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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Rotes Wachs

    Rotes Wachs




    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)

    Person A: Marcus
    Person B: Balduin
    Person C: Katharina
    Person D: Rudolph
    Person E: Richter Monsignore Huff

    Ort A: Marcus' Haus
    Ort B: Asservatenkammer im Haus des Richters

    Gegenstand A: Geburtsurkunde Marcus'
    Gegenstand B: Generalschlüssel für so ziemlich alle städtischen Gebäude im Oberen Viertel
    Gegenstand C: Katharinas Dolch mit Skelettschlüssel am Griff

    Entscheidung A: Dafür sorgen, dass Marcus und Balduin ihre Urkunden um jeden Preis zurückbekommen

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    Marcus hatte noch nie zu den Leuten gehört, für die das Kratzen einer Schreibfeder auf Papier Musik in den Ohren war. Er hatte es ohnehin nie ganz begriffen, was die Leute zur Bewertung von Alltagsgeräuschen oder menschlichen Phrasen als Musik in den Ohren trieb. Marcus hatte keine Musik in den Ohren, nie. Aber manchmal, nachts und bei vollkommener Windstille, da hatte er das Rauschen des Meeres in den Ohren. Kein Rauschen, das jemand anderes hätte hören können, nicht einmal so ähnlich oder sonstwie vergleichbar. Es war auch nicht das Rauschen desjenigen Meeres, welches sich direkt vor der Hafenstadt auftat, nur einige wenige hunderte Meter von Marcus’ Haus entfernt. Das Rauschen, das Marcus zuweilen in seinen Ohren hatte, war eines, das von viel weiter weg kam. Unhörbar weit weg für jeden Menschen – außer für Marcus.
    „Ach, meine Augen brennen mir die letzten Tage so, die sind so trocken.“
    „Das hast du schon erzählt, Balduin“, knurrte Marcus, während er in einer eigenartigen Mischung aus Konzentration und Aufgeregtheit beobachtete, wie vor ihm die Schreibfeder über das Papier kratzte und dabei mehr oder minder gleichmäßig die schwarze Tinte verteilte.
    „Aber die sind wirklich so richtig trocken, das nervt vielleicht. Von einem Tag auf den anderen ist das losgegangen. Das ging morgens schon so ein bisschen los, ich dachte mir nichts dabei… und dann ist es einfach nicht mehr weggegangen. Richtig brennen tun die.“
    „Tja…“
    „So, das wäre der Text, die feinste Replik einer Beamtenhandschrift, die ihr je gesehen habt“, sagte Katharina, setzte die Schreibfeder schwungvoll ab und sah sich nach hinten über ihre Schulter um, wo sich ihr Blick mit dem von Marcus traf.
    „Das ist großartig, Rina, danke!“
    „Das Wichtigste kommt ja erst noch“, sagte die junge Frau und rückte den Holzstuhl, auf dem sie saß, so weit zurück, dass sie vom Schreibtisch aufstehen konnte. Marcus machte ihr beinahe ehrfurchtsvoll Platz und fühlte sich ebenfalls ein bisschen von Katharina zurück gerückt. Sie hatte es raus, Menschen auf Distanz zu halten – oder sie notfalls erst auf Distanz zu bringen. Kleine Gesten, Worte, Schritte oder Bewegungen waren es, mit der sie Menschen wie Schachfiguren von sich wegschieben konnte. Manchmal war es auch nur ein gewisser Blick. Marcus glaubte nicht, dass sie das stets absichtlich tat. Andererseits hatte er Katharina auch noch nie darauf angesprochen – was vermutlich an eben dieser natürlichen Distanz lag, die sie ausstrahlte und die sie umgab.
    „Vorher sollten wir uns das Ganze aber noch einmal gemeinsam durchlesen“, sagte sie und beförderte die Schreibfeder ins kleine Tintenfässchen. „Nur um sicherzugehen.“
    „Ich habe keinen Zweifel, dass du das tadellos gemacht hast, Katharina“, meinte Balduin wild blinzelnd und kam ebenfalls zum Schreibtisch herüber. Er hatte sich während Katharinas Schreibarbeit eher im Hintergrund gehalten und sich lieber mit seinen Augen beschäftigt. Marcus war trotzdem irgendwie froh, dass er dabei war. Vermutlich, weil Balduin immer dabei war. Wie Brüder waren sie, sagte man, und zu einem guten Stück stimmte es auch, denn seit frühester Kindheit, nicht lange nach der Geburt, hatten sie sich die selben Eltern geteilt – und taten dies im Grunde auch heute noch. Auch, wenn Marcus längst aus ihrem gemeinsamen Zuhause ausgezogen war. Und trotzdem waren er und Balduin in ihrer freien Zeit häufig gemeinsam zu sehen. Das war in einer Hafenstadt, die so klein war, wie Khorinis, aber auch kaum zu vermeiden.
    „Wenn ich bedenke, bei was für Sachen du alles schon keinen Zweifel hattest, Balduin…“, meinte Katharina milde und hielt ihnen das Papier mit dem fertiggestellten Text zum Lesen hin.
    Es folgte asynchrones Gemurmel und Genicke, der unterschiedlichen Lesegeschwindigkeit geschuldet. Katharina war als erstes fertig, aber sie hatte den Text ja schließlich niedergeschrieben. Balduin kam ein gutes Stück nach Marcus zum Schluss, aber Balduin wiederum musste ja auch die ganze Zeit blinzeln.
    „Einwandfrei“, befand Marcus. „Wirklich, einwandfrei. Du hast mit deinem Talent sogar noch tiefgestapelt, Rina.“ Balduin nickte zustimmend.
    „Wichtiger ist, dass es die im Rathaus beeindruckt“, meinte Katharina ernst. Ernst und distanziert.
    „Besser kann man es wohl eh nicht machen. Du bist dir aber sicher, dass das mit diesem Roland klappt?“
    „Das ist so ziemlich der Teil, der mir am wenigsten Kopfzerbrechen bereitet“, winkte Katharina ab. „Diese khoriner Pfeffersäcke sind doch alle gleich. Zumindest die Überseehändler. Dauerhaft auf Geschäftsreise und dabei eine Affäre nach der nächsten. Dutzende uneheliche Kinder. Wenn man denen was anhängt, trauen die sich ja nicht einmal, was dagegen zu sagen. In der Hinsicht glaubt denen keiner. Da ist es für sie besser, wenn sie einfach still halten. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.“
    Balduin musste kurz auflachen, rettete sich bei dem strengen Blick Marcus’ aber rasch in ein verlegenes Hüsteln.
    „Besonders gefällt mir ja die Formulierung mit dem ’im Angesicht des allsehenden Auges des Herrn Innos’, das bringt so richtig die nötige Feierlichkeit hinein“, bemühte sich Balduin nun, auch etwas Positives zur Sache beizutragen.
    „Das habe ich ja auch eins zu eins übernommen“, zerstreute Katharina das versuchte Kompliment direkt in alle Winde. „Was man von dem Siegel ja leider nicht so sagen kann…“
    Katharina griff sich den kleinen Holzkegel vom Schreibtisch, in dessen flachem, rundem Ende ein filigranes, aber dabei ungeordnet wirkendes, tiefes Muster eingeschnitzt war.
    „Du hast dein Bestes gegeben, Rina“, beteuerte Marcus, während er sich das Muster noch einmal genau besah. Katharina hatte Recht, es hielt einem kritischen Blick nicht wirklich stand. Er hoffte, dass es darauf nicht so sehr ankommen würde und die kritischen Blicke sich in Grenzen hielten.
    „Die große Fälscherkarriere steht mir jedenfalls nicht bevor, wenn das das Beste ist, was ich zustande bringe“, seufzte Katharina. „Aber es ist auch ungemein schwierig, anhand von einem bereits geprägten Siegel den zugehörigen Stempel nachzumachen.“
    „Marcus hat recht, du hast dein Bestes gegeben und es ist doch auch ganz gut geworden“, schaltete sich Balduin wieder ein. „Bringt ja jetzt auch nichts mehr, das noch zusätzlich schlecht zu reden.“
    „Du hast wohl recht…“
    „Gut oder schlecht, es ist nun einmal der einzige Stempel, den wir haben“, tat Marcus das Offensichtliche kund. „Dann sollten wir ihn jetzt auch benutzen.“
    „Es ist der einzige, den wir haben, weil die im Rathaus offenbar unter Verfolgungswahn leiden, wenn sie ihre Siegelstempel im hinterletzten Kellerloch einschließen, wo nicht einmal die diebischste Ratte hinkommt“, ärgerte sich Katharina. Sie angelte sich den von ihr mitgebrachten Lederbeutel vom Boden und kramte kurz darin herum, bis sie einen dunkelroten, kleinen und schmalen Keil daraus hervorzog.
    „So gesehen machen sie es aber doch genau richtig“, warf Balduin ein. „Aus deren Perspektive, meine ich. Ich meine, wenn man sich das hier jetzt alles mal so genau überlegt… ist dann ja offenbar doch nicht so ganz ohne Grund, die Dinger so sicher zu verwahren.“
    Katharina ignorierte Balduins Einwurf, während sie Marcus den roten Keilblock reichte. „Das mit dem Wachs machst dann lieber mal du“, sagte sie. „Mit Feuer hab’ ich’s nicht so.“
    Marcus nickte, nahm das Wachs entgegen und suchte nach der bereitgestellten Kerze auf der Anrichte zu seiner rechten, die er alsbald fand.
    „Danke jedenfalls noch mal, dass du uns deine Geburtsurkunde zur Verfügung gestellt hast“, sagte Marcus an Balduin gewandt, während er mit Feuersteinen und Zunder hantierte. Nach einigen Versuchen glomm der Zunder leicht und Marcus konnte vorsichtig die Kerze anzünden.
    „Kein Problem“, meinte Balduin mit einem gewissen Stolz in der Stimme. „Solange ich die auch heil wieder mit nach Hause mitnehmen kann. Wenn da was dran ist und Mama und Papa das herausfinden… kannst du dir ja vorstellen, was dann ist.“
    „Ja, sicher…“, erwiderte Marcus abwesend, während er die Kerzenflamme an das Wachs hielt und schon ganz in graue Schwaden eingehüllt war. „Mensch, das qualmt aber ordentlich… seid ihr sicher, dass man das so macht?“
    „Das ist jetzt auch nicht gerade das Beste für meine Augen“, gab Balduin zu verstehen. „Wobei, irgendwie fühlt es sich jetzt fast schon ein bisschen besser an. Vielleicht, weil ich diese natürliche Trockenheit nicht mehr so merke, versteht ihr? Jetzt beißt es halt einfach nur noch so richtig.“
    „Solange das Wachs nur irgendwann heiß und flüssig wird“, meinte Katharina schulterzuckend. „Komm, bleib stehen, ich halte dir den Siegelstempel drunter, wenn es dann tropft.“
    „Ich glaube, das mit dem Tropfen dauert noch, bisher qualmt es nur“, raunte Marcus und unterdrückte dabei ein Husten. In der Tat war bereits der ganze Innenraum seines Hauses von Rauch vernebelt, der zudem immer dichter wurde.
    „Das Wachs muss doch direkt auf das Papier, und dann drückt man den Stempel rein, oder?“, fragte Balduin mit zusammengekniffenen Augen. „Und du darfst das Wachs auch nicht direkt in die Flamme halten, glaube ich. Vielleicht qualmt es deswegen so.“
    „Nee, Leute“, beschied Marcus, „ich muss jetzt erst einmal die Vorhänge ein Stück zur Seite machen, damit der Rauch abziehen kann. Sonst sehen wir doch nicht einmal, wo wir den Stempel hin…“
    „Marcus!“, rief Katharina auf einmal entsetzt. „Was machst du?“
    „Was soll ich denn…“
    Marcus brach ab und sah nach unten, auf den Schreibtisch, über den er sich gebeugt hatte, um die Vorhänge vor dem Fenster etwas zu lichten. Jetzt erkannte er auch, was Katharina schon längst gesehen hatte.
    „Oh scheiße!“, rief er nun und griff rasch auf die versprenkelten Wachstropfen, die unkontrolliert auf die von Katharina so fein säuberlich geschriebene Urkunde gefallen waren. Statt die heißen Tropfen jedoch wegzuwischen, verteilte Marcus sie in seiner Hast nur weiter auf dem Papier und verbrannte sich zu allem Überdruss auch noch die Finger an ihnen.
    „Verdammt noch mal“, fluchte er und wedelte, das Gesicht schmerzverzerrt, heftig mit der Hand. „Ich bin ein Idiot, wisst ihr das? Ein kompletter Idiot!“
    „Hätte ich aber auch nicht gedacht, dass das Wachs jetzt doch auf einmal so schnell flüssig wird“, bekannte Balduin.
    „Vielleicht kann ich noch was retten“, hauchte Katharina durch den Rauch und schnappte sich das Papier, auf dem die Wachstropfen schon wieder fest geworden waren. „Wenn wir vorsichtig sind, können wir es vielleicht abkratzen. Schadet vielleicht nicht, wenn das Papier dadurch älter aussieht. Und dann versuchen wir es noch einmal. Ohne das Siegel ist die Urkunde jedenfalls nicht…“
    „Was bei Beliar ist hier eigentlich los?“, donnerte es plötzlich hinter ihnen direkt von der Haustür. „Wollt ihr die ganze Stadt ausräuchern, oder wie?“
    Marcus, Balduin und Katharina rissen gleichermaßen schnell wie erschrocken den Blick zur Tür. Der Urheber der tiefen Stimme mit Hang zum Befehlston war ein großer, breiter, aber auch etwas dicker Mann, dessen rot-weiße Arbeitskleidung ihm gerade noch so passte, dabei aber ganz eindeutig den Eindruck einer Notlösung erweckte. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, die drei im Rauch hätten über ihn gelacht.
    „Es ist nichts, es ist alles in Ordnung“, bemühte sich Katharina, den Mann von der Stadtwache zu beschwichtigen, während sie in einer langsamen, fließenden Bewegung die unfertige Urkunde hinter ihrem Rücken verschwinden ließ. „Wir haben uns nur ein bisschen blöd mit dieser Kerze hier angestellt, das ist alles.“
    Zur Bekräftigung hob Marcus, der noch immer wie bestellt und nicht abgeholt vor den nun halb geöffneten Vorhängen stand, die brennende Kerze empor. „Tut uns leid“, fügte er noch reumütig hinzu. „Das war wohl mein Fehler. Wird nicht wieder vorkommen. Es ist ja zum Glück nichts abgebrannt oder so.“
    „Das sieht hier aber verdammt anders aus, und es riecht auch so!“, bölkte der Wachmann. Er musste etwas den Kopf einziehen, damit er dem Deckenbalken entging, der Eingangsbereich und Hauptraum des Hauses optisch trennte. Marcus wusste nicht, ob es ihm lieber gewesen wäre, wenn die Wache sich stattdessen ordentlich am Holz gestoßen hätte.
    „Müffelt hier wie Schaf, ganz ehrlich! Eine Räucherbande seid ihr!“
    Der Wachmann stand nun mitten im Raum, direkt im Dreieck, das die unbeteiligt herumstehende Räucherbande um ihn bildete. Keiner von ihnen sagte ein Wort, was den Wachmann etwas zu verunsichern schien. Es hatte den Anschein, als wusste er nicht, wie er nun weitermachen sollte. Zwischen den sich langsam lichtenden Rauchschwaden tauschte Marcus mit Katharina ein paar Blicke aus. Sie schien auch zu hoffen, dass der Kerl von der Wache einfach zu blöd war, um zu verstehen, was hier wirklich vor sich ging. Es war kein Geheimnis, dass zur Wache nur noch ging, wer sogar für eine laue Beamtenstelle im Rathaus nichts taugte. Die Kaserne war das Rathaus der Dummen.
    „Ich verlange hier eine Erklärung!“, tönte der Wachmann herum. Marcus traute sich eine glaubwürdige Erklärung nicht zu – zumindest keine, die nicht der Wahrheit entsprach. Er setzte da mehr auf Katharinas Wortgewandtheit und Balduins unschuldiges Auftreten.
    „Wir haben es doch schon erklärt“, sagte Katharina, und Marcus konnte deutlich heraushören, wie sie den genervten Tonfall in ihrer Stimme nach Kräften unterdrückte. „Irgendwas mit dem Wachs stimmte nicht, also mit dem Kerzenwachs. Und dann hat es angefangen zu qualmen. Außer der Kerze brennt hier aber nichts, es gibt also keinen Grund – hey!“
    „Was hast du da hinter deinem Rücken? Her damit!“
    So langsam der Wachmann im Kopf auch war, so schnell war er offenbar mit Augen und Ohren. Marcus hatte das Knistern des Papiers hinter Katharinas Rücken auch gehört. Leise und verräterisch. Der bullige Kerl in rot und weiß hatte das Schriftstück daraufhin sofort erspäht und es Katharina aus der Hand gerissen. Marcus war nicht einmal froh, dass das Papier ganz geblieben war – am liebsten hätte er es in diesem Moment in hundert Stücke zerfetzt gesehen, bis zur Unkenntlichkeit.
    Murmelnd begann der Wachmann zu lesen, ab und zu deutlich die Worte artikulierend, die Katharina mit großer Sorgfalt niedergeschrieben hatte. Ihr Blick ruhte nun angespannt auf der Wache, starr wie eine Salzsäule. Sie wollte sich nun vorsichtshalber gar nicht mehr bewegen, so schien es. Balduin hatte sich noch ein wenig mehr zur hintersten Ecke des Raumes bewegt und lehnte sich sachte an die Holzwand an, als hoffte er, einfach durch sie hindurch zu fallen und somit aus dieser Situation zu verschwinden.
    „Was ist das hier für ein Schrieb? Ist das eine Geburtsurkunde?“
    Niemand antwortete. Marcus hatte das Gefühl, dass sie jede Erwiderung nur noch weiter hineingeritten hätte. Das drückende Schweigen, dichter als der verschwindende Rauch, weckte in Marcus aber auch nicht gerade Hoffnung.
    „Ich habe eine Frage gestellt! Hier stimmt doch irgendetwas nicht! Kann mir doch keiner erzählen!“
    „Ist alles in Ordnung, Ulf?“, rief nun eine weitere Männerstimme von draußen. Einen Augenblick später kam ein weiterer, aber deutlich jüngerer Stadtwächter ins Haus.
    „Ich hab’ alles im Griff“, winkte der Klops von einem Wachmann ab und legte, während er sich zu seinem Kollegen umdrehte, die Urkunde auf den Schreibtisch. Das Hinzukommen des Anderen schien ihn etwas zu überfordern. Katharina, die nun in halber Armlänge zur Urkunde stand, blieb jedoch weiter wie erstarrt. Marcus konnte sie gut verstehen. Noch einmal wollte sie sicher nicht riskieren, beim Verschwindenlassen des Schriftstücks erwischt zu werden, egal, wie unachtsam der Wachmann gerade wirkte. Trotzdem brannte es in Marcus’ Bauch ob des Wunsches, die Urkunde endlich und am besten endgültig verschwinden zu lassen.
    „Ich bin hier nur auf drei zwielichtige Hallodris hier gestoßen, so viel ist sicher.“
    Der Qualm hatte sich mittlerweile vollkommen gelichtet. Das war einerseits angenehm, weil sich Marcus so mehr in der Lage fühlte, die Situation zu überschauen. Andererseits war genau das unangenehm, weil die Situation am besten für alle im totalen Dunkel geblieben wäre – zumal nun auch die Geburtsurkunde Balduins, die in der halbgeöffneten Schreibtischschublade zwischengelagert war, auf ihre Entdeckung wartete. Marcus betete, dass die Wachleute sie nicht auch noch in die Finger bekamen. Wenn das passierte, dann konnte selbst ein Hornochse namens Ulf eins und eins zusammenzählen. Dann würde auch Balduin voll in der Sache drinhängen, und Ilse und Alfred vielleicht auch. Das würde Marcus sich niemals verzeihen können.
    „Wie gehen wir weiter vor?“, fragte der jüngere Wachmann, dessen bubenhaftes Gesicht im rauchfreien Raum nun klar zum Vorschein kam. Marcus schätzte ihn kaum älter als sich selbst. Er hatte vermutlich gerade seine Ausbildung beendet und war wohl deshalb noch ahnungsloser als sein – so vermutete Marcus – Vorgesetzter.
    „Tja, ähm… also, am besten…“, druckste der ältere Wachmann ein wenig herum, nur um dann eine umso entschlossenere und befehlshaberischere Miene aufzulegen. „Erstmal alle festnehmen!“
    Marcus lief es heiß und kalt den Rücken herunter bei der Vorstellung, aus seinem eigenen Haus von zwei Stadtwächtern abgeführt zu werden. Und dann auch noch mit Katharina und Balduin im Schlepptau. Er hoffte nur, dass jetzt zur Mittagszeit die meisten Leute zum Essen in ihren Häusern waren. Sonst drohte es eine sehr unangenehme Prozession bis zur Kaserne zu werden.
    „Wieso denn festnehmen?“, meldete sich nun Balduin zu Wort, die Augen immer noch etwas zusammengekniffen. „Wir haben doch gar nichts gemacht!“
    „Das entscheide immer noch ich“, übertönte der Wachmann ihn unwirsch. „So verzwickt wie das hier ist, müssen jetzt erst einmal alle in die Kaserne. Und da wird weitergeredet. Es sei denn, ihr gesteht hier und jetzt.“
    „Es gibt aber doch gar nichts zu gestehen!“, wandte Katharina ein. Marcus war sich nicht sicher, ob er den Protest seiner beiden Freunde gutheißen konnte. Zwar war er alles andere als scharf auf eine öffentliche Festnahme, aber andererseits war es ihm recht, wenn die Wachmänner endlich sein Haus verlassen würden. Weg von den beiden Urkunden.
    „Ja, dann ab zur Kaserne“, beschied der Wachmann. „Ich rate euch, freiwillig mitzukommen und keine Mätzchen zu machen. Ansonsten muss euch mein Kollege Aaron hier Fesseln anlegen. Und glaubt mir, das wollt ihr nicht. Fesselungen und Festnahmen hat Aaron bei seiner Ausbildungsprüfung nämlich mit Bestnote bestanden.“
    „Wenn er das so gut kann, tut es dann nicht sogar weniger weh?“, fragte Balduin. Marcus musste sich zurückhalten, ihm nicht einen Seitenhieb mit dem Ellenbogen zu verpassen. Es war Balduins und wahrscheinlich auch Marcus’ eigenes Glück, dass sie dafür sowieso zu weit entfernt voneinander standen.
    „Schluss jetzt“, entgegnete Ulf. „Mitkommen. Sonst setzt’s was!“
    Schließlich gaben auch Balduin und Katharina klein bei und folgten den Wachmännern zusammen mit Marcus nach draußen in die grelle Mittagssonne. Der bullige Ulf bildete die Vorhut, dazwischen reihten sich Marcus, Katharina und Balduin ein, während der junge Wachmann namens Aaron die Nachhut bildete. Auch ohne Fesseln war es ein auffälliger und eindeutiger Marsch vom Haus am Rande des Hafenviertels an der Händlergasse vorbei in Richtung Kaserne. Marcus wähnte sich glücklich, dass tatsächlich relativ wenige Leute auf den Straßen waren. Er machte sich aber keine falschen Hoffnungen. Die paar Zuschauer würden reichen, damit es auch bald der Rest der Stadt erfuhr. Immerhin, so wagte Marcus sich zu freuen, hatten die Wachmänner die Urkunde im Haus liegen gelassen. Das warf wieder einmal ein eindeutiges Licht auf die khoriner Stadtwache. Aber Marcus sollte es ja nur recht sein.
    „Wenn du willst, kannst du jetzt abhauen“, wisperte Marcus an Katharina gewandt über seine Schulter. „Du bist die schnellste von uns, die beiden kriegen dich nie im Leben ein.“
    „Kann sein“, zischte sie zurück. „Und dann? Jetzt hänge ich einmal mit drin, dann bleibe ich auch bis zum Schluss dabei.“
    „Weißt du, deshalb mag ich dich so.“
    „Weißt du, deshalb hasse ich mich manchmal so…“

    _____


    Marcus hatte diesen Ort der Kaserne zuvor erst ein einziges Mal gesehen, zusammen mit Balduin und anderen Kindern, als man es für erzieherisch sinnvoll und prägend gehalten hatte, den Knaben – den Mädchen nicht, die hielt man für zu zart – einmal zu zeigen, was ihnen blühte, wenn sie nicht immer artig waren. Jetzt, viele Jahre später, entfaltete der Vorraum zum eigentlichen Gefängnis der Kaserne natürlich lange nicht mehr den Schrecken, den er den Jungen damals eingejagt hatte. Die kahlen, grob gehauenen Mauern, die wackeligen Hocker, der befleckte Tisch und die aus den Wänden heraushängenden Ketten und Eisenschellen verfehlten aber auch noch heute nicht ihre Wirkung. Balduin jedenfalls fühlte sich sichtlich unwohl, und auch Marcus selbst spürte die bedrückende Atmosphäre in diesem Teil der Kaserne. Einzig Katharina wirkte kühl und distanziert wie immer. Es hätte Marcus vor dem Hintergrund ihrer familiären Herkunft aber auch überrascht, wenn Katharina sich von einem Gefängnis groß hätte einschüchtern lassen – von einem bloßen Verhörraum in der Nähe eines Gefängnisses gar nicht erst zu reden.
    „Rein hier, hinsetzen, sitzenbleiben, Klappe halten“, blaffte der Wachmann namens Ulf die drei an. Sie gehorchten und ließen sich auf den krüppeligen Holzschemeln direkt am Tisch nieder.
    „Ihr wartet hier, bis ich wiederkomme“, sagte Ulf und wandte sich schon wieder zum Gehen ab, sein unterstellter Wachgehilfe Aaron bereit, hinterher zu dackeln.
    „Wie lange wird das denn dauern?“, fragte Balduin noch, aber er wurde mit Ignoranz bestraft, und schon bald waren die drei wieder vollkommen alleine im Raum. Hinter ihnen führte eine – zugezogene und vermutlich abgeschlossene – Tür zu den Gefängniszellen. Vor ihnen, durch die Tür, durch die Ulf und Aaron mit ihnen herein und nun wieder heraus gegangen waren, ging es durch den Raum des Wachhabenden hinaus in den sonnendurchfluteten Kasernenhof. Bei ihrer Ankunft hatten sie dort ganze zwei Dutzend Wachmänner fleißig mit dem Schwert trainieren sehen. Dabei war der Krieg schon lange vorbei – zumindest der Krieg, der sich mit Waffengewalt hatte austragen lassen. Immerhin waren die übrig gebliebenen Milizionäre von Khorinis so angestrengt bei ihrem Training gewesen, dass nur einige wenige sich zu einem hämischen Grinsen herabgelassen hatten, als der Gänsemarsch mit den drei jungen Gefangenen durch ihre Reihen gezogen war. Das war für Marcus allerdings nur ein schwacher Trost.
    „Es tut mir leid, dass ich euch da mit hineingezogen habe“, sagte er an seine beiden Gefährten gewandt, die daraufhin allerdings erst einmal schwiegen. „Hätte ich mich mit dem Wachs nicht so dämlich angestellt, dann…“
    „… dann hätte ich mich wahrscheinlich stattdessen mit dem Wachs dämlich angestellt“, führte Katharina den Satz fort. Sie blickte dabei starr zu Boden, auf den graubraunen Stein. Sie schien gar nicht richtig da zu sein, schien zu überlegen, an einem Plan zu feilen. Ihre Gesichtszüge wurden immer ganz hart, wenn sie so überlegte. Marcus wusste es nicht, konnte sich aber gut vorstellen, dass ihre Mutter beim Aushecken eines Plans auch immer so oder zumindest so ähnlich ausgesehen haben musste.
    „Und bei aller Liebe“, sagte sie und schaute jetzt doch wieder auf, ein mildes Lächeln im Gesicht. „Was passiert wäre, wenn wir Balduin das Wachs in die Hand gegeben hätten, das will ich mir gar nicht ausmalen.“
    „Weißt du ja gar nicht“, verteidigte Balduin sich ebenso milde, ohne sich von dem kleinen Angriff besonders verwundet zu zeigen. „Vielleicht ist der Siegeldruck ja mein verborgenes Talent.“ Er senkte seine Stimme, zur Vorsicht. „Vielleicht wäre es das beste Amtssiegel geworden, das gar kein Amtssiegel ist.“
    „Wenn es so verborgen ist, wie all deine anderen Talente, dann sehe ich eher schwarz statt rot“, neckte Katharina weiter. „Schiffsbauer, Lagerist, Gärtner, Maurer, Tischler, Jäger, Schafhirte, Kartenzeichner, Türsteher, Messdiener… auch alles deine verborgenen Talente, ne? Der Fehler war halt, dass deine Ausbilder diese tief vergrabenen Schätze alle nicht heben konnten. Wissen wir doch, Balduin.“
    „Jetzt ist aber auch mal gut, Rina“, ging Marcus kraftlos dazwischen. „Wenn, dann lass deinen Ärger an mir aus.“
    Sie tat es aber nicht, senkte stattdessen wieder ihren Blick zu Boden und dachte nach. Marcus blickte zu Balduin neben sich. Sein kleiner Bruder, wie er ihn nannte, auch wenn sie nicht genau wussten, wer von beiden der ältere war, zeigte sich wenig getroffen. Die ganzen Neckereien und Nickeligkeiten verloren angesichts ihrer momentanen Lage ziemlich an Bedeutung.
    „Immerhin“, flüsterte Marcus nach einer weiteren Pause, „haben die Deppen die Urkunde nicht mitgenommen. Und deine Geburtsurkunde haben sie nichtmal gesehen, Balduin.“
    „Das kann sich aber auch ganz schnell ändern, wenn sie nochmal zurückgehen und dein Haus durchsuchen“, antwortete Balduin, und Marcus musste sich im Stillen eingestehen, dass er recht hatte.
    „Malt doch bitte nicht so schwarz“, schaltete sich Katharina wieder ein. „Das ist hier ja nicht die Inquisition. Ihr redet ja, als hingen wir bereits alle am Galgen oder sowas.“
    „Und du schaust so“, merkte Marcus an. „Du grübelst doch über irgendetwas nach.“
    „Ja“, sagte sie etwas verbiestert. „Im Gegensatz zu euch aber darüber, wie wir uns das nächste Mal klüger anstellen. Mensch Leute, was sollen die schon mit uns machen? Die lassen uns schon irgendwann wieder gehen. Und dann stellen wir die Urkunde fertig – diesmal ohne rauchendes Wachs – und alles ist prima.“
    „Das sagst du so ruhig“, seufzte Marcus.
    „Ja, das sage ich so ruhig. Die Urkunde muss doch fertig werden, oder? Oder ist dir das jetzt doch nicht mehr so wichtig? Habe es dir ja gesagt, gibt auch schöne Bauernscheunen in der Umgebung zum Wohnen. Falls die Bauern denn dann nicht auch noch irgendwelche Herkunftsnachweise sehen wollen.“
    Marcus öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn dann aber sofort wieder und schwieg. Er hatte Schwierigkeiten, zu entscheiden, wie er Katharina antworten sollte. Ihre Worte waren hart und kalt, aber sie drückten etwas aus, das Marcus ganz warm werden ließ. Jetzt saß sie, ausgerechnet sie, die Tochter einer berühmten Diebin, hier gefangen in der Kaserne. Und trotzdem grämte sie sich nicht und schimpfte nicht und erhob keine Vorwürfe, sondern dachte einfach nur weiter daran, wie sie ihm helfen konnte. Oder gab zumindest vor, nur daran zu denken.
    „Dummer Bürokratiescheiß“, schimpfte sie nun aber doch noch. „Mutter wusste schon, was sie tat, als sie die Unterschrift von diesem Pfeffersack damals einforderte. Als hätte sie es vorausgesehen, auf welche dummen Ideen die Stadtverwaltung irgendwann kommen würde. Als hätte sie es vorausgesehen.“
    „War das nicht nur, damit sie ordentlich Unterhalt für dich von diesem Händler abkassieren kann und sie etwas aus dem Visier der Wache gerät?“, fragte Balduin in größter Selbstverständlichkeit. Als er den strengen, rügenden Blick Marcus’ auffing, fügte er noch kleinlaut hinzu: „Ja, was denn, das hatte Katharina doch immer so erzählt.“
    „Ja, war auch so, und ich habe da auch kein Problem mit“, schnaubte Katharina. „Ist für mich keine Schande. Für den Rest von Khorinis wäre es das vielleicht. Für mich aber nicht.“
    „Hat ja auch keiner behauptet“, beruhigte Marcus sie, obwohl er gar nicht so sehr das Gefühl hatte, Katharina beruhigen zu müssen. „Ich wäre jetzt jedenfalls froh, so eine Urkunde in den Händen zu halten. Egal, unter welchen Umständen sie entstanden wäre. Dann säßen wir auch alle gar nicht hier.“
    Sie schwiegen wieder. Von draußen tönten die Geräusche der trainierenden Milizionäre herein. Klirrendes Metall, Männergebrüll. Hier drinnen war es kühl, aber man konnte trotzdem spüren, wie heiß die Sonne draußen brennen musste. Im Raum des Wachhabenden wurde geräuschvoll durch ein Register geblättert. Sonst war alles still, als hätten alle schon Feierabend gemacht und sie hier vergessen. Marcus, mit seinen Gedanken langsam abgeglitten, lachte schnaubend in sich hinein und schüttelte den Kopf. Er fing die fragenden Blicke seiner Gefährten auf.
    „Es ist halt absurd“, erklärte er mit hilflosem Schulterzucken. „Mein Leben lang hat mich nichts weniger interessiert als meine Herkunft. Seit mich Balduins Eltern als junges Balg aufgenommen haben, waren sie auch meine Eltern. Da gab es keinen Platz für andere Eltern, eine wahre Herkunft. Nichts hat mich weniger interessiert. Und plötzlich hat es mich zu interessieren. Mehr als alles andere.“
    „Ich habe mir ja schon immer gedacht“, meinte Balduin nach einer kleinen Pause, „dass Mama und Papa damals einfach hätten sagen sollen, dass du ihr leibliches Kind bist. Das wäre schon besser gewesen.“
    „Das haben sie aber nicht so gemacht und das war auch ihr gutes Recht“, beschied Marcus. „Ilse und Alfred haben so schon so viel für mich getan. Und es gab ja damals auch gar keinen Grund, da so eine Lügengeschichte aufzutischen. Wenn sie gewusst hätten, dass es Jahre später plötzlich Bedeutung haben würde, ob man ’gebürtiger Khoriner’ ist oder nicht, dann hätten sie das vielleicht anders entschieden. Aber selbst dann, das wäre ja in erster Linie ihre Sache gewesen. Aber jetzt ist es ja jedenfalls eh zu spät. Es ist im Rathaus bekannt, dass sie nicht meine leiblichen Eltern sind.“
    Balduin hatte stumm das Haupt gesenkt. Marcus fragte sich, ob er jetzt nicht zu streng auf den Einwurf seines Bruders reagiert hatte. Aber nichts lag ihm ferner, als seinen Eltern irgendwelche weiteren Lasten aufzubürden. Wenn die ganze Sache hier rauskam, dann würde es schon noch genug Ärger geben, und er schämte sich bereits jetzt schon dafür. Er schämte sich, wie Ilse und Alfred in ihrer Milde keinen Vorwurf gegen ihn erheben würden, wie sie ihm sagen würden, dass sie alles in ihrer Macht Stehende für ihn tun würden, dass sie ihm helfen würden, dass sie gemeinsam schon eine Lösung finden würden. Genau so, wie sie es damals einfach gemacht hatten, als der kleine Marcus von wem auch immer in einem Bündel vor ihrer Tür abgelegt worden war. Und wie sie es von da an Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr getan hatten. Bis sich Marcus in der Pflicht gesehen hatte, mit seinem spärlich verdienten Geld auszuziehen und ein eigenes Haus in der Hafenstadt zu bewohnen. Und selbst dann hatten Ilse und Alfred noch gesagt, dass er jederzeit zu ihnen kommen konnte – und sollte. Und Marcus hatte das gerne gehört. Er liebte sie. Aber gerade weil er sie liebte, konnte er sich nicht immer auf sie stützen. Deshalb hatte er ihnen auch nichts von dem Schreiben erzählt, das er bekommen hatte. Das auch Balduin bekommen hatte, wie alle Bewohner Khorinis’, die jünger als dreißig Jahre waren. Balduin hatte es Marcus zuliebe sogar vor Ilse und Alfred verheimlicht, dass es diese Schreiben überhaupt gab. Aber früher oder später, so wusste Marcus, würden auch die beiden erfahren, was in der Stadt los war. So etwas verbreitete sich. Man sprach nicht gern über die Städtische Initiative zur Reinhaltung der Khoriner Bürgerschaft & der Verhinderung von Emporkömmlingen. Es hatte etwas Unanständiges an sich. Aber Bescheid wussten doch schon die meisten, auch die, die von dieser neuen Idee aus der Riege der Bedenkenträger des Rathauses nicht direkt betroffen waren.
    „Man wünscht sich fast wieder, es wäre Krieg, nicht wahr?“, meinte Katharina auf einmal, zu den beiden anderen gewandt. „Naja, ich meine, im Krieg hat man an sowas nicht gedacht. Da hat man seine Feinde noch außerhalb des Landes gesucht. Oder zumindest an den Grenzen. Aber nicht hier, mitten in Khorinis.“
    „Diese Nachweispflicht ist aber im Grunde eine direkte Folge des Kriegs, Katharina“, wandte Balduin ein. „Weil sich im Krieg alle möglichen Leute durchmischt haben, Strafkolonisten in die Stadt gekommen sind und überhaupt alles drunter und drüber ging. Deshalb wollen die jetzt ja diesen Nachweis haben, dass mindestens ein Elternteil bereits Bürger von Khorinis war. Stand auf der Anlage des Schreibens dabei.“
    „Balduin“, raunte Katharina zähneknirschend, „wenn ich dich nicht so mögen würde, ich hätte dir jetzt vorgeschlagen, dich mal im Rathaus als Schreiber zu bewerben.“
    „Habe ich schon gemacht“, meinte Balduin beinahe stolz, „und ich wurde auch genommen. Aber als ich am dritten Tag der Ausbildung aus Versehen sieben Tintenfässchen auf einen Streich zerstört habe, haben sie mich wieder rausgeschmissen.“
    „Wohl auch besser so“, meinte Marcus, „sonst hättest wahrscheinlich du noch das Schreiben an mich verfassen müssen.“
    „Das hätte ich niemals getan. Eher noch hätte ich dir…“, er senkte seine Stimme wieder, „… die Geburtsurkunde verschafft. Das wäre es ja überhaupt gewesen.“
    „Das wäre es gewesen, ja“, stimmte Marcus ermattet zu. „Was du mir dann alles an Urkunden hättest ausstellen können. Zum Beispiel eine Bürgerurkunde. Dann hätte ich nie die Lehre im Lager anfangen müssen, um Bürger der Stadt zu werden. Tja, das ist jetzt ja auch nichts mehr wert. Wenn ich nicht bis in knapp vier Wochen eine Geburtsurkunde auftreiben kann, kann ich meine eigene Bürgerurkunde, so echt sie auch sein mag, auch direkt mit wegschmeißen. So sieht’s doch aus. Vielen Dank, liebes Khorinis, vielen Dank.“ Marcus pausierte kurz, ließ die Worte verhallen. „Wäre ich zur Stadtwache gegangen, hätte ich das Problem jetzt nicht. Deren Angehörige sind nämlich von der Nachweispflicht befreit. Stand auch im Anhang des Schreiben. Tja, ich will ja jetzt nicht den Beliar an die Wand malen, aber ich glaube, nach heute ist es für mich wohl auch zu spät, noch zur Miliz oder zur Wache zu gehen, was?“
    „Was ich mich frage“, schloss Balduin direkt an, „warum müssen eigentlich nur Bürger diesen Nachweis erbringen? Also, vor allem, warum werden Bürger, die keinen Herkunftsnachweis erbringen können, direkt ausgewiesen, Bewohner der Stadt, die aber keine Bürger sind, gar nicht behelligt? Das ergibt doch gar keinen Sinn. Könntest du deinen Status als Bürger dann nicht einfach aufgeben, Marcus?“
    „Der Anhang zum Schreiben gibt dir Auskunft“, erwiderte Marcus zynisch. „Hast ihn wohl doch nicht so gründlich gelesen, was? Aber warum solltest du auch.“
    „Marcus…“
    „Wer in deren Bürgerverzeichnis auftaucht, der ist halt direkt im Visier“, fuhr Marcus unbeirrt fort. „Die ganzen restlichen Einwohner würden die wohl auch weghaben wollen, aber über die können die halt schlecht Buch führen. Ohne Register kriegen die bei der Stadt ja nichts auf die Kette. Und Im Hafenviertel gelten sowieso eigene Regeln. Deshalb beschränken die sich eben darauf, die Bürgerschaft ’rein’ zu halten. Das wollen die nicht haben. Denn wo kommt man denn dahin, wenn jemand auf einmal Bürger ist, deren Eltern gar keine Bürger waren – da muss ja was nicht stimmen, ne? Bringt mir also gar nichts, wenn ich meinen Status als Bürger aufgebe. Ich stehe in deren Büchern drin und damit hat sich die Sache. Wenn du nur einmal auffällig wirst…“
    Marcus brach ab, ihm schwirrte der Kopf. Es war erst ein paar Tage her, dass er das Schreiben aus dem Rathaus bekommen hatte, in dem er aufgefordert wurde, binnen vier Wochen nachzuweisen, dass er von einem Bürger Khorinis’ abstammte. Die erste Panik war schnell verflogen, als sich Balduin und Katharina bereiterklärt hatten, ihm zu helfen. In all der geschäftigen Planung – Besorgen von Papier, das einer Urkunde würdig war, samt Tinte und Siegelwachs, Herstellen des Siegelstempels und so weiter – hatte Marcus gar keine Gelegenheit gehabt, die Ereignisse mal richtig sacken zu lassen. Jetzt aber, wo sie zwangsweise zum Nichtstun verdonnert waren, prasselten die Eindrücke noch einmal auf ihn ein. Marcus fühlte sich mit der Situation überfordert. Es kam ihm alles so unwirklich vor. Es waren Momente wie dieser, in denen das Rauschen in seinen Ohren erklang.
    Geändert von John Irenicus (11.08.2016 um 20:07 Uhr) Grund: Korrekturen nach Beendigung des Wettbewerbs

