Luft. Schwebte über das zerstörte Götterfall und hoffte, dass Sigrid ihrer Aufgabe gewachsen war. Kaum dass er über den Dächern erschienen war, stürzten sich Dämonen auf ihn. Er zerquetschte sie mit einem Hagel aus Lichtfäusten. Hunderte von ihnen starben, bevor sie einsahen, dass sie keine Chance hatten. Sie hielten nun Abstand und umkreisten ihn wie ein Asteroidengürtel.
    Ixidia erwartete ihn süffisant grinsend. „Na, hast du dem Groll auf deine Mutter Luft gemacht?“
    „Halt einfach die Klappe, du Monster!“, antwortete Gellert. Ixidia hatte ihn mit Absicht in diese Richtung geschleudert. Er holte mit der Lichtfaust aus. Ixidia beschwor ein Schwert aus dem Nichts. Eine schlanke schwarze Klinge, ungewöhnlich lang. Gellert spürte nichts, als das Schwert durch den Arm des Titanen schnitt, aber die linke Hand fiel zu Boden. Schaudernd öffnete und schloss Gellert die Finger aus Licht, die nicht mehr mit seinem Körper verbunden waren. Spalten, ohne zu trennen. Er spürte nun am eigenen Leib, was sein Vater gemeint hatte. Nicht einmal der substanzlose Spiritualkörper des Regenbogentitanen war gegen den uralten Zauber immun.
    „Du solltest dich nicht so leicht ablenken lassen, du Papasöhnchen!“ Gellert schrak heftig zusammen, als Ixidia auch den zweiten Arm abhackte. Rasch sprang er einen Satz zurück, um aus der Reichweite der Klinge zu kommen. Wie auf ein Kommando stürzten sich die Dämonen auf ihn. Er beschwor eine Gewitterwolke und ließ Blitze auf sie niederprasseln. Es kostete ihn einiges an Kraft, das Gewitter aufrecht zu erhalten, aber eine andere Möglichkeit blieb ihm kaum noch.
    Sigrid materialisierte sich neben ihm. „Brudi!“ Sie hielt ein verkorktes Reagenzglas in die Höhe. Rasch löste Gellert die Lichtgestalt auf. Er warf nur einen kurzen Blick auf die weiße, blubbernde Flüssigkeit, da stürzte er sie auch schon herunter. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
    Ixidia schritt gemessenen Schrittes auf ihn zu, die blanke Klinge in seiner Rechten. Gellert nahm Innos‘ Macht und formte einen Telekinesezauber. Mit einem Ruck flog das legendäre Schwert aus Ixidias Hand. Der Beliaravatar starrte erschrocken auf seine leere Rechte. Dann reckte er selbst seinen Arm nach dem Schwert, doch seine Telekinese schlug fehl. Es landete folgsam in Gellerts Hand.
    „Was war das? Wieso hat meine Telekinese versagt?“, tobte Ixidia. Ein Meteorit donnerte vom Himmel herab. Die Dämonen stoben auseinander. Gellert schloss den Titanenschädel um sich und Sigrid. Der brennende Himmelskörper bohrte sich tief in die Burg und schob den leuchtenden Kopf vor sich her. Gellert benutzte die Teleportrune. Er erschien mit Sigrid auf dem schwelenden Meteorit, Ixidia direkt gegenüber. Wieder streckte Beliars Avatar seine Hand nach dem Schwert aus, doch Gellert spürte nicht einmal das kleinste Ziehen an dem Schwert.
    „Wieso kann ich immer noch Meteoriten aus dem Weltraum anziehen, aber nicht dieses Schwert?!“ Ixidia wurde wahnsinnig über seine Unverständnis.
    Gellert genoss es, ihm endlich einen Teil heimzuzahlen. Ihn zu quälen, wie Ixidia seine Familie gequält hatte. „Der Trank, den ich eben getrunken habe, wurde von mir selbst entwickelt. Für ein paar Stunden, werden jegliche Telekinesezauber von mir abgleiten. Und auch von dem Schwert, solange ich es halte.“
    „Sowas geht doch gar nicht!“, knirschte Ixidia.
    Eine besonders hohe Welle des Schicksalsmeers klatschte an den Meteorit. Sie spülte Shaggai auf den Stein. Die Tochter des Schläfers riss den Mund zu ihrem vernichtenden Schrei auf, da hatte Gellert schon das Wort der Herrschaft gesprochen.
    Gellert fühlte die Kraft des Erzdämonen heiß durch seinen Kopf rasen, ließ den Geist aber nicht frei. Wenn Shaggai jetzt seinen Schrei einsetzte, war alles aus. Noch einmal würde Ixidia sich das Schwert nicht so leicht abknüpfen lassen.
    Ixidia flog auf ihn zu, wollte sich das Schwert mit körperlicher Gewalt zurückholen. Gellert hoffte, dass es reichte und fror Shaggai in einen riesigen Eisblock. Dann löste er das Wort, schnappte sich Sigrid und bildete wie schon so oft den Kopf des Lichttitanen. Gerade noch rechtzeitig. Ixidias prallte gegen den Schädel.
    Gellert ließ ihn hinter sich und flog zu Shaggai. Behutsam setzte er auf dem Eis auf. Erste Risse durchzogen das kalte Gefängnis. Er hatte geahnt, dass Shaggai auf diesem Weg nicht lange zu bändigen war. Blitze zuckten über den Himmel, Wellen schlugen turmhoch gegen die Wehrmauer. Gellert löste den Lichtschädel auf, spürte wie das Schwert die Macht Innos‘ verlangte.
    Jedes Artefakt war für einen der Götter geschaffen worden. Und dieses hier offensichtlich für Innos. Licht brach aus dem Schwert, als er Innos‘ Macht freien Lauf ließ, und verlängerte die Klinge um das Fünffache. Er schwang das Schwert über seinen Kopf und hackte den Eisblock mitsamt Shaggai entzwei. Zwischen all den Trümmern fand er den Kopf des Erzdämonen und schlug noch einmal zu. Ixidia war dicht hinter ihm, rechnete aber nicht mit dem Eiszauber, den er ihm entgegen warf. Ixidia war es nicht gewohnt in der Klemme zu stecken und reagierte, wie Gellert es eins getan hatte. Kopflos und unüberlegt.
    Gellert flog zwischen die beiden Hälften von Shaggais Kopf. Das Innere pulsierte unangenehm in verschiedenen Purpurtönen. Gellert beschwor zwei Eislanzen und bohrte sie in das ungeschützte Innere des Kopfes. Der schrille Schrei war der letzte, den diese Ausgeburt des Schläfers je von sich geben sollte.
    Ixidia tobte. Feuer, Blitz und Eis brachen aus ihm heraus. Gellert konterte ihm mit denselben Zaubern.
    Dann packte ein Dämonenlord Gellert im Genick und schleuderte ihn fort. Das Schwert glitt ihm aus der Hand. In Panik versuchte Gellert nach ihm zu greifen, doch Ixidia schleuderte erneut einen Meteorit nach ihm. Gellert setzte noch einmal die Teleportrune ein, hatte keine Zeit sich noch einmal ins Erdreich graben zu lassen. Als er sich wieder materialisierte, wurde ihm klar, dass Ixidia vor ihm bei dem Schwert sein würde.
    Er sah wie Ixidia auf den Turm zu flog, in dessen Dachgebälk es sich verfangen hatte, und wusste nicht, wie er ihn noch aufhalten sollte. Da stieß Sigrid ihren Schrei aus und ließ ihn abstürzen. Gellert presste sich die Hände auf die Ohren, hatte im Gegensatz zu Ixidia aber festen Boden unter den Füßen. Der Avatar Beliars verschwand in einem der Innenhöfe. Gellert sprang auf das Schwert zu, sobald der Schrei verebbt war, einen Eiszauber im Anschlag, um Ixidia aus dem Weg zu räumen. Doch das Schwert steckte nicht mehr in dem Dachgebälk.