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    „Wisst ihr, so langsam machen das meine Augen nicht mehr mit. Das kommt so richtig in Wellen, dieses Brennen. Als wir hier reingekommen sind, da tat das erst noch richtig gut, so dieses Kühle. Aber jetzt mittlerweile… die Luft ist hier so trocken, das macht echt alles noch schlimmer. Kann ich jetzt definitiv sagen, dass es das schlimmer macht.“
    Katharina wusste auf Balduins kleine Rede, die dieser in leicht abgewandelter Form nun schon das dritte Mal während ihrer Zeit in der Kaserne gehalten hatte, nur noch kraftlos aufzuseufzen. Sie warteten nun schon gefühlt seit über eine Stunde, was die Frau im Bunde irgendwann zum energisch vorgetragenen Vorschlag genötigt hatte, die Kaserne doch einfach Kaserne sein zu lassen und stiften zu gehen. Marcus hatte sie nach kurzer Diskussion von der Idee abbringen können, aber seitdem hatte er selbst auch auf heißen Kohlen gesessen. Umso erfreuter waren sie alle, als endlich der diensthabende Wachmann zu ihnen kam.
    „Da sind ja die drei Nachwuchsganoven“, sagte er, irgendwie behäbig und abwesend, und es hätte Marcus’ Meinung nach nur zu gut gepasst, wenn er seine unter dem Wams durchdrückende Wampe dabei gerieben hätte. Katharina schien, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ähnlich über den ältlichen Wachhabenden zu denken, garnierte ihren Blick aber zusätzlich noch mit der unausgesprochenen Frage, ob sie denn nun endlich gehen könnten. Marcus hatte für weitere gedankliche Gehässigkeiten gegen den Wachmann jedoch keinen Nerv. Innerlich zitterte er bei der Frage, ob die Wachmänner tatsächlich sein Haus durchsucht und die beiden Urkunden gefunden hatten. Denn dann saßen sie in der Tinte. Oder klebten im Wachs.
    „Ihr drei habt in der Unterstadt für schweren Aufruhr gesorgt, indem ihr die Sicherheit und Ordnung der Stadt ganz konkret gestört habt“, unterbreitete ihnen der Wachmann und benutzte dazu eine Stimme, die vollkommen frei von Höhen und Tiefen, Laut und Leise sowie Betonungen und Rhythmen war.
    Es klang, als läse er seine Worte von einem Blatt Papier ab, welches nur er selbst sehen konnte.
    „Mit eurem rauchproduzierenden Verhalten mitten in einem mehrheitlich aus Holz gebauten Hause habt ihr eine Situation geschaffen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Eintritt eines schädigenden Ereignisses geführt hätte, hätten die Bediensteten der Stadtwache nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen.“
    Katharina rollte ungeniert mit den Augen, während Balduin selbige lieber zusammenkniff. Marcus stellte fest: Der Wachhabende war nicht nur dick, er trug auch noch so auf.
    „Für diese Herbeiführung einer Brandgefahr muss ich euch ganz ausdrücklich und entschieden rügen. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich überdies nicht umhin komme, euch gegenüber nun hiermit eine offizielle mündliche Verwarnung auszusprechen.“
    Der Wachhabende machte eine Pause. Marcus wusste nicht, ob er das tat, weil er ihnen Gelegenheit geben wollte, etwas zu sagen. Der gefasste und beinahe mitleidige Blick des Kasernisten ließ eher vermuten, dass der Alte glaubte, seinen drei Gegenübern erst einmal einen Moment der Ruhe geben zu müssen, damit sie das Gesagte sacken lassen konnten. Wäre er nicht von dieser Situation so überrascht gewesen, hätte Marcus vielleicht gelacht. Katharina neben ihm schien es ähnlich zu gehen. Balduin kniff einfach weiter die Augen zusammen und regte sich kein bisschen.
    „Nachdem diese Verwarnung nun ausgesprochen ist, könnt ihr gehen.“
    Kaum hatte er den letzten Satz gesprochen, drehte sich der Wachhabende auf der Stelle um und marschierte aus der Tür heraus, die in die Wachstube führte – wie, als wollte er den dreien vormachen, was genau mit „gehen“ gemeint war.
    Marcus sah seine beiden Mitstreiter an und zuckte mit den Schultern. Nachdem er sich geräuschvoll von seinem Hocker erhoben hatte, taten sie es ihm gleich. Zusammen gingen sie, die Beine müde und eingeschlafen vom langen Sitzen, aus dem Vorraum heraus und betraten den Wachraum, in dem der Wachhabende nun wieder geräuschvoll wie ziellos in einem riesigen Folianten blätterte. Er sah noch einmal kurz auf, als die drei ihn passierten. Gesicht und Blick offenbarten Leere. Er schaute, als sähe er die drei jungen Personen vor ihm zum ersten Mal.
    Als Marcus mit den anderen schließlich nach draußen ins Freie trat, direkt vor die unermüdlich in wechselnden Formationen trainierenden Schwertkämpfer der Miliz, musste er nun auch die Augen zusammenkneifen. Balduin schloss sie konsequenterweise ganz. Die Sonne stand zwar nicht mehr in ihrem Zenit, aber sie war noch immer grell und heiß. Vom blanken Steinboden des Kasernenplatzes schienen heiße Dämpfe aufzusteigen, Licht und Hitze wurden reflektiert. Es brauchte eine Weile, bis Marcus sich an die Eindrücke gewöhnt hatte. Ein bisschen war es wie ein Übertritt in eine andere Welt.
    „Wachmann müsste man sein“, wisperte Katharina vergnügt. „Das Hirn zusammen mit der Zivilistenkleidung am Kasernentor abgeben und dann einfach nur Befehle ausführen. Ich habe euch doch gesagt, dass die uns nichts können. Ich hätte mich fast kaputtgelacht.“
    „Still“, mahnte Marcus, gleichwohl mit einem angedeuteten Grinsen im Gesicht. „Nicht hier vor den Milizionären so freuen. Wir sind immerhin offiziell mündlich verwarnt worden, schon vergessen?“
    „Oh, ja, wie konnte ich nur“, spottete Katharina.
    Sie ließen die trainierenden Wachmänner hinter sich und steuerten auf die abgenutzten Steintreppen zu, die sie herunter zum Galgenplatz führen sollten. Balduin, immer noch nicht willens, die Augen weit genug zum Sehen zu öffnen, mussten von den beiden anderen am Arm geführt werden.
    „So richtig gut für meine Augen ist das jetzt auch nicht“, monierte er. „Dieser schnelle Wechsel, meine ich. So prinzipiell tut die Wärme ja ganz gut, aber ich bin jetzt so richtig lichtempfindlich. Ich seh’ fast gar nichts mehr.“
    „Dann mach doch einfach mal die Augen au… da vorne ist Marcus! Vorsicht, granteliger Lagermeister und Ex-Seefahrer auf Kurs!“
    Katharina deutete die Treppe herunter, auf deren letzten Stufen ein kleinerer, aber dafür besonders aufrecht gehender Mann in Kriegswams heruntermarschierte. Seine Statur war in der Tat unverwechselbar, auch Marcus hatte seinen Namensvetter und Vorgesetzten sofort erkannt, noch bevor dieser sich zu ihnen umgedreht hatte.
    „Ach, na sowas“, murmelte er etwas heiser, nur um sich danach umso energischer zu räuspern. „Marcus. Und… eine werte Dame als Begleitung. Ach, ja, und der Herr Balduin, auch im Schlepptau.“
    Der ältere Mann setzte bei der Erwähnung Balduins einen erkennbar strengen Blick auf, was die anderen – außer Balduin natürlich – schmunzeln ließ. Auch der alte Marcus war einer der Ausbilder gewesen, die daran gescheitert waren, einen Funken praktischen Talents in Balduin zu finden. Das Ende ihres gemeinsamen Arbeitsverhältnisses war äußerst unrühmlich gewesen.
    „Was machst du hier?“, fragte der junge Marcus den älteren. „Solltest du nicht unten am Lager sein?“
    „Sollte ich das nicht eher dich fragen?“, gab der Alte zurück. Die Überraschung ihres Treffens wich langsam dem üblichen Grimm, den der alte Marcus stets mit sich trug.
    Der junge Marcus verfinsterte seinen Blick allerdings genau so. „Du hast mir frei gegeben“, sagte er.
    „Ich weiß, ich weiß“, antwortete der Alte. Seine Augen funkelten ein wenig. Das war, so wusste Marcus aus Erfahrung, das Zeichen, dass er Arbeit zu delegieren hatte – und daran auch noch Spaß empfand.
    „Ich habe dir ja auch keinen Vorwurf gemacht. Noch nicht. Ich war vorhin bei dir zu Hause, aber da war keiner da. Umso besser, dass ich dich jetzt hier treffe.“
    „Besser für dich, aber wahrscheinlich nicht besser für mich, befürchte ich.“
    „Darauf kannst du wetten. Jordir ist krank geworden. Der liegt mit Fieber im Bett. Das heißt, ich brauche dich morgen für die Inventur.“
    „Inventur?“, fragte der junge Marcus empört. „Schon wieder? Das darf doch nicht wahr sein.“
    „Ist es aber“, blaffte der alte Marcus zurück. „Einmal im Quartal. Mein Lager hat aufgeräumt zu bleiben. Tu nicht so, als wüsstest du das nicht.“
    „Das weiß ich ja auch“, sagte der jüngere, dem die nun ins Gespräch kommende Schärfe ziemlich unangenehm war. „Das meinte ich ja auch gar nicht. Ich meinte, warum ich schon wieder mithelfen muss. Wir hatten doch abgesprochen…“
    „Ja, ja, hatten wir“, fuhr ihm der ältere dazwischen. „Aber das ist ja jetzt hinfällig. Kannst dich bei Jordir bedanken. Also, am besten erst, wenn er wieder gesund ist. Steckst dich sonst noch an.“
    „Sehr fürsorglich von dir, Marcus.“
    „Kennst mich doch“, sagte der ältere und wandte sich bereits wieder zum Gehen um, als er mitten in der Bewegung doch noch mal stehenblieb. „Und treib dich nicht zu viel mit Balduin rum. Sonst steckst du dich bei ihm auch noch an. An seiner Unfähigkeit.“
    „Ey!“, entfuhr es Balduin, aber der alte Marcus winkte nur leise lachend ab.
    „Ist ja nicht mein Fehler“, sagte er. „Also dann, Marcus. Morgen früh, sechs Uhr. Dann wird gezählt und aufgeräumt. Sieh zu, dass du ausgeschlafen bist, dann geht’s nämlich schneller.“
    „Aye Aye, Kapitän, werde die Koje ordnungsgemäß schon am frühen Abend aufsuchen!“, entgegnete der junge Marcus mit einer gehörigen Portion Spott, welche der ältere Marcus entweder nicht herausgehört hatte, oder nicht heraushören wollte. Er hob noch einmal kurz die Hand zum Abschied und marschierte dann die letzten Treppenstufen herunter, um in Richtung Galgenplatz zu schlendern, aller Voraussicht nach auf dem Weg zurück zum Hafenlager.
    „Der hat Nerven“, murrte Balduin, als der Lagermeister in sicherer Entfernung war. „Aber irgendwie ist er ja auch bewundernswert.“
    „Bewundernswert?“, erwiderte Katharina entgeistert. „Ich hoffe doch, du meinst bemitleidenswert.“
    „Na wieso? Er ist immerhin Lagermeister unten am Hafen, hat eine wohl sehr steile Soldatenkarriere hinter sich, ist zur See gefahren, ist gut mit allen in der Stadt bekannt… kann man doch nicht meckern! Und habt ihr gesehen, wie seine Augen wieder so komisch gefunkelt haben? Die sind wahrscheinlich auch oft trocken. Das macht mir ja fast schon ein bisschen Mut. Wenn das bei mir nicht wieder weggehen sollte, meine ich. Wenn man auch mit trockenen Augen sowas schaffen kann, dann sind das ja auch nicht so üble Aussichten.“
    „Sowas schaffen ist gut“, schnaubte Katharina. „Der Kerl wurde aufs Altenteil auf irgendeine unnütze Lageristenstelle geschoben. Lager für all den Müll, den seit dem Kriegsende keiner mehr braucht. Und den auch im Krieg keiner gebraucht hat, denke ich mal. Ist doch so, Marcus, oder?“
    „Schon“, gab der Angesprochene etwas unschlüssig zu, pausierte dann kurz und schüttelte beinahe andächtig den Kopf. „Aber lasst doch nun gut sein mit ihm. Marcus hat gute Seiten und schlechte Seiten. Aber im Prinzip geht es schon. Gute Freunde werden wir nicht mehr, aber immerhin habe ich bei ihm eine Arbeit.“
    „Fein, kannst dann ja noch einen Monat durcharbeiten, bevor man dich aus der Stadt rausschmeißt“, ätzte Katharina.
    „Katharina!“, entfuhr es Balduin empört.
    „Ich mag das halt nicht, wenn jemand so buckelt.“
    „Ich buckele ja nicht“, sagte Marcus. „Ich will einfach nur meinen Lohn verdienen damit ich was zwischen die Zähne bekomme und mein Haus abbezahlen kann.“
    „Das dir doch auch Marcus vermittelt hat, oder wie war das?“, hakte Katharina nach. Marcus verstand nicht, worauf sie eigentlich hinaus wollte. Im Prinzip war es ihm aber auch egal.
    „Ja, so war das. Lasst uns doch jetzt bitte auf das Wesentliche konzentrieren. Ich zwinge euch ja nicht dazu, mir zu helfen, aber…“
    „Musst du auch nicht“, beschied Balduin.
    „Nee“, stimmte Katharina knapp zu. „Ich meinte ja nur.“
    Marcus hatte die Diskussion in der prallen Nachmittagssonne leid. Bei dem ganzen Ärger, den er jetzt um die Ohren hatte, fühlte er sich wie eine sterbende Pflanze.
    „Lasst uns doch erstmal zurück zu mir gehen“, meinte er nach einer kurzen Pause. „Vielleicht kriegen wir die angefangene Urkunde ja heute noch fertig. Ich patze auch nicht nochmal beim Wachs, versprochen.“

    _____


    „Oh scheiße, scheiße, scheiße…“
    „Wir haben jetzt schon gefühlt über eine halbe Stunde gesucht, und dein Haus ist kein Palast. Vergesst es, die sind futsch.“
    Marcus ließ sich auf einen – oder besser gesagt: den einen – Stuhl am Schreibtisch sinken, senkte den Kopf bis fast sein Kinn die Brust berührte und fühlte sich so alt, wie sein älteres Namenspendant sein musste. In seinen Ohren rauschte es.
    „Das sieht gar nicht gut aus“, sagte Balduin, im Zwielicht nervös blinzelnd. „Oh Innos, wenn das Mama und Papa mitbekommen…“
    „Werden sie nicht“, sagte Katharina bestimmend. „Du sagst erstmal nichts, dass das klar ist!“
    „Und was, wenn ich auch irgendwann der Stadt verwiesen werde?“, wurde nun auch Balduin laut. „Ich habe meine Geburtsurkunde schließlich auch noch nicht vorgelegt!“
    „Wir werden die schon wiederfinden. Und selbst wenn nicht, dann bezeugen eben deine Eltern, dass du ihr Sohn bist.“
    „Was in der Stadtverwaltung niemand glauben wird, egal, wie offensichtlich es ist“, sagte Marcus, die Hände im Gesicht vergraben und mit gedämpfter Stimme. „Sonst hätten wir all die Probleme ja von vornherein nicht gehabt. Urkunde oder raus, das ist das Motto. Dann können wir ja zusammen losziehen, Balduin. Wir finden sicher einen schönen Hof.“
    Katharina stampfte plötzlich auf. Aufgrund ihrer heftigen Reaktion machte Marcus’ Herz einen kurzen Hüpfer, weil er für einen Moment glaubte, Katharina hätte nun doch noch auf einmal die Urkunden wiedergefunden. Vater dieses Gedankens blieb jedoch der bloße Wunsch.
    „Das ist doch schon wieder zum Kotzen, euer Gerede!“, rief sie. „Wie seid ihr denn bisher durchs Leben gekommen, wenn ihr immer sofort aufgebt, wenn mal was nicht klappt? Ihr redet, als wärt ihr schon ausgewiesen worden. Wer weiß denn schon, ob das überhaupt passieren wird. Wie sollen die von der Stadt das denn auch anstellen? Euch würde ein bisschen mehr Optimismus gut tun.“
    „Du sagst das so leicht“, murmelte Marcus, mit einer Stimme, die viel mehr zitterte, als es ihm lieb war. „Du bist ja auch nicht in meiner Lage. Wirklich, Rina. Dein Geschimpfe brauche ich jetzt nicht auch noch.“
    Katharina zögerte, schnaubte, ganz, wie es ihre Art war. Dann aber, nachdem sie – anscheinend in einem spontanen Anflug mütterlichen Ordnungssinns – die offen stehende Schreibtischschublade geschlossen hatte, trat sie an Marcus heran und beugte sich zu ihm runter.
    „Hör mal zu“, raunte sie mit selten warmer Stimme. „Ich will dir doch nur helfen. Auf meine Art. Aber die beinhaltet nunmal kein Selbstmitleid und keine Katastrophengedanken.“
    Marcus sagte nichts. Er wollte Katharina nicht böse sein. Aber wer von Katastrophengedanken sprach, wo die Katastrophe doch längst nicht mehr nur bloßer Gedanke war, der hatte etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Marcus mochte Katharina. Aber in diesem Moment hasste er sie fast ein wenig in ihrer Art. Die Katharina, die alles mit links schaffte, ein Leben im Zwielicht Khorinis’ führte und für alles eine scheinbar passende Lösung hatte. Die kaum von ihrem täglichen Leben sprach, weil sie offenbar nichts bekümmerte. Marcus fand den Gedanken selbst ungerecht, aber er kam nicht umhin, Katharina für eine Person zu halten, der eben alles in den Schoß fiel und die deshalb gar nicht wusste, was für Probleme das Leben bieten konnte. Es gab diese Personen. Wenn sie Probleme, Krankheiten, Nöte oder was auch immer nie selbst erlebt hatten, dann zweifelten sie auch die Existenz dieser Nöte bei ihren Mitmenschen an. Dabei konnte Marcus nicht ernsthaft glauben, dass Katharina so dachte. Dafür musste sie doch eine ganze Reihe eigener Nöte in ihrem Leben erlebt haben. So einfach konnte auch sie es nicht haben. Sie ging wohl nur souveräner damit um. Vielleicht, so schloss Marcus, war sie einfach nur wenig einfühlsam. Auch solche Leute gab es.
    „Die haben sie mitgenommen, oder?“, meldete sich Balduin zu Wort, der seinen Platz in der Ecke des Zimmers wieder eingenommen hatte, bereit, bei Bedarf durch die Wand zu verschwinden.
    „Die von der Stadtwache, meine ich“, fuhr er fort. „Die sind bestimmt nochmal zurückgekommen, haben unsere Urkunde und dann auch meine mitgenommen. Wir können wohl von Glück reden, dass wir überhaupt wieder aus der Kaserne herausgekommen sind, mit so einer Verwarnung. Aber wer weiß, was jetzt noch kommt, wenn die ein genaues Auge auf die Urkunden werfen. Dann sitzen wir das nächste Mal wahrscheinlich einen Raum weiter, wenn ihr versteht, was ich meine. Das haben wir jetzt davon. Mann, und gerade wenn sowas passiert, brennen meine Augen auch noch so. Wisst ihr, alles schlimm genug, aber wenn man dann noch sowas dabei hat, das raubt einem echt die letzten Kräfte.“
    Katharina hatte sich wieder zum Schreibtisch bewegt und auf der Tischplatte Platz genommen. „Ich habe einen Plan“, sagte sie, und Marcus schaute endlich wieder auf. Sein Gesicht war etwas gerötet.
    „Wir holen uns die Urkunden wieder. Und ich weiß auch schon, wie.“
    Marcus stutzte. Dafür, dass Katharina offenbar eine Lösung ihres Problems parat hatte, wirkte sie wenig erfreut. Ihr Tonfall und ihre Mimik entsprachen mehr einer erzwungenen Begeisterung. Ihre Körpersprache war die eines Arbeiters, der erfahren hatte, dass er kurzfristig Sonderschichten schieben muss. Marcus kannte sich da aus – der eine wie der andere. „Spann uns nicht so auf die Folter“, bat er.
    „Wenn wir davon ausgehen, dass die Urkunden konfisziert wurden…“
    „… woran eigentlich gar nicht zu zweifeln ist“, kommentierte Balduin.
    „… dann sind sie jetzt wohl erst einmal in der Asservatenkammer gelandet“, beendete Katharina ihren Satz. „Da holen wir die einfach wieder raus.“
    „So einfach ist das?“, fragte Balduin derart verwundert, dass es ihn aus seiner Ecke heraustrieb.
    „Natürlich nicht“, bügelte Katharina sämtliche Hoffnungen ab. „Sonst bräuchte es ja keinen Plan. Und nicht die Mithilfe eines bestimmten Wachmanns, den ich… kenne.“
    „Du kennst einen Wachmann bei der Kaserne?“, fragte Balduin. „Dann wundert es mich doch nicht mehr, dass wir vorhin gehen durften.“
    Katharina schüttelte den Kopf. „Nicht bei der Kaserne. Da werden längst keine Beweismittel mehr aufbewahrt.“
    „Nicht?“
    „Nein.“
    „Ach, ja!“, meinte Marcus auf einmal und fühlte sich wie aus einer Starre erwacht. „Ich habe das auch gehört, Marcus hatte das glaube ich mal erzählt. Die hatten das geändert, seit die Stadtverwaltung, nunja, sich neu formiert hat, sage ich mal. Jetzt haben die das an sich gerissen.“
    „Seit die Pfaffen das Sagen haben, ja“, bestätigte Katharina. „Unsere fürsorglichen klösterlichen Geistlichen, die seit Kriegsende ja auch den Statthalter stellen, waren der Meinung, dass man so wichtige Schriftstücke, Beweismittel und andere beschlagnahmte Gegenstände ja wohl kaum den Händen der Kasernenleute überlassen konnte. Was man ihnen ja auch nicht verübeln kann. Ist ja was dran.“
    „Die Kaserne ist das Rathaus der Dummen“, rezitierte Marcus mechanisch.
    Katharina nickte. „Und das Rathaus ist das Kloster der Irren“, fügte sie salopp hinzu.
    „Also müssen wir ins Rathaus?“, fragte Balduin. „Etwa in den Keller?“ Er war nun ebenfalls aus einer Art Starre erwacht, wie sein Ziehbruder.
    „Nein, nicht ins Rathaus“, meinte Katharina etwas ungeduldig, obwohl sie es doch war, die sich alles aus der Nase ziehen ließ. „Das geht ja wohl eher nicht, weil… naja, wir haben ja schonmal drüber gesprochen. Nein, die Asservatenkammer ist jetzt bei dem, der letzten Endes auch über die Beweise verfügt. Wenn er es denn tut.“
    Es entstand eine Pause. Katharina sah ihre beiden Mitstreiter an, als veranstaltete sie gerade einen Wissenstest mit ihnen. Marcus jedenfalls fühlte sich ziemlich geprüft. Er musste zugeben, dass er nicht ansatzweise so viele Details über ihre Stadtverwaltung wusste, wie Katharina. Da Katharina aber wohl deutlich häufiger in den Konflikt mit dem Gesetz kam oder sich zumindest immer am Rande solcher Konflikte bewegte, war es nur natürlich, dass sie sich da besser auskannte. Balduin schien die Antwort jedenfalls auch nicht zu wissen.
    „Richter Monsignore Huff“, sagte Katharina schließlich. Marcus und Balduin sahen sie mit großen Augen an. „Auch ein Pfaffe“, fügte sie zur Erklärung hinzu.
    „Mama und Papa haben da mal kurz drüber geredet, aber ich habe nicht richtig zugehört“, versuchte Balduin zumindest den Ansatz einer Ahnung geltend zu machen. „Der soll wohl… etwas komisch sein.“
    „Das soll er wohl sein, ja“, sagte Katharina mit einem Lachen. „Mit jemandem, den die nicht einmal mehr im Kloster haben wollen, muss ja etwas nicht stimmen. Ich habe gehört, der ist da rausgeflogen, weil er sich zu viel an den Weinvorräten bedient hat. Daher auch der Spitzname ’Monsignore Suff’. Aber wie es die klösterliche Gnade nun will, darf er sich nun dadurch rehabilitieren, dass er den Posten des städtischen Richters übernommen hat. Nachdem die ganze Stadtverwaltung ja schon gleichgeschaltet ist, ging das ziemlich unkompliziert, kann ich mir vorstellen.“
    „Und der sitzt jetzt auf unseren Urkunden, oder wie?“, fragte Marcus. Ihm schwirrte ein wenig der Kopf vor diesen ganzen Informationen. Er traute Katharina ja vieles zu, aber mit was sie nun alles herausrückte, das war auch für ihn eine Überraschung. Sie wusste wahrscheinlich besser über das Geschehen in der Stadt Bescheid als so mancher Ratsherr.
    „In dessen Haus im Oberen Viertel werden jetzt jedenfalls die ganzen Beweismittel und der Kram gelagert. Wenn unsere Urkunden also für wichtig genug befunden worden sind, liegen sie jetzt da. Es sei denn, die von der Stadtwache haben jetzt endgültig die Schnauze voll und geben die beschlagnahmten Sachen nicht mehr weiter. In dem Fall müssten wir natürlich doch in die Kaserne einbrechen. Aber das würde ich jetzt erst einmal nicht versuchen.“
    „Woher weißt du das denn alles?“, zeigte sich nun auch Balduin ernsthaft verwundert.
    Katharina druckste ein wenig herum. Marcus vermutete, dass jetzt wohl die Stelle kam, die ihre Freundin daran hinderte, vor Begeisterung ob der neuen Pläne zu strahlen.
    „Naja, wie gesagt… ich kenne da diesen Wachmann. Der hat mir das über Monsignore Suff erzählt und der ist auch derjenige, der uns bei der ganzen Sache behilflich sein kann.“
    „Verstehe“, bemerkte Balduin, ein Gesichtsausdruck wie der eines gelehrigen Schülers. „Du hast was mit dem!“
    „Nein“, sagte Katharina kalt. „Aber das hätte er halt gerne. Und genau das ist mein Ansatzpunkt bei dieser ganzen Sache.“
    Marcus musste nun trotz der angespannten Lage schmunzeln. „Ich sehe schon“, sagte er, „deshalb bist du gerade so.“
    „Wie, so?“, fragte Katharina zurück, in einem Tonfall, der bereits verriet, dass sie in etwa wusste, was Marcus meinte.
    „Naja, so wenig begeistert.“
    „Wärst du begeistert, wenn ein Wachmann auf dich stehen würde?“, maulte Katharina, gab Marcus aber keine Gelegenheit zur Antwort. „Er ist ja so nicht schlecht. Nur etwas… simpel. Aber das spielt uns ja auch nur in die Hände.“
    „Wie heißt er denn?“, wurde Balduin nun immer neugieriger. Marcus war die offen zur Schau gestellte Neugier seines Ziehbruders für die Beinahe-Liebschaften Katharinas etwas unangenehm. Er konnte aber verstehen, was ihn zu dieser Nachfragerei trieb.
    „Rudolph heißt er“, gab Katharina betont emotionslos Auskunft. „Und er ist als Wache für das Obere Viertel eingeteilt. Das hat er betont, von den Kasernisten in der Unterstadt grenzt man sich nämlich neuerdings ab. Eingeteilt ist er vor allem für das Haus von Richter Monsignore Huff. Ist ja ein wichtiger Mann, der Monsignore. Noch dazu jetzt mit Asservatenkammer. Da spart die Stadt natürlich nicht.“
    „Das heißt also“, nahm Marcus den Faden auf, „wenn der Herr Monsignore schläft oder gerade außer Haus ist…“
    „… guckt der Rudi einfach mal weg und schon sind wir drin!“, vollendete Balduin für ihn.
    „So ähnlich“, meinte Katharina, dabei aber offenbar ganz zufrieden, dass sich ihre Mitstreiter nun auch mal eigene Gedanken machten. „Richter Suff verlässt sein Haus im Grunde nie lange. Wenn, dann müssen wir also nachts zuschlagen. Oder besser gesagt: Ich. Ich werde Rudolph dann unter einem Vorwand dazu bitten, mich in das Haus des Richters zu lassen und mir die Asservatenkammer aufzuschließen. Er hat mal damit geprahlt, dass er einen Generalschlüssel für so ziemlich alle städtischen Gebäude im Oberen Viertel besitzt. Hat mich nicht beeindruckt, aber nützlich ist das natürlich. Dann suche ich dort schnell nach unseren Urkunden, und schon ist die ganze Sache aus der Welt. Wer weiß, vielleicht hat auch schonmal jemand anders einen Siegelstempel gefälscht, der dann beschlagnahmt wurde. Wenn der besser ist als unserer, dann nehme ich den auch noch mit.“
    „Unseren haben sie aber auch nicht mitgenommen“, meinte Balduin. „Glaube nicht, dass du da dann fündig wirst, Katharina.“
    „Details, Details“, winkte die junge Frau ab. „Das war ja jetzt auch nicht so ernst gemeint.“
    Marcus lauschte dem Rauschen in seinen Ohren, während die Worte Katharinas verklangen. Seinen Blick hatte er auf die noch immer halb geöffneten Vorhänge vor seinem Fenster gerichtet. Das hereinkommende Licht wirkte fahl. Im Strahl tanzte der Staub.
    „Ist was?“, fragte Katharina auf einmal. Marcus hatte dem Staub wohl etwas zu lange beim Tanzen zugesehen. „Wenn du einen Haken am Plan siehst, jetzt mal abgesehen davon, dass ich mich bei Rudolph einschleimen muss, dann sag es bitte jetzt gleich.“
    „Nein, nein“, sagte Marcus rasch. „Ich sehe da keinen Haken. Ich habe mir das durch den Kopf gehen lassen, aber etwas Besseres fällt mir auch nicht ein.“
    Marcus drehte sich zu Katharina und rang sich ein Lächeln ab. Angesichts ihres Blicks hatte er das Gefühl, sich darin verraten zu haben, dass das nur die halbe Wahrheit war. Sein Kopf war viel zu voll, als dass in diesem Moment noch viel durch ihn durch gegangen wäre. Obwohl das nicht seine Schuld war, fühlte er sich schuldig, dass er so passiv wirkte.
    „Ich hatte nur überlegt“, fügte er zögernd hinzu, „dass wir wohl auf passendes Schuhwerk achten sollten. Ich war noch nie im Haus des Richters, weder von diesem Monsignore noch von dem davor. Aber wenn das so ist, wie die meisten Häuser im Oberen Viertel, dann werden die Dielen ganz schön knarren. Feste Treter sind dann ja eher tabu.“
    „Alle Achtung“, meinte Katharina. „Kündige doch bei Marcus und mach eine Karriere im Untergrundgewerbe, das nötige Hirnschmalz hast du ja. Auch wenn es hier nicht so ganz passt.“
    „Wieso nicht?“
    „Weil ich Rudolph wohl kaum überreden kann, ein paar Filzschühchen anzuziehen“, antwortete Katharina grimmig. „Diese Wachmanntreter bollern ja wie Orkbeine. Die Gefahr, dass Richter Huff durch Schritte wach wird, ist also sowieso gegeben. Auch wenn ich gehört habe, dass der Kerl nicht mehr so gut mit den Ohren sein soll. Aber auf so etwas gebe ich nichts mehr. Dazu habe ich schon zu viele Spontanheilungen solcher Beschwerden erlebt, und das ausgerechnet immer, wenn gerade ich in der Nähe war.“
    „Sowas kenn’ ich“, meinte Balduin auf einmal etwas aufgeregt. „Naja, oder besser gesagt, sowas kenne ich nicht. Ich kenne das von anderen. Haben hier ein Zipperlein und dort eine Beschwerde, und dann ist es auf einmal wieder weg. Bei allen Leuten geht einfach automatisch alles weg. Nur bei mir, bei mir bleibt das natürlich mit diesen trockenen Augen. Die Leute wissen ja gar nicht, wie gut sie es haben.“
    „Muss dieser Rudolph denn unbedingt mit hereinkommen?“, fragte Marcus weiter. „Ich meine, noch besser wäre es doch, wenn er draußen weiter Wache steht, quasi für uns dann.“
    „Wenn er seinen Schlüssel aus der Hand geben würde“, seufzte Katharina. „So, wie der damit angegeben hat, nimmt er den wahrscheinlich sogar nachts mit ins Bett. Naja, oder morgens mit ins Bett, wenn seine Schicht zu Ende ist. Wirkte jedenfalls nicht so, als würde er sich von ihm trennen, selbst, wenn er in der Nähe bleibt.“
    „Aber Katharina“, sagte Balduin, der nun etwas näher an seine Gesprächspartner herankam. „Wenn du Rudolph nur sehr, sehr, sehr lieb bittest…“
    Marcus wollte eine scharfe Erwiderung machen, aber Katharina kam ihm mit Leichtigkeit zuvor.
    „Das wird ’Aber Katharina’ wohl selbst entscheiden dürfen, um wie viel und wie lieb sie Rudolph bittet. Du stellst dir das ja ganz schön einfach vor, Balduin. Vielleicht ist das ja dein lange und gut verborgenes Talent. Leute bezirzen. Wenn das so ist, können wir uns diese Nacht-und-Nebelaktion dann ja direkt sparen. Ich habe über Monsignore Schwucke nämlich auch gehört, dass er allein wegen ein bisschen Wein wohl eher nicht hätte gehen müssen. Da waren wohl ein paar Novizen im Spiel. Da könntest du dann ja direkt zuschlagen, Balduin. Dann wäre auch geklärt, warum du seit Jahren auf Freiers Füßen rumläufst. Du hast einfach noch nicht den Richtigen gefunden, was?“
    „Schluss jetzt“, befahl Marcus hastiger und heftiger, als er eigentlich geplant hatte, und war zudem noch ebenso hastig aufgestanden, weshalb er seinen Stuhl an der Lehne festhalten musste, um ihn vor dem Umfallen zu bewahren.
    „Balduin hat zwar Quatsch erzählt, aber so rumgiften musst du jetzt nicht, Katharina.“
    Marcus bemerkte nun auch, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hielt, lockerte sie aber schnell wieder, weil er allzu angriffslustig auch nicht wirken wollte – und sich eigentlich auch gar nicht so gefühlt hatte. Katharina war diese Geste, das war ihrem Gesicht abzulesen, nicht entgangen. Wie sie nun in breitem Stand auf ihn sah, genau so groß wie er und schlank wie ein Wachturm, flößte ihm das durchaus Respekt ein. Haltung und Züge der jungen Frau entspannten sich aber rasch wieder.
    „Ich werde jedenfalls sehen, was sich machen lässt“, sagte sie nun ruhiger. „Nichts für ungut, Balduin. Ich stehe halt auch unter Stress. Irgendwie.“
    Balduin sagte nichts und klimperte nur mit den Augen. Wenn er angegangen wurde, wurde er selbst meist sehr schweigsam, das wusste Marcus nur zu gut. Immerhin hatte er das in früher Kindheit häufiger mal gegenüber seinem Bruder ausgenutzt. Heute schämte er sich ein bisschen dafür.
    „Danke, Katharina“, sagte Marcus schließlich. „Wenn wir dich nicht hätten…“
    „Dann hättet ihr eine andere, hübschere, ist doch klar“, winkte sie ab. „Ist bei Männern doch immer so.“
    „Ich würde sagen, wir treffen uns dann morgen am späten Abend bei mir“, überging Marcus den Kommentar. „Für heute ist diese Aktion wohl zu kurzfristig, und wenn ich morgen so früh ins Lager muss…“
    Katharina sog scharf Luft ein. Auch das wollte Marcus übergehen, auch wenn er es natürlich nicht überhören konnte. Als sie ihm dann doch noch ins Wort fiel, war er überrascht, dass es ihr gar nicht um seine Arbeit beim alten Lagermeister ging.
    „Ich hatte ja schon angedeutet, dass es wohl eh besser ist, wenn ich das alleine mache“, meinte Katharina. „Auch wenn ich das natürlich sehr ehrenwert von euch finde, dass ihr euch nicht den Arsch von mir hinterhertragen lassen wollt. Aber da Rudolph ja vor allem mir persönlich eine Freude machen will… wenn da dann auf einmal noch zwei Typen mit dabei sind, wisst ihr…. wie würdet ihr euch fühlen? An seiner Stelle? Ich glaube nicht, dass das hinhaut. Ich glaube, ich mache das lieber alleine.“
    Marcus nickte. Er hatte dem nicht viel entgegenzusetzen. Er war zwar bisher die ganze Zeit davon ausgegangen, auch selbst vor Ort zu sein, aber wenn er es sich recht überlegte, konnte er sich selbst bei so einem Quasi-Einbruch nicht so recht vorstellen. Er war sich bei der Herstellung der Urkunde ja schon höchst kriminell vorgekommen. Und ein Fehler im Haus des Richters würde ganz sicher nicht nur mit einer Verwarnung irgendeines bräsigen Wachhabenden enden.
    „Wenn das alles klappt, hast du mehr als nur einen gut bei mir, Rina“, sagte er. Er meinte es sehr ehrlich. Manchmal wollte er Katharina zum Beliar jagen, manchmal aber auch war sie der beste Kumpel, den er hatte. Wenn Marcus es sich recht überlegte, war sie im Grunde auch sein einziger Kumpel. Balduin gehörte schließlich eher in die Kategorie Bruder, und Arbeitskollegen zählten nicht.
    „Bei mir auch“, fiel Balduin mit Inbrunst bei. „Brauchst nur was sagen, ich mache alles!“
    Katharina verzog das Gesicht. „Wie schön, Balduin“, sagte sie. „Werde mich dann sofort melden, wenn ich mal ’alles’ von dir brauche.“
    Marcus bereitete sich darauf vor, schon wieder einen Streit dämpfen zu müssen, aber Katharinas Worte blieben stumpf und wurden rasch von ihren nächsten überholt.
    „Dann würde ich sagen, der Plan steht. Wenn was ist, melde ich mich. Wenn ich die Urkunden habe, sowieso. Macht euch da mal keine Sorgen. Katharina wird das Balg schon schaukeln.“
    Marcus hoffte inständig, dass sie Recht behalten würde.

    _____


    Marcus hoffte inständig, dass er sich bei den Kanonenkugeln nicht verzählt hatte. Der andere Marcus würde das nämlich merken, wie er alles merkte, weil er immer noch nachträglich alles auf Fehler nachzählte. Den beständigen Einwand seiner aus Sparzwang über die Jahre geschrumpften Arbeiterschaft, dann könne man sich das Zählen doch ganz sparen, wenn nur das Ergebnis des Meisters selbst galt, wusste er stets wegzuwischen. So funktioniere eine Inventur nun einmal seit jeher, sagte er dann immer, und er wolle mit diesem System auf die alten Tage nicht mehr brechen, und überhaupt, wenn es ihnen nicht passte, könnten sie ja gehen, allesamt, bräuchten dann aber auch nicht mehr wiederkommen. In einer ruhigen, freundlicheren Minute hatte der alte Marcus dem jungen Marcus dann einmal erzählt, dass er selbst zu Anfang seiner Militärkarriere als Rekrut in einem Lager untergebracht gewesen war, und es dort nicht anders zugegangen war. Dass er allein deswegen im Hafenlager nun die gleichen Saiten aufzog, war dem jungen Marcus dann aber auch alles andere als nett vorgekommen. Das Gegenteil wäre angebracht gewesen.
    Nachdem Marcus die letzte Kanonenkugel zurück in die Kiste befördert und das Ergebnis – einhundertundsiebenunddreißig Stück – auf der Liste eingetragen hatte, ließ er sich erschöpft auf einer unbenutzten Holzkiste nieder und erlaubte sich eine kurze Pause. Er hatte pünktlich, sogar noch vor sechs Uhr, mit der Inventur angefangen. Nun war es bereits kurz nach Mittag, und er hatte seitdem durchgearbeitet. Die meiste Zeit draußen. Im Lagerhaus selbst streunte nur noch ein ihm wenig bekannter Hilfsarbeiter herum. Marcus hatte sich nicht einmal seinen Namen merken können, das wechselte ihm zu schnell. Er hatte das Gefühl, dass das für den anderen Marcus genau so galt.
    Marcus’ fühlte, dass seine Haare ein bisschen feucht waren. Er schwitzte in der Mittagshitze und war stellenweise schwarz von den rußigen Kugeln. Seine Handgelenke – von Natur aus eher dünn und fragil – taten ihm weh, von den ungünstigen Bewegungen beim Greifen und Tragen der Kanonenkugeln. Dafür war das Schwierigste jetzt geschafft. Hätte er geraucht, er hätte sich nun eine angesteckt.
    Er ließ den Blick über den Hafen schweifen. Die Mittagssonne tauchte das Pflaster in Licht. Arbeiter schlurften hin und her, manche auf dem Weg zur Pause, manche auf dem Weg zur nächsten Kiste. Marcus hatte schon länger den Verdacht, dass manche von ihnen einfach nur sinnlos Kisten von einer Ecke zur anderen und wieder zurück schleppten, einfach nur, um beschäftigt zu sein, vielleicht auch, ohne es selbst zu bemerken. Doch immer, wenn Marcus zur Bestätigung dieser Theorie einen von ihnen auf seinem gesamten Weg hin und zurück verfolgen wollte, verlor er ihn früher oder später im Getümmel aus den Augen. Er gab sein Vorhaben deshalb meist rasch wieder auf, aber immer mal wieder startete er einen neuen Versuch aus der Ferne.
    Hier im eigenen Lager war deutlich weniger los. Ilse und Alfred hatten häufiger von den Zeiten erzählt, als noch die Paladine in der Stadt waren und unter anderem hier ihre Übungen durchführten. Welchen Glanz auch immer das Gehampel und Geschepper von Blecheimern – so Katharinas Wiedergabe der Worte ihrer eigenen Mutter – ausgestrahlt haben mochte, davon war nun nichts mehr übrig. Das Lagerhaus hier am Hafen, auf halbem Weg vom Bordell bis hin zur Anlegestelle für die großen Galeeren von einst, schmiegte sich klein und ängstlich an den steinernen Bergrücken an, der sich wie von Riesenhand ausgehöhlt über den Hafenkai bog. Obwohl hier immer noch viel Sonne hinkam, führte das Lager ein gewisses Schattendasein. Marcus fragte sich oft, woher sein Vorgesetzter eigentlich das Geld bekam, um ihn zu bezahlen, wo dieses Lager doch keinen wirklich zu interessieren schien, außer eben den alten Marcus selbst. Andererseits wollte er lieber nicht zu sehr darüber nachgrübeln. Solange er jede Woche seinen Lohn bekam, konnte ihm alles andere schließlich egal sein. Dafür zählte er zur Not auch mal unbrauchbare Kanonenkugeln, halb vergammelte Feldrüben, Kisten voller Kerzenwachs und Fässer voller schlangenhafter Taue.
    „Er ist gerade nicht da, oder? Gut, dann können wir ja reden.“
    Zu müde, um überrascht zu sein, blickte Marcus über seine Schulter nach hinten. Zwischen zwei hohen Kistenstapeln kam Katharina zum Vorschein.
    „Katharina, so früh schon wach“, scherzte Marcus. „Ist doch gerade mal Mittag.“
    „Du mich auch“, sagte Katharina und ließ sich geschickt auf einem großen Fass nieder, die Beine baumelnd. Marcus überlegte, ob er ihr kurzerhand vorlügen sollte, dass sich in dem Fass unter dem Deckel lebende Fleischwanzen befanden, aber so, wie er sie kannte, hätte sie das wohl wenig geschockt. Deshalb ließ er es bleiben. In Wahrheit waren die Wanzen tot.
    „Ich habe gestern Abend noch mit Rudolph gesprochen“, ließ sie verlauten. Marcus machte große Augen.
    „Ging das jetzt doch so schnell?“
    „Es war der beste Zeitpunkt“, meinte Katharina schulterzuckend. „Jetzt im Moment schläft er ja wahrscheinlich noch. Im Gegensatz zu mir. Ich bin schon extra für dich auf den Beinen.“
    „Ich fühle mich schon tief genug in deiner Schuld, da musst du es mit solchen Bemerkungen nicht noch schlimmer machen.“ Marcus senkte seinen Blick, weil ihn die Sonne nun blendete. Außerdem wollte er Katharina gerade nicht in die Augen sehen. Die Vorstellung davon, was sie bei ihrem Treffen mit Rudolph alles so gesagt oder gemacht hatte, berührte ihn irgendwie peinlich.
    „Die Sache geht jedenfalls klar“, fuhr sie fort. „Aber ich nehme jetzt noch Balduin mit.“
    „Wieso denn das jetzt auf einmal?“ Die Erwähnung seines Bruders zog seinen Blick wieder zu Katharina hin. Sie wirkte auch nicht glücklich.
    „Naja, ich musste Rudolph ja irgendeine Geschichte auftischen, warum zum Henker ich in die Asservatenkammer muss. Und weil ich nur dann lüge, wenn es sein muss, habe ich ihm einfach die Wahrheit erzählt. Also, im Prinzip die Wahrheit. So eine flexible Version der Wahrheit. Du weißt, was ich meine.“
    „Weiß ich nicht“, gab Marcus zurück. „Ich war noch nie ein guter Lügner.“
    „Ich habe ihm halt gesagt, dass es da ein Missverständnis mit den Leuten von der Kaserne gegeben hat, Balduin aber doch so dringend seine Geburtsurkunde braucht, die jetzt wiederhaben muss, er sich aber nicht traut das formal zu beantragen und so weiter und so fort. Beim ’formal beantragen’ hatte ich ihn dann so weit. Da kam richtig der Gönner aus ihm heraus. Er wüsste genau, was ich meine, und so weiter. Er müsste auch ständig Papierkram erledigen und dieses und jenes. Kurzer Dienstweg wäre immer noch am besten. Habe ich ihm zugestimmt.“
    „Das heißt, du hast die Urkunden jetzt schon?“ Marcus wurde schlagartig wach. Wenn das stimmte, hätte er sich die halb schlaflose Nacht sparen können.
    „So schnell ging es dann auch wieder nicht“, dämpfte Katharina seine Hoffnungen. „Weil: Vorschrift ist Vorschrift. Das nimmt der Rudolph sehr ernst.“
    „Klang jetzt gerade aber nicht so.“
    „Was weiß ich. Jedenfalls meinte er, er könne mir helfen, aber er dürfe die Urkunde halt nicht an mich herausgeben, sondern müsse sie ihrem Besitzer aushändigen. Sonst würde er sich strafbar machen und es gäbe ein Disziplinarverfahren und überhaupt, wenn jeder machen würde, was er wollte, dann… blabla. Du kennst das ja.“
    „Achso, aber jemanden in die Asservatenkammer zu lassen, während der Monsignore schlummert, das geht, oder wie?“
    „Ich weiß es doch auch nicht, wie gesagt“, drängelte Katharina ein bisschen, sichtlich und hörbar unzufrieden darüber, dass Marcus so auf diesen Details herumritt. Irgendwie mochte Marcus es, Katharina so ein bisschen zu ärgern. So ganz unterschwellig, indem er auf doof tat.
    „Wenn er mir schon die Möglichkeit gibt, die Urkunden da herauszuholen, ohne dass es sonst jemand mitbekommt, dann ist mir egal, wie er das vor sich selbst im Einzelnen rechtfertigt. Aber damit er es macht, muss eben Balduin als Inhaber der Urkunde mit dabei sein.“
    Marcus schüttelte verwirrt seinen von der Sonne glühenden Kopf. Manchmal machten ihn andere Menschen einfach nur ratlos.
    „Sag mal, heißt das jetzt nicht, dass dieser Rudolph sich jetzt sozusagen selbst die Chance genommen hat, ein Quasi-Date mit dir zu haben? Also, ich meine, jetzt holt der sich freiwillig ’nen anderen Kerl dazu, obwohl er mit dir hätte alleine sein können? Ich dachte, der steht auf dich.“
    „Ist auch so“, sagte Katharina, im Tonfall einer Person, für die so etwas der reine Alltag war. „Aber wie gesagt, er ist halt auch ein bisschen… simpel.“
    „Ja, das soll er wohl sein“, lachte Marcus kehlig. Ihm sollte es ja nur recht sein.
    „Deshalb kommt Balduin jetzt jedenfalls mit“, fuhr Katharina fort. „Ich habe auch schon mit ihm gesprochen. Er ist einverstanden. Und nervös.“
    „Balduin ist immer so ein bisschen nervös. Kann ich in dem Fall aber auch gut verstehen. Ich werde ihn aber nicht alleine mit dir gehen lassen.“
    Katharina verengte die Augen und verschränkte die Arme. Sie wollte sich eine Strähne ihrer langen, dunklen Haare aus dem Gesicht pusten, aber sie fiel ihr wieder ins Gesicht zurück und blieb auf ihrer Stirn kleben. Was viele Männer nicht wussten: Auch Frauen schwitzten manchmal.
    „Du musst Balduin nicht immer vor mir beschützen“, sagte sie tadelnd. „Erstens fresse ich ihn schon nicht auf, und zweitens muss er halt auch mal auf eigenen Füßen stehen. Wenn er immer nur die Klappe hält, wenn jemand was gegen ihn sagt, dann lernt er doch nie, sich zu…“
    „Das meine ich nicht“, fiel Marcus ihr ins Wort. „Deswegen nicht. Es geht mir da mehr um was anderes.“
    „Was anderes also.“ Katharina blickte ihn streng an. Die Strähne klebte noch immer auf ihrer Stirn. Marcus machte das ganz fuchsig, am liebsten wäre er zu ihr herübergegangen und hätte sie ihr weggewischt.
    „Immerhin hätten wir das Problem gar nicht, wenn ich nicht wäre“, meinte Marcus. „Ich bin immerhin derjenige, der eine Urkunde braucht. Ohne mich wäre Balduins Geburtsurkunde noch zu Hause bei unseren Eltern, und er müsste nicht so einen Quatsch mitmachen. Da kann ich ihn schlecht alleine gehen lassen. Dann komme ich auch mit.“
    Katharina vergrub die Hände im Gesicht und wischte sich dabei – unbewusst und mehr zufällig, das beobachtete Marcus ganz genau – die Strähne aus der Stirn.
    „Dann muss ich Rudolph ja jetzt verklickern, dass noch ein Kerl mit dabei ist“, ächzte sie.
    „Schaffst du schon“, munterte Marcus sie auf. „Ich meine, drei Kerle und eine Frau. Da zahlen manche richtig viel Geld für.“
    Katharina musste kurz auflachen, aber sie ebbte schnell wieder ab. „Du bist manchmal ein richtiges Schwein“, sagte sie. „Das kommt wahrscheinlich auch von dem Alten. Der hat dir sowas wahrscheinlich sogar erzählt, ne?“
    „Nee“, meinte Marcus trocken. „Das habe ich mir ganz alleine ausgedacht.“
    Sie schwiegen eine Weile, und die Möwen übernahmen das Wort. Kreischende Möwen scheißen nicht, hatte der alte Marcus mal gesagt. Es stimmte nicht. Die Lagerhausfassade war von oben bis unten voll, still war es trotzdem nicht.
    „Na gut“, seufzte Katharina nach einer Weile. „Dann werden wir dich auch noch mitnehmen. Vielleicht ist es auch ganz gut so, wenn du auch noch mit dabei bist. Der Richter ist nämlich… er wird manchmal auch ’Monsignore Puff’ genannt. Mehr muss ich wohl nicht sagen.“
    Vier Männer und eine Frau, überlegte Marcus zu sagen, wurde dabei aber – zum Glück, wie er hinterher befand – direkt unterbrochen.
    „Wer redet da schlecht über den Monsignore?“
    Der alte Lagermeister Marcus war zurückgekehrt und stapfte nun zu ihnen herüber.
    „Marcus… lässt dich wieder von hübschen Frauen von der Arbeit ablenken, was?“
    „Ich war nur kurz hier, um Marcus sein Pausenbrot zu bringen“, säuselte Katharina, ganz überbetont, wie um dem Lagermeister zu zeigen, dass sie ihn für blöd genug für selbst solche offensichtlichen Lügen hielt.
    „Erzähl’ keinen Scheiß“, grantelte dieser nur, musste dabei aber schelmisch grinsen.
    Katharina machte einen Satz vom Fass runter. „Wir sehen uns dann, Marcus“, sagte sie zum Abschied. „Heute Abend bei dir.“
    „Oho, na aber gerne“, sagte der alte Lagermeister, aufs Offensichtlichste vorgebend, er hätte nicht gewusst, wer von den beiden Männern namens Marcus gemeint war. Katharina ging nicht darauf ein und würdigte ihn keines weiteren Blickes, als sie den Lagerplatz verließ. Dafür würdigte sie der Lagermeister nur mit umso mehr Blicken.
    Manchmal war er eben ein richtiges Schwein.
    Geändert von John Irenicus (11.08.2016 um 19:39 Uhr)

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    „Monsignore Suff, Monsignore Puff, Monsignore Muff… was gibt es noch für Namen?“
    Marcus, Balduin und Katharina spazierten durch die kühle sternenklare Nacht und hatten gerade das Obere Viertel betreten. Das Firmament glitzerte nur so. Marcus hatte zwar etwas für Sterne übrig. Diese Nacht aber hätte er es lieber dunkel und bewölkt gehabt.
    „Monsignore Kabuff ginge auch noch“, antwortete Balduin sich selbst. „Mit so einer Asservatenkammer meine ich. Ist die groß oder klein?“
    Katharina antwortete nicht, sie hielt den Blick konzentriert nach vorne gerichtet. Marcus vermutete, dass ihr vor dem kommenden Treffen mit Rudolph etwas graute. Er war gespannt, was der Wachmann wohl für einer war.
    „Rina, danke nochmal, dass du das alles für uns machst. Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt nicht gerade deine liebste Beschäftigung ist, mit diesem Kerl anzubandeln. Du glaubst mir vielleicht nicht, aber ich bin jetzt auch nicht so begeistert, dass du als Frau wieder… naja, du weißt schon…“
    „Tja, da bewahrheitet sich nur wieder das, was meine Mutter mal gesagt hat“, fuhr Katharina dazwischen. „Wenn du nicht gut klauen kannst, dann solltest du wenigstens gut ficken können.“
    „Und wie steht es bei dir?“
    „Ich kann natürlich beides.“
    Balduin schnappte nach Luft.
    „Ich meinte das jetzt aber schon ernst“, setzte Marcus noch einmal an, der sich seine Verwunderung über Katharinas plötzlichen Ausbruch nicht anmerken lassen wollte. Er konnte nicht genau einschätzen, wie Katharina ihre Worte meinte. Ob ihre Flapsigkeit aus bloßer Laune heraus kam oder doch aus schierem Unmut geboren war.
    „Wenn es jetzt nicht unsere einzige Möglichkeit wäre… ich hätte jeden anderen Strohhalm genutzt, wirklich.“
    „Vergiss es einfach“, meinte Katharina. „Gibt Schlimmeres. Du würdest so etwas nicht sagen, wenn du wüsstest, was mein letzter Freund für einer war. Dagegen ist Rudolph Gold wert. Außerdem sieht er ja wie gesagt so schlecht auch nicht aus, vor allem im Dunkeln. Und er scheint sich regelmäßig zu waschen. Wie viele Wachmänner kennst du, die das tun? Mal ganz abgesehen davon, dass ich mit ihm nichts gemacht habe, nichts von dem, was du jetzt vielleicht denkst. Noch nicht. Also entspann dich mal. Ich helfe gern.“
    Marcus sagte nichts mehr. Er fühlte sich nun doch nicht mehr bereit, dieses Thema jetzt bis zum Exzess auszudiskutieren. Solange die Sache für Katharina halberlei in Ordnung ging, sollte es ihm recht sein.
    „Monsignore Wuff“, sagte Balduin auf einmal, „aber dafür fällt mir jetzt keine passende Eigenschaft ein. Vielleicht, wenn er stark behaart ist, wie so ein Wolf. Ist er das, Katharina?“
    Sie passierten gerade das große Rondell im Oberen Viertel, dessen Mitte einst von einer hoch aufragenden Heldenstatue geziert worden war, wie Marcus sich noch aus früher Kindheit erinnern konnte – wobei er den Namen des gezeigten Helden natürlich längst vergessen hatte. Während des Krieges, so hatten Ilse und Alfred mal erzählt, hatte man ernsthaft überlegt, das alte Metall der Statue einzuschmelzen, um die so dringend benötigten Waffen daraus herzustellen. Erbitterter Widerstand seitens der Bürgerschaft hatte dieses Vorhaben auf Eis gelegt. Die Ironie des Schicksals war dann aber gewesen, dass ausgerechnet das Ende des Krieges doch noch den Verlust der Statue bedeutet hatte. Weil die klammen Kassen der Städte Myrtanas es nicht vermocht hatten, die zahlreichen Versehrten- und Witwenrenten auszuzahlen, hatte man im ganzen Reich städtisches Eigentum zu barer Münze gemacht. Und so war auch ihr ’Koloss von Khorinis’, wie man ihn genannt hatte, schließlich doch noch dem Krieg zum Opfer gefallen.
    „Wisst ihr, heute Abend geht es mit meinen Augen fast schon“, plapperte Balduin weiter. „Vielleicht bin ich einfach nur lichtempfindlich geworden und deshalb sind die so trocken. Vielleicht tut es mir dann ja mal ganz gut, eine Nacht aufzubleiben. Ich habe nämlich gemerkt, dass mir das Blinzeln ganz gut tut. Aber wenn ich schlafe, blinzele ich natürlich nicht. Wenn ich jetzt aber stattdessen die Nacht wach bin…“
    „Wir sind gleich da“, hauchte Katharina. „Da vorne ist es.“
    Marcus blickte nach vorne, in einen nur spärlich durch die Straßenlaternen beleuchteten Winkel unweit vom Rathaus, wo ein einzelnes, im Vergleich zu anderen Häusern mittelgroßes Anwesen stand.
    „Einen Wachmann sehe ich jedenfalls nicht“, sagte Balduin. „Vielleicht hat dein Rudolph ja kalte Füße bekommen.“
    „Das glaube ich nicht“, meinte Katharina, und klang dabei überzeugt, für Marcus’ Geschmack etwas zu überzeugt. Er musste seine Zweifel aber bald wieder beiseite räumen, denn noch bevor sie am Eingang des Anwesens angekommen waren, stapfte eine hochgewachsene Stadtwache um die Ecke. Es war ein Schrank von einem Mann, dabei aber mit einem – selbst im unvorteilhaften Laternenlicht – sehr jungenhaft anmutenden Gesicht.
    „Hallo Rudolph“, grüßte Katharina ihn ohne große Erhebungen in der Stimme. Marcus hatte eher ein schmeichelndes Flöten anstelle knapper Worte erwartet. Stattdessen strahlte ihre Gefährtin vor allem wieder ihre charakterprägende Distanz aus. Der Wiedersehensfreude des Wachmanns namens Rudolph schien dies jedoch keinen Abbruch zu tun. Marcus konnte sich gut vorstellen, dass es gerade diese distanzierte Aura Katharinas war, die manche Männer anzog.
    „Hallo Katharina“, grüßte Rudolph überfreundlich zurück und fasste sich dabei an den Gürtel, als wüsste er nicht, wohin mit seinen Händen. „Ich war nur mal kurz… naja, für kleine Wachmänner“, scherzte er und lachte dann nervös. „Das dürfen wir im Dienst eigentlich nicht einfach so machen, aber naja… du sagst ja bestimmt nichts, ne?“
    „Natürlich nicht“, sagte Katharina tonlos. Marcus bemühte sich, anhand ihrer Stimme und ihrer Mimik abzulesen, wie viel Genervtheit sie verbergen musste. Die Bemühungen blieben allerdings weitgehend erfolglos. Katharinas Gesicht war unlesbar wie das einer Sphinx aus Varant.
    „Also, Rudolph“, übernahm sie die Gesprächsführung. „Das hier ist Balduin. Ihm gehört die Geburtsurkunde. Er braucht sie möglichst bald zurück, wie gesagt.“
    „Hallo“, sagte Balduin artig.
    „Und das hier ist Marcus“, fuhr Katharina fort. „Er ist der Bruder von Balduin und… passt ein wenig auf ihn auf. Wir hatten ja darüber gesprochen.“
    „Äh, ja, alles klar“, meinte Rudolph daraufhin nur und wirkte peinlich berührt. Bei Tageslicht, so vermutete Marcus, hätte man ihm die Röte ins Gesicht steigen sehen. Er fragte sich, was Katharina ihm wohl über Balduin erzählt haben musste, dass er selbst, Marcus, nun ebenfalls mit dabei sein durfte. Er konnte es sich aber in etwa vorstellen.
    „Hallo Balduin, hallo Marcus“, sagte Rudolph dann nach einer kurzen Pause, nachdem Marcus es mehr oder minder absichtlich versäumt hatte, sich mit einem kurzen Gruß zu Wort zu melden. Er sah nun im Lichte der Laternenfackel, wie sich auf Rudolphs Stirn ein paar Schweißperlen gebildet hatten. Er war augenscheinlich sehr nervös. Trotz oder gerade wegen seiner großen, breiten Gestalt wirkte der Wachmann unbeholfen. Die fülligen Lippen und das jungenhafte Gesicht wollten nicht recht zu seiner groben Statur passen. Und ja, irgendwie simpel wirkte er auch.
    „Ich hoffe, es geht dann jetzt alles klar, Rudolph“, ergriff Katharina wieder das Wort. „Die Sache ist mir nämlich sehr wichtig.“
    „Ich weiß, ich weiß, Katharina“, beteuerte der Wachmann schnell und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Wie du es mir gesagt hast. Für dich tu ich doch alles. Naja… zumindest alles, was nicht so gefährlich ist, dass es mich meinen Posten als Wachmann kosten könnte. Der ist mir nämlich auch sehr wichtig!“
    „Kann ich gut verstehen“, meinte Katharina nun in einem zutraulich anmutenden Tonfall. Jetzt wurde also doch noch ein bisschen gesäuselt, dachte Marcus zufrieden.
    „Wenn alles gut geht, sind wir ja eh schnell wieder draußen und niemand bekommt etwas mit.“
    „Ja…“, bestätigte Rudolph heftig nickend. „Aber fast schon schade, ich hätte gerne mehr Zeit verbracht. Also… mit dir.“
    „Darüber können wir dann ja noch sprechen, wenn wir das hier hinter uns haben. Ganz so romantisch ist es hier ja eh nicht.“
    Marcus runzelte auf diese Worte die Stirn. Er wusste zwar, dass Katharina alles andere als ein ernsthaftes Interesse an einer romantischen Beziehung zu Rudolph hatte. Das hatte sie deutlich genug erklärt, und in der Tat, dieser Kerl passte wirklich ganz und gar nicht zu ihr. Nur: Das schloss die Aufnahme gewisser anderer Beziehungen ja nicht zwingend aus. Katharinas Verhalten brachte Marcus in dieser Hinsicht ins Grübeln. Ein bisschen wirkte es schon so, als war Katharina dem Wachmann nicht abgeneigt – auf eine gewisse Art und Weise. Das ließ in Marcus ein Gefühl hochsteigen, was er am ehesten als Verwunderung beschrieben hätte. Andererseits war er auch ehrlich genug, um zuzugeben, dass er selber wohl kaum die nötige Kompetenz besaß, um die Attraktivität dieses Wachmanns einzuschätzen. Wenn er Katharina gefiel, dann würde sie dafür schon einen Grund haben. Sie musste es ja schließlich wissen.
    „Dann… würde ich sagen, wir bringen das schnell hinter uns“, sagte Rudolph nun etwas kleinlaut. Der Platz direkt vor dem Eingang zum Haus war relativ gut ausgeleuchtet, aber dieses Licht hätte Marcus in diesem Moment nicht einmal gebraucht, um zu sehen, dass Rudolphs Finger zitterten, als er den Metallring mit dem einzelnen Schlüssel von seinem Gürtel löste. Seinen unsicheren Blick dabei quittierte Katharina mit einem ermutigenden Nicken.
    Der Schlüssel klapperte mehr, als es nötig gewesen wäre. Dann aber hatte Rudolph ihn doch noch ins Schloss bekommen. Es knirschte und klackte einmal, während er ihn drehte. Dann war die Tür auf und sie konnten in das Anwesen hinein. Marcus betrat das Haus erst nach einem vorsichtigen Blick über die Schulter. Niemand außer ihnen war gerade in diesem Bereich des Oberen Viertels unterwegs. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl.
    Das Innere des Hauses war durchaus prunkvoll. Marcus hatte in dieser Hinsicht aber sogar ein bisschen mehr erwartet, vor allem keinen derart engen Flur. Ein herabhängender – freilich gerade nicht brennender – Kronleuchter wurde vom Laternenlicht von draußen beschienen, hier und da konnte man an den verschatteten Wänden Gemälde oder Wandteppiche erkennen, weiter in den Raum hinein glaubte Marcus auf einer Anrichte Silberbesteck aufglitzern zu sehen. Als Rudolph nach einem bereitgestellten – natürlich vergoldeten – Kerzenleuchter griff und alle drei Kerzen entzündete, wurden die Details nur umso klarer. Es war kein königliches Herrenhaus, wohl aber ein Anwesen, welches den Status seines Bewohners nicht verhehlen konnte.
    Rudolph zwängte sich, ohne ihm in die Augen zu blicken, an Marcus vorbei und schlurfte zur Tür des Anwesens, um sie wieder zu schließen. Marcus fühlte sich nun, wo niemand mehr von draußen hereingucken konnte, etwas sicherer. Andererseits war mit dem Zufallen der Tür die Schwelle zum Jetzt geht’s los! eindeutig überschritten. Marcus fragte sich, ob Katharina in diesen gewissen Nächten auch dieses Herzklopfen hatte, welches er selbst gerade spürte. Es war ein eigentümliches Gefühl, heimlich in das Haus eines Fremden eingedrungen zu sein. Marcus zweifelte nun aber keine Sekunde mehr daran, dass dieses Gefühl auch ganz schnell süchtig machen konnte.
    „Wir sollten ab hier nur noch flüstern“, erklärte Rudolph mit entsprechender Geste seines Zeigefingers vor den Lippen. Wie er sich zusätzlich dazu noch duckte, als wollte er so das Risiko mindern, von irgendwem gesehen zu werden, sah er wirklich albern aus. Katharina behielt die Fassung und nickte nur wieder ermutigend.
    „Die Tür zur Asservatenkammer ist gleich hier vorne um die Ecke, wir müssen also nicht weit gehen“, wisperte Rudolph weiter, während er ungelenk über einen wertvoll aussehenden Hocker stieg, den Katharina, Balduin und Marcus einfach umgingen. Marcus erkannte nun das Fell eines Säbelzahntigers auf dem Boden, dessen zugehöriger ausgestopfter Kopf an einer kreisrunden Holzscheibe über ihnen an die Wand genagelt war. Es gehörte bei reichen Leuten dazu, dass sie mittels solcher Trophäen vorgaben, selbst Großwildjäger zu sein. Katharina hatte das einmal erzählt. Überhaupt war die Einrichtung, bei Lichte besehen, ganz genau so, wie man es sich von einem höheren Haus im Oberen Viertel vorstellte. Auch vor den selbstentlarvenden Replikaten eines Prunkschildes und zweier Schwerter an der Wand hatte Richter Huff nicht zurückgeschreckt. Auf einem Regal voller Bücher – nein, Buchattrappen – erkannte Marcus immerhin eine Innos-Statuette. Den Glauben hatte der Monsignore also nicht verloren.
    Sie bogen um eine Ecke. Der Gang blieb immer noch zu eng für vier Leute und kam dann rasch zu einem Ende. Marcus, ganz hinten in ihrem Gänsemarsch, hörte den Schlüssel am Metallring klimpern, noch bevor er die Tür sah. Rudolph hatte in dem engen Flur nicht einmal Platz, sich angemessen seitlich herunterzubeugen, um das Schlüsselloch zur Tür besser erspähen zu können. Seinem Genestel am Schloss nach zu urteilen hätte er das aber bitter nötig gehabt. Es dauerte und dauerte. Marcus blickte sich, teils aus Verlegenheit, teils aus Unsicherheit, immer mal wieder kurz nach hinten um. Das Licht vom Kronleuchter Rudolphs reichte nicht weit. Der Eingangsbereich hinter ihnen war bereits wieder in Schwärze getaucht.
    „Ich… ich krieg ihn nicht rein!“, ächzte Rudolph nervös.
    „Ja… ganz genau so hatte ich mir das mit dir immer vorgestellt“, murmelte Katharina. „Gib mal her“, fügte sie dann lauter, gleichwohl immer noch geflüstert, hinzu. Rudolphs Bubengesicht wurde von Skepsis zerfurcht, seine Stirn wellte sich.
    „Ich darf den Schlüssel nicht aus der Hand geben, Katharina“, erklärte er beinahe flehentlich, wohl schon wissend, dass er ihr irgendwann sowieso nachgeben musste. „Das ist gegen die Vorschriften.“
    „Gehört alles zum kurzen Dienstweg“, wisperte Katharina wenig sanft zurück. „Und der ist doch auch gegen die Vorschriften. Was macht es für einen Unterschied?“
    Marcus wurde von der Sorge gepackt, dass Katharina es sich mit ihrem harschen Tonfall doch noch mit Rudolph verspielte. Nach einem fast eine halbe Minute andauernden Austausch von Blicken aber zeigte sich Rudolph erwartungsgemäß einsichtig.
    „Na gut“, flüsterte er. „Aber nur, weil du es bist, Katharina.“
    „Du bist ein Schatz“, hauchte sie ehrlich erfreut zurück und nahm ihm den Schlüssel aus der Hand. Sie drängelte sich an Rudolph vorbei – so nah, dass es dem Wachmann sicher gefallen musste – und machte sich am Schloss zu schaffen. Rudolph leuchtete ihr bereitwillig. Aber auch bei ihr dauerte es. Marcus konnte von seiner Position aus nicht richtig sehen, was sie da tat – bis sie auf einmal einen halben Satz zurück machte und sich wieder aufrichtete, den Schlüssel noch immer in der Hand. Ihr Gesicht wirkte blass, selbst für ihre Verhältnisse.
    „Scheiße“, zischte sie. „Das Ding kann doch auch gar nicht passen.“
    Sie wandte sich zu ihren Gefährten um. Keiner sagte etwas. Marcus und Balduin blieben stumm und bewegungslos, Rudolph dagegen wurde hibbelig.
    „Komm mal etwas näher mit dem Leuchter ran“, bat Katharina, und es dauerte, bis Rudolph verstanden hatte, dass er gemeint war. Die flackernden Kerzen warfen tanzende Schatten an die Wand. Es hatte in dieser Situation etwas seltsam Beruhigendes, obwohl der Flur mit Anspannung gefüllt war.
    „Ich dachte für einen Moment, das Ding will nicht rein, weil schon ein anderer Schlüssel von innen steckt, deshalb habe ich mich so erschrocken“, erklärte sie wispernd, während sie den Schlüssel im Licht drehte. „Aber wenn ihr hier mal schaut… vorne am Bart, wenn man richtig hinsieht, sieht man, dass der einen Tick verbogen ist und an einer Stelle auch etwas abgeplatzt. Das ist tödlich für einen Generalschlüssel. Da hilft es auch nichts mehr, den Bart kurz zu schleifen.“
    Marcus verstand nicht genug von Schlüsseln und war zudem erstaunt, dass sie Bärte trugen, aber wenn Katharina so etwas sagte, dann würde es wohl stimmen. Was er sehr gut verstand, war jedenfalls ihr Blick in Richtung Rudolph, der in Sachen Hibbeligkeit nun noch eine Schippe drauflegte.
    „Die Haustür konnte er ja immerhin noch öffnen“, druckste er herum und verstummte sogleich wieder. In Marcus’ Ohren klang das nach einem unausgesprochenen Geständnis.
    „Hat aber ganz schön geknirscht, was?“, giftete Katharina. Sie wirkte nun nicht mal mehr im Ansatz freundlich. Marcus konnte in der Situation nicht entscheiden, ob er das gut oder schlecht von ihr fand. Zwischen ihr und dem Wachmann knisterte es, aber wohl anders, als letzterer sich das vorgestellt hatte.
    „Ja, schon“, sagte Rudolph, niedergeschlagen und mit wabernden Schatten im Gesicht. Von irgendwo her musste ein Luftzug kommen, der die Kerzenflammen so tanzen ließ. „Er war auch schon ein wenig schwergängig. Ach Katharina, es tut mir leid, ich hatte doch nur gehofft…“
    Er brach ab, in seinem Gesicht die Unschlüssigkeit eines kleinen Jungens, wie er eine Sünde vor einem Geistlichen formulieren sollte. Marcus lachte innerlich bitter. Der Wachmann war dafür zwar im richtigen Haus, stand gerade aber vor der definitiv falschen Person für so etwas.
    „Jetzt, wo es die letzten Tage so heiß war… also, die Sonne hat richtig geknallt, auf den Schlüssel drauf. Wir wurden schon einmal gewarnt, dass das Metall etwas weich werden kann, wenn es ganz heiß ist. Was ja erst einmal kein Problem ist… aber wenn man sich dann ungünstig auf eine Mauer setzt, mit dem Schlüssel am Gürtel, meine ich… also dabei wird das passiert sein, wohl.“
    Erneut machte er eine Pause, schaute Katharina an, erwartete anscheinend, dass sie ihn entschuldigte. Aber sie tat es nicht. Sie starrte weiter, leer, gar nicht wirklich gereizt oder enttäuscht. Sie schien zu überlegen, Rudolphs Schlüssel dabei aber beinahe schon wieder vergessen zu haben. Der Wachmann sah sich genötigt, seine Erklärung noch weiter auszuführen. Marcus glaubte, gut einschätzen zu können, wie Rudolph sich gerade fühlte. Jeder Wutausbruch Katharinas wäre ihm in diesem Moment wahrscheinlich lieber gewesen als dieses bedrückende Schweigen.
    „Verstehst du? Wenn der Schlüssel dann heiß ist und das Metall etwas biegsamer als sonst… ich habe wohl halb draufgesessen. Also ja, habe ich wirklich gemacht. Aus Versehen natürlich. Ich habe es dann irgendwann auch gemerkt, aber ich habe am Schlüssel nicht wirklich etwas gesehen. Sah für mich ganz normal aus. Also, ich hatte schon ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Aber ich wollte die Aktion nicht deshalb abblasen. Ich wollte… niemanden enttäuschen. Außerdem sollte das ja auch nicht herauskommen.“
    Rudolph wurde beim Erzählen etwas lauter als es nötig und vor allem als es ratsam war. Marcus sah jedoch keine Chance, ihn irgendwie zu beruhigen. Das traute er nur Katharina zu. Aber die schien selbst einfach nur darauf zu warten, dass Rudolph fertig wurde. Vielleicht, so schätzte Marcus, wusste sie einfach besser, wie sie Rudolph zum Schweigen bringen konnte. Indem sie selbst auch schwieg. Marcus konnte sich jedenfalls gut vorstellen, dass jegliches Wort der Mahnung oder gar Entlastung durch Katharina nur noch mehr Worte in Rudolph zum Hervorsprudeln gebracht hätte – und dann stünden sie noch hier, wenn Richter Monsignore Huff im Morgenmantel heruntergeschlurft kam.
    „Bei der Haustür dachte ich dann schon, dass der Schlüssel ja doch noch geht und war schon etwas beruhigt. Als ich uns vorhin aufgeschlossen hatte, naja… du hast das Knacken ja auch gehört, Katharina, sagtest du. Tut mir leid. Vielleicht können wir es ja aber doch noch versuchen, wenn wir den Schlüssel irgendwie wieder geradebiegen…“
    „Vergiss es“, erbarmte sich Katharina endlich wieder ein paar Worte. Ihre Augen funkelten im Schein der Flammen. Marcus maß dem wenig Bedeutung bei – so sahen Augen eben aus, wenn sie mit Feuer beschienen wurden. Aber es verlieh ihr in der Tat das Aussehen einer Abenteurerin, die gerade einen neuen Plan gefasst hatte, der sie alle retten würde.
    „Ich hoffe mal, dass das Schloss hier nicht allzu kompliziert ist“, fuhr sie fort, während sie dem um gefühlt zwanzig Zentimeter kleiner gewordenen Rudolph den Schlüssel zurückgab. „Wenn das nämlich so eines ist, wie im Rathauskeller, dann sehe ich schwarz.“
    Mit einer ruckartigen, blitzschnellen Bewegung fasste sich Katharina ans Bein und zog einen grünlichen Dolch hervor, der im Kerzenschein flimmerte wie eine magische Waffe. Balduin, der die ganze Zeit noch bedrückter geschwiegen hatte als Marcus, machte einen schrillen, aber kurzen Laut der Überraschung, den er geistesgegenwärtig rasch dämpfte. Im Ergebnis klang er wie eine Maus. Katharina grinste. Offenbar hatte sie die anderen bewusst ein wenig erschrecken wollen. Jetzt, so dachte Marcus, jetzt kam wohl ihr großer Auftritt.
    „Willst du dir den Weg mit dem Dolch jetzt freihacken?“, fragte Balduin leise. Er hatte anscheinend wieder halbwegs an Fassung gewonnen. Marcus kannte ihn jedoch gut genug, um auch bei ihm die Anspannung zu spüren. Er konnte es gut nachvollziehen. Immerhin stand die Rettung seiner Geburtsurkunde nun gewaltig auf der Kippe.
    „Die Klinge brauche ich nicht“, sagte sie lächelnd und ihrer Mimik nach zu urteilen auch ein bisschen geschmeichelt davon, dass nun wirklich alle Blicke auf sie und ihr Tun gerichtet waren. „Aber schau dir mal den Griff genau an.“
    Balduin schaute, und Marcus schaute auch, aber indem sie sich nach vorne beugten, verdeckten sie das Kerzenlicht. Rudolph stand einfach nur aufrecht wie eine Schwertkampfübungspuppe daneben und rieb sich beständig mit dem Daumen der freien Hand über die Fingerkuppen. Er schwitzte weiter. Marcus hatte ein bisschen Mitleid mit ihm.
    „Der Griff dieses Dolchs ist ein Skelettschlüssel. Ich habe ihn damals von meiner Mutter bekommen, als sie… nicht mehr weitergemacht hat. Ich benutze eigentlich lieber normale Dietriche als ihn, weil es bei dem Teil schon gewissen Verschleiß gibt. Aber für manche Schlösser ist er einfach wie gemacht. Das könnte mit dem Schloss hier klappen.“
    „Skelettschlüssel klingt ja finster“, meinte Marcus, als er doch noch einen Blick auf den Griff des grünlichen Dolchs erhascht hatte. Er war in der Tat einem Schlüssel nicht unähnlich, nur irgendwie verzerrt, wie einer schlechten Skizze entsprungen. Der Name Skelettschlüssel wäre ihm dafür jedenfalls eher nicht eingefallen – auch wenn das, was Katharina den Bart des Schlüssels nannte, bei diesem hier dünn wie der Knochensplitter eines Toten wirkte. Vielleicht deshalb.
    „Wenn der Generalschlüssel nicht mehr richtig funktioniert, haben wir wohl keine andere Wahl“, meinte Balduin. Für Marcus’ Geschmack lag in diesen Worten etwas zu viel an Aufforderung. Er konnte es verstehen, dass sein Bruder darauf drängte, die Asservatenkammer endlich zu öffnen. Aber andererseits hatte Katharina nun schon wirklich viel für sie getan. Wenn sie den Skelettschlüssel nur ausnahmsweise benutzen wollte, schien ihr einiges an ihm zu liegen. Marcus wollte nicht, dass Katharinas Selbstaufopferung zur Selbstverständlichkeit geriet. Im Grunde hätte ihr niemand einen Vorwurf machen können, wenn sie in diesem Moment die Aktion einfach abgebrochen hätte und nach Hause gestiefelt wäre.
    „Rudolph, wenn du noch einmal leuchten würdest…“, bat Katharina. Der Wachmann gehorchte ihr aufs Wort und tat sein Bestes, ihr das Türschloss zur Asservatenkammer auszuleuchten. Marcus hielt den Atem an, als Katharina den Skelettschlüssel ans Schloss führte. Dieser zweite Versuch machte ihn nun noch angespannter als der erste.
    „Er geht auf jeden Fall schonmal rein“, murmelte Katharina angestrengt. „Jetzt muss ich nur die Zylinder richtig erwischen. Das sollte eigentlich kein großes Problem mehr sein.“
    Erst jetzt bemerkte Marcus, wie dick die Luft im Flur eigentlich war. Man hätte Figuren aus ihr kneten können, vielleicht sogar einen Ersatzschlüssel für die Asservatenkammer. Marcus blickte auf die flackernden Flammen. Vielleicht tanzten sie gar nicht so wegen eines Luftzugs, sondern weil ihnen nach und nach der Sauerstoff ausging.
    Plötzlich ertönte ein Geräusch, das Marcus an zwei aneinanderreibende Steine sowie splitterndes Holz erinnerte und ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Katharina reagierte noch heftiger, indem sie den Skelettschlüssel ruckartig wieder aus dem Schloss herauszog und sich mit zuckenden Augen umblickte.
    „Rudolph“, hauchte sie. „Hat der Richter vielleicht irgendwann einmal erwähnt, dass er einen Schutz gegen falsche Schlüssel und Dietriche –“
    Katharina brach ab, und dann geschah alles ganz schnell, eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, die Marcus noch während des Erlebens wie eine Halluzination vorkam. Aus dem Boden direkt vor der Tür schoss geräuschvoll eine orangene Feuersäule hervor, welche das hölzerne Türblatt selbst unberührt ließ, Katharina aber voll erfasste. Katharina ließ einen Schrei ertönen, der kaum noch an sie selbst erinnerte, aber in dem Gebrüll der Flammen rasch wieder unterging. Sie stürzte brennend zu Boden und löste sich in dem magischen Inferno förmlich auf. Die Feuersäule war längst wieder im Boden verschwunden, aber Katharina stand in Flammen. Marcus fühlte seine Beine beben, wie sie ihn, wie von Gotteshand gesteuert, zurück in den Eingangsbereich trugen, wo seine ebenfalls fremdgesteuerten Hände den Wandteppich von der Mauer rissen. Auf dem Rückweg rammte Marcus sein Schienbein versehentlich gegen den herumstehenden Hocker, aber seine Nerven waren so taub, dass er das nur am Rande mitbekam. Seine Augen sahen durch einen Tunnel, ein Tunnel, der ihn wieder zur brennenden Katharina führte, der Balduin und Rudolph irgendwo in einen toten Winkel verbannte. Er spürte, wie die brennende Hitze seine Arme hochkroch, als er sich hinunterbeugte um das magische Feuer mit dem Wandteppich zu ersticken, aber das Gefühl war das einer Flamme aus weiter Ferne. Der Teppich legte sich um Katharinas Silhouette, konnte die Flammen aber nicht bedecken, denn sie gingen einfach durch den Stoff durch, bis auch der Teppich selbst Feuer fing. Unter dem Teppich bewegte Katharina sich nicht, sie zappelte nicht, sie zuckte nicht, sie schien immer kleiner zu werden und schrie auch nicht mehr. In Marcus wuchs der schreckliche Gedanke, dass unter dem Teppich nichts mehr von ihr übrig war.
    „Marcus“, hörte er Balduin hervorwürgen, „Marcus! Katharina! Katharina!“
    Wenige Augenblicke später griffen die Flammen, zärtlich leckend, auf die Dielen über. Nur die Tür, die Tür zur Asservatenkammer, sie blieb unberührt. Marcus fühlte an seinem Fuß, der sich noch zum Teil unter dem Teppich befand, wie Balduin am Stoff zerrte.
    „Tu es nicht!“, wollte Marcus krächzen, unsicher, ob tatsächlich Worte aus seinem Mund hervorkamen. Auch Rudolph griff mit einer fleischigen Hand nach dem Ärmchen Balduins, doch konnte dieser mit der anderen Hand am Teppich ziehen. Zum Vorschein kam, inmitten der nun ringförmig auf den Dielen tanzenden Flammen, der Körper Katharinas, verdreht, verbrannt und zum Teil aus Asche, ihr ehemals hübsches Gesicht um ihr Kinn, ihre Haare und ein Ohr bereits beraubt, mit kleinen Flämmchen, die noch immer an ihrer nun nicht mehr weißen, sondern krebsrot bis schwarzen Haut leckten. Das Bild verblasste vor Marcus’ Augen, als er aus der Ferne Schritte hörte und sich umwandte.
    „Sie ist…“
    „Komm jetzt, Balduin“, fiel Marcus seinem Bruder ins Wort und packte ihn am Arm, aber er fühlte sich an wie hunderte von Tonnen schwer, festgewachsen wie ein Stein im brennenden Holz, eine marmorne Trauerweide gebeugt über die verbrannte Katharina.
    Rudolph sagte nichts, wimmerte nur und presste geräuschvoll Luft aus seiner Kehle, als Marcus seinen Ziehbruder so heftig zog, dass dieser mit einem Fuß leicht gegen den Kopf Katharinas stieß.
    „Komm jetzt endlich! Es hilft niemandem was, wenn der Richter…“
    „Einbrecher im Hause?“, ertönte eine Stimme von den Treppen, die von schweren, aber langsamen Schrittgeräuschen begleitet war. „Ihr habt euch euer eigenes Grab geschaufelt!“
    Rudolph zuckte bei diesen Worten zusammen, so stark, dass sich das Zucken sogar deutlich von seinem Dauergezitter abhob. Selbst in seiner vernebelten Wahrnehmung konnte Marcus ahnen, was nun passieren würde, und genau diese Ahnung wurde wenige Augenblicke später Realität. Der Wachmann sah sich einige Male hektisch um, warf noch einen Blick auf Katharinas leblosen Körper am Boden, präsentierte seine vor Panik geweiteten Pupillen ein letztes Mal seinen beiden Gefährten wider Willen – und ergriff dann die Flucht aus dem engen Gang. Wenige Sekunden später hörte man die Tür des Anwesens wieder zuknallen. Rudolph hatte das Gebäude verlassen. In so ziemlich jeder anderen Situation hätte Marcus über so ein Verhalten eines Wachmanns die Nase gerümpft oder böse gespottet. In diesem Moment aber hatte er anderes zu tun.
    „Komm jetzt, verdammt!“, zischte Marcus nun noch energischer und riss am Arm seines Bruders, der nun endlich herübergestolpert kam. In Marcus’ Ohren war das Rauschen der Flammen längst vom Rauschen des Meeres abgelöst worden. Es passte, denn auch seine anderen Sinneseindrücke waren mit Rauschen vermengt. Auch der Geruch von verbranntem Fleisch.
    „Wenn wir jetzt gefasst werden, wird es nur noch schlimmer!“, fuhr Marcus fort, dem die Panik in Hals und Rachen stieg, bis er würgen musste. Endlich machte Balduin Anstalten, ihm selbstständig zu folgen. Von der Treppe her, die sich irgendwo auf der anderen Seite des Eingangsbereiches des Anwesens befinden musste, wurden die Schritte lauter. Marcus erwartete jederzeit, dass der Richter um die Ecke kam, musste aber zunächst mit Entsetzen erkennen, wie Balduin hinter ihm noch einmal kehrt gemacht hatte. Marcus traute sich angesichts des herannahenden Hausbewohners nicht einmal mehr, eine Warnung zu zischen, und wollte das Anwesen nun zur Not auch selbst verlassen – dann aber kam Balduin doch wieder zurück, in der Hand Katharinas Dolch mit dem Skelettschlüssel am Griff. Sein Blick war starr, als verstand er selbst nicht, was er gerade gemacht hatte. Marcus wollte ihm zunicken, aber sein Nacken war steif, steif wie seine Beine, doch die konnten immerhin noch rennen. Balduin war ihm dicht auf den Fersen, als er die glücklicherweise nur geschlossene, aber nicht verschlossene Tür zum Anwesen aufriss und ins Freie hetzte. Auf dem Platz vor dem Haus des Richters war noch immer nichts los. Marcus konnte schlecht einschätzen, wie viel Lärm sie gemacht hatten und wann das Feuer die ersten Schaulustigen anziehen würde, aber das war zweitrangig. Wichtig war nur, dass sie den kürzesten Weg zurück in sein Haus, notfalls in eine unbewohnte Hütte im Hafenviertel fanden, falls man ihnen folgte. Und noch wichtiger war, dass Marcus dabei nicht auch noch Balduin verlor.
    Denn für diese Nacht hatten sie schon genug verloren.
    Geändert von John Irenicus (11.08.2016 um 19:40 Uhr)