    „Wo hast du es!“ Ixidia schloss zu ihm auf, schwebte in wenigen Metern Abstand, und sah sich suchend um. Gellert war jedoch genauso ratlos. Sigrid stand ebenso schwertlos auf einer Zinne der Burgmauer und war auch viel zu weit entfernt von dem fraglichen Dachgebälk.
    Doch eine Gestalt erschien hinter Ixidia, die der Beliaravatar nicht bemerkte. Gellert verstand sofort. Sie war ihnen also gefolgt, obwohl sie sie zurückgelassen hatten.
    Zombie-Sigrid schlug Ixidia in zwei Hälften. Mit starrem Blick sah sie zu, wie die untere Hälfte Ixidias, die ihr selbst fehlte, zu Boden fiel. Die obere Hälfte wandte sich um. Ixidias Augen weiteten sich erschrocken, als er seine Mörderin erblickte. Zombie-Sigrid schlug noch einmal zu, dieses Mal knapp unterhalb der Brust. Ohne einen Spritzer Blut folgten Arme und Rumpf den Beinen. Ixidia war noch immer sprachlos.
    „Es reicht, Sigrid!“ Gellert holte die lebende Büste Ixidias per Telekinese zu sich und landete mit ihr auf dem Wehrgang. Sigrid und Zombie-Sigrid kamen zu ihm und er schloss den Schädel aus Licht um sie. Die Dämonen waren in Aufruhr geraten.
    „So, Ixidia. Hier drin sind wir sowohl vor deinen Schergen als auch vor deinen anderen Körperteilen sicher. Und wir haben das Schwert, so leicht knackt den Schädel also keiner.“
    „Beliar ist unterwegs“, haspelte Ixidia aufgeregt. „Er wird mich heilen, bevor mein Tod einsetzt.“
    Draußen tobte das Wetter. Der bunte Streif am Himmel wurde immer breiter. Im Norden begann sich die äußere Mauer von Burg Götterfall aufzulösen, wie es der Hort der Amethystdrachen schon vor annähernd einer Stunde getan hatte.
    „Beliar wird dich auch nicht mehr retten können, wenn ich dir jetzt den Kopf zerquetsche.“
    „Ich war schon einmal ein Geist. Und ich bin wiedergekommen.“
    „Du bist jetzt ein Geist, genau. In dem Körper einer anderen. Hast du jemals gehört, dass Geister gestorben und als Geister wiedergekehrt sind? Es gibt ein zweites Leben. Aber kein drittes.“
    Ixidia lachte auf. „Das hoffst du, aber das weißt du nicht.“
    „Brudi“, Sigrid zupfte an seinem Ärmel.
    „Gleich, Sigrid. Wo ist der Zeitreisehelm, Ixidia?“
    „Das verrate ich dir doch nicht, du Hänfling!“
    „Brudi!“
    „Was?“ Er wandte sich seiner Schwester zu. Sie hielt ihm eine Rune hin. Er starrte auf das Symbol. Er hatte es noch nie zuvor gesehen. „Woher hast du das?“
    Sie zeigte ihm eine Brusttasche in Ixidias Gewand, direkt über dem Schnitt.
    Gellert grinste triumphierend. Das Piktogramm erinnerte ihn wohl nicht umsonst an den Zeitreisehelm. Er glaubte den Zauber zu kennen, den Ixidia benutzt hatte.
    Er aktivierte die Rune und augenblicklich erschien der Zeitreisehelm vor ihm.
    Ixidia fluchte. „Als diese nervige Schicksalshexe aufgetaucht ist, wurde mir klar, wie gefährlich der Helm auch jetzt noch für Beliars Pläne ist. Ich fand auf die Schnelle keinen Weg, ihn zu zerstören, also beschloss ich, ihn zu bewachen, wie damals…“
    „Jetzt wird alles gut. Das hast du toll gemacht, Sigrid!“ Gellert zerstrubbelte ihre Locken. Dann löste er den Schädel auf und schleuderte Ixidia hinaus aufs Schicksalsmeer. Die Dämonen wagten nicht, sie anzugreifen. Sie schienen zu wissen, dass ihr Meister verloren hatte.