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    Marcus’ Kopf war bis zur Erschöpfung gefüllt mit Leere. Den einzigen kleinen Spalt, den er sich in diesem dichten Gedankennichts freihalten konnte, nutzte er wie automatisiert dazu, zu überlegen, was eher aufhören würde: Das Rauschen in seinen Ohren oder die Fluten aus Balduins Augen.
    Sein Ziehbruder saß zusammengekauert auf dem Boden, den Rücken wie in Selbstkasteiung unbequem an den Bettkasten angelehnt, und drückte mal mehr, mal weniger stumm Träne um Träne aus seinem Gesicht. Die Tropfen hatten ihn mittlerweile bevölkert wie eine Schar aus Parasiten, auf den Wangen, auf der Nase, auf den Lippen und am Kinn hingen sie, und ein nicht unbeträchtlicher Teil hatte einen dunklen See auf seiner einstmals hellen Hose gebildet. Balduin war das fleischliche Abbild von Marcus’ Gefühlswelt, die irgendwo hinter dem Vakuum in seinem Kopf verborgen sein musste.
    Ihm fielen keine tröstenden Worte ein, weil es in dieser Situation keine tröstenden Worte gab. Er hätte seine eigenen Laute ohnehin nicht hören können, sie wären in dem kaskadierenden Rauschen schlicht untergegangen. Nicht taub, sondern betäubt fühlte Marcus sich, und wie er an seinem Schreibtisch saß, sich immer wieder auf seinem Stuhl windend und drehend und den Rücken gegen die Tischplatte drückend, musste er seine Sinne angestrengt von der erdrückenden Leere freigraben, um überhaupt noch etwas zu spüren. Er fühlte sich von einer Krankheit verpestet, die sich nicht amputieren ließ, weil sie voll und ganz mit ihm selbst verwachsen war. Marcus hatte schon immer geglaubt, dass die Worte der Priester über das dunkle Reich unter ihnen nichts weiter als verlogene Angstmacherei waren. Nun hatte er die Bestätigung erhalten, auf die er so gerne verzichtet hätte: Das dunkle Reich lauerte nicht unter den Menschen, es entstand in den Menschen selbst. Dieser, und nur dieser Umstand war es, der eine Flucht vor ihm unmöglich machte.
    „Ich kann einfach nicht aufhören“, glaubte Marcus seinen Ziehbruder sagen zu hören. „Ich habe Angst, dass ich noch austrockne.“ Balduins Stimme wurde von rauschenden Fluten erstickt. Marcus stand auf und fühlte Schwindel. Er zweifelte daran, ob man jemandem helfen konnte, wenn man selbst Hilfe benötigte. Aber den einen Schluck Wasser würde er Balduin noch bringen können. Er stapfte in die vom Lichtschein der Kerzen beinahe unberührte Ecke seines Hauses und zog eine große Tonkaraffe und einen ebenso gearteten, wenn auch kleineren Becher hervor. Er zitterte, als er das Wasser eingoss, und verschüttete dabei einen gut sichtbaren Teil auf dem Holzboden, der sich aufgrund der allgemeinen Feuchtigkeit ohnehin schon lange verzogen hatte. Nichts schien in diesem Augenblick egaler.
    Als Marcus seinem Bruder den Becher an die Hand gab, sah er sich doch noch zu ein paar Worten gezwungen, und er war erstaunt, wie klar er sich selbst hören konnte.
    „Du wirst schon nicht austrocknen. So etwas passiert nicht. Vergiss nur nicht, zu trinken. Sonst wird dir schlecht.“
    „Mir ist auch so schon schlecht“, würgte Balduin zwischen zwei Schlücken hervor.
    „Zum Kotzen bitte rausgehen, mache ich nachher auch noch“, ließ Marcus verlauten und meinte es sogar ernst. Er überlegte kurz, ob er sich neben seinen Bruder setzen wollte oder sollte, kam aber zu keinem eindeutigen Schluss und kehrte deshalb lieber wieder zu seinem Schreibtisch zurück. Auf dem Stuhl winkelte er seine Beine an und stützte seinen Kopf auf die Knie. So hatte er auch früher schon immer gesessen, wenn er Sorgen hatte oder sich allein fühlte. Genau diese Sorgen wünschte er sich nun allesamt zurück. Sie alle waren ein lächerliches Abbild der Probleme gewesen, die er jetzt hatte.
    Marcus’ Blick fiel auf Katharinas Dolch, der mittlerweile auf seinem Schreibtisch lag. Balduin hatte sich noch lange nach ihrer Ankunft im Haus nicht von ihm trennen wollen, bis er ihn nach einiger Überzeugungsarbeit und sanfter Gewalt doch noch aus der Hand gegeben hatte. Marcus wusste nicht, was sie mit diesem Ding, dessen Griff so viel Unheil angerichtet hatte, nun tun sollten. Es erschien ihm auch alles andere als wichtig. Innerlich gab er allerdings zu, dass es richtig von Balduin gewesen war, das Stück nicht einfach im Haus des Richters liegen zu lassen. Marcus kannte die ironischen Verläufe des Lebens genug, um zu vermuten, dass der Dolch samt Skelettschlüssel sonst in der Asservatenkammer gelandet wäre. Es war gut, dass Balduin das nicht zugelassen hatte. Marcus selbst, das musste er sich eingestehen, hatte in dieser Situation an so etwas nicht gedacht.
    Nachdem Marcus den grünlich schimmernden Dolch auf dem Schreibtisch platziert hatte, hatte er sich nicht mehr getraut, ihn noch einmal anzufassen, mochte auch noch so eine große Faszination von ihm ausgehen. Eine Faszination, die pendelte zwischen dem Wunsch, diese Waffe in die Hand zu nehmen und zu führen, und dem Wunsch, diese Waffe mit einer kurzen Bewegung vom Schreibtisch wegzufegen. Marcus wollte den Dolch ansehen und wollte es gleichzeitig doch nicht. Es war ein unerträglicher innerer Widerspruch, der selbst aber bloßes Symptom war für all das, was gerade in Marcus vorging oder auch nicht vorging. Das dunkle Reich Beliars entstand im Menschen selbst, und es war unmöglich, ihm zu entfliehen.
    „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragte Balduin. Am Klang seiner Stimme erkannte Marcus, dass er diese Frage jetzt schon mehrmals gestellt hatte. Er musste sie überhört haben. Es spielte keine große Rolle, weil er keine Antwort wusste. Katharina hätte sie gewusst. Er nicht.
    „Ich weiß es nicht“, sagte Marcus tonlos. „Für diese Nacht jedenfalls nichts mehr. Und dann…“ Er brach ab. Wenn er in die Zukunft dachte, stieß er auf eine Wand. In dieser Situation schien es ihm unwahrscheinlich, dass es überhaupt eine Zukunft geben konnte, obwohl ihn sein Verstand zur Einsicht drängte, dass es sie geben musste. „Ich weiß es nicht“, sagte er noch einmal.
    Das Denken in die Vergangenheit fiel ihm leichter, gleichwohl schwer. Die Flucht aus dem Haus des Richters war wie aus einem schlimmen Rausch heraus geschehen. Marcus war rückblickend froh, dass er und Balduin keine größeren Hindernisse hatten überwinden müssen. Selbst die Torwachen zum Oberen Viertel, die sie bei ihrem nächtlichen Eintritt noch gelangweilt beäugt, aber nicht angesprochen hatten, hatten nicht reagiert, als Marcus und Balduin durch das Tor hinaus gestürmt waren – denn sie waren gar nicht mehr vor Ort gewesen. Marcus konnte nur mutmaßen, dass das etwas mit Rudolphs Flucht wenige Augenblicke vorher zu tun gehabt haben musste, aber sicher war er sich nicht. Es war ihm auch egal. Was zählte, war, dass sie unbehelligt zu seinem Haus zurückgekehrt waren – auch, wenn es nicht besonders viel zählte. Der Gedanke, wegen eines Einbruchs geschnappt zu werden, wog im Vergleich zu Katharinas Tod nicht mehr schwer. Vielmehr hätte Marcus es beinahe als gerechte Strafe gespürt. Als Strafe dafür, dass er Katharina überhaupt in diese Geschichte mit hineingezogen hatte.
    Es klopfte an der Tür. Für einen Moment verknüpfte Marcus’ Verstand das Geräusch automatisch mit der Ankunft Katharinas. Als sei doch alles nicht so schlimm gewesen, als habe sie sich retten können, sei nun wieder hier bei ihnen. Die Vorstellung stach in sein Herz.
    Balduin hörte auf zu schluchzen und blickte Marcus unsicher an.
    „Tu einfach so, als wäre keiner da“, flüsterte er, aber Marcus schüttelte den Kopf.
    „Wer auch immer da klopft, er muss schon längst gesehen haben, dass hier noch Licht brennt.“
    Marcus ging zur Tür. Trotz seiner Worte war er dabei ganz automatisch auf Stille und Heimlichkeit bedacht. Dem Drang, durch einen Spalt in der Tür nach draußen zu schauen, wollte er aber nicht nachgeben. Die Tür war nicht abgeschlossen. Hätte ihm jemand Böses gewollt, er wäre längst in sein Haus eingedrungen.
    „Wer da?“, fragte Marcus stattdessen.
    „Hier ist Rudolph“, kam es dumpf und leise von der anderen Seite. Marcus war sich bewusst, dass seine Haustür viel zu dünn und klapperig war, um diesen Wandel in Rudolphs Stimme bewirkt zu haben. Es war zwar unverkennbar die Stimme des Wachmanns – zumindest sofern sich Marcus korrekt erinnerte – aber in ihr war beinahe sämtliche Nervosität einer matten Schwere gewichen. Marcus konnte das gut nachfühlen.
    „Bitte, lass mich rein“, sagte der Wachmann draußen noch einmal, und diesmal lag doch wieder ein großes Stück Nervosität in seiner Stimme. Es war dieser Umstand, der Marcus dazu brachte, seine Bedenken, einen Mann der Stadtwache in sein Haus zu lassen, beiseite zu wischen. Er öffnete die Tür.
    „Ich hoffe mal, das ist kein mieser Trick, damit du dich bei der Stadtwache rehabilitieren kannst“, knurrte Marcus, als er dem blass wirkenden Rudolph ins Gesicht schaute. „Ansonsten gibt es in dieser Nacht nämlich einen Toten mehr.“
    Es war nicht so, dass Marcus über sich selbst erschrak, denn er kannte diese Seite, die er manchmal an sich hatte und dann gezielt ausspielen konnte. Nichts lag ihm ferner, als Rudolph irgendetwas zuleide zu tun, war der Wachmann doch ebenso von Katharinas Tod betroffen wie er selbst. Es ging ihm nur darum, jedes weitere Unglück zu verhindern. Wie er den leicht bebenden und nun sprachlosen Rudolph vor sich stehen sah, taten ihm seine Worte aber direkt leid.
    „Komm rein.“
    Rudolph nickte und zwängte sich an Marcus vorbei, der ihm Platz machte, indem er sich zur Seite drehte. Nachdem Marcus noch seinen Kopf durch die Tür nach draußen gesteckt und sich ein paarmal nach etwaigen Verfolgern umgesehen hatte, schloss er die Tür wieder und folgte Rudolph zurück ins Innere des Hauses.
    Balduin, der das Gespräch gehört haben musste und sich rechtzeitig die Tränen getrocknet hatte, rang sich zu einem kehligen Begrüßungslaut durch.
    „Ich kann dir leider keinen Stuhl anbieten“, sagte Marcus an Rudolph gewandt. „Naja, schon. Aber der hält dich wohl nicht aus.“
    „Ist auch gar nicht nötig“, brachte Rudolph hervor, ebenso aus der Kehle, wie zuvor Balduin. Dann schwieg er und fuhr sich mit den Daumen über die Fingerkuppen. Marcus bemerkte, dass er keine Fackel dabei hatte, er musste sie bereits weit vor dem Haus gelöscht und weggeworfen haben. Offenbar hatte er sehr sicher damit gerechnet, in das Haus eingelassen zu werden. Marcus wusste nicht, was er davon halten sollte.
    „Wie hast du überhaupt mein Haus gefunden? Ich meine, woher weißt du, dass ich hier wohne?“
    „Sie hat es mir erzählt.“ Rudolph verstummte nach jedem Satz augenblicklich, seine Worte klangen so sehr abgehackt, wie von einem Fallbeil präzise an den Kanten abgeschnitten und um jeden Wildwuchs erleichtert. „Ich wollte mehr über dich wissen, bevor du mitkommst. Da hat sie mir gesagt, wo du wohnst. Sei ihr nicht böse deswegen.“
    „Du spinnst doch“, erwiderte Marcus kopfschüttelnd. „Ihr böse sein, na klar. Für wen hältst du mich?“
    Rudolph sagte nichts, und wieder taten Marcus seine Worte sofort leid. Der Tod einer gemeinsamen Bekannten war wohl nicht gerade der beste Anlass, um sich näher kennenzulernen. Marcus fragte sich, ob so Beerdigungen aussehen mussten. Eine Schar von Leuten, die sich in ihrer Hilflosigkeit beständig auf die Füße trat. Er wischte den Gedanken rasch wieder weg.
    „Du kannst dich auf meinen Schreibtisch setzen, wenn du willst.“
    „Nein danke, geht schon.“
    Da waren sie wieder, die abgehackten Worte. Marcus hatte das Bedürfnis, dem jungen Wachmann irgendwie etwas Gutes zu tun, ihm eine Last abzunehmen, die er so offensichtlich mit sich trug. Aber er wusste nicht, wie. Er wusste es auch bei Balduin nicht und bei sich selbst ebenso wenig.
    „Warum bist du dann überhaupt hier?“, fragte Balduin aus seiner Ecke. Es klang patzig. Marcus aber glaubte, seinen Ziehbruder gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es nicht so gemeint war. Genau, wie Rudolph nicht absichtlich so abgehackt sprach. Marcus fragte sich, wie seine eigene Stimme wohl gerade in den Ohren der anderen klang, welche seltsame, ihm verborgen bleibende Form sie angenommen hatte.
    „Ich weiß es selbst nicht so genau“, sagte Rudolph, der auf Balduins Worte überrascht geschaut hatte, als habe er sich diese Frage selbst zuvor nicht ein einziges Mal gestellt. „Ich wusste einfach nicht, wohin. Nachdem ich das Haus des Monsignore im Stich gelassen habe und dann auch noch vor den Torwachen weggerannt bin…“
    „Ich kann das verstehen, das ist schon okay, dass du zu uns gekommen bist“, gab Marcus schnell zu verstehen. Er sah sich bemüßigt, die Patzigkeit in Balduins Worten rasch wieder auszugleichen. „Vorausgesetzt, du lieferst uns nicht deinen Vorgesetzten aus.“
    „Habe ich denn noch Vorgesetzte?“, fragte Rudolph unsicher, so unsicher, dass es gar nicht wie eine rhetorische, sondern eine ganz ernsthafte Frage klang, auf die Marcus und Balduin möglicherweise eine Antwort wussten.
    „Formal entlassen wurdest du ja wohl noch nicht“, stellte Balduin fest. „Wie denn auch.“
    „Ich glaube, du könntest das deinen Chefs noch irgendwie verkaufen, dass du überrumpelt wurdest und dann den Übeltätern nachjagen wolltest, oder so“, fügte Marcus hinzu.
    „Meint ihr?“, fragte Rudolph, weiterhin in dieser Hilflosigkeit, die bei Marcus ein kleines, inneres Stechen auslöste. Was für eine Nacht, aus der alle Beteiligten geschlagen herauskamen. Marcus hätte es nicht gewundert, würde die gesamte khoriner Bevölkerung am kommenden Morgen unter einem diffusen Unwohlsein leiden. Erschüttert vom Tod einer jungen Frau, ohne davon zu wissen.
    „Es spielt sowieso keine Rolle“, murrte Balduin und senkte seinen Kopf gen Boden. Marcus war sich sicher, dass er damit neuerliche Tränen verbarg.
    „Ja…“, hauchte Rudolph, wirkte aber so, als hatte er die vergangenen Worte bereits alle wieder vergessen. „Es tut mir leid“, fügte er dann noch hinzu. „Ich war…“
    Der Wachmann brach ab, hielt sein Haupt aufrecht, präsentierte das Glitzern in seinen Augen. Marcus zog es ein bisschen zu ihm heran, er gab dem Impuls in seinen Beinen jedoch nicht nach.
    „Es ist nicht deine alleinige Schuld“, sagte Marcus. „Ich habe auch Fehler gemacht. Wäre ich nicht gewesen, wir hätten im Haus des Richters nichts zu suchen gehabt.“ Vielleicht, so dachte Marcus, war das der Grund, warum Rudolph sie aufgesucht hatte. Womöglich wollte er einfach von ihnen entschuldigt werden. Marcus nahm den Wunsch in sich auf.
    „Aber ich dachte“, begann Rudolph und musste sich zwischendurch räuspern. „Ich dachte, es ging um seine Geburtsurkunde. Oder?“
    Balduin reagierte nicht auf diese Worte. Er hielt sein Haupt weiterhin gesenkt, hielt sich unbeteiligt. Marcus bemerkte das kleine, subtile Zittern im Körper seines Ziehbruders. Er sah es und spürte es gleichzeitig in sich selbst. Vibrierend wie die Flügel einer kleinen Blutfliege. Flirrend, gleichzeitig leicht und schwer.
    „Auch“, antwortete Marcus dem Wachmann. „Aber es ging eben auch um meine Geburtsurkunde. Balduin?“
    Marcus wandte sich noch einmal seinem Ziehbruder zu, denn er verspürte den Wunsch, Rudolph die Wahrheit über das Geschehen, den Grund ihrer Schnüffelei im Richterhaus, zu erzählen. Katharinas Tod hatte Rudolph mit einem Bein mit in ihr Komplott hineingezogen, auf schmerzhafte Art und Weise. Marcus glaubte, dass Rudolph deswegen nun ein Anrecht darauf hatte, die Wahrheit zu erfahren, wenn er schon die Folgen dieser Wahrheit tragen musste. Aber das hatte nicht nur er allein zu entscheiden. Balduin jedoch schien gar nichts damit zu tun zu haben. Weder machte er Anstalten, Marcus in seinem Vorhaben zu bestätigen, noch hielt er ihn dabei auf. Immerhin hob er kurz den Kopf und sah ihm in die Augen. Es war kein Groll in ihnen zu sehen. Das genügte.
    „Wir wollten nicht nur in die Asservatenkammer, um Balduins Geburtsurkunde von dort zu holen“, begann Marcus seine Erklärung, in der Hoffnung, Rudolph damit nicht zu überfordern. Er setzte darauf, den jungen Mann wenigstens auf Gefühlsebene zu erreichen, damit er spürte, dass er nicht alleine schuld an Katharinas Tod war, dass er bloß ein weiterer zufälliger Faktor in einem unglücklichen Geschehen war.
    „Wir wollten von dort nämlich auch meine Geburtsurkunde holen“, fuhr Marcus fort. „Oder besser gesagt: Das, was meine Geburtsurkunde hätte werden sollen und auch geworden wäre, hätte ich nicht alles versaut.“
    „Ich verstehe nicht…“
    „Seit einiger Zeit werden Schreiben von der Stadtverwaltung verschickt, an alle Männer unter dreißig Jahren. Fast alle. Bedienstete der Stadt sind größtenteils ausgenommen, weshalb du so ein Schreiben wohl nicht bekommen hast. Wer jedenfalls nicht innerhalb von vier Wochen nachweisen kann, dass er von einem gebürtigen Bürger Khorinis’ abstammt, wird der Stadt verwiesen.“
    „Das… davon wusste ich nichts.“
    „Ja, das sagen sie alle.“
    Rudolph schwitzte nun wieder ein wenig, wie einige Stunden zuvor im Haus des Richters. Marcus hoffte, dass das kein schlechtes Omen war.
    „Ich jedenfalls kann diesen Nachweis nicht erbringen. Im Gegensatz zu Balduin, wenn er denn seine Geburtsurkunde wiederbekäme.“
    „Aber wie kann das denn sein? Ich dachte, ihr seid Brüder?“
    „Nicht ganz. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich fühle mich wie Balduins Bruder, aber ich bin es nicht. Deshalb droht mir der Rauswurf aus der Stadt. Leute wie ich gelten aus Sicht der Verwaltung als unrein.“
    Marcus machte eine Pause, mehr zum schlichten Luftholen als um Rudolph die Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen. Die Möglichkeit wusste der Wachmann ohnehin nicht zu nutzen. Er rang nach Worten, stand da, als fühlte er sich mitschuldig für die Entscheidungen einer Verwaltung, deren Büttel er war. Marcus beseitigte schnell wieder das Schweigen, welches diesen unausgesprochenen Vorwurf an Rudolph aufrecht hielt.
    „Deshalb haben wir… hat Katharina… versucht, einfach eine Geburtsurkunde über mich herzustellen, die bescheinigt, dass ich von einem khoriner Bürger abstamme. Eben anhand von Balduins echter Urkunde. Und nur weil ich mich so dumm, so fürchterlich dumm beim Aufdrücken des Urkundensiegels angestellt habe… wenn das nicht passiert wäre, hätten wir die Urkunden noch und alles weitere hätte nicht geschehen müssen. Das ist die Wahrheit.“
    Für einen Moment hatte sich Marcus gefühlt, als ob mit dem Aussprechen dieser Ereignisse diese dunklen Wolken, die über ihm kreisten, gelichtet werden könnten. Aber tatsächlich hatte sich nichts geändert. Er fühlte sich genauso schlecht wie zuvor. Mit dem Anblick Rudolphs wurde dieser Zustand nicht gerade besser. Der junge Mann sah erschreckend hilflos aus, und Marcus glaubte, in etwa zu wissen, wie es gerade in ihm aussah. In diesem Moment fühlte er sich Rudolph näher als seinem Ziehbruder. Marcus wollte den Verlust Katharinas für Balduin nicht kleinreden. Aber er glaubte, dass seine eigene Trauer und die Rudolphs sich viel mehr glichen. Es zog ihn nun noch mehr nach Rudolph hin, was aber auch daran lag, dass dessen Beine bebten und gefährlich wackelig aussahen, während der Wachmann weiter nach Worten zu ringen schien.
    „Ich…“, begann er, brach dann aber ab und musste einen Ausfallschritt zur Seite machen, weil er schwankte.
    „Rudolph, wenn du dich doch auf den Schreibtisch setzen willst…“, sagte Marcus und machte einen Satz nach vorne, um Rudolph zu stützen. Rudolph war jedoch schon in seine Richtung gekippt und fiel ihm flugs in die Arme, war dabei aber zu groß und schwer, als dass Marcus ihn wirklich hätte halten können.
    „Rudolph, ich…“, keuchte er, wurde vom Gewicht des anderen Mannes aber weiter zurückgedrängt, bis er – Rudolph noch immer in seinen Armen – auf dem Schreibtisch aufsaß und das Taumeln so beenden konnte. Den erstaunten Blick Balduins von weiter hinten aus dem Raum fing er nur kurz auf, dann sah er Rudolph direkt in die Augen. Marcus spürte eine ganz subtile Gewichtsverlagerung in Rudolphs Körper, die bedeutete, dass er wieder Halt gefunden hatte. Trotzdem blieb er in Marcus’ Armen. Sein Atem ging spürbar, schwer, aber nicht hektisch. Marcus bemerkte, dass sein eigener Atem genauso ging, sich anglich, synchron wurde. Als Rudolph nach seiner Hüfte griff, ließ er es einfach geschehen. Da war etwas zwischen ihnen, was in so tragischer Weise durch den gemeinsamen Verlust Katharinas entstanden war, etwas, was nie hätte entstehen sollen. Aber nun war es da, unerklärbar, unfassbar, verschwommen in der Gestalt. Marcus’ Sichtfeld war nun auf eine seltsame Weise aufgehellt, als hätte jemand eine weitere Kerze in diesem schummerigen Raum entzündet. Marcus konnte nicht recht ausmachen, ob sein Kopf sich zu Rudolph hin bewegte oder Rudolph seinen Kopf zu ihm herabsenkte. Seine Augen waren blau und seine Lippen rotes Wachs, als sie sich trafen. Es war ein langer Moment, zu lange, um es als Versehen, Verwirrung oder Einbildung abzutun, viel zu lange, als dass es mit dem Anstandsdenken aller Sittenwächter der Stadt noch irgendwie zu vereinbaren gewesen wäre. Das Anstandsdenken, durch welches ihnen ihre Katharina erst genommen worden war.
    Als Marcus seine Hände über die kräftigen Arme Rudolphs gleiten ließ, spürte er ihn zurückweichen. Marcus, der seine Augen unmerklich geschlossen hatte, öffnete sie wieder und sah in ein Gesicht, welches nicht mehr so betrübt, vielmehr überrascht und ungläubig aussah. Marcus konnte sich vorstellen, dass er selbst nicht viel anders schaute. Sein Blick wanderte herüber zu Balduin in der Ecke, der aufgestanden war und nun wieder dort an der Wand lehnte, bereit, in ihr zu verschwinden. Aber er verschwand nicht. Er blickte zurück, starrte nicht, hatte einen Gesichtsausdruck, der keine Meinung zum Geschehenen verriet. Marcus aber erkannte, dass dieser Gesichtsausdruck angestrengt war, von Balduin selbst aufgezwungen, um seine Meinung gezielt zu verbergen. Marcus spürte ein Gefühl, welches er, wie ihm erst jetzt klar wurde, noch nie vor seinem Ziehbruder gespürt hatte: Ihm war die Situation peinlich.
    „Ich… ich weiß nicht, was…“, stammelte Rudolph, der noch einen Schritt vom Schreibtisch zurück gemacht hatte. „Mir ist etwas komisch.“ Er wippte mit seinen Beinen, ließ die Knie kurz kreisen. Sie bebten nicht mehr. „Danke, dass du mich aufgefangen hast.“
    Marcus wusste darauf nichts zu sagen, zumal ihm Rudolph ja einfach in die Arme gefallen war. Seinen Ansatz, das Geschehene darauf zu reduzieren, hieß er aber gut. Was auch immer da zwischen ihnen war, jetzt war der falsche Zeitpunkt dafür. Auch deshalb kehrte nun wieder dieses dichte Schweigen ein, welches mit dem schummerigen Licht im Hause eine bedrückende Symbiose einging. Marcus saß still auf dem Schreibtisch, Balduin lehnte stumm an der Wand, Rudolph stand sprachlos mitten im Raum. Bis er dann doch wieder etwas sagte.
    „Wisst ihr schon, wie ihr… ich meine, wie wollt ihr jetzt weitermachen? Mit deiner Geburtsurkunde, meine ich… mit euren Urkunden.“
    „Wir wissen es nicht“, sagte Marcus und senkte den Kopf, er wollte bei diesen Worten nicht noch einmal in Rudolphs Augen sehen. „Ich weiß nicht einmal mehr, ob das noch Bedeutung hat. Auch wenn ich gerade noch dachte, dass wir gerade wegen… Katharina weitermachen müssen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann, ob ich das noch will. Und selbst wenn… ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen. Meine Lage hat sich beständig verschlechtert. Und jetzt sind wir am Tiefpunkt. An einem noch tieferen Tiefpunkt. Ich kann den Scheißdreck nicht mehr ertragen, wirklich.“
    Beim Sprechen noch bemerkte Marcus, wie ihm die Worte entglitten, wie er Rudolph gegenüber mehr von seinem Innenleben preisgab, als es seine Art war. Trotzdem hielt er sich nicht vom Weiterreden ab. Zu verheimlichen gab es ohnehin kaum noch etwas.
    „Ich frage nur…“, meinte Rudolph und ballte die Hände zu Fäusten, stoppte somit das beständige Fahren seiner Daumen über die Fingerkuppen. „Weil ich eine Idee habe. Keine tolle Idee. Tolle Ideen waren nie meine Stärke, leider. Sonst wäre ich wohl nicht bei der Stadtwache gelandet. Aber das ist jetzt zu Ende.“
    „Wie gesagt“, versuchte Marcus zu trösten, „es steht ja noch nicht fest, dass du rausgeschmissen wirst.“
    „Ja, aber das meine ich nicht. Ich will bei denen jetzt nicht mehr mitmachen.“
    Rudolph atmete einmal tief durch. Marcus überlegte, was er dazu sagen sollte, versuchte einzuschätzen, wie ernst es seinem Gegenüber war. Er kam jedoch zu keinem Schluss.
    „Aber vorher“, hauchte Rudolph nun, etwas atemlos, „vorher sorge ich dafür, dass ihr eure Urkunden zurückbekommt. Um jeden Preis. Sonst war alles umsonst.“
    „Ich weiß nicht, ob so ein Alleingang eine gute Idee ist“, sagte Marcus kraftlos. „Ich finde es nett von dir, dass du uns helfen willst, aber… ich weiß nicht. Je mehr Leute involviert werden, desto schlimmer scheint es zu werden. Wenn du dich jetzt auch noch in Gefahr bringst, dann…“
    Rudolph schüttelte den Kopf. „Genau deshalb will ich ja, dass niemand sonst außer mir mitmacht. Meine Entscheidung steht fest. Ich besorge euch eure Urkunden. Das bin ich auch Katharina schuldig.“
    Marcus hatte das ungute Gefühl, dass Rudolph die Tragweite seiner Entscheidung nicht ganz durchblickte. Wenn er sich als Stadtwächter mit seinem Arbeitgeber auf welche Weise auch immer anlegen wollte, würde er wohl mit Sicherheit den Kürzeren ziehen, wenn er sich nicht äußerst geschickt anstellte – was Marcus ihm zwar zutrauen wollte, aber leider nicht konnte. Er konnte sich gut vorstellen, dass Rudolph seine Entscheidung, überhaupt erst bei der Stadtwache anzufangen, in ähnlicher Weise getroffen hatte.
    „Ich schätze mal, wir können dich davon nicht mehr abbringen“, sagte Marcus und drückte damit die andere Seite seines unguten Gefühls aus. „Aber du musst mir etwas versprechen.“
    Rudolph schaute ihn an, mit seinen tiefen, blauen Augen. Sie waren ein bisschen wie kleine Seen, auch Marcus beim Gedanken daran fremdelte, Augen mit Gewässern zu vergleichen. Aber er tat es.
    „In deinem Zustand gönnst du dir erst einmal ein paar Tage Pause. Wir haben es nicht eilig. Wir haben noch ein paar Wochen, bis wir die Urkunden vorweisen müssen. Versprich mir also, dass du nicht sofort losstürmst, egal, was du vorhast. Komm morgen bei Tag noch einmal vorbei, und sag, was du machen willst. Vielleicht kann ich es dir dann noch ausreden. Bitte, versprich mir das.“
    „Ich kann dir nichts versprechen“, sagte Rudolph, nun mehr mit der Mimik eines neu ernannten Ministers als der eines scheidenden Wachmanns. „Aber ich will es mir zu Herzen nehmen. Lange werde ich aber nicht mehr warten können. Je eher ich mich von der Stadtwache lossagen kann, desto besser.“
    „Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache“, sagte Marcus, während Rudolph einige Schritte zur Tür hin machte. Der junge Wachmann wirkte nicht mehr so nervös wie zu Beginn seines Besuchs. Gerade das machte Marcus wiederum umso nervöser.
    „Das habe ich auch“, meinte Rudolph nur. „Ich will jetzt gehen. Ich war jetzt lange genug hier. Ihr hört von mir. Wenn ihr möchtet.“
    „Möchten wir“, sagte Marcus und nickte ihm freundlich zu. Dann ging Rudolph an ihm vorbei, hielt betonten Abstand. Marcus konnte verstehen, was ihn dazu trieb. Wenige Augenblicke später hatte Rudolph sein Haus verlassen. Er hinterließ eine unangenehme Ruhe und einen Geruch nach brennenden Kerzen.
    „Glaubst du, dass er irgendwelche Dummheiten machen wird?“, wagte Marcus sich, Balduin anzusprechen, während er seinen Blick auf die wieder geschlossene Haustür gerichtet hielt. Die Antwort war ein kurzer Aufschrei und das Geräusch von krachendem Holz. Marcus wirbelte herum. Balduin stand mit einem Bein im Boden.
    „Innos, habe ich mich erschrocken“, keuchte Marcus. „Ich dachte schon, du wärst jetzt doch noch durch die Wand gefallen.“ Er fing den fragenden Blick Balduins auf. „Vergiss es einfach“, sagte er dann. Er näherte sich Balduin und sah, dass dieser tatsächlich durch den Holzboden der Hütte gekracht war. Sein rechtes Bein war bis fast zum Knie versunken, die Holzdielen um die Einbruchsstelle herum waren auseinandergebogen, wenn nicht vollkommen abgesplittert. Marcus war verblüfft. Er hatte zwar schon häufiger den Verdacht gehabt, dass sich Hohlräume unter seinem Haus befanden, hatte dies aber einfach auf alte Molerattunnel unter seinem Heim oder bloßen Pfusch beim Bau des Hauses zurückgeführt und sich nicht weiter darum gekümmert.
    „Ist dir was passiert? Kommst du alleine heraus?“
    Balduin gab die Antwort, indem er erst eine Grimasse und dann sein Bein aus dem Loch zog. Es knirschte und krachte dabei noch ein paar Male. Marcus hing nicht allzu sehr an seinem Haus, aber dass jetzt ein unübersehbares Loch im Holzboden entstanden war, schmerzte schon ein wenig. Im Moment aber gerieten derlei Gedanken ganz in den Hintergrund.
    „Unter dem Boden ist etwas“, sagte Balduin. Er vergewisserte sich, dass sein Bein keine Schäden davongetragen hatte, indem er es streckte und mit den Händen darüber fuhr. Dann ging er in die Hocke und fischte mit den Händen an den scharfkantigen Holzsplittern der Dielen vorbei. Ein paar von ihnen waren nach oben geklappt, als Balduin sein Bein wieder herausgezogen hatte, und standen nun drohend wie kleine Speere in die Höhe.
    „Tu dir nur nicht weh“, mahnte Marcus, aber Balduin schien da weniger Sorge zu haben. „Pack mal mit an“, sagte er, „das scheint eine Truhe zu sein.“
    „Eine Truhe? Aus Holz?“ Marcus kam näher, ging neben seinem Ziehbruder in die Hocke, entschied dann aber, dass er besser knien sollte.
    „Wohl eher aus Eisen“, keuchte Balduin angestrengt.
    Marcus beugte sich nun ebenfalls über das Loch und sah das dunkle, quaderförmige Etwas, welches Balduin an einem Seitengriff festhielt. Marcus fischte nun ebenfalls im Loch herum, fühlte Staub, Steine, Spinnweben und Dinge, bei denen er lieber nicht näher nachdenken wollte, was sie denn waren, bis er den Griff auf der anderen Seite der Truhe fand. Nach einigem Prozedere hatten er und Balduin die Truhe in eine Position geschoben, in der die beiden sie durch das Loch herausheben konnten. Das allerdings dauerte noch einige Zeit, denn Balduin hatte bezüglich des Gewichts der Truhe nicht übertrieben. Als er und Marcus sie dann endlich gehoben hatten, hatte letzterer schon die Befürchtung, sie würde direkt wieder durch den Holzboden nach unten krachen, wenn die beiden sie abstellten. Diese Befürchtung bewahrheitete sich aber nicht.
    „Ich hasse es, so dünne Handgelenke zu haben“, meinte Balduin. „Wenn du dir mal Rudolph ansiehst… der hätte damit kein Problem gehabt. Mir tut jetzt alles weh.“
    „Ja gut, meine sind ja quasi fast wie deine“, erwiderte Marcus, dem die Handgelenke vom Herausziehen der Truhe tatsächlich ebenfalls schmerzten. Als er das Vorhängeschloss der Truhe sah, fürchtete er, dass die ganze Anstrengung dann auch noch umsonst gewesen war.
    „Bevor du deine Lehre bei Brian abgebrochen hast, da hast du nicht zufällig gelernt wie man Eisen verbiegt oder zersägt oder so?“
    „Doch doch, das kam dran, aber genau deswegen musste ich sie ja abbrechen“, sagte Balduin trocken. Marcus schmunzelte, fühlte aber gleichzeitig einen kurzen Stich in seinem Inneren. Es war erstaunlich, wie Routine manchmal über Trauer siegte. Er empfand das nicht als richtig, wenige Stunden nach dem schlimmen Ereignis. Aber für den Moment wollte er diese Verdrängung zulassen. Die ganz bitteren Stunden würden noch kommen.
    „Bombenfest“, sagte Balduin, nachdem er ein bisschen am Schloss herumgerüttelt hatte, schrille Geräusche von Eisen auf Eisen verursachend. Auch Marcus kam zum selben Ergebnis, als er die Truhe an den Seiten untersucht hatte. Der Truhendeckel bot nicht einmal den kleinsten Spalt, um sie eventuell zu verbiegen oder aufzuhebeln.
    „Dann war’s wohl doch umsonst“, murmelte Marcus. Balduin wollte sich so schnell nicht zufrieden geben.
    „Irgendeine Bedeutung muss die Truhe haben, sonst wäre sie nicht mit so einem großen Schloss gesichert“, folgerte er. „Kommt es dir denn nicht merkwürdig vor, dass hier unter deinem Haus so eine Truhe versteckt ist? Wer weiß, wie alt die ist!“
    „Kann sein“, sagte Marcus, schob seine Füße nach vorne und ließ sich mit dem Oberkörper nach unten sinken, bis er flach auf dem Boden lag. „Aber gerade habe ich nicht so die Kraft dafür. Das ist mir alles zu viel.“
    In seinen Ohren schwoll das Rauschen wieder an, während er Balduin beim Herumhantieren an der Truhe zuhörte. Sein Ziehbruder schien sich, nun, wo diese Truhe im Spiel war, viel weniger vom Tod Katharinas herunterziehen zu lassen. Vielleicht, so vermutete Marcus, vielleicht lag es daran, dass er sich schon ausgeweint hatte. Marcus selbst fühlte sich dagegen auch ohne Tränen ausgetrocknet und leer. Das musste einem doch zusetzen.
    „Vielleicht liegt der Schlüssel ja auch noch da unten?“, hörte Marcus Balduin fragen und sah, wie sich der Lichtschimmer des Kerzenleuchters im Raume verschob. Ihn störte es ein wenig, dass Balduin so eine Unruhe veranstaltete, aber er fühlte sich im Augenblick zu schwach, um etwas dagegen zu sagen.
    Seine Gedanken kehrten zu Katharina zurück. Dann zu Rudolph. Und dann wieder zu Katharina. Und immer so weiter. Er sah Katharina auf den Fässern vor dem Lager sitzen, dann sah er sie in das Haus des Richters eintreten, wenig später sah er sie verbrennen und er blinzelte, um das Bild zu verscheuchen.
    „Sieht fast nicht so aus, als wäre hier noch etwas.“
    Dann sah er Rudolph, groß und breit, vor sich stehen, sah seine Lippen, seine Daumen, wie sie erst über die eigenen, dann über Marcus’ Fingerkuppen fuhren. Aber das war gar nicht wirklich geschehen. Oder?
    „Vielleicht gibt es an anderen Stellen auch noch solche Schächte. Aber ich glaube, um das herauszufinden, müssten wir den ganzen Holzboden zerstören. Das machen wir mal lieber nicht.“
    Er sah Katharinas Haare, wie sie an ihrer Stirn klebten. Sie war nass, weil es so geregnet hatte. Kam daher das Rauschen? Dabei hatte es die letzte Zeit eigentlich gar nicht geregnet. Oder?
    „Ich schau noch einmal kurz hier unten nach, aber ich habe eigentlich schon alles abgesucht. Es geht auch nicht ganz so weit rein.“
    Er stellte sich Katharinas Mutter vor, aber die Gestalt blieb ein Schatten. Ob sie ihrer Tochter ähnlich sah? Hatte Katharina eigentlich mal ihren Namen erwähnt, irgendwann?
    „Da ist nichts zu machen, da ist kein Schlüssel. Das war es dann wohl mit der Truhe. Schade.“
    Katharina und ihre Mutter standen Arm in Arm zusammen, aber es sah irgendwie merkwürdig aus. Wie gut war ihr Verhältnis? Es musste jedenfalls gut genug gewesen sein, dass ihre Mutter ihr
    „…den Skelettschlüssel!“, raunte Marcus und öffnete seine Augen. Er setzte sich auf. Balduin stand bereits neben ihm, die Sorge ins Gesicht geschrieben. Marcus hoffte, dass er während seines Wegdämmerns nicht beständig geredet hatte. Als er sich die Müdigkeit aus den Augen blinzelte und er Balduins Gesicht wieder klar sehen konnte, hatten sich die Züge seines Ziehbruders bereits wieder aufgehellt.
    „Natürlich“, sagte er. „Da hätten wir auch direkt darauf kommen können. Meinst du denn, es ist in Ordnung, wenn wir…?“
    „Ich glaube, Katharina würde rasend werden, wenn sie wüsste, dass wir so eine Truhe ungeöffnet lassen“, sagte Marcus. „Wir tun ihr wahrscheinlich eher einen Gefallen damit, wenn wir das Teil benutzen.“
    Balduin nickte unsicher und schien darauf zu warten, dass Marcus irgendetwas unternahm. Marcus tat im Grunde genau das Gleiche, nur dass er aufmunternd statt unsicher nickte. Als Balduin immer noch wie festgewachsen auf der Stelle verharrte, richtete er nochmals das Wort an ihn.
    „Nimm du ihn. Du hast ihn aus dem Haus des Richters gerettet, also sollst du ihn auch benutzen dürfen.“
    Marcus log nicht, als er das sagte, und trotzdem war es nur die halbe Wahrheit. Ihm selbst grauste es nun davor, den Dolch anzufassen, der Katharina letzten Endes das Leben gekostet hatte. Nicht, weil er Angst vor ihm hatte. Vielmehr, weil er sich nicht für die richtige Person hielt, dieses Werkzeug zu benutzen. Nicht, wenn er daran schuld war, dass Katharina ihn überhaupt an dieser einen verdammten Tür hatte verwenden müssen.
    Balduin zögerte noch ein wenig, dann aber setzte er sich doch noch in Bewegung. Marcus blieb sitzen, bis sein Ziehbruder mit dem grün schimmernden Dolch Katharinas wieder bei ihm war. Dann blieb er immer noch sitzen und nickte seinem Ziehbruder noch einmal zu. Dieser kniete sich vor die Truhe, führte den Skelettschlüssel ans Schloss. Er zitterte, schien nicht so recht geeignet zu sein – sowohl Balduin, als auch der Skelettschlüssel. Metallisches Klappern, ein leichtes Rasseln. Als es einmal klickte, schnürte Marcus’ Kehle zu. Als es ein zweites Mal klickte, entspannte sie sich wieder. Dann zog Balduin das geöffnete Vorhängeschloss ab. Er legte es neben den Kerzenständer, den er ebenfalls auf dem Holzboden abgelegt hatte. Marcus hoffte, dass sie ihn nicht noch aus Versehen umstießen. Es hatte genug gebrannt.
    Balduin wandte sich noch einmal zu Marcus um, im Gesicht die unausgesprochene Frage nach dem Soll ich?. Marcus blickte ein Nun mach schon! zurück. Balduin nickte und Marcus hörte ihn einmal tief Luft einsaugen. Ob sie auch wieder entwich, hörte er nicht.
    Nichts quietschte, als Balduin den schweren Eisendeckel der Truhe hochklappte. Marcus rückte ein wenig näher heran, um auch ihren Inhalt sehen zu können. Statt Gold, Degen und Dublonen lag dort nur ein einzelnes, dickeres Buch, mit vergilbten und von längst vertrockneter Feuchtigkeit gewellten Seiten. Balduin holte es vorsichtig heraus.
    „Das ist nicht das, was ich erwartet habe“, sagte er.
    „Was hast du denn erwartet?“
    Balduin zuckte nur mit den Schultern. Marcus spürte in der hintersten Ecke seiner Gefühlswelt einen kleinen, sofort wieder erlöschenden Funken Neugier aufglimmen. Er hielt nicht viel davon, in dieser Situation in einem alten Buch herumzublättern, welches so wichtig nicht sein konnte, wenn es sein ehemaliger Besitzer hiergelassen hatte. Andererseits wusste Marcus in der gegenwärtigen Lage überhaupt nichts von irgendetwas zu halten, und wenn sie schon nicht wussten, was sie tun sollten, so entschloss er, konnten sie genau so gut eben doch in einem alten Buch herumblättern.
    „Leg es auf den Schreibtisch“, sagte Marcus und griff nach dem Kerzenleuchter. „Du kannst meinen Stuhl haben.“
    Auf dem Schreibtisch sah das Buch größer aus als noch in der Truhe. Der Ledereinband war dunkelbraun mit gelegentlichen schwarzen Flecken. Er sah etwas angebrannt aus und roch nach irgendetwas. Marcus schmeckte Salz auf seiner Zunge, als Balduin das Buch auf der ersten Seite aufschlug. Er bildete sich diesen Geschmack ein, weil die erste Seite mit dem Wort „LOGBUCH“ in schwarzer Tinte überschrieben war. Darunter fanden sich einige weitere Striche in der gleichen Tinte, teils verwischt, teils scharf wie eingraviert, jedoch ohne Sinngehalt. Wahrscheinlich waren es Probestriche mit der Feder gewesen. Ein Autor war auf dieser ersten Seite nicht angegeben.
    Marcus stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab und spürte die Unruhe in seinen Armen. Er wusste nicht, ob es Ausdruck seiner allgemeinen Gemütsverwirrung war, aber das, was er und Balduin gerade machten, trug den Hauch des Verbotenen um sich. Er sah sich und seinen Ziehbruder wieder wie kleine Jungen.
    Balduin blätterte. Gerade den vorderen Seiten sah man an, dass sie unter großer Feuchtigkeit, eher noch Nässe, gelitten hatten. Sie waren durch das Trocknen wellig und rau geworden, klebten aneinander, und selbst diejenigen, die sich ohne größere Schäden trennen ließen, präsentierten nur aufgeweichte Tintenverläufe und wenige Wortfragmente. Alles so unbedeutend, dass Balduin immer schneller blätterte und Marcus schon aufgeben wollte, bis in der Mitte des Buches das Schriftbild klarer wurde.

    Bolzen, 25 Kisten
    Schinken, 10 Kisten
    Wein, 2 Fässer
    Bier, 7 Fässer

    und die beiden besten Nutten von den ganzen südlichen Inseln.


    Balduin hatte die aufgeführte Liste leise vorgelesen, bis auf den Zusatz ganz am Ende, dort hatte er abgebrochen und über die Schulter in Marcus’ Augen geschaut.
    „Scheint eine Art Lageraufstellung zu sein“, hauchte er nervös.
    „Dafür wären es ein bisschen wenig Güter“, entgegnete Marcus. „Aber vielleicht eine Art Eingangsliste, für irgendein Lager. Alle Einträge kann man ja auch nicht lesen. Aber wenn Bolzen dabei sind, wird es sicher kein rein ziviles Lager gewesen sein.“
    „Und was sagt uns das?“
    „Keine Ahnung. Blätter mal weiter.“
    Balduin tat, wie ihm geheißen. Es folgten Seiten weiterer unvollständiger Lagerlisten, diverse Bemerkungen in Form von kaum entschlüsselbaren Abkürzungen und noch mehr unlesbare Seiten, die wohl dem Wasser der hohen See zum Opfer gefallen waren. Mit einem Logbuch hatte das alles trotzdem nur wenig zu tun.
    „Warte mal!“, rief Marcus plötzlich, als Balduin eine nur knapp beschriebene Seite schon wieder umblättern wollte. Er ließ sie los und blickte Marcus überrascht an.
    Führungsqualität G.s weiter zw., las Marcus. Es waren die einzigen Worte, die mehr oder minder deutlich auf dieser Seite des Buches entzifferbar waren. Marcus überlegte noch ein bisschen, schüttelte dann den Kopf. „Nein, das ist Unsinn“, sagte er. „Ich dachte, ich hätte hier die Schrift wiedererkannt, aber das wäre ja ein Ding.“
    „Was meinst du?“, fragte Balduin, die Flamme der Kerze in seinen Augen tanzend. Er wirkte in diesem Augenblick so viel jünger als Marcus, und Marcus selbst fühlte sich irgendwie alt, viel zu alt.
    „Vergiss es einfach. Blätter weiter, aber mach ein bisschen langsamer.“
    Die Schrift wurde nun von Seite zu Seite klarer, offenbar war das Papier an dieser Stelle vom Wasser zu einem großen Teil verschont geblieben. Bedeutsamer kamen Marcus die Aufzeichnungen dadurch aber nicht wirklich vor, Vieles erschien ihm verklausuliert, wie, um die niedergelegten Gedanken für Außenstehende zu verschlüsseln. Satzfragmente wie J. ist aus Harras zurück und berichtet von Minenstollen in Mantas; R.F. entpuppten sich als Fr., leider anders als gedacht oder Stationierung auf I. wurde von P. zu H. dominierten die Seiten, die nur manchmal von deutlicheren Sätzen wie Entführte Ork-Galeere gut in Schuss abgelöst wurden, die freilich auch nur wenig Aufschluss über die Situation des Autors gaben. Ab und zu stoppte Marcus seinen Ziehbruder mit einem kurzen Griff an dessen Arm beim Weiterblättern, um eine Seite noch einmal genauer in den Blick zu nehmen, weil ihn manche Sätze und Eigenarten in der Schrift nicht losließen. Meist ließ er Balduin aber sofort darauf wieder gewähren, weil er sich doch keinen Reim auf den Text machen konnte. Das einzige, was er zumindest mit annähernder Sicherheit sagen konnte, war, dass das Logbuch größtenteils zu Kriegszeiten geschrieben worden war. Vereinzelte militärische Begriffe und die Erwähnung von Kämpfern – kurioserweise auch von Kämpferinnen – ließen kaum einen anderen Schluss zu. Der Rest blieb jedoch ein Rätsel, die teils verworren und nicht immer chronologisch wirkenden Einträge vernebelten das Gesamtbild mehr, als sie es erhellten.
    „Moment noch mal“, bat Marcus dann an einer Stelle, was kaum nötig gewesen wäre, denn Balduin selbst war länger bei der Buchseite verharrt. Sie enthielt, soweit Marcus die Notizen vorher entziffert hatte, zum ersten Mal einen ausgeschriebenen Namen.

    Ob Jaron als Gewinner oder Geknechteter des Deals hervorgehen wird, ist zw. Es fällt mir schwer, ihm nach dem Tod B.s etwas zu gönnen.

    „Meinst du, das ist dieser J., von dem vorher immer mal wieder geschrieben wurde?“
    Marcus nickte. Balduin hatte es also auch bemerkt. Vermutlich hatte sein Ziehbruder längst viel mehr vom Text durchschaut, als er selbst dazu imstande war.
    „Ich gehe davon aus, es scheint zu passen. Auch wenn ich nicht weiß, warum er vorher die ganze Zeit abgekürzt wurde und jetzt auf einmal ausgeschrieben wird.“
    „Das war aber auch schon ein paar Male so, mit anderen Sachen“, meinte Balduin. „Der Autor ist da einfach nicht ganz einheitlich.“
    Marcus brummte darauf nur zustimmend. „Lass uns nochmal ein paar Seiten zurückgehen, das interessiert mich jetzt. Der Text war ein wenig blass, aber wenn wir uns Mühe geben… vielleicht hilft mehr Licht. Halte du bitte den Leuchter näher dran, ich fasse hier am Papier kein Feuer mehr an.“
    Marcus blätterte zurück, bis er eine seiner Meinung nach passende Stelle gefunden hatte. Das Papier fühlte sich etwas schmirgelig an, dabei aber auch brüchig, weshalb Marcus vorsichtshalber ausschließlich seine Fingerspitzen benutzte. Als Balduin den Kerzenleuchter gefährlich nahe an das Papier hielt, gewann die verblasste Tinte an Konturen. Sie lasen:

    Nicht einmal G. kann unsere Niederlage noch als Sieg verkaufen. Wir sind von Frauen geschlagen. Bedingungen kaum hinnehmbar. Wir ziehen von I. ab. Größerer Verlust noch als die ganzen Männer. T. wird sich wünschen, er hätte beide Augen verloren, damit er das nicht mit ansehen muss. Einzig G. und J. sind unbekümmert – wie schon zuvor bei B.s Tod. Bei J. vermutlich die Einstellung eines kommenden Veteranen. Bei G. jedoch zw. Und der König?

    An einigen Stellen war die Tinte so schwach oder das Papier so aufgeraut, dass von der Schrift nur noch undefinierte Linien übrig geblieben waren. Abgesehen davon aber boten diese Seiten – im richtigen Licht betrachtet – die bisher leserlichsten Textpassagen. Balduin konnte eindeutig mehr entziffern als Marcus. Irgendwann schaute aber auch er auf und gab Marcus das Zeichen, umzublättern. Sie lasen weiter:

    Die Führerin S. fordert, dass wir uns nie wieder auf der Inselfestung blicken lassen. I. ist damit verlassen. Frauen wollen sie wohl nicht besetzen. Kann das kaum glauben. Wenn sie es nicht tun, tun es vielleicht die Orks. Können sie nicht wollen. Vielleicht eine Finte?

    Nicht nur, weil mit jeder neuen Information neue Fragen aufgegeben wurden, musste Marcus stutzen. Er stupste Balduin, der ungerührt weiterlas, an.
    „Was steht zwischen diesen beiden Absätzen da? Hast du das verstanden? Weißt du noch… wenn ich mal im Himmel bin… so wie damals… mit dir tanzen gehen… es war wieder schön. Oder was steht da? Was soll das denn heißen?“
    Balduin runzelte die Stirn. „Du meinst da?“, fragte er und zeigte mit dem Finger auf genau die richtige Stelle. Marcus nickte.
    „Also das, was du da vorgelesen hast, steht da ganz sicher nicht. Ich lese da: Wasser und andere Vorräte für die… Himmelsfahrt… mitnehmen… macht es auch nicht schöner. Oder irgendwie so. Ich glaube, es geht darum, dass die Leute, die da von I. vertrieben wurden, noch Vorräte mitnehmen durften. Aber so genau verstehe ich das auch nicht. Die Schrift ist an der Stelle wirklich schlecht.“
    Balduin zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Lesen zu. Auch Marcus senkte seinen Blick wieder über das Blatt, bereit, demnächst erneut umzublättern.

    Schäme mich, Mitwisser einer Zusatzvereinb. zu sein. Kann aber verstehen, dass der Rest der M. das nicht mitbekommen darf. Weil die Führerin S. die Schuld an B.s Tod bei J. sieht – zurecht? – soll er dafür geradestehen. Wohl im wahrsten Sinne des Wortes. Er selbst scheint es als Belohnung zu sehen. Täte ich unter gewöhnlichen Umständen auch. Das Grinsen hätte ich J. allerdings aus dem Gesicht wischen sollen. Es bahnt sich ein Bruch zwischen uns beiden an. Neid ist nicht dabei. Oder? Wer weiß, auf welche Weise er für die Nachkommenschaft S.s sorgen soll. Die herkömmliche Art? Jetzt, wo mit B. der einzige Mann an Bord tot ist, soll J. zeitweiligen Ersatz liefern. Für ihn ein Traum. Fünf Minuten für ein neues Menschenleben. Gib ihm zehn. Frage mich, was S. macht, wenn es nicht sofort klappt. J. zurückbeordern wohl kaum. Sein Grinsen verriet aber, dass er sofort bei Fuß wäre. Er wollte nie ein Kind, aber es wird auch nicht das Seine sein. Sein Fleisch und Blut, mehr nicht. Blut war nie dicker als Wasser, es war immer andersherum. Vielleicht ist er deshalb so gelöst.

    Es folgten noch ein paar unleserliche Zeilen, und auf der nächsten Seite stießen sie wieder auf die Stelle, die sie erst hellhörig gemacht hatte:

    Ob Jaron als Gewinner oder Geknechteter des Deals hervorgehen wird, ist zw. Es fällt mir schwer, ihm nach dem Tod B.s etwas zu gönnen. Die Überfahrt mit ihm wird zur Belastungsprobe für uns werden. Ich weiß selber nicht, ob das Band schon gekappt ist.

    „So ein bisschen wirr ist das alles schon, oder?“, fragte Balduin, als Marcus weiterblätterte, dabei aber nur wieder unleserliche Seiten und Textbruchstücke zu lesen waren.
    „Ein bisschen ist gut“, antwortete Marcus. „Schade, dass jetzt wieder nur verwischte Tinte kommt.“
    Marcus blätterte fast bis ans Ende des Logbuchs und wollte es schon mit den letzten paar Seiten einfach zuklappen, als er doch noch eine vielversprechende Seite erwischte.
    „Da geht’s doch weiter“, stoppte auch Balduin ihn, mit Aufregung in der Stimme. „Dazwischen müsste einige Zeit vergangen sein.“
    „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der Schreiber überhaupt irgendeine Art von Reihenfolge eingehalten hat“, meinte Marcus. „Aber das kommt wohl von dem ständig fehlenden Text zwischendurch. Wer weiß, wie problemlos sich das ohne diese verwaschenen Seiten lesen würde.“
    Er legte einen Finger auf den ersten Absatz, den er wieder halberlei entziffern konnte:

    Die Fahrt nach I. soll meine letzte Aufgabe sein. Man hat mir für danach einen ruhigen Posten auf K. in Aussicht gestellt. Dabei ist nicht einmal gesichert, ob K. bei den Friedensverh. nicht doch abgetreten wird. Das Wort des Königs in Innos’ Ohr. Frage mich, warum die Führerin S. ausgerechnet nach mir verlangt hat. Mir schwant Übles. Der König hofft wohl auf eine Wiedererlangung von I. Dass S. und ihre Frauen die Inselfestung doch noch in Besitz genommen haben, spricht nicht für ihre Ehrlichkeit.

    K. muss doch für Khorinis stehen, oder?“, fragte Balduin, der wohl gerade die selbe Stelle passiert hatte. Marcus brummte nur zustimmend, er war zu sehr von dem Text eingenommen, um nebenbei noch mit Balduin plaudern zu können. Er musste ein paar weniger leserliche Stellen überfliegen und las dann bei einem längeren, gut erhaltenen Absatz wieder gründlicher.

    Jetzt ist das Balg auf meinem Schiff. Gerade alt genug, um so eine Überfahrt zu überleben – vielleicht. Nicht viele Monate. S. ist wahnsinnig. Machtbesessenheit kommt groß raus. Welche Mutter würde ihr Kind so von sich stoßen, einem gealterten Soldaten in die Hände geben, der unber. Kräfte der See übereignen? Vor Ort war mir direkt klar, dass S. ein Führungsproblem hat. Die anderen Frauen neideten ihre Absicht, für einen Nachkommen zu sorgen. Allein der Handel mit J. muss dem Br. eines Tabus g.gekommen sein. Und nun ich, der enge Vertraute Jarons, für den sie mich halten, auch noch auf ihrer Insel! Mich wunderte es, dass S. nicht schon das Opfer gesammelter Dolche geworden war, als ich ankam. Sie, oder das Kind, oder beide. Denn das Kind ist ein Junge. Doch der einzige Mann, den die F. bei sich geduldet hatten, ist längst tot – B. war der einzige. Doch Basil ist nicht mehr. S.s Frauen haben keinen Zw. daran gelassen, dass sie einen männl. Nachf. S.s nicht dulden würden. Für sie ist S. drauf und dran, ihre Gesellsch. zu zerstören. Deshalb der Vorwand, deshalb wurde nach mir geschickt. Kein Handel über I. Ein Handel über den Jungen. Jarons Fleisch und Blut. S. muss gewusst oder geahnt haben, dass J. der k. Armee längst den Rücken gekehrt und die Spuren in seine Vergangenheit verwischt hat. Sie ließ sich nicht in die Karten schauen. Und dann: G. hätte es em. Erpressung genannt. Dabei habe ich gar keine Verpflichtungen zu irgendwem. Weder zu S. noch zu ihren Frauen, erst recht nicht zu ihrem Mündel, auch nicht mehr zu J. Und doch ist ihr Mündel jetzt mein Mündel geworden, und ihrem Wunsch nach soll es wieder das Mündel von J. werden. S. gab sich dabei jedoch ungerührt. Für sie zählt es, das Kind los zu sein. Ich kann nur spekulieren, wie kalt sie wirklich ist. Für mich jedoch: Verantwortung. Ich fühle mich als Außenstehender dort hineingezogen, das Schicksal des Kindes in meiner Hand. Hätte ich geahnt, dass dies meine letzte große Überfahrt werden sollte, ich hätte sie nicht angetreten.

    Marcus blätterte um, weiter bis zur nächsten Stelle, die er lesen konnte, achtete gar nicht darauf, ob Balduin auch bereits so weit war.

    Es war nicht schwierig, J. auf K. zu finden. Nach ein bisschen Herumgefrage unter der Bevölk. wurde mir schnell das Haus gewiesen zu einem Mann, der auf meine Beschreibung passte. Mit dem Namen freilich hätte niemand etwas anfangen können, deswegen nannte ich ihn gar nicht erst. J. nennt sich nun Alfred. Ein biederer Name für ein biederes Verhältnis, das er nun führt. Weit weg von dem, was er einmal war oder sein wollte. Seine Armeevergangenheit deckt er nicht zu, nur seine Rolle. Verdingt sich jetzt gelegentlich als Kartograph. Glaube jedoch nicht, dass er seinen Ehrensold noch weiter aufbessern muss. Reicht zumindest für Frau und Kind. Und auch für ein weiteres Kind wird es reichen. Sein Erstaunen war groß, mich zu sehen. Sein Erstaunen war noch größer, sein Kind zu sehen, das ich ihm mitgebracht hatte. Er stritt es gar nicht lange ab. Das Beste für das Kind: Er nahm es nicht wegen mir an. Unser Verh. ist nun nicht mehr vorhanden. Umso erstaunlicher, für mich schmerzhafter, seine Entscheidung, sein letzter Akt, um unserer Freundsch. einen letzten Stich zu versetzen, die Erinnerung aber gl. auf ewig zu konservieren. Er nennt den Jungen Marcus. Und mit diesem Namen bin ich doch ebenso auf ewig mit diesem Kind verbunden, mit dem ich doch nichts zu tun hatte. Der letzte Schachzug Jarons, der verhindert, mich aus der Verantwortung zu entlassen. Er kennt mich und weiß, dass ich davor nicht fliehen werde. Die Nachricht, dass ich in K. einen Posten als Lagermeister angenommen habe, verschaffte ihm sichtlich Genugtuung. Mein Pflichtgefühl wird mein Ende sein. Ich hätte damals schon mit allem abschließen sollen, hätte J. fallen lassen sollen, als er B. umbr., hätte niemals mehr zu S. und ihren Frauen Kontakt aufnehmen sollen. Wären die Rosa Flaggen damals nicht gewesen, ich wäre heute ein anderer Mensch – und J. und ich wären noch Freunde. Nun aber ist das Band zerrissen – bis auf den einen einzelnen Faden namens Marcus, dessen Pate wider Willen ich geworden bin.

    Marcus schluckte, doch in seiner Kehle stockte es. Er blickte vom Logbuch auf und sah verschwommen. Das Rauschen in seinen Ohren schwoll derart an, dass er Wasser in seinem Kopf befürchtete. Er glaubte, etwas zu sagen, bekam jedoch keine Worte heraus, hörte nur das Gegurgel eines Ertrinkenden aus seinem Mund kommen. Balduin sah ihn an, er erschien blass und rot zugleich.
    „Marcus… wenn das stimmt, was dort steht… dann sind du und ich… dann sind wir Halbbrüder.“
    Geändert von John Irenicus (11.08.2016 um 19:41 Uhr)