    Gellert schloss wieder den Schädel um sie und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, den Helm auf dem Schoß. Seit seiner Odyssee vor drei Jahren hatte er sich viele Gedanken darüber gemacht, wie man den Helm lenken konnte. Er hatte aber nie die Gelegenheit bekommen, seine Erkenntnisse in der Praxis zu erproben. Sigrid und Zombie-Sigrid sahen aufmerksam zu, wie er den Helm in den Händen drehte. Eigentlich war es egal, wenn er in die falsche Zeit reiste. So genommen hatte er unendlich viele Versuche, die richtige Zeit und den richtigen Ort zu treffen.
    Benutze ihn klug.
    Plötzlich wurde ihm klar, was sein Vater hatte sagen wollen. Er sollte gar nicht die Vergangenheit verändern. Sondern die Zukunft. Sein Herz schlug schneller. Wenn er in der Vergangenheit herumpfuschte, konnte das ungeahnte Folgen haben. Wenn er sich selbst daran hinderte, die Sphäre einzureißen, würde er gar nicht in die Vergangenheit reisen, um sich aufzuhalten. Außer er brachte sich selbst dazu, es trotzdem zu tun. Aber ob das gelingen konnte? Spaltete er nicht die Zeitlinie in zwei verschiedene Zeiten, wenn er überhaupt in die schon geschehene Vergangenheit reiste? Nein, er musste den Helm klug einsetzen. Er versank in konzentrierter Stille. Minutenlang lauschte er nur seinen Gedanken, blendete Sigrid, den Zombie, den leuchtenden Schädel, die Dämonen und auch die zersplitternde Welt aus. Und schließlich war ihm klar, was er zu tun hatte.
    „Brudi?“ Sigrid sah besorgt drein. „Brudi soll heil machen!“
    „Ich bringe alles wieder ins Lot. Aber dafür muss ich jetzt erstmal nur herumsitzen und warten.“
    Sigrid sah ihn verständnislos an.
    „Im Moment reicht es, dass ich beschlossen habe, in zwei Stunden in die Vergangenheit zu reisen. Und zwar genau zwei Stunden in die Vergangenheit.“
    Mit einem Plopp tauchte neben ihrem Schädel ein Mann auf. Doch ehe sie den Mann erkannt hatten, erschuf er ebenfalls einen Lichttitanenschädel um sich herum. Gellert ließ seinen Blick fasziniert über Götterfall wandern. Es funktionierte. Überall erschienen Menschen und beschworen den Schutz des Regenbogentitanen. Und jeder von ihnen war er selbst. Nur jeweils zwei Stunden älter. Das Licht pflasterte die Burg plötzlich vollkommen zu. Lichtschädel drängte sich neben Lichtschädel. Alle hatten sie denselben Zeitpunkt in der Vergangenheit gewählt. Kein Wunder, schließlich waren sie alle derselbe Mensch.
    Es war paradox und doch relativ ungefährlich. Das Erscheinen seiner selbst hatte er erwartet. Weder er noch Sigrid würde sich darum anders verhalten. Er hatte schon in der Gegenwart beschlossen, genau diesen Zeitpunkt zu verändern. So wie es jeder Mensch jeden Tag tat. Und indem jede seiner Identitäten wieder zwei Stunden wartete und zwei Stunden zurück reiste, verunendlichfachte er sich für eben diese zwei Stunden. Und immer noch erschienen neue Schädel, die sich auf den alten stapelten.
    Neben ihm erschien ein Mann, der alt und gebeugt war. Und auch er erschuf einen Titanenschädel. Gellert schluckte. Doch das war nun mal der Preis.