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    Sie hatten gezögert, aber nicht besonders lange, bevor sie erneut in die Nacht aufgebrochen waren, die ihnen bereits so viel Unglück bereitet hatte. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber Marcus konnte sich sehr gut vorstellen, dass auch Balduin darüber nachdachte, ob ihr nächtlicher Besuch beim Lagermeister nicht nur ein weiteres Unglück provozieren würde. Marcus selbst war sich sogar ziemlich sicher, dass Ärger blühte – in welcher Form auch immer. Gleichwohl war es zwingend, dass sie nun im schwachen Licht von Mond und Sternen zum Haus des Lagermeisters schlichen, bibbernd nicht vor Kälte – die abklingende Nacht war warm – sondern vor Nervosität. Sie hatten das Logbuch noch einmal von vorne bis hinten durchgelesen, um wirklich sicherzugehen. Dabei waren die Dinge nur noch eindeutiger geworden. Alfred war nicht nur Balduins, sondern tatsächlich auch Marcus’ Vater – wenn es denn stimmte, was im Logbuch niedergeschrieben worden war. Notiert von niemand anderem als dem alten Marcus – denn auf niemand anderen passten die vom Autor preisgegebenen Details aus seinem Leben.
    Die Feder ist mächtiger als das Schwert war ein Spruch, für den Marcus lange Zeit nicht viel mehr als Spott übrig gehabt hatte. Nun aber, wo er Seite an Seite mit seinem Halbbruder gefährlich nahe ans Obere Viertel von Khorinis herankam, musste er sich damit auseinandersetzen, wie nur ein paar mäßig leserliche Buchseiten nicht nur einen ganzen Tag, sondern vielleicht auch ein ganzes Leben verändern konnten. Mehrere Leben sogar.
    Marcus war immerhin froh, dass sie nicht patrouillierenden Stadtwachen ausweichen mussten. Tatsächlich sahen sie das charakteristische Fackelleuchten – eigene Fackeln hatten sie aus Vorsicht nicht dabei – nicht ein einziges Mal irgendwo in ihrer Nähe. Sie konnten nur mutmaßen, dass ein guter Teil der Wachen nun im Oberen Viertel vor dem Haus des Richters zugegen war. Von ihrer aktuellen Position aus konnten Marcus und Balduin das Obere Viertel jedoch nicht sehen, zumindest nicht den Platz, an dem sich das Richterhaus befand. Nicht einmal ein kleiner Schein brennenden Feuers drang aus dem Viertel heraus – aber vielleicht war der Brand auch schon längst gelöscht worden. Wenn nicht, so rechnete Marcus hoch, war das Haus wohl nun schon ganz abgebrannt. Er traute es dem Monsignore und der Stadtwache aber nicht zu, ein solches Haus – das vor allem auch noch diese verfluchte Asservatenkammer beherbergte – einfach niederbrennen zu lassen. Ging es um die Vermögenswerte der reichen Leute, waren solche Maßnahmen nie ein Problem, da war zur Not auch die gesamte Stadtwache samt Reservisten zur Stelle, um zu helfen. Wenn es so war, war das jedenfalls das Glück von Marcus und Balduin, die nun vollkommen unbehelligt am Haus des Lagermeisters angekommen waren.
    Das Haus war kein Anwesen, aber gutbürgerlich. Vor allem aber war es zu groß für nur eine Person. Marcus wusste, dass sein Namenspate allein lebte – zumindest glaubte er dies zu wissen, war er doch nun vorsichtiger geworden, was solches vermeintliches Wissen anging. Da er sich den Lagermeister aber beim besten Willen nicht verheiratet oder sonstwie verbandelt vorstellen konnte, hielt er es für wahrscheinlich, dass es stimmte. Selbst das sichere Einkommen eines bei der Stadt angestellten Lagermeisters hatte wohl keine Frau dazu bewegen können, die Launen des alten Marcus zu ertragen. Und trotzdem: Sein Haus war hübsch anzusehen, selbst im Dunkeln sah es noch einladend aus. Hätte Marcus nicht gewusst, wer dort drin wohnte, und wären er und Balduin nicht gerade von der allgemeinen Abwärtsspirale der jüngsten Ereignisse getrieben gewesen, er wäre wohl gerne hier vorbeigekommen. So aber klopfte nicht nur seine Faust energisch gegen das Holz der Tür, sondern auch das Herz in seiner Brust – und das nicht etwa aus Vorfreude.
    Marcus hatte nicht einmal Gelegenheit, zu überlegen, ob er noch ein zweites Mal klopfen sollte, da wurde die Tür schon geöffnet. Das Licht eines Kerzenleuchters blendete kurz auf, dann kam der alte Lagermeister zum Vorschein, im üblichen bunten Wams. Er sah nicht so aus, als hätte er geschlafen – wobei Marcus ihm durchaus zutraute, dass er auch in diesem Wams schlief und er es wahrscheinlich nicht einmal zum Waschen auszog.
    „Das ist keine Zeit, zu der ich Besuch erwarte“, knurrte der Lagermeister, dessen müde Augen nun doch verrieten, dass er vielleicht zumindest etwas gedöst hatte und aus einem leichten Schlaf erwacht war. „Schon gar nicht von euch beiden. Seid ihr denn…“
    Der Lagermeister brach ab, stockte. Das Licht der Kerzen neben seinem Kopf flackerte, obwohl kein Windzug zu spüren war. Der Kopf des Alten senkte sich, er starrte und blinzelte nicht mehr. Sein Schweigen war vielsagend. Dem jungen Marcus kam es lang vor, auch wenn es ihn weniger quälte, als er eigentlich vermutet hätte. Seine Nervosität verflüchtigte sich, jetzt wo der Lagermeister ihm gegenüberstand. In diesem Moment fühlte er sich wie im Auge des Sturms – oder aber bloß wie in der Ruhe vor dem Sturm. Jedenfalls legte sich eine gewisse Entspannung über seinen Körper, eine Art Genugtuung darüber, dass er nun seine lange verhüllte Vergangenheit aufdecken durfte. Marcus musste mehr und mehr einsehen, dass ihm seine eigene Geschichte doch wichtiger war, als sonst immer von ihm behauptet und gefühlt. Dementsprechend war das Warten auf die Reaktion des Lagermeisters vor allem von einer positiven Aufregung geprägt, die Marcus in dieser Situation zwar als unpassend, aber doch unvermeidbar empfand.
    „Hast du es also gefunden…“, murmelte der alte Marcus beim Anblick des Logbuchs in der Hand seines jüngeren Namensvetters. Er hatte es offenbar sofort erkannt, sogar im bloßen Kerzenzwielicht. Es war, als hatte er es nicht vom Sehen wiedererkannt, sondern richtiggehend seine Präsenz gespürt.
    „Das ist alles, was du zu sagen hast?“, fragte Marcus den Lagermeister. Der Angesprochene lächelte milde, wirkte mit einem Mal um mindestens ein Jahrzehnt gealtert, Schatten zerfurchten sein Gesicht.
    „Ich hätte so viel zu sagen“, raunte er. „Mehr, als es an einem einzigen Tag getan werden könnte. Ich bin dir keine Erklärung schuldig, aber ich werde sie dir trotzdem geben. Auf deinen Vater setze ich da nämlich eher nicht.“
    „Du meinst… Alfred“, erwiderte der jüngere Marcus unsicher. Der ältere schien davon auszugehen, dass er und Balduin die entscheidenden Passagen alle gelesen und verstanden hatten. In der Tat war ihr plötzliches Erscheinen im Haus des Lagermeisters wohl mehr als nur ein Indiz dafür.
    „Alfred, ja. Jaron. Wie auch immer. Euren alten Herrn, der ebenso geschwiegen hat, wie ich. Wenn nicht noch mehr. Ihr habt meine Worte ja jetzt gelesen. Und trotzdem habt ihr nicht alles verstanden, was?“
    „Ich will vor allem wissen, ob es die Wahrheit ist“, sagte der jüngere von beiden.
    Der Lagermeister seufzte. „Es gab eine Zeit im Krieg, da war Papier derart kostbar, dass auf seine Verschwendung die Todesstrafe stand. Ich wäre wahnsinnig gewesen, ein ganzes Buch mit Lügen vollzuschreiben.“ Er machte eine Geste, mit der er seinen beiden unangemeldeten Gästen bedeutete, ihm ins Innere des Hauses zu folgen. Marcus und Balduin taten, wie geheißen. Sie betraten einen nach muffigem, altem Seetang riechenden Wohnraum, der, wie speziell für diese Begegnung abgezählt, drei Sessel parat hielt. Sie bildeten ein loses Dreieck, in deren Mitte ein kleiner, runder Tisch stand. Dessen Fläche war blank und leer. Er sah aus, als war er noch nie benutzt worden. Marcus – der jüngere – war der letzte, der sich niederließ. Er sank tief in den Sessel ein und fühlte sich für einen Moment wie die sprichwörtliche Fliege im Spinnennetz. Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, fing der alte Lagermeister wieder an zu reden, ganz unumwunden, dabei aber wie von langer Hand geplant.
    „Ja, es ist wahr. Jaron – Alfred – ist dein Vater, was dich und den glorreichen Balduin hier zu Halbbrüdern macht.“
    Der Satz wog schwer in Marcus’ Magengrube. Es war zwar genau das, was er erwartet hatte. Aber diese Worte dann noch einmal aus berufenem Munde zu hören, zu erfahren, dass es definitiv die Wahrheit war, das war schon noch etwas anderes. In diesem Augenblick verachtete Marcus die Abgeklärtheit, mit der er vorher davon ausgegangen war, dass es doch gar keinen Unterschied machen konnte, ob er und Balduin das gleiche Blut teilten oder nicht – schließlich war Balduin für ihn so oder so seit jeher sein Bruder gewesen. Offenbar war da aber doch etwas, das einen Unterschied machte, ob man nur Ziehbruder oder tatsächlicher Bruder war. Vielleicht waren es aber einfach nur die Umstände, unter denen Marcus das alles nun erfuhr. Er konnte sich gut vorstellen, dass er an jedem anderen Tag, zum Beispiel nach einem anstrengenden Arbeitstag in der Sonne, diese Information mit einem überraschten Schulterzucken aufgenommen hätte. In der aktuellen Situation aber konnte es Marcus eigentlich nicht ernsthaft wundern, dass er, vor dem Hintergrund einer drohenden Verbannung aus der Stadt und dem Tod einer Freundin, etwas heftiger reagierte als gewohnt. Die andere Erklärung, die Marcus aber vorerst lieber vergraben ließ, war Alfreds Verhalten, sein jahrelanges, aber eigentlich doch so unnötiges Schweigen. Er hatte sich nicht zu Marcus bekannt. Auf die Frage, wie ernst seine Treue- und Liebesbekenntnisse dann gemeint gewesen sein konnten, wusste Marcus keine Antwort – weshalb er auch diese Frage zunächst tief in seinem Innern hielt, heruntergedrückt von den Eindrücken der letzten Stunden.
    „Was wollt ihr noch hören? Die ganze Geschichte ist etwas verworren, könnt ihr euch vorstellen. Aber dabei eigentlich so einfach.“
    Der alte Lagermeister blickte seine beiden Gäste aus müden, aber dennoch aufmerksamen Augen an. Wie er dort saß, tief in seinem Sessel, sein buntes Wams im Zwielicht schimmernd, wirkte er wie ein nachgiebiger Märchenonkel, der sich nach erzählter Geschichte noch zu einer kleinen Zugabe breitschlagen ließ. Der junge Marcus hielt diesen Eindruck, den der ältere vermittelte, für vollkommen daneben. Er hielt trotzdem an sich, wollte seine einzige Informationsquelle – neben dem momentan noch beiseite geschobenen Alfred – nicht so schnell wieder versiegen lassen.
    „Du könntest mir zum Beispiel sagen, wer meine Mutter ist… oder war. Und wie ich… also, in deinem Logbuch war immer von der Führerin S. die Rede. Du hast den Namen nie ausgeschrieben. Zumindest war dort keine Seite mehr lesbar, wo der Name gestanden hätte.“
    Draußen klapperte etwas, Wind war aufgekommen. Der alte Marcus senkte kurz den Blick, spitzte die Lippen und ließ seine Zunge im Mundraum spielen, als sei er drauf und dran, eine imaginäre Pfeife zu rauchen. All diese Macken an ihm, die seinen jüngeren Namensvetter sonst allerhöchstens amüsiert hätten, machten ihn jetzt beinahe rasend. Marcus der Lagermeister war ein Kauz. Umso schlimmer war es, dass sie beide nun auf ihn angewiesen waren. Marcus warf einen kurzen Seitenblick hin zu Balduin. Sein Bruder hielt das Haupt ebenso gesenkt, sah aber auf, als er Marcus’ Blick auffing. In seinen Augen spiegelten sich nicht nur die Flammen der Kerzenleuchter, sondern vor allem viele Fragen wider. Er schien sie nur besser zurückhalten zu können. Marcus erschien das nur logisch: Immerhin war für ihn ja stets klar gewesen, wer seine Eltern waren.
    „Selena“, murmelte der alte Lagermeister und ehemalige Soldat der königlichen Armee dann. „Deine Mutter hieß Selena. Ich kann leider nicht viel Gutes über sie sagen, so leid es mir tut. Außer vielleicht, dass sie eine starke Frau war. Oder ist. Eine Anführerin. Aber eine Anführerin, der ihre Macht wichtiger war als ihr Kind.“
    „Also stimmt es, dass sie mich nur… in deinem Logbuch hast du geschrieben, dass sie bloß ihre Nachkommenschaft irgendwie sichern wollte. Aber weil ich ein Junge war, kam es zu… ja, zu was eigentlich? Spannungen?“
    „Wie oft denn noch, natürlich stimmt es!“, wurde sein Gegenüber streng. Er stützte sich mit den Armen in seinem Sessel auf, als wollte er bedeuten, dass er auch jeden Moment wutentbrannt das Haus verlassen konnte – selbst, wenn es sein eigenes war. Der junge Marcus bemerkte nun, dass die gespannte Atmosphäre in diesem eigentlich so gemütlichen Heim nur zu gut passte. Das hier war kein Besuch unter Freunden, nicht einmal unter Bekannten. Auf dem Tisch standen keine Getränke und kein Gebäck. Das hier war ein Verhör unter dem Deckmantel eines Gesprächs. Gerungen wurde dabei darum, wer hier eigentlich wen verhörte.
    „Deine Mutter Selena war eine Kriegerin. Eine, die ein Kriegsvolk anführte, ein Kriegsvolk, das ausschließlich aus Frauen bestand. Frauen, die sich aus Sklaverei oder Prostitution befreit hatten – oder verhindern wollten, erst dort hineinzugeraten. Der Krieg ist ein Malstrom für so etwas, und nur wer sich freischwimmt, kann sich davor schützen. Bei Innos, manche Frauen waren nur dort, weil sie sich aus ihrer Ehe befreien wollten – und das kann ich gut nachvollziehen!“
    „Lebt sie denn noch?“, fragte Marcus, die Neugier weniger emotional als schlicht sachlich geprägt. Selena war in seiner Gefühlswelt keine Mutter, sondern bloß ein Name. „Du sprichst nämlich in der Vergangenheit“, fügte er noch hinzu.
    „Keine Ahnung“, murrte der Alte desinteressiert. „Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, lebte sie jedenfalls noch. Logisch, oder?“
    „Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen“, forderte Marcus, dem die Patzigkeit seines Gegenübers unangenehm durch den Körper fuhr. Seine Hände und Arme spannten sich ganz von alleine an, bereit, dem alten Lagermeister an die Kehle zu fahren und ihn zu würgen. Marcus konnte sich nicht ganz genau erklären, warum er diese Gedanken hatte – aber Erklärungsansätze hatte er genug. Ein guter Freund war der alte Marcus ja ohnehin noch nie gewesen. Immer war dort dieses Machtgefälle zwischen ihnen gewesen, auch außerhalb der Arbeit. Und jetzt wusste er auch, warum.
    „Du bist mir jetzt immerhin Erklärungen schuldig“, setzte er nach. „Woher kennst du meine Mutter? Wo ist sie?“
    „Schuldig bin ich dir überhaupt nichts!“, bellte der Alte plötzlich laut, die Heiserkeit in seiner Stimme für einen Moment verschwunden. „Frag dich vorher lieber, was du mir schuldig bist!“ Marcus sah Balduin neben sich zusammenzucken. Er selbst hielt sich zurück. Er wollte sich nicht noch zusätzlich von diesem Grantler einschüchtern lassen. Deshalb schwieg er und ging gar nicht weiter auf dessen Andeutungen ein, wartete nur, dass er seine Frage beantwortete, wissend, dass er es schon irgendwann tun würde. Er tat es dann sogar erstaunlich schnell, wenn auch mit geballter Faust, die krummen Finger ein schwaches Abbild einstiger soldatischer Stärke. Marcus spürte, wie ihm seine eigenen Gedanken zu Kopf stiegen. Es war so warm in diesem Zimmer.
    „Selena und ihre Frauen kamen mit einer gekaperten Orkgaleere. Beliarsweiber! Sie fuhren die Insel an, auf der ich, wir, damals stationiert waren, und stellten Forderungen. Sie machten uns verantwortlich für das Leid, was Frauen in und außerhalb des Krieges erfahren haben. Und sie stellten uns ein Ultimatum. Sie waren bereit zum Kampf. Ich weiß ganz genau, dass der ein oder andere Mann in unseren Reihen die Hosen voll hatte. Das waren nicht die tumben Orks, denen man einfach so den Schädel einschlägt. Das waren Frauen, die allen Ernstes unter rosa Flaggen segelten, dabei aber bewaffnet waren bis an die Zähne. So etwas hatte noch keiner erlebt. Das, was als Männertraum begann, wurde ganz schnell zum Albtraum.“
    „Irdorath“, hauchte Balduin plötzlich und brachte Marcus damit kurzzeitig von einer Erwiderung auf die Worte des Lagermeisters ab. Die Blicke waren nun auf den im Sessel zusammengesunkenen jungen Mann gerichtet, der beinahe schüchtern aufsah. Er räusperte sich, wiederholte das Wort dann noch einmal. „Irdorath. Du warst auf der Inselfestung Irdorath stationiert, oder?“
    Der alte Marcus nahm nun die Arme von den Lehnen, verschränkte sie. Er schaute erst sehr ernst, ließ sich dann aber ein gedämpftes Lachen entlocken.
    „Hut ab, Herr Balduin, Hut ab. Da steckt ja doch etwas in deiner Rübe. Wer hätte das gedacht.“
    Der junge Marcus konnte den Spott nicht teilen und war auch deutlich weniger über Balduin überrascht. Dennoch war das auch für ihn eine Neuigkeit. Irdorath kannte er aus Erzählungen, eine Insel, die früher einmal einen Tempel Beliars oder so etwas in der Art beherbergt haben sollte und irgendwann der königlichen Armee in die Hände gefallen war. Heutzutage galt sie jedoch als verlassen.
    „Ja, richtig“, fuhr der alte Marcus fort. „Wir waren auf Irdorath stationiert, als Selena und ihre Frauen die Insel anfuhren. Ich, Jaron und viele andere. Und Godwin, unser Anführer. Falls man das so nennen kann. Selenas Führungsqualitäten waren seinen jedenfalls haushoch überlegen. Deshalb mussten wir die Insel verlassen.“
    „Papa war also auch auf Irdorath“, folgerte Balduin.
    „So sieht’s aus, Papa war auch auf Irdorath“, bestätigte der alte Lagermeister mit zu Schlitzen verengten Augen. „Und bevor wir abfahren mussten, hat Papa dann noch schön seinen Samen dagelassen. Das Ergebnis kannst du jetzt im Sessel neben dir bestaunen.“
    Jetzt sagte Balduin gar nichts mehr. Marcus hätte sich gewünscht, dass er sich diesen Spruch nicht so gefallen ließ, aber so war Balduin nun einmal. Er exerzierte solche Streitigkeiten nicht bis zum Ende durch, sondern verstummte irgendwann, zog sich zurück. Jetzt musste Marcus selbst wieder übernehmen. Die Situation spitzte sich mehr und mehr zu einem Zwei gegen Eins zu, wobei er Balduin wohl ab jetzt höchstens als halbe Portion dazurechnen konnte.
    „Warum gerade Alfred?“, fragte er. „Ist das einfach nur Zufall? Warum nicht zum Beispiel du?“ Der Lagermeister machte große Augen. „Nicht, dass ich mir das wünschen würde“, fügte Marcus deshalb noch rasch hinzu.
    „Was weiß ich denn“, blaffte der ältere von beiden. „Ich glaube, es hat etwas mit dem Tod Basils zu tun.“ Der Lagermeister nahm die Arme wieder aus der Verschränkung und legte sie in den Schoß. Marcus sah, wie sich sein runder Bauch mit seinem Atem hob und senkte. Er fragte sich, wie lange es her sein musste, dass der Lehr- und Lagermeister so offen und ausführlich über seine soldatische Vergangenheit gesprochen hatte. Noch dazu über Dinge, die nicht nur er, sondern auch Alfred jahrelang verheimlicht hatte. Wahrscheinlich zu einer Zeit, als sein Bauch noch nicht so rund gewesen war. Und das mochte sehr lange her sein.
    „Basil war der einzige Mann, der in der Gruppe der Frauen toleriert wurde und mit ihnen reisen durfte. Aus gewissen Gründen.“
    „Aus gewissen Gründen?“, fragte Balduin. Marcus glaubte zunächst, dass die Naivität seines Bruders gespielt war, konnte sich dann aber doch nicht sicher sein.
    „Nehmen wir mal an, dass er sein Genital noch hatte und es nicht daran lag, dann wissen wir glaube ich, was dieser Grund gewesen sein kann“, sagte der junge Marcus so kalt wie möglich. Natürlich blitzte in diesem Augenblick das Bild Rudolphs vor seinem inneren Auge auf. Er hielt sich bei dieser Vorstellung daran fest, dass er Katharina jederzeit vorgezogen hätte. Aber weil dadurch nun auch noch das Bild Katharinas vor seinem inneren Auge auftauchte, wurde ihm bei dem ganzen Thema trotzdem heiß und kalt. Er hoffte, dass man es ihm nicht ansah.
    „Du hast es erfasst“, sagte der alte Lagermeister, und wirkte zu Marcus’ Überraschung dabei so milde und so ohne Spott, dass er fast glaubte, sie hätten sich doch missverstanden. „Die Frauen hatten von ihm jedenfalls nichts zu befürchten“, beseitigte der alte Marcus die Zweifel des jungen aber sogleich. „Aber ob sie oder Selena ihn nicht doch eingeplant hatten, auf dem ein oder anderen Wege… wer weiß. Als ich ihn auf dem Schiff der Frauen fand, war an ihm jedenfalls noch alles dran. Soweit ich es sehen konnte, natürlich.“
    „Was heißt denn noch alles dran?“, schaltete Balduin sich unverhofft wieder ins Gespräch ein. „Kanntet ihr euch schon von vorher? Das klingt so danach.“
    Für einen kurzen Moment sah es für Marcus so aus, als sei sein Namenspate in seinem Sessel zusammengezuckt. Weil er das nicht glauben konnte, führte er diesen Eindruck auf die flackernden Kerzen im Raum zurück. Tatsächlich machten ihn die tanzenden Flammen so langsam kirre, lullten ihn gleichzeitig aber auch ein. Marcus hatte alle Mühe, die Worte seines Gegenübers aufzunehmen, da konnte er nicht mehr jeden Sinneseindruck korrekt wahrnehmen.
    „Basil hatte einige Zeit zuvor zu uns gehört“, sagte der Lagermeister dann nach einem kurzen Schweigen, mit tiefer, schwerer Stimme. „Aber bei einem Einsatz in der Südsee… verloren wir ihn. An die dortigen Dorfbewohner. Wir hielten ihn für tot. In Wahrheit aber hatte es ihn über Umwege zu Selena und ihren Frauen verschlagen. Glück für ihn! Jeden anderen Mann hätten sie wohl direkt enthauptet – oder zumindest entmannt. Es war mehr Zufall, dass ich ihn auf dem Schiff der Frauen fand. Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern. Weil ich so überrascht war, meine ich. Ich hatte ihn schließlich für tot gehalten. Aber das hat alles nichts mit euch beiden oder Jaron zu tun.“
    „Muss es ja doch irgendwie“, hakte Balduin nach. „Du hast doch gerade eben erst gesagt, dass die Sache mit Basil zu tun hat.“
    „Mit seinem Tod, du Neunmalklug!“, bellte der Lagermeister ihn daraufhin an und schickte dabei eine kleinere Gischt aus Speichel durch den Raum. „Du wirst es vielleicht nicht gerne hören, ihr beide nicht, aber Jaron war nicht ganz unschuldig an Basils Tod. Wobei ich gerecht bleiben möchte. Es war ein Moment der Selbstverteidigung, der Notwehr. So kann man es zumindest nennen. Aber es war so: Jaron hat Basil getötet. Seinen einstigen Mitstreiter. Und glaubt mir, er war weit weniger davon betroffen, als er es anständigerweise hätte sein sollen.“
    „Bei der Armee verlernt man halt das Mitleid“, konterte Marcus den Vorwurf gegen Alfred – immerhin neuerdings sein leiblicher Vater – direkt. „Sieht man ja auch an dir.“
    „Sprich nicht, wovon du nichts verstehst“, knurrte der Alte und ballte die Fäuste. Wäre der Tisch in ihrer Mitte nicht etwas zu weit weg gewesen, er hätte wohl eine Faust dort niederfahren lassen. „Ihr seid beide nicht in der Position, um über mich richten zu können. Und ihr werdet es auch nie sein. Ihr seid hier hergekommen, ihr wolltet etwas von mir. Also haltet still und sperrt die Ohren auf.“
    Der Alte schnaufte, machte eine Pause, wartete wohl auf erneuten Widerspruch seiner beiden Zuhörer, erntete aber keinen. Marcus schwieg ganz bewusst. Wenn der Alte reden wollte, dann sollte er es eben tun. Er hatte ja ganz recht. Dafür waren sie hier. Marcus jedenfalls wäre sonst niemals auf die Idee gekommen, seinen Chef zu Hause zu besuchen – und hatte es folgerichtig auch noch nie zuvor getan. Wie er hier in diesem Sessel saß, in dieser trügerischen Gemütlichkeit im Kerzenschein, zwischen schwerfälligen Schränken, verschatteten Bildern an den Wänden und jeder Menge gutbürgerlichem Krimskrams, brodelte in ihm der Wunsch, dieses Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Er fand auf einmal alles widerwärtig, sich selbst eingeschlossen, vor allem aber diesen selbstgerechten Veteranen vor sich. Und doch zwang er sich zu bleiben, um Gewissheit zu haben über das, was dieses verdammte Logbuch in ihm angestoßen hatte.
    „Natürlich hat mir Selena nur so wenig erzählt wie möglich“, erhob der Lagermeister nun wieder knurrend die Stimme. „Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es eigentlich Basil hätte sein sollen, der – auf welchem Wege auch immer – für die Nachkommenschaft Selenas oder gleich aller Frauen sorgt. So abnorm es auch klingen mag. Ich kann euch auch nicht erklären, woher das kommt, was diese Abgrenzung vom Rest der Welt soll, warum sich die Frauen um Selena überhaupt als eine Art Stamm verstanden, der bloß durch Beitritte von außerhalb nicht überleben könnte. Vielleicht habe ich das alles auch nicht richtig kapiert. Die Möglichkeit gestehe ich ein, denn im Gegensatz zu euch halte ich mich nicht für allwissend. Aber was ich weiß, ist, was Selena damals zu Jaron gesagt hat, bevor wir die Inseln verließen. Weil er den Mann in ihrem Kreise tötete, sollte er nun Ersatz leisten. Und er hat ihn geleistet. Nur, dass Selena mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. So leid es mir tut, Marcus. Aber für einen Jungen hatten sie dann doch keinen Platz. Wohl zu gefährlich. Was für ein skrupelloses Glücksspiel! Ich rate dir eines, Marcus: Betrachte dich bloß nicht als ihren Sohn. Denn sie hat dich auch nicht als ihren Sohn betrachtet. Sondern bloß als ihr Erbe, ihr Erbe in männlicher und damit unbrauchbarer Gestalt. Diesen Rat kann ich dir nur geben.“
    „Solche Ratschläge brauche ich nicht“, erwiderte Marcus ruhig. „Das habe ich jetzt schon von alleine verstanden. Für mich ist das nur ein Name, mehr nicht.“
    „Nimm von mir an, was du willst. Es interessiert mich nicht.“
    „Im Logbuch stand, dass du Marcus dann zu meinem Vater gebracht hast“, durchbrach Balduin erneut das schärfer werdende Rededuell der beiden Namensgleichen. Marcus hatte genau gehört, wie sein Bruder das Wort Papa gezielt vermieden hatte.
    Der alte Lagermeister sparte sich weiteren Spott und nickte nur, weshalb Balduin fortfuhr: „Und ihr habt die ganze Geschichte geheim gehalten, all die Jahre? Ich meine, ihr habt doch quasi nebeneinander hergelebt hier in Khorinis.“
    „Soweit ich weiß, wussten bisher nur er und ich von der Sache, ja“, bestätigte der ältere Marcus. „Sofern er es nicht doch seiner Frau erzählt hat. Aber das glaube ich ja mal eher nicht. Diese ganze Heimlichtuerei war ja gerade deshalb, damit seine Ilse nicht das Bild ihres edlen, artigen und menschengerechten Streiter Innos’ verliert.“
    „Vater hat immer erzählt, er wäre damals im Krieg nie an der Front gewesen“, warf Balduin ein. Marcus hätte ihm für diese naive Frage am liebsten eins in die Seite gegeben. Ihm musste doch klar sein, dass Alfred seine Vergangenheit an allen Ecken und Enden geschönt hatte. Wer schon seinen alten Namen aufgab, der musste doch etwas zu verbergen haben.
    „Nie an der Front?“, höhnte der alte Lagermeister. „Junge, der war an so vielen Fronten, dass mir wahrscheinlich nicht einmal mehr alle einfallen. Und hat dort geschlachtet wie jeder andere Streiter des Königs auch, Innos hin oder her.“
    „Genau so wie du“, sagte der junge Marcus kühl.
    „Genau so wie ich“, erwiderte der alte Marcus ebenso kühl. „Aber habe ich je einen Hehl daraus gemacht?“
    „Du hast zumindest Alfred gedeckt, all die Jahre über. Hättest du ja auch nicht machen müssen. Also bist du genauso Hehler.“
    „Ich bin immerhin loyal“, stellte der alte Marcus fest und fuhr sich durch den grauen Bart, eine Geste, die wohl so etwas wie Stolz ausdrücken sollte. „Das ist eine Eigenschaft, die Herrn Balduin hier zum Beispiel abgeht, wenn er mirnichtsdirnichts seine Lehre bei mir schmeißt.“
    „Du hast mich rausgeworfen“, stellte Balduin sachlich fest. „Du verdrehst die Tatsachen. Und darum geht es hier überhaupt nicht.“
    „Ich hätte dich zumindest niemals als Lehrling aufnehmen sollen, so stimmt es“, meinte der Lagermeister. „Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum dein Vater so wenig begeistert davon war, dass du eine Lehre bei mir anfangen wolltest? Wir haben nie wieder gesprochen seit meiner Rückkehr nach Khorinis, aber ich gehe davon aus, dass er dir ganz schön in den Ohren gelegen hat. Bloß keinen Kontakt zu mir. Für mich war da eher der andere Junge reserviert. Schön mein Verantwortungsgefühl ausreizen. Soll ich mich doch um das Balg kümmern, welches ich ihm nachgeschleppt habe. Lehre, Haus… wer weiß, vermutlich hätte ich dich sogar noch verkuppelt, Marcus. Aber damit ist ja jetzt wohl auch Schluss.“
    Eine innere Hitzewelle überkam den jungen Marcus, weil er die letzten paar Sätze des Alten für sich auch gut und gerne anders deuten konnte, als sie eigentlich gedacht waren. Er erholte sich aber schnell wieder von diesem Stoß, denn der alte Marcus wusste gar nichts. Er hatte jedoch recht damit, was das Verhalten Alfreds anbelangte. Es war schon immer irgendwie seltsam gewesen, wenn das Gespräch auf Marcus, den Lagermeister und Veteranen, kam. Alfred hatte dann immer in auffällig unauffälliger Weise versucht, das Gespräch zu beenden oder es auf Nebensächlichkeiten zu lenken. Und die Frage, ob er als ehemaliges Mitglied der königlichen Armee das ebenfalls ehemalige Mitglied der königlichen Armee namens Marcus denn von früher kannte, hatte er einmal so energisch verneint, dass sie nie wieder gestellt worden war. Denn Alfred, so hatte er von sich selbst erzählt, war nur auf sogenannten Friedensmissionen unterwegs gewesen. Kein Kampf, nur Selbstverteidigung und ein bisschen Missionierung. Sanfte Missionierung. Hilfe, Essen, Zivilisation. Marcus war damals, als das alles mal zur Sprache gekommen war, noch zu jung gewesen, um diese Worte richtig in Frage zu stellen. Und als er dann irgendwann alt genug dafür geworden war, war die Chance längst vertan, diese Geschichten überhaupt noch einmal zu hinterfragen. Sie waren schlicht Grundlage ihres gemeinsamen Lebens geworden. Und Balduin hatte auf so etwas ohnehin immer geschwiegen, unbeteiligt getan – wobei Marcus nun mittlerweile glauben musste, dass sein Bruder zu solchen Dingen viel deutlichere Meinungen hatte, als er nach außen hin erkennen ließ.
    „Wenn du irgendeinen Dank dafür erwartest“, begann Marcus nach einer Weile, in der er sich halbwegs besonnen hatte, „dann muss ich dir sagen, dass heute wohl eher nicht der richtige Tag dafür ist. Dafür ist das alles zu viel auf einmal. Aber ich erkenne deine Taten an. Trotzdem hättest du mir – uns – das früher erzählen sollen, egal, welche Loyalitätspflichten du gegenüber Alfred hast oder nicht hast.“
    „Genau so gut hätte er es euch erzählen können“, blaffte der Lagermeister. „Er ist immerhin dein Vater, nicht ich. Du machst einen Denkfehler, Marcus. Nur weil ich einmal, zweimal, dreimal, ja vielleicht noch öfter geholfen habe, bin ich zu nichts gegenüber dir verpflichtet. Ganz im Gegenteil.“
    „Kann ja sein“, lenkte Marcus weiter ein, denn er war milde geworden von der Anstrengung, welche seine kreisenden Gedanken in ihm verursachten. Er mochte vielleicht wütend auf den Lagermeister sein, aus welchen Gründen auch immer, aber brachte diese Wut überhaupt nichts. Unbedeutend war sie, verglichen mit dem, was alles geschehen war – und vielleicht noch anstand.
    „Es ist nur so“, fuhr Marcus fort, „dass mir, uns allen, jede Menge Ärger erspart geblieben wäre, wenn wir das vorher gewusst hätten. Dass Alfred auch mein Vater ist. Er ist doch gebürtiger Khoriner, oder?“
    Der alte Marcus setzte eine Art finsteres Grinsen auf, wischte es aber weg, indem er durch seinen Bart fuhr.
    „Soweit ich weiß, ist er das tatsächlich, auch wenn er nicht lange hier gelebt hat und die Insel bereits so früh verlassen hat, dass ihn bei seiner Rückkehr keiner mehr kannte.“
    Der Lagermeister machte eine Pause, griff sich an sein Kinn. Erst dann sprach er weiter, das finstere Grinsen war zurückgekehrt.
    „Aber wer weiß“, tönte er. „Vielleicht hat euer Vater ja auch einfach seine Geburtsurkunde gefälscht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, könnte man da sagen.“
    Marcus hatte den Drang, Balduin neben sich mit großen Augen anzuschauen, aber er widerstand. Er spürte die Hitze in sich aufsteigen, fühlte Schweißperlen auf seiner Stirn, die gar nicht dort waren. Seine nächsten Worte konnte er sich nicht mehr zurechtlegen, sie waren alle gesteuert wie von einem Fremden in ihm, der einen Notfallplan abspulte und das Steuer übernahm, nach bestem Wissen und Gewissen.
    „Was meinst du damit? Du weißt doch was!“
    „Natürlich weiß ich was“, brummte der Lagermeister zufrieden und hob sich betont schwerfällig aus dem Sessel, um zu einer Kommode hinter ihm an der Wand zu gehen. „Ich weiß sogar sehr viel, fast alles, was in dieser Stadt vor sich geht.“ Er griff an eine Schublade, zog sie auf. „Man muss schließlich immer wachsam bleiben.“ Im Zwielicht für Marcus nicht erkennbar, zog sein Namenspate irgendetwas aus der Schublade heraus, schloss die Schublade rasch wieder, kam dann zu den Sesseln zurück. Und noch bevor er sich gesetzt hatte, hatte er zwei Blätter Papier auf den Tisch geknallt. Marcus’ Augen wurden jetzt doch noch groß. Balduin beugte sich nach vorne. Der Tisch, der die ganze Zeit so seltsam leer gewesen war, wirkte jetzt wie für die beiden Dokumente gemacht. Marcus konnte sie nicht einmal lesen, brauchte es auch nicht, denn er sah rotes Wachs, überall rotes Wachs.
    „Wo hast du die her?“, fragte er dann, wollte dabei wütend klingen, fühlte sich aber zu benommen.
    „Aus deinem Haus, woher sonst?“, gab sein Gegenüber bereitwillig Auskunft, mit der Mimik eines triumphierenden Unwissenden. „Bevor die beiden Knallköpfe noch auf die Idee kommen, zurückzukommen und sie einzusacken, dachte ich. Ja, ich war an dem Tag vor Ort. Mehr zufällig. Aber bei dem Trara, der da gemacht wurde, dachte ich schon, dass es etwas Ernstes sein muss. Und als eure Prozession da abgezogen war, bin ich direkt in dein Haus und habe mir die beiden Urkunden gekrallt. War ja ziemlich offensichtlich, was ihr versucht habt.“
    „Du hattest die ganze Zeit über die Urkunden?“, wurde Marcus lauter, seine Stimme bebte. „Warum hast du sie uns nicht sofort zurückgegeben? Wir dachten… Katharina könnte noch leben!“
    Der Lagermeister schüttelte den Kopf. „Was meinst du?“
    „Ich meine, dass Katharina noch leben könnte, wenn du uns die Urkunden sofort zurückgegeben hättest! Oder sie gar nicht erst weggenommen hättest!“ Marcus spürte nun heiße Tränen in seinen Augen, aber er unternahm erst gar keinen Versuch, sie zurückzuhalten, das war jetzt egal. „Verstehst du denn gar nichts?“, setzte er auf den verwirrten Blick des Lagermeisters nach. „Wir haben gedacht, die Dinger liegen in dieser scheiß Asservatenkammer und sind deswegen beim Richter eingebrochen!“
    „Deshalb hast du mit Katharina über den Monsignore gesprochen“, brachte der alte Marcus aus seiner Kehle hervor, fuhr sich mit der Hand erst über das Gesicht und dann hinein in den Bart, an dem er sich dann selbst festhielt. „Ach du Scheiße…“
    „Ja, ganz recht“, zischte Marcus und ballte die Fäuste bis zum Krampf, es hob ihn beinahe aus dem Sessel heraus. „Wenn du dich nicht eingemischt hättest, wäre das nicht passiert! Katharina ist im Haus des Richters verbrannt, verdammt noch mal! Weil dieser Irre Todesfallen an seinen Türen installiert hat! Warum nur? Warum musstest du dich einmischen?“
    „Ich habe mich eingemischt, weil ich dir helfen wollte!“, bellte der Lagermeister zurück, der offenbar seine Selbstsicherheit wieder gewonnen hatte – oder zumindest sehr überzeugend so tat – und sich nun ebenso weit aus seinem Sessel lehnte. „Wieder einmal! Ihr wart drauf und dran, euch in Schwierigkeiten zu bringen! Fälschen einer Urkunde, ja habt ihr sie denn noch alle? Meint ihr, so etwas fällt im Rathaus keinem auf? In Beliars Küche wärt ihr gekommen, nichts anderes!“
    „Das sind wir auch so schon!“
    „Weil ihr einfach nicht die Füße still halten konntet, deshalb! Niemand hat euch dazu gezwungen, in irgendjemandes Haus einzubrechen! Ihr seid doch verrückt geworden! Wann habt ihr das überhaupt gemacht? Ich habe euch diese vermaledeiten Urkunden weggenommen, damit ihr die Finger davon lasst!“
    „Aber du musstest doch wissen, dass wir sie brauchen!“, schaltete Balduin sich nun auch wieder ein, in ungewohnter Lautstärke. „Sowohl Marcus als auch ich! Du kannst doch nicht einfach meine Geburtsurkunde einstecken! Du musstest doch wissen, wofür ich die brauche! Und wofür Marcus eine braucht!“
    „Der Herr Balduin glaubt mal wieder, alles durchschaut zu haben, was?“, schimpfte der Lagermeister. „Ich habe euch doch gesagt, dass ihr mit diesem Mist nicht durchgekommen wärt! Ich hatte stattdessen vor, meinen Einfluss bei der Stadt geltend zu machen, um diese Reinhaltungsregeln, oder wie auch immer der Kram heißt, wegzubekommen. Ich wusste doch, dass Marcus davon betroffen sein wird! Und um eure Dummheiten zu verhindern und zu verhindern, dass ihr unnötig in der Vergangenheit grabt, habe ich mich dafür eingesetzt! Wer, glaubt ihr denn, hat euch drei überhaupt aus dem Gewahrsam herausgeholt, letztens in der Kaserne, direkt nachdem ich die Urkunden in Sicherheit gebracht hatte? Und wer hat dich, Marcus, im Lager möglichst lange beschäftigt, damit du keine Zeit und Kraft mehr hast, irgendwelchen Blödsinn zu veranstalten? Jordir mit Grippe im Bett, wer’s glaubt! Ich wollte dich einfach nur im Auge behalten. Und bei der Arbeit halten. Glaubt ihr denn, ich hätte nicht mein Bestes getan, um euch zu helfen?“
    Vor Marcus’ innerem Auge blitzte die sonnenbeschienene Treppe zur Kaserne auf, auf der sie den Lagermeister getroffen hatten. Es stimmte, er war dort gewesen. Ebenso erinnerte er sich daran, dass er Jordirs plötzliche Grippe für sehr seltsam gehalten, aber viel zu schnell akzeptiert hatte. Das alles schien in diesem Moment so weit weg, so ewig her.
    „Warum hast du uns nicht einfach direkt gesagt, was Sache ist?“, hakte Marcus dann nach. „Warum diese Heimlichtuerei? Irgendwelcher Loyalitätsscheiß gegenüber Alfred kann es doch nicht gewesen sein! Du hast doch sogar das Logbuch im Haus gelassen! Da war es doch eh klar, dass ich irgendwann die Wahrheit erfahre! Warum hast du nur so eine Scheiße abgezogen? Du bist doch schuld daran, dass wir überhaupt erst anfangen mussten, irgendwelchen Urkunden nachzujagen! Hätte ich sofort gewusst, dass ich tatsächlich der Sohn eines gebürtigen Khoriners bin, dass ich der Sohn von Alfred bin, dann… ich kann es einfach nicht fassen, was für einen dummen Mist du gebaut hast!“
    „Pass auf deine Zunge auf, sonst schneidet sie dir noch jemand heraus!“, entgegnete der ehemalige Soldat, und man sah ihm deutlich an, dass er sich eines vollkommenen Brüllens nur enthielt, weil er um diese Uhrzeit keinen Wirbel in der Nachbarschaft veranstalten wollte. „Ich habe keine Scheiße abgezogen! Ja, es ist wahr: Ich habe das Logbuch in dem Haus gelassen, welches einmal mir gehörte und das ich dir verkauft habe. Und ja, ich habe damit gerechnet, dass du es irgendwann findest. Das war die Absicht. Es war meine Idee, dir die Wahrheit so anzutragen, ohne dass ich sie dir erzählen musste. Das war meine Art, mich einerseits loyal zu Jaron zu verhalten, dir aber andererseits die Möglichkeit zu geben, selbst alles herauszufinden. Aber nicht so schnell, nicht in dieser Art und Weise! Ich hatte mir vorgestellt, dass ich dann schon längst tot bin, wenn das geschieht. Und Jaron vielleicht auch. Ich habe mir das alles schon gut genug überlegt, glaube mir. Ich kann doch nicht wissen, was ihr auf einmal für Ideen bekommt!“
    „Das ist widersprüchliches Verhalten!“, platzte es aus Balduin heraus.
    „Du solltest erst einmal dein eigenes Leben auf die Reihe bekommen, bevor du über andere Leute urteilst“, knurrte der Lagermeister zurück, mit einem deutlichen verächtlichen Unterton. „Ich hatte meine Gründe, warum ich so gehandelt habe.“
    „Du hast einfach Fehler gemacht“, sagte Marcus betont ruhig, spürte aber schon, wie er den erneut anschwellenden Zorn nicht mehr lange mittels gemäßigter Lautstärke in seiner Stimme bändigen konnte. „Das solltest du vielleicht mal zugeben. Gründe hin oder her. Balduin hat schon recht. Du hast dich selbst in Widersprüche verwickelt. Ich kann dir nicht einmal Vorwürfe machen, ich will sogar akzeptieren, dass du es gut meintest. Aber dass du nicht einmal zugeben kannst, dass du großen Mist gebaut hast… aber das sieht dir ähnlich.“
    Der alte Mann vergrub seine Hände in den Sessellehnen und ließ ein schnaubendes Lachen ertönen. Er schüttelte den Kopf, mehrmals, als hoffte er darauf, damit die Einsicht bei seinen Gegenübern zu wecken. „Es ist so einfach, die Welt zu erklären, wenn man noch jung ist“, sagte er dann. „Vollbringe etwas Großes, solange du noch allwissend bist, so lautet ein altes Sprichwort. Hätte ich gewusst, zu was meine Entscheidungen letzten Endes führen würden, hätte ich sie nicht so getroffen. Von Anfang an nicht. Aber das hat nichts mit Schuld zu tun. Ich bin nicht schuld daran, in diesen Komplott hineingezogen worden zu sein. Ich hätte so vieles ablehnen können, ja, bis hin zu Selenas Bitte damals. Doch sei dir sicher, dann wärst du heute nicht hier, sondern dein Säuglingskörper läge am Meeresgrund oder wäre als Wasserleiche von den Seegeiern aufgepickt worden.“
    Der alte Marcus machte eine Pause, wohl um dem jungen Marcus Gelegenheit zum Widerspruch zu geben. Aber Marcus sah keinen Anlass zum Widerspruch. Sollte sich der Alte doch weiter selbst widersprechen.
    „Es ist eine Farce, dass meine reine Nettigkeit, dich nach Khorinis zu verschiffen, zu Jaron zu bringen, dich immer unter Beobachtung zu haben, dich als meinen Lehrling aufzunehmen, dir mein altes Haus so billig zu verkaufen… es ist fast zum Lachen, dass mich all diese guten Taten jetzt so in die Pflicht nehmen sollen. Denn hätte ich all das nicht getan, vielleicht gäbe es dich heute schon gar nicht mehr. Bedenke, eigentlich habe ich nichts mit dir zu tun. Es waren der Zufall und meine Anwandlungen von Verantwortung für einen kleinen Jungen, die mich an dich banden. Aber eigentlich hätte ich das alles nicht tun müssen.“
    „Das ändert nichts daran, dass du Fehler gemacht hast“, sagte Marcus postwendend, denn er hatte sich diese Erwiderung schon lange vor dem Ende der erklärenden Worte seines Paten zurechtgelegt. „Und dass diese Fehler ebenso zu Katharinas Tod geführt haben. Du hättest einfach die Finger von unseren Urkunden lassen sollen. Dann hätten wir sie nie suchen müssen. Entweder du mischst dich ganz ein, oder du hältst dich ganz raus. Es war nicht Fisch und nicht Fleisch, was du gemacht hast! Du kannst mir nicht erzählen, dass du das nicht selber so siehst!“
    „Damit wären wir beim zweiten Punkt“, grummelte der Alte ungerührt. „Erzählen muss ich dir sowieso nichts. Glaube nicht, dass mir das alles nicht leid tut. Auch um deine Freundin. Aber ich schulde dir keine Erklärungen, wie ich überhaupt niemandem mehr etwas schulde. Ich habe alles nur aus gutem Willen getan. Ob du es glaubst oder nicht.“
    Marcus wusste nicht, was er glauben sollte. Das lag auch daran, dass einiges von dem, was er schon immer zu wissen geglaubt hatte, in den letzten Stunden vollkommen über Bord gegangen war. Viele Gedanken kreisten in seinem Kopf, aber viel zu schnell, um sie alle fassen und ordnen zu können.
    „Ich kann es nur wiederholen. Ich habe getan, was ich konnte. Bin im Rathaus ein und ausgegangen, habe immer wieder versucht, Mitstreiter in der Kaserne zu finden. Alles nur, um diese verfluchte Pfaffenregelung irgendwie wieder wegzubekommen. Ich habe meinen gesamten Einfluss geltend gemacht, um dir zu helfen, Marcus. Eine weitere Nettigkeit von mir. Weil ich mich an dich gebunden fühlte, ohne es zu sein.“
    „Du hast deinen Einfluss gewaltig überschätzt, das hast du gemacht!“, spie Marcus lauter aus, als er es eigentlich geplant hatte, aber das war ihm jetzt egal. Er spürte, dass die Tränen in seinen Augen längst wieder getrocknet waren. Er hatte zu viele Gefühle auf einmal. „Du hast wahrscheinlich geglaubt, du als ach so respektierter Kriegsveteran, du könntest mal hier und mal da ein gutes Wort einlegen und so alles hinbiegen, wie du es gerne hättest. Aus deiner Stellung als Lagermeister heraus oder was weiß ich denn. Marcus, ich sage es dir nicht gerne, aber auch nicht ungerne: Du bist auf Khorinis nicht das politische Gewicht, als das du dich siehst und das du gerne wärst. Der Posten, den man dir gegeben hat, ist nicht nur ’ruhig’, wie du immer sagst. Er ist vor allem eines: nutzlos. Wir verwalten seit Jahren ein Lager, für das niemand mehr Verwendung hat, und räumen dort Kisten voll angeschimmelter Bolzen und toter Fleischwanzen von einer Ecke in die andere. Das ist doch die Wahrheit. Man hat dir diesen Posten nicht gegeben, um dir Respekt oder Ehre zu erweisen. Man hat ihn dir gegeben, weil er sowas von unbedeutend und ungefährlich ist, dass man dich für genau den richtigen Mann dafür hielt. Auf einen Posten mit dir, auf dem du nichts mehr kaputtmachen kannst, wo du gerade keinen Einfluss mehr auf irgendetwas hast. Und trotzdem hast du es noch geschafft, etwas kaputtzumachen. Die Hütte des Richters brennt und Katharina mit ihr. Klasse Leistung, Marcus, wirklich. Ganz klasse Leistung.“
    Der alte Lagermeister hatte die Arme wieder verschränkt und schwieg. Irgendwann während Marcus’ Worten musste er unmerklich die Augen geschlossen haben. Wie er dort saß, tief im Sessel, sah es fast so aus, als wollte er schlafend tun, nur um seinen Gesprächspartner vorzuführen. Marcus sog scharf Luft ein, wollte noch einmal nachsetzen, zur Not nicht mehr nur noch verbal. Dann aber öffnete sein Namenspate mit einem Mal die Augen, als sei er gerade wieder wachgeworden. Seine Miene war ausdruckslos, wie ein faltiges, leeres Blatt Papier mit Bart.
    „Hast du dich jetzt genug ausgekotzt?“, fragte er dann. Marcus fiel ein, dass er das heute tatsächlich noch nicht gemacht hatte, obwohl er es vorgehabt hatte – auch wenn er dabei sehr wahrscheinlich an etwas anderes dachte als der Mann im Sessel vor ihm. Aber ebenso wie der Rest seines Körpers war auch sein Magen irgendwann ganz von allein leer gewesen, und die Sache hatte sich erledigt. Mit der gleichen Leere blickte er nun sein Gegenüber an.
    „Gut“, sagte der ältere Marcus und stützte sich mit den Händen auf die Lehnen. „Dann kannst du das Ganze ja demnächst wiederholen. Die Generalprobe hast du ja jetzt gut hinbekommen. Es wird dann Zeit für den Ernstfall. Am besten noch heute, würde ich sagen. Wenn die Wut im Bauch noch da ist. Und bevor ihr wegen irgendwelcher Einbrüche festgenommen wurdet, versteht sich.“
    Der jüngere Marcus konnte nicht anders, als zu blinzeln, als wäre ihm ein Sandkorn ins Auge geraten. Es war einer dieser Momente, in denen er prinzipiell verstand, worauf sein Gegenüber hinaus wollte, er selbst aber trotzdem lieber im Leerlauf blieb und sich alles erklären ließ.
    „Immerhin bin ja nicht ich dein Vater, der dich verleugnet hat. Das ist jemand anderes. Jemand, den du gut kennst, wie du ja heute nun erfahren hast. An deiner Stelle würde ich mal lieber zu ihm gehen.“
    Der Lagermeister ließ die Hände noch einmal von den Lehnen sinken, als hätte er eingesehen, dass doch noch größerer Erklärungsbedarf herrschte, als vorher von ihm gedacht. Sein Grinsen verriet, dass er sich in seiner momentanen Situation sehr gut gefiel. Marcus mochte das nicht, aber es war eine andere Art Abneigung, als er zuvor gespürt hatte. Die Abneigung war sogar geringer geworden, ebenso wie der Tonfall des anderen Marcus weniger ätzend geworden war. Marcus fühlte sich manipuliert, kam aber nicht umhin, einzulenken.
    „Meinst du, wenn er sich öffentlich zu mir als Sohn bekennt, habe ich eine Chance?“
    „Ich habe keine Ahnung“, antwortete der ältere Marcus. „Da hast du mich doch gerade überführt, dass ich nur ein dummer, ahnungsloser, fehlerhafter Kriegsveteran bin. Was weiß ich also schon? Es könnte allerdings ein erster Schritt sein. Ohne den wirst du deine Geburtsurkunde jedenfalls nie bekommen. Mit vielleicht auch nie. Aber ohne eben erst recht nie. Zumindest nicht auf dem dafür vorgesehenen Wege.“
    Marcus blickte herüber zu Balduin. Er starrte und schwieg, wenig überraschend. Marcus hatte Angst, nun etwas über den Kopf seines Halbbruders hinweg zu entscheiden, was diesen doch fast genau so viel anging wie ihn selbst.
    „Aber ich glaube nicht, dass es für dich jetzt noch einen Weg zurück gibt“, fuhr der Lagermeister fort. „Oder glaubst du, du kannst Jaron – ich meine Alfred – immer noch genau so in die Augen schauen, wie bisher? Und so tun, als wäre nichts? Wohl kaum.“
    Wieder diese Pause, wieder so ein herausfordernder Blick. Die Sätze des alten Lagermeisters kamen wie kleine, salzige Wellen, die sich auf Marcus’ Haut legten.
    „Und mal angenommen, ich hätte diese ganzen Fehler gemacht, die du mir vorwirfst. Einfach mal angenommen. Geschenkt. Hat dein Vater sie nicht auch gemacht? Und war er nicht viel mehr in der Pflicht, sie zu vermeiden?“
    „Im Gegensatz zu dir wusste unser Vater aber nichts von den Entscheidungen der Stadt und der Nachweispflicht mit der Abstammung“, schaltete Balduin sich ein, die Stimme so kühl, wie Marcus das Zimmer gerne gehabt hätte. „Wir haben es meinen Eltern verheimlicht.“
    „Ich glaube nicht, dass Jaron so naiv ist, dass er so etwas nicht mitbekommt“, sagte der Lagermeister ungerührt, ohne den Blick zu Balduin hin zu wenden, stattdessen weiter auf Marcus fokussiert. „Aber selbst wenn ich euch diese Einwendung auch noch schenke: Wer kann euch in eurer Lage jetzt wirklich helfen? Ihr habt ja selbst gesagt, dass mein Einfluss begrenzt ist. Dann soll es eben so sein. Jaron ist immerhin dein Vater – wer wenn nicht er kann dir deine Urkunde verschaffen? Nicht dass ich glaube, dass er eine auf Lager hat – woher auch, er hat dich ja immerhin jahrelang verleugnet. Aber trotzdem: Ich mache dir ein Angebot. Ich komme mit euch mit. Ich statte Jaron einen kleinen Besuch ab, zusammen mit euch. Wir sprechen uns aus. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit. Er wird auch wissen wollen, dass ihr nun wisst, was in seiner Vergangenheit alles so geschehen ist.“
    Für Marcus klang das nach einem vergifteten Angebot. Der Lagermeister, so glaubte er, musste irgendetwas vorhaben. Am meiste beunruhigte ihn aber, wie recht er mit seinen Worten hatte. All die Diskutiererei, das Gefrage und Geschimpfe – es brachte sie alle nicht weiter. Der Lagermeister konnte ihnen tatsächlich nicht mehr viel helfen. Und ja, es stimmte: Selbst zusammen mit Balduin würde Marcus sich gegenüber Alfred irgendwie alleine vorkommen. Den Lagermeister bei der Konfrontation mit der Vergangenheit an ihrer Seite zu wissen, würde vieles vereinfachen. Alfred würde sich nicht herausreden können, selbst wenn er es wollte. Im Grunde, so sagte es zumindest Marcus’ Verstand, gab es an der Sache kein Problem. Vieles war schief gegangen und hatte mit Katharinas Tod schließlich schrecklich geendet. Aber es war nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn sie jetzt nach vorne schauten… Alfred hatte es vielleicht in der Hand, die Geschichte noch zu einem halbwegs versöhnlichen Ende zu bringen.
    „Balduin, was sagst du dazu?“, fragte Marcus. Sein Bruder sah ihn an, wenig ausdrucksstark, ein bisschen unbeteiligt, aber nicht feindselig. Die Antwort fiel erwartbar knapp aus. „Es geht hier nicht um meine Vergangenheit“, sagte er nur. „Deine Entscheidung. Was dir hilft.“
    Marcus’ Blick ging zurück zu seinem Namenspaten. „Wir können aber wohl kaum um diese Zeit bei Ilse und Alfred aufschlagen.“
    „Können wir schon“, erwiderte der Lagermeister. „Sollten wir aber nicht. Punkt Mittagszeit. Dann treffen wir uns bei Jaron. Mir bleibt bis dahin genug Zeit, um Jordir die ganze Arbeit aufzuhalsen, die du eigentlich machen solltest. Und ihr geht solange wieder nach Hause und versucht vielleicht noch ein wenig zu schlafen.“
    Der alte Marcus stand auf, obwohl es ja gar nicht er selbst war, der das Haus nun zu verlassen hatte. Seine beiden Gäste taten es ihm gleich, Balduin bewegte sich rasch zur Tür, der junge Marcus blieb noch eine Weile vor dem Lagermeister stehen.
    „Was ist?“, fragte der Alte auffordernd, aber Marcus senkte nur den Kopf, wandte sich ab und verließ das Haus hinaus in die Morgendämmerung.

    _____


    Er war sich dessen nicht bewusst, aber Rudolph hatte an diesem Morgen gleich aus mehreren Gründen Glück im Unglück, als er im schwachen Lichte der Dämmerung die Stufen zum Oberen Viertel hinaufstieg.
    Er war viel früher als geplant und versprochen unterwegs, aber hinter seinen verschlossenen Augen hatten so viele Dämonen gewütet, dass es ihn nicht lange im Bett gehalten hatte. Mit den ersten schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne hatte sich der Morgentau einer Idee in seinem Kopf gebildet. Wenige Augenblicke später hatte Rudolph sein kleines Haus am Rande der Unterstadt in Richtung Oberes Viertel verlassen – zum ersten Mal seit langem in Zivil. In einem Hemd blasser Farbe und einer Hose, die vor langer Zeit einmal schick gewesen sein mochte, passierte er das steinerne Tor. Links und rechts von ihm, in einigem Abstand, befanden sich deutliche Kuhlen im steinernen Pflaster, eingedrückt von Männern großer Höhe und schwerer Rüstung. Die Kuhlen waren da, die Männer jedoch nicht. Die Ereignisse der Nacht hatten das Tor zu einem verlorenen Posten gemacht. Rudolph kannte seinen Anteil daran, nicht aber sein daraus folgendes Glück, denn er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, was gewesen wäre, hätten ihn die Torwachen erkannt und zur Rede gestellt. Nun aber waren die Torwachen fort, auf der Suche, bei der Hilfe, oder beim Rapport – aber auch darüber dachte Rudolph nicht weiter nach.
    Er erreichte das Rondell und spähte dem Rathaus entgegen, wobei er seinen Blick aber vor allem immer wieder ein wenig schräg zur Seite lenkte, wo das Haus des Richters Monsignore Huff stand – oder das, was davon übrig geblieben war. Tatsächlich war sogar relativ viel davon übrig geblieben, und es war weit davon entfernt, eine ausgebrannte Ruine zu sein. Vollkommen bewohnbar war das Untergeschoss aber nicht mehr, und noch immer standen Wachmänner und andere Bedienstete um nass qualmende Holzbalken, angesengte Wandteppiche und allerlei Krimskrams herum, wenn sie nicht in das Haus hineingingen und weitere Gegenstände dieser Art dort herauszogen. Es war eine konzentrierte Geschäftigkeit, bei der die einzelnen Akteure wie kleine Zahnrädchen im Innern eines riesigen Uhrwerks ineinandergriffen, mit einer Routine, die aus dem Nichts geboren war, denn schon sehr lange nicht mehr hatte es einen derart großen Brand im Oberen Viertel gegeben. Trotzdem hatte dem Anschein nach jeder der Beteiligten seinen Platz in der Kette von Alarm, Feuerlöschen, Retten und Trocknen gefunden, und das war die ganze Nacht seit kurz nach Ausbruch des Feuers so gegangen. Aber auch über diese Dinge machte sich Rudolph keine Gedanken, und so erkannte er auch nicht das Glück, das für ihn darin lag, dass niemand inmitten nassen Holzes und Brandgeruch Zeit hatte, kurz zum Rathaus nebenan zu schauen und ihn, Rudolph, zu entdecken.
    Er trat im schwachen Licht des Morgengrauens vor die Tore des Rathauses und hatte Glück, dass die beiden dort für gewöhnlich abgestellten Wächter nicht anwesend waren, weil sie ihren Vorgesetzten Rede und Antwort zu den Ereignissen der letzten Nacht stehen mussten, die sie doch gar nicht so genau mitbekommen hatten, weshalb sich das Gespräch in die Länge zog und immer wieder mit der Drohung, ihr Versagen direkt der Spitze der Stadtführung zu melden, unterlegt wurde. Zwar hatte Rudolph wohl im Auge, dass die beiden Rathauswachen nicht dort waren, aber er wusste freilich nicht die Gründe dafür und erkannte daher auch nicht, was für ein glücklicher Zufall es war, dass gerade jetzt niemand da war, der ihn definitiv hinter der biederen Zivilistenkleidung und dem unbeholfen zur Seite gekämmten Scheitel als denjenigen erkannt hätte, der er war. Nur deshalb konnte der auffällig unauffällig gekleidete und gestriegelte Rudolph, der vor seinen Kollegen selbst hinter eine Maske noch erkannt worden wäre, durch die Vordertore das Rathaus betreten wie ein ganz normaler Bürger.
    Er stand nun im großen, mit schweren klösterlichen Wand- und Bodenteppichen ausgestatteten Vorraum des Rathauses, der noch nach Weihrauch roch von der Mette, die alle städtischen Beamten bei Morgendämmerung vor Beginn ihrer Arbeit kollektiv abzuhalten hatten, weshalb um diese Zeit überhaupt schon ein bisschen Betrieb herrschte. Das alles wusste Rudolph aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, und selbst wenn er es wusste, so dachte er in diesem Augenblick nicht darüber nach. Deshalb erkannte er auch nicht, was für ein Glück es für ihn war, genau in den richtigen Zeitpunkt getappt zu sein, zu dem ihm ein distanzierter Stadtbediensteter in religiös bestickter Amtstracht nun am Empfang in selbigen nehmen konnte.
    Er wurde vom Stadtbeamten mit einem Blick bedacht, der ihn zwar wahrnahm als einen Bürger mit einem Anliegen, dabei aber trotzdem leicht durch ihn hindurch ging, so, wie jemand eben schaute, wenn er eine Person sah, die er nicht kannte und deshalb auch nicht erkannte. Es war Rudolphs Glück, dass die innoskirchliche Verpflichtung der Stadtbeamten ihre ohnehin schon vorhandene Ignoranz nur noch mehr befruchtet hatte, sodass sie sich bloß um ihre eigenen und die kirchlichen Angelegenheiten scherten und einen ihrer Wachmänner nicht einmal erkannt hätten, wenn er sich persönlich bei ihnen vorgestellt hätte. Nur deshalb blieb auch Rudolph unerkannt, als er sich mit schlaff herabhängenden Armen nervös mit den Daumen über seine Fingerkuppen fuhr und den Satz sprach, den er auf dem Weg hierhin so oft und so konzentriert innerlich aufgesagt hatte, dass er weder sämtliches Glück auf eben diesem Weg zum Empfangspult wahrgenommen hatte, noch darüber hatte nachdenken können, dass ihm all das Glück im Unglück trotzdem nichts half.
    „Meine Name ist Balduin, und ich bin hier wegen meiner Geburtsurkunde.“

    _____


    Auf dem Rückweg hatten Marcus und Balduin kein einziges Wort miteinander gesprochen, aber als sie sahen, wie Licht aus Marcus’ Haus heraus schien, erhoben sie beinahe gleichzeitig die Stimme.
    „Warum brennt noch Licht?“
    „Hast du vergessen, die Kerzen zu löschen?“
    Sie beschleunigten ihre Schritte, ließen sich von der kleinen Senke tragen, die hinunter zu Marcus’ Haus führte. Marcus’ Herz pochte. Er hatte erst noch an eine optische Täuschung glauben wollen, an einen Lichtreflex der aufgehenden Sonne, vielleicht im Fenster gespiegelt. Aber jetzt, wo sie auf Sprungweite an das Haus herangekommen waren, war klar, dass dort tatsächlich Licht brannte. Marcus war sich sehr sicher, vor Verlassen des Hauses die Kerzen gelöscht zu haben. Und so weit, dass er an eine spontane Selbstentzündung glaubte, war er noch lange nicht.
    Bevor er mit Balduin an die Tür ging, schaute er sich noch einmal um. Es war noch sehr früh am Morgen, keiner aus der Nachbarschaft war bereits aufgestanden oder außer Haus. In diesen Stunden wirkte die Gegend noch verlassener als in der Nacht. Wenn jemand geglaubt hatte, diese Tageszeit für einen Einbruch ausnutzen zu können, würde er nun eines Besseren belehrt werden.
    Entschlossen trat Marcus durch die geöffnete Tür in sein Haus, Balduin dicht hinter ihm. Er fand den Kerzenleuchter auf seinem Schreibtisch stehen – dort, wo er ihn ganz sicher nicht stehengelassen hatte, schon gar nicht brennend. Der kleine Innenraum des Hauses war schnell überschaut, niemand außer ihnen beiden war hier. Die Stelle, an der Balduin durch den Boden gebrochen war, schien seit ihrem Aufbruch zum Haus des Lagermeisters unberührt geblieben zu sein. Das Haus wirkte insgesamt nicht danach, als wäre es von jemandem durchsucht worden.
    „Marcus, da auf dem Schreibtisch!“, rief Balduin plötzlich, und Marcus ließ von der Schublade ab, die er gerade öffnen wollte. Es genügte ein Blick, dann sah er das, was Balduin im Gegensatz zu ihm selbst nicht übersehen hatte. Marcus fühlte seine Knie, als er an den Schreibtisch herantrat und sich so dem kleinen, matt im Kerzenschein schimmernden Ding näherte, welches in länglicher Form senkrecht zur langen Schreibtischkante lag, ganz offensichtlich penibel dort so positioniert. Marcus nahm das Ding in die Hand und erkannte es als einen Schlüssel. Nur einen Augenblick später erkannte er es dann als einen ganz bestimmten Schlüssel. Er erinnerte sich an das, was Katharina den Bart genannt hatte und an diesem Schlüssel neben einiger anderer Schrammen nicht mehr ganz so frisch aussah. Sein Finger glitt über das Metall. Er merkte, dass er schwitzte.
    „Du hast den nicht auch noch mitgenommen oder?“
    Marcus blickte in die schreckgeweiteten Augen seines Bruders.
    „Das ist Rudolphs Generalschlüssel, oder?“, fragte Balduin zurück.
    Marcus nickte. Er drehte den Schlüssel unablässig in den Händen, fantasierte ein Eigenleben in dieses kleine Metallding hinein, das sich wie ein steifer Wurm zwischen seinen Fingern wand. Mehrere Fragen gleichzeitig schossen ihm durch den Kopf. Als er versuchte, eine von ihnen Balduin zu stellen und er in diesem Zuge zu seinem Bruder herüber blickte, stockte ihm jedoch so der Atem, dass er kein Wort mehr hervorbringen konnte. Hinter Balduin, wenige Schritte von der Haustür entfernt, war ein Mann in schwarz-rotem Talar aufgetaucht.
    „Balduin, Vorsicht!“, brachte Marcus schließlich doch noch hervor, aber in diesem Moment hatte sein Bruder den Mann schon selbst bemerkt und war einige Schritte von dem Fremden weg gestolpert, stand nun mit Marcus auf gleicher Höhe.
    „Aber, aber, für Vorsicht ist es doch schon zu spät“, ließ der Mann nun seine Stimme ertönen und breitete wie zur Predigt die Arme aus. Marcus erkannte ihn wieder, auch wenn er ihn vorher nie gesehen hatte. Aber diese Stimme und der natürliche Hall, der in ihr lag, wirbelte wie ein Echo durch seinen Kopf.
    „Richter Monsignore Huff!“, sprach Balduin das aus, was Marcus dachte. Der ältere Mann in seinem Talar deutete eine Verbeugung an und senkte den Kopf wie zum Gebet. Als er wieder aufschaute, schienen seine Augen zu glühen.
    „Es freut mich, dass ihr mein kleines Geschenk schon gefunden habt“, fuhr der Mann fort und blinzelte kurz in Richtung des Schlüssels in der Hand von Marcus. „Ich dachte mir, ich bringe es euch, als kleines Andenken. Wo ihr euch doch so viel Mühe gegeben habt, mein Haus zu verwüsten. Eine derartige Tat kann ja nicht ohne Reaktion bleiben, nicht wahr?“
    Richter Monsignore Huff machte eine kurze, kaum sichtbare Bewegung, mehr eine unscheinbare Gewichtsverlagerung, um einen Schritt nach vorne zu machen. Marcus’ Muskeln verkrampften daraufhin, er wollte diesen Mann nicht noch näher bei sich haben. Es war so, als hatte der Monsignore das bemerkt, denn er schmunzelte und blieb auf der Stelle stehen. Der Richter wirkte entspannt, beinahe vergnügt. Marcus machte das nur umso nervöser. Es gab sie, diese ruhigen Irren.
    „Dabei hättet ihr sehr gerne den Schlüssel auch direkt wieder mitnehmen können, statt ihn einfach auf dem Boden eines bescheidenen Richterhauses liegen zu lassen. Ihr hattet doch sicher so viel Mühe, ihn überhaupt erst in die Finger zu bekommen, oder nicht? Habt ihn meinem Wachmann stibitzt, nicht? Und dann war doch alles vergebens, ein Jammer. Gerade deshalb hättet ihr ihn doch mitnehmen können. Damit er überhaupt etwas wert ist. Oder war er schon in die Flammen gefallen? Habt keine Angst, das Feuer in meinem Hause ist zu diesem Zeitpunkt längst gelöscht. Den Schlüssel habe ich eigens aus dem brennenden Untergeschoss für euch geborgen. Aber er ist nicht mehr heiß. Oder? Ist er heiß?“
    Der Schlüssel war kalt. Marcus’ Blick pendelte zwischen den Formen des Schlüssels und den Mustern und Symbolen auf dem Talar des Richters hin und her. Die traditionellen Farben einer Richterrobe, wie man sie von Zeichnungen noch vor dem ersten Orkkrieg kannte, Blau und Goldgelb, fanden auf dem Talar keinen Platz mehr. Stattdessen war es die rote Flamme Innos’, die den ansonsten schwarzen Stoff prägte. Der Talar war der Robe eines Magiers ähnlicher als der Robe eines Richters, machte dabei aber einen festlicheren Eindruck. Das Erscheinungsbild des Monsignores war auf eine unangenehme Art und Weise imposant.
    „Was willst du hier? Hast du die Kerzen hier angezündet? Was machst du in meinem Haus?“
    „So begrüßt man keine Gäste, aber ich hatte mir auch nichts anderes erwartet“, sagte der Monsignore, ohne seinen glühenden Blick auch nur einen Millimeter von Marcus wegzubewegen. Marcus entging es nicht, wie der Tonfall des Richters an Schärfe zunahm. Die Drohkulisse, die er nun langsam aufbaute, war deutlich spürbar, fast greifbar. Er traute sich nicht, den Mann aus den Augen zu lassen, weshalb er nicht schauen konnte, was Balduin neben ihm machte. Vermutlich fühlte sich sein Bruder gerade ebenso versteinert wie er selbst und raste mit seinen Gedanken durch Möglichkeiten, diesen verfluchten Monsignore so schnell es ging loszuwerden.
    „Aber ja, ich habe diese kleine Opferkerze für euch entzündet, als ich den Schlüssel überbrachte“, fuhr der Monsignore mit liturgischem Anklang in der Stimme fort. „Und ja, ich habe mir Zugang zu deinem Haus verschafft. Ebenso, wie ihr euch Zugang zu meinem Haus verschafft habt. Wie ich sagte, eine solche Tat kann nicht ohne Reaktion bleiben.“
    „Eine solche Tat?“, fragte Marcus betont kalt, wie, um der vermeintlich heiligen Flamme, in deren Dienerschaft Monsignore Huff sich offensichtlich sah, etwas entgegenzusetzen. „Wegen dir ist Katharina tot. Verbrannt.“
    „Nun, nun, wir wollen hier ja jetzt nicht die Tatsachen verdrehen“, entgegnete der Monsignore mit einem derart großväterlichen Lächeln, dass Marcus es ihm am liebsten direkt mit einem Faustschlag aus dem Gesicht gepeitscht hätte. „Es hat euch ja schließlich niemand gezwungen, in mein Haus und die Kammer einzubrechen. Dass ich die Asservatenkammer mit einer Falle sichere, ist mein gutes Recht. Sogar meine heilige Pflicht. Dem, der sich widerrechtlichen Zugang zu der Kammer verschaffen will, gebührt die gerechte Strafe durch das Feuer. Als Mensch tut es mir leid, doch als Richter in Diensten der Stadt und des Flammengottes ist mir keinerlei Gnade vergönnt.“
    „Sie ist verbrannt, verdammt!“, rief Marcus nun, sah keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. „Elendig verbrannt! Das ist Wahnsinn!“
    „Wahnsinn ist es, in das Haus eines heiligen Richters einzudringen, das ist Wahnsinn!“, kam die Erwiderung, nicht gebrüllt, geschrien oder gerufen, aber so laut gesprochen, dass der Hall in der Stimme des Mannes nur umso mehr zur Geltung kam. Seine Gesichtszüge hatten sich verhärtet, Muster von Krähenfüßen und Kerben zogen sich über seine Haut. Eine Haarsträhne seiner schulterlangen, grauen Haare hatte sich gelöst und lag nun einsam auf dem Kragen seines Talars auf. „Eure Freundin ist verbrannt, ja, aber sie wird bestattet werden. Unsere Riten gebühren auch denjenigen, die der Gemeinschaft Schaden zufügen wollen, in ihrer Blindheit. Nur deshalb bin ich überhaupt hierher gekommen. Ich wollte der jungen, vom rechten Weg abgekommenen Frau die letzte Aufwartung an ihrem Hause machen. Und nun finde ich euch hier. Man hatte mir gesagt, dass man dieses Mädchen häufiger in diesem Hause ein und ausgehen sehen hat, aber offenbar hat die Wache sich getäuscht. Und nun treffe ich auf euch, eine Begebenheit, die nur durch Innos’ schicksalhafte Hand herbeigeführt werden konnte. Innos gab mir das Licht, euch zu erkennen. Selbst in dem, was für die anderen Menschen das Dunkel der Nacht ist, sah ich euch zum Hause kommen, erkannte euch an Schritten und Stimmen, genau, wie ihr aus meinem eigenen Hause geflohen wart. Innos’ Weisheit ist unermesslich, dass er mich direkt zu euch geführt hat. Oder euch zu mir.“
    Marcus hatte diese furchtbare Predigt des Monsignores an mehreren Stellen unterbrechen wollen, hatte dafür aber nicht die richtige Lücke im Wortschwall gefunden. Richter Monsignore Huff war nicht mehr der ruhige Irre, er war jetzt der laute Irre. Es war wirres Zeug, was er erzählte, aber das bisschen Handfestes, das Marcus herausgefiltert hatte, klang beunruhigend. Er spürte, wie sich seine Muskeln immer weiter anspannten. Wenn so ein Kerl ihnen schon wenige Stunden nach dem Brand im eigenen Haus nachstellte, verhieß das eine Entschlossenheit, die man als normaler Mensch niemals aufbringen konnte.
    „Was willst du?“, fragte Marcus. „Warum bist du hierher gekommen? Warum hast du uns diesen Schlüssel gebracht? Wir wollen mit dir nichts zu tun haben.“
    „Warum hast du uns nicht einfach festnehmen lassen?“, fragte Balduin, der nun offenbar seiner Schockstarre erwacht war.
    Der Monsignore atmete einmal tief durch und schloss die Augen. Ein zufriedener, beinahe erleichterter Ausdruck beseelte sein Gesicht. Marcus fasste den Gedanken, diesen Augenblick einfach zu nutzen, um zusammen mit Balduin wegzurennen, doch genau in diesem Moment öffnete der Richter schon wieder seine Augen. Sie glühten nicht nur, sie schienen rot zu brennen. Marcus versuchte, sich diesen Anblick irgendwie durch das Kerzenlicht in Verbindung mit den durch das Fenster einfallenden Sonnenstrahlen der Morgendämmerung zu erklären, aber es blieb das ungute Gefühl, dass da mehr war in und an diesem Mann.
    „Eine solche Tat kann nicht ohne Reaktion bleiben. Die Reaktion nach überkommenem Recht wäre tatsächlich gewesen, euch festnehmen zu lassen und euch ins Gefängnis zu stecken. Euch versauern zu lassen zwischen Stein und Moos, im Dunkel und der Feuchtigkeit. Das ist mit dem Glauben an Innos jedoch nicht vereinbar. Dunkler Stein ist der Rohstoff, aus dem die Tempel Beliars gebaut sind. Deshalb kann ich es kraft meiner kirchlichen Pflicht nicht zulassen, euch einer derart ketzerischen Bestrafung zu übereignen.“
    Der Monsignore machte eine Kunstpause, in der er Marcus weiterhin mit seinem stechenden Blick fixierte. Ein paar weitere Strähnen hatten sich aus seiner eigentlich so streng anmutenden Frisur gelöst. Marcus hätte sie am liebsten herausgerissen. Er spürte, wie seine Gedanken wild wurden beim Anblick dieses selbstgerechten Talarträgers. Dennoch konnte er nicht handeln, konnte nicht anders, als abzuwarten, was als nächstes passierte. Balduin neben ihm schien es ähnlich zu gehen. Er verfluchte sich, dass er keine Waffe bei sich trug. Wenn es zu einem Kampf kommen sollte, hätte er ihn so zumindest schnell wieder beenden können, denn der Monsignore schien unbewaffnet zu sein.
    „Ich glaube nicht, dass du hier bist, nur um uns mitzuteilen, dass wir nicht bestraft werden.“ Marcus plante, den Richter zu provozieren, damit dieses Auf und Ab von Reden und Schweigen, welches so an ihm zehrte, endlich ein Ende nahm. Wenn es einen Kampf geben musste, dann lieber sofort als später. „Sag endlich was du willst, oder verschwinde von hier. Wir haben unsere Freundin verloren, und du trägst Schuld daran! Du brauchst nicht glauben, wir hätten nur irgendeinen Hauch Respekt vor dir, nur weil du dich Richter nennen darfst und ein Kostüm trägst. Wir werden dich nicht schonen, nur weil du in der Stadt etwas zu sagen hast. Sag was du willst, oder verschwinde. Das hier ist mein Haus. Deinen Segen brauchen wir hier nicht.“
    Richter Monsignore Huff verzog seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Marcus erkannte ein paar unregelmäßig verstreute Barthaare und eine kleine Schnittwunde auf der linken Gesichtshälfte, die vom Rasieren gekommen sein mochte. Je länger er den Richter ansah, desto mehr erkannte er dessen Ungepflegtheit.
    „Für euer Verhalten muss es eine Bestrafung geben“, fuhr der Monsignore nun mit wieder beruhigter Stimme fort. „Denn Strafe reinigt und befreit euch vom Makel eures Verbrechens. Deshalb auch ist das bloße Wegsperren von Menschen zur Bestrafung ungeeignet. Der Unmensch muss sein Unrecht erkennen, indem er es selbst erfährt. Nur die Spiegelstrafe kann das leisten, und so ziehen sich die Berichte über ihre Anwendung durch Innos’ Schriften hindurch.“
    „Du sprichst von Rache“, meldete sich Balduin nun wieder zu Wort. In seiner Stimme lag kaum ein Gefühl, weder Angst noch Zorn. Er sprach die Worte aus wie eine simple Feststellung, dass morgen ja schon wieder Sonntag sei.
    „Wenn du auf Rache aus bist“, knurrte Marcus, „dann sieh dich vor, dass wir uns nicht zuerst rächen. Du bist schuld am Tod eines Menschen, Richter Monsignore Huff. Pass auf, dass die Rache nicht dich trifft.“
    „Ich habe mit dem Triumvirat gesprochen und euch den Schlüssel gebracht“, raunte der Monsignore, ohne auf die Worte der beiden Brüder einzugehen. „Er liegt nun in deiner Hand. Ist er heiß?“
    Marcus schüttelte verwirrt den Kopf, wusste nicht, was er dazu sagen sollte, blickte abwechselnd auf den Schlüssel und zum Monsignore, hatte mit einem Mal das Gefühl, dass dieser Mann doch einfach nur übergeschnappt war und dabei längst nicht dazu in der Lage, ihnen irgendwelchen Schaden zuzufügen. In diesem Moment wirkte der Mann im Talar einfach hilflos. Schon im nächsten Moment aber glühte alles an ihm und Marcus war zu überrascht, um noch irgendwie darauf reagieren zu können.
    „IST ER HEISS?“, kreischte der Monsignore nun, und im selben Augenblick spürte Marcus die Hitze in seine rechte Hand fahren, die vom weißrot gleißenden Metall des Schlüssels ausging. Die Hitze war magisch, hungrig und gierig, fraß sich wie ein feuriger Blitz durch sein Fleisch, das um seinen Knochen herum bald in sich zusammensackte und schwarz verschmorte, bis es zu Asche wurde, die gen Boden fiel, ebenso wie seine Knochen und der Schlüssel mit ihnen.
    Der Schmerz kam erst, als von Marcus’ Hand schon gar nichts mehr übrig war. Es waren tausend Nadeln, tausend Blitze und tausend Funken, nicht nur im blutleeren Stumpf seiner rechten Hand, sondern in seinem ganzen Körper und vor allem in seinem Kopf. Tatsächlich fühlte sich sein rechter Arm sogar kalt und taub an, während alle Hitze in sein Haupt schoss, von dem er fürchtete, dass es bald platzen würde. Er hörte Balduin wie aus der Ferne schreien, aber seine Wahrnehmung war zu getrübt, als dass er sich darum kümmern konnte. Nur die Nadeln und Blitze beherrschten ihn in diesem Moment, und wie er den aufgerissenen Mund des nun vollkommen entfesselten Monsignore Huff sah, ging auch dieser rasch wieder in einer Funkenkaskade vor seinen Augen unter.
    Der gleißende Schlüssel war aus seiner Hand auf den Holzboden gefallen und hatte innerhalb von Sekunden ein Feuer entfacht, welches sich rasch ringförmig ausbreitete und schon bald an seinem Bettkasten und wenig später an der Wand leckte, während es in anderer Richtung bereits seinen Stuhl verschlungen hatte und tanzend am Schreibtisch sengte. Der Monsignore stand inmitten des aufkommenden Infernos wie ein Ruheständler in der Morgensonne und schien sich nicht im Geringsten an der Hitze im Raum zu stören. Als Marcus ihm noch einmal in die rot glühenden Augen sah, spürte er einen Stoß im Rücken, der von Balduin gekommen war und ihn aus dem lodernden Feuerkreis hinausbeförderte. Marcus hatte alle Mühe, die Ereignisse in seinem von flammenden Nadelblitzen gepeinigten Kopf zu ordnen, bekam aber irgendwie mit, dass sein Bruder ihm helfen wollte, die nun schon zu mehr als zur Hälfte in Flammen stehende Holzhütte zu verlassen. In einem Meer aus aggressivem Orange und blutigem Rot kreisten die Wände um ihn, als er von Balduin an der noch intakten Hand mitgezogen wurde, vorbei an Richter Monsignore Huff und der magischen Aura, die ihn umgab, hinaus aus der Tür und weg von den Flammen, die höhnisch in seine Waden bissen, um vielleicht noch mehr von ihm zu verschlingen.
    Marcus fand sich draußen wieder, immer noch mit Balduin an seiner Hand, der nun unablässig auf ihn einredete. Keines der Worte kam verständlich an, Marcus’ Kopf war viel zu voll, alles um ihn drehte sich und er selbst drehte sich auch in einer Spirale von Schmerz und Blitzen, sein Sichtfeld verschwamm und wurde dann plötzlich wieder schmerzhaft scharf, immer im Wechsel, und zwischen diesen Schmerzblitzen sah er immer wieder sein Haus auftauchen, das schon bis zum Dach in Flammen stand, der Monsignore weiter im Inneren, wenn er nicht auch mit nach draußen gekommen war, doch wie Marcus sich umblickte und drehte, sah er nur Balduin, der immer noch sprach und an ihm zog, bis die Morgenluft endlich einen Weg fand, die Worte durch seine Ohren in seinen Kopf zu tragen.
    „Marcus, wir müssen gehen! Der Richter ist… die Flammen scheinen ihm nichts anzuhaben, wir haben keine Chance! Wir müssen weg, zu irgendwem! Marcus, hörst du mich? Deine Hand…“
    „Ich höre dich, ich höre dich“, brachte Marcus kraftlos hervor und bemerkte erst jetzt, wie atemlos der Schmerz ihn gemacht hatte. Die Schmerzen kamen nun in Wellen, klangen immer wieder trügerisch ab, nur um sich dann noch einmal aufzubäumen, doch immerhin kehrte Marcus’ Wahrnehmung in Teilen zurück, auch wenn er sich kaum länger als jeweils für den Bruchteil einer Sekunde auf etwas konzentrieren konnte. Es reichte, um den Stumpf am Ende seines rechten Arms zu sehen. Es reichte, um zu verstehen.
    „Du musst versorgt werden, wir müssen jemandem Bescheid sagen“, redete Balduin weiter, und auch wenn ihm, Marcus, das alles viel zu anstrengend erschien in diesem Moment, auch wenn seine Gedanken voll waren von seinem brennenden Haus und seiner verlorenen Hand, wusste er, dass Balduin recht hatte.
    „Ja… ja, wir… ich komme, aber langsam…“, hauchte er zu Balduin und ließ sich bereitwillig von ihm wegziehen, während er ein letztes Mal über die Schulter zum lodernden Dach seines Hauses sah.
    Geändert von John Irenicus (11.08.2016 um 19:46 Uhr)