    „Ich muss dich jetzt kurz verlassen, Sigrid.“ Entsetzt riss sie die Augen auf. Sogar Zombie-Sigrid schien verunsichert. „Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich komme wieder. Garantiert. Wenn ich in zwei Stunden nicht mehr leben würde, wäre keiner von ihnen hier, weißt du?“ Sie schien einigermaßen beruhigt, beobachtete ihn aber immer noch skeptisch, als er den Lichtschädel auflöste. „Wenn ich den Morgrad gerettet habe, zeige ich dir, wo ich deine Murmeln vor Papa versteckt habe, ja?“ Sie schenkte ihm ein verzagtes Lächeln. Es tat ihm weh, ihr Sorgen zu bereiten.
    Gellert bildete wieder den Schädel aus Licht. Dann erhob er sich in die Luft und alle anderen Lichtkugeln folgten ihm. Sie ordneten sich zu einem Kreis an, der unendlich groß wurde, weil sie unendlich viele waren.
    Es war das mächtigste magische Ritual, das es jemals gegeben hatte. Obwohl nur ein Magier teilnahm. Sie erschufen eine neue Barriere, stärker als die zuvor. Sie fegte alle Dämonen aus dem Land, verbannte die Geister und das Chaos. Die Bruchstücke des Morgrads fügten sie wieder zusammen. Sie schufen die Ordnung ihres Vaters neu. Und schon bald sah die Welt wieder so aus, wie die, in der sie aufgewachsen waren.

    Als er neben Sigrid auf dem zerstörten Wehrgang der Burg Götterfall landete, war er unendlich alt. Seine weißen Augen verschwanden hinter buschigen Augenbrauen, seine Nase war groß und krumm, die Wangen hingen ihm von den Knochen und schlackerten, wenn er den Kopf bewegte. Seine Kleider hatten sich endgültig in ihre Einzelteile aufgelöst und waren ihm irgendwann vom Körper gefallen. Für ihn waren diese zwei Stunden unendlich lang gewesen. Und er spürte die Erschöpfung in den Knochen. Aber auch den Stolz, dass er das Lebenswerk seines Vaters gerettet hatte.
    Sigrid stockte nicht einmal, als sie ihn sah. Sie schloss ihn sofort in die Arme und freute sich, dass er wieder zuhause war. Nun war Burg Götterfall also tatsächlich seins. Doch er verband nicht die Freude damit, die er erwartet hatte. Dass die Burg nun ihm gehörte, zeigte nur, wie viel er verloren hatte. Seinen Vater, seine Mutter. Er meinte inzwischen zu wissen, woher der Stich in seiner Brust gerührt hatte. Und so viel Zeit.
    Auf seinen Schultern lastete die Bürde, die er zu stemmen bereit gewesen war. „Sigrid… Ich werde Hilfe brauchen, um diese Welt zu beschützen.“ Sie sah mit großen unschuldigen Augen zu ihm auf und es schmerzte ihn, dass er sie fragen musste. „Würdest du für mich den Zirkel der Schicksalshexen anführen?“ Mindestens eine von ihnen war verstorben. Diese Lücke konnte nicht besser gefüllt werden als durch Sigrid. Denn sie störte sich nicht an Falten und Nacktheit. Sie sah mit dem Herzen.
    „Jawollja“, rief sie und freute sich.
    Hätte er doch eher begriffen, wie reif sie in ihrem jungen Alter schon war. Es schien zwangsläufig, dass mit dem Alter auch die Reue kam. Letztendlich war er für Ixidia nur das Ablenkungsmanöver gewesen. Sie hatte ihn bezwungen.
    In der unendlich langen Zeit, die er auf den Start des Rituals gewartet hatte, war ihm auch klar geworden, was Lyrca gemeint hatte. Wie dein leiblicher Vater…
    Ja, er hatte die Welt gerettet. Genau wie sein leiblicher Vater.
    Und die Sonne schien über den Mauern von Götterfall, weil er es so schöner fand.

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