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    Als Marcus erwachte, fühlte er ein Loch in seinem Bauch, das sich nach hastigem Befühlen seinerseits in einen Schmerz verwandelte, der dann aber auch gar nicht mehr vom Bauch ausging, sondern von seinem rechten Arm. Mit der linken Hand fühlte er dort einen verbundenen Stumpf. Dann schlug er die Augen auf.
    Marcus’ Blick war zur Zimmerdecke gerichtet, denn er lag mit dem Rücken auf einer Schlafstatt, sein Kopf auf ein flaches Kissen gebettet. Die Decke und die Wände des Zimmers drehten sich ein wenig vor seinen Augen, er spürte große Kraftlosigkeit und Schwindel. Noch bevor seine Sicht wieder scharf wurde, hatte er aber schon erkannt, in was für einem Zimmer er lag. Es war das Zimmer, das er jahrelang zusammen mit seinem Bruder bewohnt hatte. Das Bett in seinem Rücken schmiegte sich an ihn an, als habe er es niemals verlassen. Marcus schloss noch einmal die Augen, versuchte, dieses Gefühl der Vertrautheit zu genießen, mit ihm den Schmerz zu verdrängen. Als er einsehen musste, dass ihm das nicht gelang, öffnete er die Augen wieder und stellte sich dem Anblick seines rechten Arms. Die Gliedmaße endete in einem Knubbel aus Verband. Viel zu früh, viel zu kurz. Marcus glaubte für einen Moment, dass ihm die Tränen in die Augen schießen würden, doch dann schoss nur der Schmerz – und danach war dort Leere. Der Verlust seiner rechten Hand schien ihm in diesem Augenblick wie eine bloße Unannehmlichkeit, eine nervige Störung, etwas, was einem den Tag vermieste. Er spürte Schmerz, aber keine große Tragweite. Am liebsten hätte er die Augen wieder zugemacht und weitergeschlafen. Aber nun bemerkte er, wie die vergangenen Ereignisse in ihm hochkamen und in seinem Leib wühlten wie tosende Wellen. Als er sich daraufhin aufrichtete, fühlte es sich an, als stieße er mit seinem Kopf durch die Wasseroberfläche dieser Wellen, denn plötzlich war alles etwas klarer, und aus dem Nebenraum hörte er Stimmen.
    „… und wenn ich dann noch mit Hauptmann Garetzik ein ernstes Wörtchen rede, dann sollten wir die ganzen Altmilizen gegen die Pfaffen in Stellung bringen können.“
    „Die ganzen Altmilizen, mein lieber Mann. Wie viele mögen denn das wohl sein? Ganze zwei Stück?“
    „Spotte nur. Solange du keinen besseren Vorschlag hast, machen wir das so, wie ich es sage. Ich habe Einfluss in der Kaserne. Es werden sich schon genug Männer anschließen. Die meisten von denen haben doch längst die Schnauze voll von dem Zirkus, den diese Wanderprediger hier veranstalten. Hauptmann Garetzik allen voran. Was glaubst du denn, warum ausgerechnet Milizen und Kasernisten von der Nachweispflicht ausgenommen sind? Die Pfaffen wussten schon, mit wem sie sich besser nicht anlegen.“
    „Dein Einfluss, Marcus, dein Einfluss… wohin hat er uns gebracht?“
    „Wie gesagt, Jaron, wenn du einen besseren Vorschlag hast…“
    Das Gespräch zwischen dem Lagermeister und Alfred verstummte, als sie Marcus im Türrahmen stehen sahen. Der Lagermeister saß auf einem bereitgestellten Stuhl, während Alfred, eine ungewohnte Unruhe ausstrahlend, am Küchentisch in der Mitte des Raumes stand und sich, den langen Körper gebeugt, auf der Tischplatte abstützte. Auch der hohe Hocker, auf dem Balduin immer gesessen hatte, wenn die Familie gemeinsam gegessen hatte, war besetzt. Heute war aber keine Mahlzeit auf dem Tisch bereitgestellt, und die Küche war kalt geblieben. Das sah Marcus aber gar nicht. Seine Aufmerksamkeit war zu sehr von der Überraschung eingenommen, dass es gar nicht Balduin war, der dort auf dem Hocker saß – sondern Jordir. Als auch er sich zu Marcus umwandte, knarzte der Hocker unter seinem Gewicht.
    „Marcus!“, sprach Alfred ihn nun an, die Augen vor Sorge geweitet. „Kannst du überhaupt schon wieder stehen?“
    „Siehst du doch, dass der Junge stehen kann“, mischte der Lagermeister sich prompt ein. „Der ist nicht so zart, wie du denkst.“
    „Ich…“, brachte Marcus hervor, musste sich dann aber erst einmal räuspern. Alfred zog einen weiteren Stuhl an den Tisch heran und bedeutete ihm, sich zu setzen. Marcus nahm das Angebot dankbar an. Er fühlte sich gerade von allem überfordert. Die Klarheit, die in seinem Verstand geherrscht hatte, als er aufgestanden und in den Wohnraum gekommen war, war nun wieder einer gewissen Schwammigkeit in seinem Kopf gewichen.
    „Ich weiß nicht so ganz, was passiert ist“, sagte er dann, blickte abwechselnd Jordir, Marcus und Alfred in die Augen. „Ich muss wohl ohnmächtig geworden sein… oder?“
    Alfred nickte, Sorge und Gutmütigkeit in seiner Miene. Marcus wurde schlagartig wieder klar, dass er ja sein Vater war, also sein tatsächlicher Vater. Aber besonders anders wirkte es nicht. Er fragte sich nur, ob Alfred bereits wusste, dass er selbst es nun wusste, aber in diesem Moment waren so viele andere Sachen so viel wichtiger.
    „Balduin hat dich hier hergebracht“, sagte Alfred, der sich nun mit dem Rücken an die Arbeitsplatte ihrer kleinen Küchenzeile lehnte. „Er war ziemlich aufgeregt und konnte mir nur Fetzen von dem Ganzen erzählen, was passiert war. Er hat dich hier abgeliefert und ist gleich wieder losgestürmt, um Marcus zu holen.“
    Der Lagermeister nickte zustimmend. „Hat ganz schön geistesgegenwärtig gehandelt, der Junge, muss man ihm lassen. Er wird dich ein ganzes Stück lang bis hier hin getragen haben, schätze ich. Alle Achtung. Jetzt, wo er nicht hier ist, kann ich ihn ja ruhig mal loben.“
    „Wo ist er denn jetzt?“, fragte Marcus. Ihm war ein wenig unwohl beim Gedanken, dass sein Bruder gerade nicht hier bei ihm war. Er hatte immer noch das Gefühl, ihn irgendwie beschützen zu müssen. Dabei war er selbst derjenige gewesen, der Schutz gebraucht hatte.
    „Er ist zusammen mit Ilse draußen“, antwortete Alfred, und wirkte dabei alles andere als glücklich. Seine Miene verfinsterte sich, tiefe Falten zeigten sich in der glatt rasierten Haut. Mit einem Bart, so dachte Marcus, hätte er dem Lagermeister vielleicht sogar ganz ähnlich gesehen. Die größere und schlankere Ausführung des alten Marcus, der Lagermeister einmal in die Länge gezogen.
    „Sie wollten los, um sich die Lage anzuschauen“, fuhr sein Vater fort. „Du kannst dir vorstellen, dass draußen auf den Straßen jetzt die Hölle los ist. Nicht nur in direkter Nachbarschaft zu deinem Haus, aber da natürlich umso mehr. Wenn einfach mal so ein Haus anfängt, in Windeseile niederzubrennen…. vor allem, wenn kurz davor im Oberen Viertel… aber das brauche ich dir ja nicht zu erzählen. Balduin meinte, er sei recht unauffällig und könnte dann mal vorsichtig in der Nähe schauen, wie die Lage aussieht. Vor diesem Monsignore hatte er keine Angst. Aber Ilse wollte ihn nicht alleine gehen lassen und ist deshalb mitgekommen.“
    „Wann war das?“
    „Ich weiß es nicht, es ist alles drunter und drüber gegangen. Vielleicht vor einer Stunde. Du warst nicht lange ohnmächtig. Ich hoffe mal, das ist ein gutes Zeichen.“
    „Seine Hand bekommt er davon aber auch nicht wieder“, knurrte der ältere Marcus dazwischen, und fing sich daraufhin einen feindseligen Blick Alfreds ein. Der jüngere Marcus erinnerte sich wieder, dass das Verhältnis der beiden Männer mehr als nur angespannt sein musste. Es war ziemlich anstrengend, die beiden nun in einem Raum zu wissen. Marcus konnte nicht absehen, was dabei noch herauskommen würde.
    „Wer hat sie denn verbunden?“, fragte er dann. „Meinen Arm, meine ich.“
    „Das war der gute Jordir hier“, antwortete der Lagermeister und wies auf den breit gebauten Lagerarbeiter auf dem Hocker neben Marcus. „Kannst dich bei ihm bedanken. Hat ganze Arbeit geleistet, schätze ich. Wie gesagt, deine Hand wirst du nicht wiederbekommen, also finde dich so schnell wie möglich damit ab. Aber vor einer Entzündung, einem Wundbrand oder sonstigem Gezöge hat er dich jedenfalls bewahrt. Verletzungen durch magisches Feuer sind kein Pappenstiel, dafür habe ich schon genug davon gesehen.“
    Marcus nickte seinem mehr oder minder vertrauten Arbeitskollegen unsicher zu. „Danke“, sagte er, „auch wenn ich gar nicht weiß, warum ausgerechnet du… also, ich wusste gar nicht, dass du so etwas kannst. Vielleicht solltest du dich eher als Arzt selbstständig machen, oder so etwas in der Art.“
    Marcus kam sich ein wenig albern vor, wie er seinem Arbeitskollegen, den er bisher nie wirklich sympathisch gefunden hatte, nun kleinlaut solche Komplimente machte. Jordir dagegen schien sich ernsthaft und ohne Anflug von Gönnerhaftigkeit geschmeichelt zu fühlen und nickte ihm freundlich zu. „Bitteschön“, sagte er. „Aber ein Arzt bin ich ganz sicher nicht.“
    „Eher schon ein Magier“, brummte der Lagermeister. Marcus blickte ihn verwirrt an. Der Alte genoss es sichtlich, sein überlegenes Wissen auszuspielen. „Du weißt es natürlich nicht, aber Jordir ist vor Jahren noch Novize im Innoskloster gewesen. Bei einem Botengang hat er sich dann einfach abgesetzt. Weil es ihm in dieser Pennäleranstalt doch nicht so gut gefallen hat oder weil die Pfaffen dort zu viel gegrabscht haben. Musst du ihn fragen. Wir sind uns mehr oder minder zufällig über den Weg gelaufen, und er hat mir seine Geschichte erzählt. Ich fand das natürlich sympathisch, kannst du dir ja vorstellen. Dass er den Gehirngewaschenen dort den Rücken gekehrt hat. Und weil er ein junger Mann war und ist, wie du, und noch dazu kräftig, habe ich ihn bei mir eingestellt. Es schadet nicht, jemanden mit Magiebegabung zu kennen, der nicht unter dem Scheffel dieser verfluchten Innosgemeinde steht.“
    „Magiebegabung ist vielleicht ein wenig zu viel gesagt“, warf Jordir umgehend ein und rieb sich verlegen die Hände. „Aber ein paar Tricks habe ich dann doch noch gelernt.“ Er grinste Marcus unbeholfen an. „Ich hoffe, es tut wenigstens nicht mehr so weh. Mehr konnte ich aber nicht tun.“
    Marcus besah sich noch einmal seinen Verband und seinen gekürzten Arm. Es tat weh, ziemlich weh. Aber wenn er es sich recht überlegte, was mit ihm geschehen war, war er zumindest in Sachen Schmerzen tatsächlich noch gut davongekommen. Und der Verband wirkte sauber und ordentlich. So etwas war bei den üblichen Quacksalbern der Hafenstadt Khorinis keine Selbstverständlichkeit.
    „Jaron und ich waren gerade am Überlegen, wie wir nun weiter vorgehen“, sagte der Lagermeister nach einer Weile. „Aber dein Vater trägt zu viele Bedenken mit sich herum. Auf einmal.“
    „Vielleicht, weil ich aus meinen Fehlern lernen will“, giftete Alfred zurück. Marcus wusste nicht, für welche Seite er sich im Streit der beiden Männer entscheiden sollte, ob er es überhaupt sollte oder konnte.
    „Alfred“, sprach er seinen Vater an. „Weißt du denn, dass ich… also, dass ich und Balduin es nun wissen?“
    Alfred senkte den Blick, setzte ein mildes Lächeln auf. Er war nie derjenige gewesen, der sich in Diskussionen in die Enge treiben ließ, auch diesmal nicht. Aber Marcus sah eine Eingeschüchtertheit an ihm, die er so noch nicht kannte.
    „Ihr wisst alles und ich weiß alles“, sagte er dann nach einer Weile. „Das muss für jetzt genügen. Ich will jetzt nicht einfach pauschal sagen, dass mir alles leid tut. Das würde der Sache nicht gerecht… und all dem, was in den letzten Stunden passiert ist. Ich will mich meiner Verantwortung nicht entziehen, aber… es ist jetzt zu viel auf einmal, um es zu besprechen. Ich kann dir jetzt erst einmal nur meine Hilfe anbieten. Und wenn dann alles wieder geregelt ist, dann sprechen wir. Wie gesagt, glaube mir. Ich will mich meiner Verantwortung nicht entziehen.“
    Der Lagermeister schnaubte, und der jüngere Marcus hasste ihn dafür, für seine Gehässigkeit und Selbstgerechtigkeit. Aber bis alles ausgesprochen war, wollte er tatsächlich für niemanden Partei ergreifen. Das, was Alfred – sein Vater – ihm gesagt hatte, genügte ihm erst einmal.
    „Weiß Ilse… weiß sie denn auch von allem?“
    „Jetzt schon.“
    „Hm.“
    Ein Knirschen an der Haustür ließ Marcus aufschrecken. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Wenige Sekunden später kamen Balduin und Ilse herein.
    „Und?“, fragte der ältere Marcus sofort, aber die beiden Neuankömmlinge gingen gar nicht auf die Nachfrage ein, sondern wandten sich erst einmal dem jüngeren Marcus zu.
    „Marcus, wie geht es dir?“, fragte Ilse gehetzt und beugte sich zu ihrem Ziehsohn hinunter. Die Züge ihres Gesichts waren verhärtet, härter noch als sonst, und ihre Haut war blass wie Kalk. Der Tonfall der Besorgnis in ihrer Stimme rangierte dagegen auf dem Niveau einer Mutter, deren Sohnemann sich den kleinen Zeh am Türrahmen gestoßen hatte. Marcus kam das nur recht. Er hätte es nicht ausgehalten, wenn die Umstehenden – zumal Ilse – seine ohnehin schon schlimme Verletzung, ja, Verstümmelung, noch weiter dramatisiert hätten. Er wusste zwar, dass es ihm nicht auf Dauer gelingen würde, aber für die kommenden Stunden wollte er sie so gut verdrängen, wie es nur irgendwie ging.
    „Es geht mir den Umständen entsprechend. Ich hatte wahrscheinlich sogar Glück. Glück und Balduin.“
    Er nickte seinem Bruder zu, der nickte ihm zurück. Marcus wollte noch zu einer erweiterten Dankesrede ansetzen, verzichtete dann aber doch darauf. Das ließ sich nicht in Worte fassen, und vermutlich bedurfte es da auch gar nicht vieler Worte.
    „Was habt ihr denn nun herausgefunden?“, drängelte der alte Marcus wieder. „Wie sieht es draußen mittlerweile aus?“
    „Das Haus liegt in Schutt und Asche“, sagte Ilse und drückte dem jungen Marcus auf die Schultern, als hätte das trösten können. „Von diesem Monsignore war keine Spur mehr.“ Ilse strich sich eine gräuliche Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem strengen Dutt gelöst hatte. Marcus sah, dass sie geschwitzt hatte. Er hätte es ihr vorher niemals zugetraut, überhaupt nur in die Nähe eines brennenden Hauses zu gehen, um zu schauen, ob dort noch immer ein irrer Magier herumwütete. Dass sie für ihn, Marcus, alle ihre sonst so exzessiv aufgefahrene Vorsicht fallen ließ, rührte ihn. Aber noch mehr beeindruckte es ihn.
    „Huff hat sich verpisst“, stellte der alte Marcus fachmännisch fest. „Am besten, den holen wir uns zuerst.“
    „Was habt ihr vor?“, zeigte sich Ilse nun doch noch besorgt. „Alfred?“
    „Marcus hier meint, man müsste es jetzt auf eine direkte Konfrontation mit der Stadtführung ankommen lassen. Und wenn man sich anschaut, wie Richter Monsignore Huff allen Ernstes zunächst in seinem eigenen Hause jemanden zu Tode kommen lässt und dann auch noch Marcus und Balduin auflauert, um ihnen was auch immer anzutun… so ungerne ich es zugebe, aber vermutlich hat Marcus recht. Wir müssen uns wehren.“
    „Wir? Wehren?“ Ilse hatte sich nun von ihrem Ziehsohn gelöst und war ihrem Mann gegenübergetreten, stand nun zwischen diesem und dem Lagermeister. „Wie stellst du dir das vor? Du und Marcus, ihr gegen den Rest der Stadt, oder was? Ihr seid keine zwanzigjährigen Burschen mehr!“
    „Die zwanzigjährigen Burschen sind ja Marcus, Balduin und Jordir“, meinte der Lagermeister. „Aber im Ernst: Deshalb werde ich ja zur Kaserne gehen. Ich werde da schon einige Leute auf meine Seite ziehen können. Gebt mir fünf Minuten mit Hauptmann Garetzik, und die rücken alle geschlossen aus.“
    „Das wiederum ist der Teil, wo ich so meine Zweifel habe“, seufzte Alfred. Seine Frau, Ilse, seufzte gar nicht, sondern ließ sich auf der Tischplatte nieder. Marcus hätte es nicht für möglich gehalten, dass seine Ziehmutter jemals so etwas Nachlässiges tun würde.
    „Und ich kann nur noch einmal sagen, dass wir keine andere Chance haben“, schloss der Lagermeister erneut. Für ihn schien die Diskussion längst beendet zu sein.
    „Mir kommt es einfach nur vor, als würdet ihr nur liebend gerne wieder Krieg spielen“, wandte Ilse ein. In diesem Moment wurde sich Marcus wieder bewusst, dass ja nun auch seine Ziehmutter die Wahrheit über ihren Ehemann kannte. Dass er eben nicht nur auf Friedensmissionen unterwegs gewesen war. Und dass er, Marcus, sein leiblicher Sohn war. Gezeugt mit und geboren von einer fremden Frau. Dafür, so schätzte Marcus, wirkte Ilse trotz allem recht gefasst. Aber vermutlich ging es ihr wie ihm selbst, und das alles war ihr im Augenblick viel zu viel auf einmal, sodass sie sich im Augenblick nicht um irgendwelche Vergangenheitsgeschichten kümmern konnte und wollte.
    „Den Krieg haben die anderen längst begonnen“, meldete sich nun Balduin zu Wort, sehr sachlich, wenig leidend. „Die Stadtführung, meine ich. Wir sind so oder so mit drin. Du hättest den Monsignore sehen sollen, Mama. Der macht vor nichts mehr Halt. Und der Rest der Priester auch nicht.“
    „Das sehe ich auch so“, sagte Jordir, und plötzlich waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Im Grunde war er die Person, die mit der ganzen Sache aktuell am wenigsten zu tun hatte – und trotzdem steckte er nun mittendrin. „Ihr wisst ja jetzt, dass ich… ein bisschen Einblick in die Pläne der Klosterleute habe. Oder hatte. Die schrecken wirklich vor nichts zurück. Und die haben sich hier in der Stadt an die Spitze gesetzt, um sie vollkommen zu übernehmen. Das war von Anfang an ausgegebenes Ziel, schon seit langem. Diese Reinhaltungspläne mit den Geburtsnachweisen, das war doch erst der erste Schritt, ein Test, wie die Leute darauf reagieren. Und jetzt haben sie halt bemerkt, dass es doch Leute gibt, die sich das nicht so ganz gefallen lassen. Und auch noch den Schneid haben, bei ihnen einzubrechen. Wie… Katharina eben. Mein Beileid, übrigens.“
    Er senkte kurz den Kopf, hatte dann aber sichtlich das Gefühl, dass niemand die Ruhe fand für den Trauermoment, den er angedacht hatte – weshalb er augenblicklich fortfuhr. „Ich bin überrascht, dass nicht schon längst irgendwelche Schwadronen von denen durch die Straßen ziehen. Ganz im Ernst. Es gibt jetzt kein Abwarten mehr. Entweder, man stoppt das Ganze jetzt, oder die haben bald alles im Griff. Und dann geht es nicht mehr nur darum, dass Marcus der Stadt verwiesen werden könnte. Ich fürchte, die haben Radikaleres im Sinn.“
    „Der Junge hat’s gesagt, genau so ist es“, brummte der alte Marcus und streckte breit sitzend seinen Bauch heraus. „Wenn wir jetzt nichts tun, kommen die mit Fackelzügen und stecken alle unsere Hütten an. Ilse, so leid mir das tut, aber wir müssen uns jetzt in Gefahr begeben. Um einer noch viel größeren Gefahr zuvorzukommen. Alles andere wäre taktisch unklug. Oder, Jaron?“
    Alfred schaute erst dem Lagermeister, dann den anderen und zuletzt Ilse in die Augen. Er schwieg. Aber Marcus kannte diese Art von Schweigen von seinem Vater. Es bedeutete nichts weniger als Zustimmung. Unangenehm, widerwillig zwar, aber Zustimmung.
    „Damit ist es dann wohl entschieden“, folgerte der ältere Marcus. „Wir setzen uns zur Wehr.“
    „Aber selbst wenn du die Kasernisten überzeugst“, griff Ilse noch einmal den Faden auf, indem sie sich – zu Marcus’ großer Überraschung – auf die taktischen Erwägungen des Lagermeisters voll einließ. „Dann wird das doch noch immer nicht reichen, gegen die ganzen Stadtwachen aus dem Oberen Viertel zu bestehen. Es sind doch so viele der Stadtführung gegenüber loyal! Das waren wir doch auch… sozusagen. Selbst du.“
    „Das Ganze muss eben wie ein Putsch aufgezogen werden“, erklärte der Lagermeister. „Einen Teufel werde ich tun, den armen Kerls von der Stadtwache, die nicht mit uns streiten, das Schwert in den Bauch zu rammen. Stellen müssen wir das Triumvirat. Stellen, und zur Not ausschalten. Ich würde ja auch alles lieber in einer Verhandlungsrunde ausdiskutieren. Aber ich fürchte, darauf werden sich die Herren Pfaffen nicht einlassen. Diskutieren ist immer schön, aber nur solange die Gegenseite nicht die Schwerter zückt.“
    „Was ist denn überhaupt dieses Triumvirat?“, fragte Marcus. „Ich kann mich erinnern, dass der Richter es auch erwähnt hat, bevor er… ja.“
    „Das Triumvirat steht an der Spitze der Stadt“, referierte der Lagermeister. „Drei Geistliche, die alles unter sich abstimmen. Einen davon hast du ja schon kennengelernt: Das ist Richter Monsignore Huff. Der zweite ist ein Mann namens Daron, der sich vom unbedeutenden Wanderprediger zum verdienten Außenposten des Klosters in der Stadt hochgedient hat. Der Kerl ist zwar mittlerweile betagt, soll dafür aber umso gerissener sein. Und ’nen ordentlichen Zauber kann er gerüchteweise auch noch auflegen. Und der dritte…“
    Der alte Lagermeister machte eine Pause und sah in die Runde. Er schmunzelte. Marcus hatte nicht einmal die Nerven, sich über dieses selbstgefällige Gehabe aufzuregen, so gespannt war er.
    „Der dritte im Bunde, das ist die große Unbekannte in der Gleichung“, sagte der Lagermeister schließlich. „Da weiß keiner so genau, wer das ist und wie sein Name lautet. Was aber klar ist, ist, dass er wohl der Chef vom Ganzen ist. So klar, wie so eine Sache eben sein kann. Ich glaube, der Kerl wird auch das größte Risiko an der Sache sein. Aber wenn wir die anderen beiden dann schon kaltgestellt haben… was will er dann noch machen? So sehe ich das jedenfalls.“
    Alfred schüttelte den Kopf. Nicht besonders heftig, aber deutlich genug, dass es alle mitbekamen und er ihre Blicke auf sich zog. „Abenteuerlich. Wirklich abenteuerlich. Und es wäre nicht das erste Mal, dass du dich täuschst, Marcus.“
    „Gebe ich alles zu“, erwiderte der Lagermeister. „Aber wie gesagt: Solange niemand einen besseren Plan hat…“
    Der junge Marcus klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch und stand auf. Er fühlte sich getrieben, wollte nicht mehr warten.
    „Wir machen das jetzt so, wie Marcus es gesagt hat“, sagte er. „Es bringt nichts, noch mehr Zeit zu verlieren. Ich zwinge auch keinen, mitzumachen. Das hier ist ja quasi mein Kampf. Mein größter. Bis jetzt.“
    „Meiner ist es auch“, sagte Balduin nur. Die Köpfe der Anwesenden drehten sich zu ihm hin, in der Erwartung, dass er seine Behauptung nun noch begründen würde. Er tat es aber nicht. Marcus verstand ihn. Er hatte schlicht alles Nötige gesagt.
    „Ich habe mit diesen Leuten auch noch eine Rechnung offen“, sagte Jordir nach einer Weile und stand geräuschvoll von seinem Hocker auf. „Ich mache mit.“
    Ilses banger Blick richtete sich auf ihren Ehemann. Alfred zögerte, aber in seinen Augen konnte Marcus erkennen, dass er sich längst entschieden hatte.
    „Es ist immerhin mein Sohn“, sagte er dann leise. „Unser Sohn. Und es geht ja auch um mehr. Ich habe keine Lust, meinen Lebensabend in einer Stadt zu verbringen, in der alle wie die Geknechteten leben. Ich habe damals gekämpft, um genau das zu verhindern.“
    Letzteres konnte Marcus nur bezweifeln, wenn er die Geschichten über die Expansionspolitik und Besiedelung von Kolonien durch das königliche Reich noch richtig in Erinnerung hatte. Aber unabhängig davon war er froh, dass sein Vater eine eindeutige Entscheidung getroffen hatte. Er schaute zu Ilse, deren Gesicht nun wie versteinert war.
    „Ilse… Mama“, sagte er. „Zurückziehen können wir uns jetzt eh nicht mehr. Die haben mir Hand und Haus niedergebrannt. Da kann man es nicht zulassen, dass sie das jetzt auch noch mit dem Rest der Stadt machen. Oder was auch immer tun.“
    Ilse schwieg. Sah zu Boden. Schaute wieder auf. Ihre blauen Augen waren wie zwei starre, gefrorene Seen.
    „Und trotzdem ist das alles eine ganz große Scheiße“, sagte sie dann, und Marcus wäre fast zusammengezuckt, weil er seine Mutter vorher noch nie so hatte reden hören.
    „Ich werde ganz sicher nicht zu Hause herumsitzen, während ihr alle loszieht“, fügte sie dann noch hinzu. „Ganz sicher nicht.“
    „Schön, dass sich alle einig sind“, resümierte der alte Marcus zufrieden. „Hätte ich in dieser Familie gar nicht gedacht. Aber umso besser.“
    Die Anwesenden quittierten seine unangebrachte Bemerkung mit einem düsteren Schweigen und warteten einfach nur darauf, dass der Lagermeister fortfuhr.
    „Mein Vorschlag ist folgender: Wir werden zuerst einmal in mein Lager gehen und dort zusammenklauben, was zusammenzuklauben ist. Ich bin nicht auf irgendwelche Kämpfe scharf, aber seien wir ehrlich: Die einzigen Argumente, die wir vorbringen können, sind Schwerter. Was anderes verstehen diese Pfaffen doch nicht.“
    „Na das kann ja was werden…“, murmelte Marcus, und fing sich sogleich einen scharfen Blick von seinem Vorgesetzten ein.
    „Ja, das wird es auch“, knurrte er. „Du wirst schon sehen, was ein gut geführtes Lager für Früchte tragen kann.“
    Er ließ Marcus die Gelegenheit zu einer Erwiderung, doch der wollte diese nicht nutzen.
    „Dann sollten wir uns aufteilen. Während ich in der Kaserne mit Hauptmann Garetzik spreche, solltet ihr anderen schon zum Haus des Monsignores vorgehen. Würde mich nicht wundern, wenn der seine Beinahe-Ruine nicht schon wieder bezogen hat, und dort herumhockt um die nächste Schandtat auszuhecken. Überzeugt ihn oder haltet ihn so lange in Schach, wie es geht, ich komme dann mit den Kasernisten nach.“
    „Wenn wir die dann noch überhaupt brauchen“, fiel Alfred ein, der offenbar nun auch Interesse daran gefunden hatte, ihr Vorgehen zu planen. Vor Marcus’ innerem Auge tauchten Fantasieszenen auf, in denen ein junger Alfred und ein junger Soldat namens Marcus zusammen über einer Karte hockten und hitzig ihre ausgedachten Schlachtpläne diskutierten. Die Erkenntnis war allerdings ernüchternd, dass die beiden im Krieg wohl eher nur Rädchen im Getriebe gewesen waren, Feierabendfeldherren, die nach Dienstschluss alles besser wussten, sonst aber immer taten, was ihnen die Vorgesetzten befahlen.
    „Solange du nichts überstürzt, Jaron, könnt ihr machen, was ihr wollt. Nur nicht einfach so ins Rathaus einmarschieren. Da würde ich dann schon gerne dabei sein.“
    „Ja, die Verantwortung würde ich dann ohnehin lieber mal dir überlassen.“
    „Das sieht dir ähnlich.“
    „Ach ja?“
    „Ja.“
    „Interessant, wie sich die Wahrnehmungen so unterscheiden können.“
    „Wohl eher interessant, wie man die Wahrheit so ausblenden kann.“
    „Schluss jetzt“, fuhr Ilse dazwischen, und bekam es erstaunlicherweise hin, den aufkommenden Streit der Männer abrupt zu unterbrechen. „Ich werde zusammen mit Marcus zur Kaserne gehen, wenn es recht ist.“
    Alfred fing ihren Blick auf, und Marcus fing Alfreds Blick auf. Sein Vater schien innerlich zu schwanken, ob er die Entscheidung seiner Ehefrau gut oder schlecht oder gar nichts von beidem finden sollte. Es war ein merkwürdiger und unangenehm langer Moment der gespannten Stille zwischen seinen Eltern. Erst nach einiger Zeit konnte sich Alfred zu einer Erwiderung durchringen.
    „Gut, wie du meinst. Es ist wohl auch besser, wenn unsere Gruppe zum Haus des Monsignores nicht zu groß wird. Ich setze dann mal darauf, dass Marcus auf dich aufpasst.“
    Der alte Lagermeister lachte kehlig auf. „Jaron, wahrscheinlich unterschätzt du deine Frau. Ilse, wir machen das schon. Ich glaube, es ist vielleicht nicht schlecht, wenn ich dich ins Gespräch zum Hauptmann mitnehme. Mal jemand Neues von außerhalb, der mit ihm spricht. Das könnte ihn beeindrucken. Sonst bleiben die Kasernisten ja eigentlich immer nur unter sich und bestätigen sich gegenseitig in ihren Meinungen. Also, dann ist die Sache ja gebongt.“
    Ilse nickte nur, und man musste nicht einmal ihr Sohn sein, um aus ihrem Gesichtsausdruck herauslesen zu können, dass sie die Zuversicht des Lagermeisters ganz und gar nicht teilte. Ihre Entscheidung aber wollte sie offenbar nicht rückgängig machen.
    „Tja, dann würde ich sagen“, hob Jordir etwas unbeholfen an, „auf geht’s.“
    Es dauerte ein wenig, dann setzten sich alle in Bewegung. Marcus ließ sich einfach mit dem Strom treiben, still, wie es sonst nur sein Bruder war. Keiner, nur er selbst schien daran zu denken, dass er als frisch Versehrter doch wohl kaum von Nutzen sein würde, sollte es zum Kampf kommen. Und dabei war er doch überhaupt erst Auslöser dieser ganzen furchtbaren Geschichte gewesen. Es war schon erstaunlich, wie eine bloße vermurkste Urkundenfälschung im wahrsten Sinne des Wortes eine ganze Stadt in Brand setzen konnte – oder zumindest schonmal Teile davon.
    Als sie heraus in die Sonne traten, war es ein Gefühl, wie das eines Sonntagsspaziergangs der Familie nach gemütlichem Plausch bei Kaffee und Kuchen. Dabei zogen sie in Wahrheit in den Krieg – den Bürgerkrieg, oder so etwas Ähnliches. Sechs Personen, die dafür wahrscheinlich so ungeeignet waren wie sonst kaum jemand. Es war lange her, dass Marcus die Dinge so dermaßen surreal vorgekommen waren. Aber immerhin rauschte es diesmal nicht in seinen Ohren.

    _____


    Vögel zwitscherten voller Unschuld, als Marcus die Treppe zum Oberen Viertel betrat. Er hätte nicht gedacht, dass er so schnell wieder hierhin zurückkehren würde.
    Nachdem sie von seinem Elternhaus aus aufgebrochen waren, hatten sie sich zunächst alle zum Lager am Hafen begeben, auf ein paar Umwegen, um nicht Marcus’ ruinöses Haus passieren zu müssen. Das war dessen Wunsch gewesen, denn er hatte geglaubt und glaubte noch immer, dass er im Moment dem Anblick seiner heruntergebrannten Behausung nicht standhalten konnte.
    Im Lager hatte sich das Bild geboten, das Marcus schon von seiner Arbeit kannte. Zu seinem Erstaunen aber hatte sein Namenspate zwischen Fässern voll schimmeligem Brot und Schwarzpulverresten tatsächlich einige mehr oder minder intakte Waffen aufspüren können, die er mit großer Geste an die Anwesenden verteilte. Auf Marcus’ Einwand, wenn der Lagermeister doch eh noch zur Kaserne ginge, könne er dort doch auch vernünftige Waffen besorgen, hatte es nur die Antwort gegeben, er habe doch nicht umsonst jahrelang das Lager in Ordnung gehalten. Der junge Marcus hatte den Einwand zwar nicht akzeptiert, aber doch toleriert, und hatte schließlich mit einigem Widerwillen ein angerostetes Breitschwert angenommen – in die linke Hand, und von dort aus an seinen Gürtel. Selbst für Ilse hatte sich ein Degen finden lassen, der allerdings eher die Qualitäten eines erweiterten Zahnstochers als einer ernstzunehmenden Waffe aufwies.
    Nachdem alle mehr oder minder bewaffnet worden waren, hatten sich ihre Wege getrennt, zumindest die zweier Grüppchen: Der alte Marcus und Ilse waren zur Kaserne aufgebrochen, während die Gruppe angeführt von Alfred, bestehend zusätzlich aus Marcus, Balduin und Jordir, den direkten Weg zum Oberen Viertel eingeschlagen hatte. Auch bezüglich dieser Entscheidung hatte sich der alte Marcus schließlich durchsetzen können: Er hatte gemeint, man dürfe nun nicht noch weiter Zeit verlieren, sodass ein Teil von ihnen eben sofort zum Haus des Monsignores aufbrechen müsse, zumal eine Gruppe größer als vier Personen ohnehin zu auffällig gewesen wäre. Diese Logik hatte sich dem jungen Marcus zwar nicht erschlossen, zumal in der aufkommenden Unruhe der Hafenstadt, nachdem sich die Gerüchte über nun gleich zwei Brände innerhalb kürzester Zeit herumgesprochen hatten, die Aufmerksamkeit der Bürger nun vor allem auf Feuer, weniger auf andere Personen gerichtet war. Andererseits wollte der junge Marcus auch nicht ausschließen, dass größere Gruppen von Personen, zumal im Aufmarsch zum Oberen Viertel, tatsächlich ziemlich verdächtig gewirkt hätten. So hatte der junge Marcus dem alten jedenfalls erneut klein beigegeben. Letzten Endes, so hatte der Lagermeister es angekündigt, sollte es ja sowieso nicht lange dauern, bis er mit einer Kohorte der Kaserne nachkommen würde. Der junge Marcus hatte diese Vorhersage einfach mal so hingenommen.
    Nun aber stand die Vorhut der Vier alleine auf den Stufen zum Oberen Viertel, dessen Tor immerhin wieder mit zwei Wachen bestückt war – und diese wurden diesmal sogar aktiv.
    „Halt!“, befahl der eine, untersetzte Wachmann routiniert. „Ohne besonderen Grund darf zurzeit niemand, der nicht in Diensten der Stadt steht, das Obere Viertel betreten.“
    „Anordnung von ganz oben“, pflichtete der andere Wachmann etwas maulfaul bei, wie, um nur auch mal etwas gesagt zu haben. Dabei bemühte er sich, besonders aufrecht zu stehen.
    „Wir haben aber eine wichtige Meldung zu machen“, ergriff Alfred das Wort und baute sich vor den beiden Wachmännern auf. Schnell stellte sich heraus, dass er der Aufrechteste unter ihnen war. „Über den Brand in der Unterstadt.“
    „Von dem Brand wissen wir bereits“, sagte der erste Wachmann nun wieder und rückte seine Rüstung zurecht. Er vermittelte dabei den Eindruck, dass sein routiniertes Gehabe nach außen bloße Schauspielerei war, und er sich in diesem Augenblick einfach nur fort wünschte.
    „Die städtischen Inspektoren sind bereits bei der Arbeit, Ursache und Folgen dieses schlimmen Unglücks zu untersuchen.“
    Alfred nickte, er strahlte großes Verständnis aus. Selbst Marcus fühlte sich beinahe von ihm getäuscht, so wenig verstellt klang sein Vater, während er den Wachmännern formvollendet vorlog.
    „Wir wollen bei dieser Untersuchung helfen“, sagte er. „Wir glauben nämlich, die Täter gesehen zu haben. Vielleicht. Wir wollen eine Zeugenaussage machen, im Rathaus. Es ist dringend.“
    Die beiden Wachmänner drehten sich zueinander und sahen sich an, mehr ausdruckslos als unsicher. Wenige Sekunden später war auch schon alles erledigt.
    „Damit ist euch die Freigabe zur Betretung und zum Verweilen im Oberen Viertel offiziell erteilt. Sie ist allerdings beschränkt auf die Zurücklegung des direkten Weges zum Rathaus bis zum Orte des dortigen Empfangs. Man wird dort eine Aufnahme eures Anliegens vornehmen. Tretet ein.“
    Die Gruppe tat, wie geheißen. „Eintretung erfolgt“, murmelte Balduin. Die Komik der Situation war Marcus etwas unangenehm.
    „Und das war’s?“, fragte Jordir, als sie sich ein bisschen vom Tor entfernt hatten und auf das Rondell in der Mitte des Platzes zusteuerten. „Da hätten sie auch gar keine Wachen hinstellen brauchen.“
    „Wachmänner sind die größte Lüge überhaupt“, seufzte Alfred, und er klang dabei sehr müde. „Was sollen denn zwei Mann an so einem Tor ausrichten? Noch dazu, wo sich die khoriner Bevölkerung vor Jahrzehnten das unumstößliche Recht gesichert hat, Waffen tragen zu dürfen. Und dann werden an den Posten immer gerade diejenigen Stadtwächter abgestellt, die zu sonst nichts taugen. Das ist alles nur ein großes Theater.“
    Weil das so einleuchtend war, wurde es von niemandem kommentiert. Die Gruppe um Alfred wollte nun gerade rechts am Rondell vorbeigehen, um zum Haus des Monsignores zu gelangen, als Balduin sich plötzlich wieder zu Wort meldete.
    „Das da vorne ist doch Rudolph!“
    Die Blicke gingen noch einmal nach vorne zum Rathaus, und in der Tat stiefelte dort gerade eine Person heraus, die so groß und breit gebaut war, dass sie wie ein wandelnder Schrank daherkam. Es dauerte jedoch noch ein wenig, bis sich Marcus wirklich sicher sein konnte, dass es Rudolph war – denn er war in zivil.
    „Marcus… Balduin… was macht ihr denn hier?“, fragte Rudolph schon von weitem, und steuerte nun auf die Gruppe zu. Als er bei ihnen angekommen war, sah Marcus erst das ganze Ausmaß seines zivilen Auftretens. Ein krude gekämmter Scheitel und Kleidung aus dem vorvorletzten Jahrzehnt. Ihm kam der Gedanke, dass die Wachmannsuniform doch etwas für sich hatte – zumindest im Vergleich.
    „Marcus, was ist mit deinem… Hand?“, setzte Rudolph an, als er den Verband am Ende von Marcus’ gekürztem Arm entdeckte. Er wirkte so besorgt, wie es Marcus eigentlich selbst hätte sein sollen, doch im Moment geschah so viel, dass Marcus selbst sich überhaupt erst wieder daran erinnern musste, dass er ja gar nicht mehr ganz war.
    „Das ist eine lange… vielleicht ist es auch eine kurze Geschichte“, begann Marcus unwirsch, „aber auch für eine kurze Geschichte haben wir jetzt keine Zeit. Viel wichtiger ist, was du gemacht hast. Du kamst gerade aus dem Rathaus. Ich hoffe, du hast nichts…“
    „Es ist nichts passiert“, wiegelte Rudolph mit unbeholfener Geste ab. „Ich wollte doch nur… Balduin, ich weiß, dass das nicht ganz richtig war, aber ich habe so getan, als wäre ich du. Also, einfach deinen Namen gesagt. Damit ich deine Geburtsurkunde zurückbekommen kann. Aber das hat alles ewig gedauert. Nachdem der Mann am Empfang nach ganz viel Gerede meinte, ich bin wohl nicht da, um ein Fundgesuch zu machen sondern eine neue Urkunde zu beantragen, hat der mir ganz komische Fragen gestellt. Was ich machen würde, wenn mein Vater mich bitten würde, bei der Arbeit zu helfen oder wenn ein heißes Ofenrohr auf meine Mutter fallen würde und sowas. Und was für ein Sternzeichen ich habe. Ich wusste nicht einmal, dass ich so etwas überhaupt habe. Nur so Fragerei. Stundenlang ging das so. Das hat aber alles überhaupt nichts gebracht, und am Ende musste ich gehen. Ich glaube, der hat mich nur verarscht.“
    Noch bevor Marcus seiner Ungläubigkeit irgendwie Ausdruck verleihen konnte, zog Balduin zwei Schriftrollen aus seinem Hosenbund hervor, um sie Rudolph zu präsentieren.
    „Wir haben die Urkunden bereits wieder“, erklärte Balduin. Marcus war erstaunt. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, wer die Urkunden nun eigentlich hatte, denn er wusste nur, dass er selbst sie nicht aus dem Haus des Lagermeisters mitgenommen hatte. Offenbar war Balduin wieder der Schlauere gewesen. Aber das wirkte alles so weit weg, und auch so unbedeutend im Vergleich zu dem, was danach alles passiert war.
    Rudolph war deutlich besser darin, seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen. Sein Mund und seine Augen führten einen stummen Kampf darum, wer von ihnen aufgerissen am besten aussah.
    „Wie… wie das denn?“
    „Das ist wohl die längere der beiden Geschichten“, mischte sich Alfred nun ein, mit einem Tonfall, der das Gespräch ganz eindeutig unterbrechen sollte. „Wir haben jetzt keine Zeit dafür. Lasst uns ein einziges Mal auf Marcus hören und uns beeilen. Das Haus des Richters scheint gerade nicht bewacht zu sein.“
    „Aber Marcus ist doch… Haus des Richters, was? Ich verstehe gar nichts mehr.“
    Auch Rudolphs Verwirrung war sehr deutlich auf seinem Gesicht abzulesen. Die Gabe der Zurückhaltung und des Verschleierns eigener Gefühle, in der es so viele Menschen bis zur Meisterschaft gebracht hatten, ging dem großen Wachmann vollkommen ab. Marcus konnte allerdings nicht behaupten, dass er das als eine schlechte Eigenschaft empfand, geschweige denn, dass es Rudolph unsympathisch machte.
    „Hier, nimm dieses Schwert“, sagte Balduin, und entwaffnete sich, indem er sein zu dünn geratenes Langschwert aus dem Gürtel zog und es mit dem Knauf voran an Rudolph weiterreichte. „Wenn du uns wirklich helfen willst, dann komm mit.“
    Nicht nur Rudolph, sondern auch Marcus und wohl auch die anderen hatten diese Reaktion Balduins nicht erwartet. Seine Worte hatten wie ein Befehl geklungen, und Befehle wiederum waren etwas, was Balduin allerhöchstens empfangen, noch weniger aber verteilen konnte. Gerade dieser Moment der Überraschung war es wohl, der Rudolph das Schwert vorbehaltlos annehmen ließ. Balduin dagegen nestelte nun schon zum dritten Mal an seinem Gürtel herum, um nun ein im Sonnenlicht grünlich schimmerndes Messer hervorzuziehen.
    „Der Skelettschlüssel“, hauchte Marcus. „An den habe ich gar nicht mehr gedacht. Ich hätte gedacht, der wäre mit meinem Haus verbrannt.“
    „Ich hatte ihn schon dabei, als wir zu Marcus aufgebrochen sind“, erklärte Balduin knapp. „Den lasse ich nicht mehr los.“
    „Gut“, sagte Alfred dann, mit einem weiteren Versuch, die Gespräche abzuschließen. „Ich bin zwar nicht begeistert, für noch einen weiteren jungen Kerl Verantwortung übernehmen zu müssen, aber bevor wir zu gar nichts mehr kommen… jetzt ist unsere Chance, zügig zum Haus des Richters, los!“
    Die Gruppe setzte sich in Bewegung, und in der Tat blieb sie unbehelligt. Es waren zwar ein paar Bürger in Bewegung und tatsächlich standen vor dem Rathaus nebenan ein paar Stadtbeamte, aber der Vorplatz vor dem Haus von Monsignore Huff war wie leergefegt.
    „Als ich heute ganz früh am Morgen hier war, war da noch eine ganze Menge los“, erklärte Rudolph, der beim zügigen Gehen etwas keuchte. „Jetzt sind auf einmal alle weg.“
    „Wenn es stimmt, was die Wachmänner unten am Tor erzählt haben, sind diese Leute wohl jetzt bei Marcus’ Haus und führen dort ihre Scheinermittlungen durch“, raunte Alfred.
    „Bei Marcus’ Haus?“
    „Ist auch abgebrannt“, meinte Marcus. „Erzählen wir dir auch später.“
    „Warum gehen wir überhaupt noch einmal ins Haus des Richters?“, fragte Rudolph noch. „Ist das nicht…“
    „Wirst du auch sehen“, wiegelte Marcus ab. Die Nachfragen Rudolphs nervten, auch wenn er sie verstehen konnte. Er hatte jetzt aber nicht den Sinn dafür, so viel zu reden und zu erklären. Er wollte sich einfach dem fügen, was Marcus und Alfred sich ausgedacht hatten. Ihre eigenen Pläne, seine, Balduins, Rudolphs, waren ja schließlich von vorne bis hinten fehlgeschlagen, angefangen mit einem missglückten Wachssiegel.
    Als sie das ruinös heruntergebrannte Erdgeschoss des Richterhauses betraten, stieg Marcus der Geruch von verkohltem, aber auch durchnässtem Holz in die Nase. Der vormals so akkurat und harmlos dekorierte Innenraum, wie Marcus ihn aus der Nacht noch in Erinnerung hatte, war einem Chaos aus Holzsplittern, Teppichfetzen, nassem Papier und schwarzen Wänden gewichen. Marcus wagte einen kleinen Blick um die Ecke, hin zur Tür zur jenen Kammer, die das Inferno, das hier gewütet hatte, bis auf kleinste Kratzer und dunkle Stellen schadlos überstanden hatte. Marcus erwartete beim Anblick dieser Tür Anflüge einer Panik unverarbeiteter Ereignisse, doch seine Grundanspannung, der fehlende Schlaf und all das Neue, das seit ihrem letzten Besuch im Richterhaus geschehen war, überdeckte derartige Gefühle. Er rechnete damit, dass er nach dem Ende – dem Ende von was auch immer und wann auch immer es eintreten würde – vor Erschöpfung zusammenbrechen würde. Er fühlte sich schon jetzt wie ein wandelnder Toter.
    „Das sieht nicht so aus, als wäre der Monsignore hierhin zurückgekehrt.“
    „Das wissen wir erst, wenn wir uns alles angesehen haben“, meinte Alfred auf Marcus’ Einwand. „Außerdem finden wir hier vielleicht etwas Interessantes. Auf ins Obergeschoss.“
    Einer nach dem anderen stiegen sie die Treppe zu den Gemächern des Monsignores hoch, wobei sich insbesondere Rudolph und Jordir mit ihrer breiten Statur am engen Aufgang schwertaten. Marcus dagegen fiel es schwer, weil es der sprichwörtliche Gang in die Höhle des Löwen war.
    Oben angekommen, bot sich dann aber ein eher unspektakuläres Bild. Am auffälligsten war noch das Himmelbett mit roten Tüchern und Stoffbahnen, welches am Ende des eher schlauchförmigen Dachraums aufgestellt war. Ansonsten hielt sich der Prunk in Grenzen. Ein paar Statuetten hier, ein paar in Leder eingebundene Bücher dort, durchaus schwerfällig und mächtig anmutende Schränke und Kommoden, ein ebenso schwerfälliger und dicker Teppich, an der Decke gleich zwei Kronleuchter. Das war viel, aber von einem Kirchenmann hatte Marcus mehr erwartet. Im Grunde war das Obergeschoss genauso ausgestattet wie das Erdgeschoss, bevor jenes Opfer von Flammen und Löschwasser geworden war. Vor allem aber wirkte das Zimmer erstaunlich unbewohnt, es strahlte die Kälte und Klammheit eines längst und lange verlassenen Hauses aus.
    Marcus beobachtete, wie Rudolph den größten Schrank im Raume öffnen wollte. Jordir kam herbei und stieß dem Riesen in die Seite.
    „Meinst du, der Monsignore hat sich darin versteckt?“
    Rudolph schüttelte daraufhin nur den Kopf, öffnete den Schrank und sah: Leere. Genau so ging es auch Balduin, wie er die Unterseite des Betts untersuchte; Alfred, wie er Schublade für Schublade die Kommoden durchstöberte und auch Marcus, wie er an den Wänden nach irgendwelchen Verstecken Ausschau hielt – ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte.
    „Wenn ich es nicht genau wüsste, würde ich sagen, der hat hier gar nicht gewohnt“, machte Marcus nun seinen Gedanken von vorher laut.
    „Weißt du es denn genau?“, warf Jordir ein. Marcus ließ es dabei bewenden.
    „Hier ist nichts“, beschloss Alfred, nachdem er die letzte der Schubladen zugeknallt hatte. „Dieser Monsignore ist ein Phantom.“
    „Was haben wir eigentlich mit ihm vor?“, fragte Rudolph noch einmal. „Ist er etwa schuld an der Sache mit… mit deinem Haus und so weiter? Marcus?“
    „Gut kombiniert“, antwortete Jordir für ihn. „Und was wir mit ihm vorhaben? Das wissen wir wohl erst, wenn wir ihn gefunden haben. Du bist doch Stadtwächter, oder? Wir erproben hier den Aufstand. Sicher, dass du noch mitmachen willst?“
    So sehr Marcus ihm zu Dank verpflichtet war, er war alles andere als einverstanden mit Jordirs Art Rudolph gegenüber. Bevor er jedoch dazwischengehen konnte, ergriff der Wachmann bereits das Wort.
    „Ich habe mich schon länger nicht mehr wohl gefühlt dabei“, sagte Rudolph, blickte erst betreten zu Boden, erhob sein Haupt dann aber rasch wieder. „Ich bin eher froh, dass ich hier jetzt Leute habe, die mir… helfen. Ich will sowieso kein Wachmann mehr sein.“
    „Na dann passt’s ja“, kommentierte Jordir sorglos, beließ es aber glücklicherweise auch dabei.
    „Ein Raum fehlt noch“, meldete sich nun Balduin wieder zu Wort, während er unter dem Bett hervorgekrabbelt kam. Sein Blick ging zu Marcus. „Ja“, antwortete dieser nur.
    „Ihr meint diese Asservatenkammer“, griff Alfred den Faden auf. „Meint ihr, der Monsignore versteckt sich dort drin?“
    „Ausgeschlossen ist es nicht“, sagte Balduin. „Und irgendwas muss er dort ja verstecken, wenn er schon…“ Balduin brach ab. Alle hatten verstanden.
    „Wir gehen runter“, sagte Alfred. „Aber niemand fasst diese Tür an. Vorerst.“
    In Reih und Glied, mit Alfred an der Spitze, marschierte die Gruppe die Treppe wieder herunter und versammelte sich dann schließlich im engen Gang vor der Tür zur Asservatenkammer. Alfred schirmte den Rest der Gruppe von der Kammer ab, er schien wirklich um jeden Preis verhindern zu wollen, dass jemand außer ihm der Tür zu nahe kam. Marcus spürte Rudolph hinter sich atmen und konnte sich vorstellen, wie er gerade mit den Daumen über seine Fingerkuppen rieb. Nun fühlte sich doch noch alles sehr beklemmend an, und Marcus spürte Hitze in sich aufsteigen.
    „Wenn wir jetzt einen heilen Generalschlüssel hätten“, sagte Rudolph kleinlaut.
    „Wir müssen die Tür eben eintreten, oder aufbrechen oder was weiß ich“, schlug Jordir vor, und wirkte dabei so voller Energie, dass Marcus nur froh darüber war, dass sein Arbeitskollege weit hinten in ihrer Reihe stand und somit nicht direkt zur Tat schreiten konnte. Es war erstaunlich, wie Jordir, der zu Hause noch eher zurückhaltend gewirkt hatte, nun vollkommen aufgetaut war.
    „Und dann noch einmal diese Falle auslösen?“, fragte Alfred rhetorisch und hörbar verärgert. „Ganz sicher nicht. So war es doch, oder, Marcus, Balduin?“
    Die Angesprochenen nickten. Ja, genau so war es gewesen. Vor gar nicht einmal so vielen Stunden, und trotzdem wie lange in der Vergangenheit.
    „Ach richtig, da war ja was“, meinte Jordir etwas taktlos. „Diese Brandfalle, nicht wahr?“
    Marcus und Balduin nickten erneut.
    „War das auch magisches Feuer?“
    „Spielt das eine Rolle?“, fragte Marcus zurück.
    „Sonst würde ich ja nicht fragen.“
    „Es war wohl auch magisches Feuer“, antwortete Marcus. „Mir kam es jedenfalls ganz so vor. Immerhin hat es ja zum Beispiel die Kammertür selbst verschont, obwohl es ja quasi dort herauskam. Oder zumindest aus dem Boden davor.“
    „Und es sah ziemlich genau aus wie das Feuer, was der Monsignore später auf Marcus losgelassen hat“, ergänzte Balduin. „Das tanzte so ringförmig auf dem Boden. Man hat die Magie richtig gespürt.“
    Jordirs Gesicht hellte sich nun noch mehr auf. „Das ist… ich will nicht sagen großartig, aber das passt. Dann haben wir es hier auf jeden Fall mit einer magischen Feuerfalle zu tun. Die Entwicklung solcher Gerätschaften, also die Vermischung von Feuermagie und Mechanik, ist übrigens vom Kloster offiziell verboten. Aber schon zu meiner Zeit als Novize wusste eigentlich jeder, dass das ein beliebter Zeitvertreib der Magier war, im stillen Kämmerlein an solchen Vorrichtungen zu basteln.“
    „Ja, wirklich ein ganz toller Zeitvertreib“, warf Marcus ein.
    „Sag ich ja gar nicht“, antwortete Jordir hektisch. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. „Jedenfalls könnten wir uns… also, versteh’ mich nicht falsch, Marcus. Ich finde es auch richtig beschissen, dass du deine Hand verloren hast. Und dass ich sie nicht irgendwie wiederherstellen konnte. Aber…“
    „Nun lass die Vorreden, spuck’s schon aus.“
    „Ich habe beim Verarzten gespürt, dass dort noch Magie ist. In deiner Wunde, meine ich. Bei schweren magischen Verletzungen bleibt manchmal ein Rest dieser Magie im Körper übrig.“
    „Und weiter?“, fragte Marcus. Für ihn war Magie ein vollkommen abstraktes Konzept. Er konnte sich nicht einmal in groben Zügen ausmalen, worauf Jordir hinauswollte. Unabhängig davon, so musste er sich eingestehen, zweifelte er auch an dessen Kompetenz. Wenn er die Enthüllungen über Jordirs Vergangenheit richtig verstanden hatte, war dieser nicht besonders lange Novize gewesen. Geschweige denn Magier.
    „Magie zieht Magie an“, fuhr Jordir fort. „Wenn du dich konzentrierst, könnte es dir gelingen, die in der Feuerfalle enthaltene Magie aufzuspüren und, sozusagen, herauszusaugen. Falls dort noch welche sein sollte, immerhin hat sie ja schon einmal ausgelöst. Aber man weiß ja nie. Du kannst deine rechte… deinen rechten Arm also sozusagen als Detektor benutzen. Wenn meine Theorie stimmt.“
    „Wenn deine Theorie stimmt“, wiederholte Marcus.
    „Wie gefährlich ist das?“, mischte Alfred sich ein. Er machte eine Geste mit dem Arm, als wollte er ihn als Schranke verwenden, die Jordir von Marcus fernhielt.
    „Naja, also, nach meinem Verständnis…“, murmelte Jordir, blickte mal auf und mal ab und runzelte geschäftig die Stirn. „Ich habe keine Ahnung. Muss ich zugeben. Musst du also wissen, Marcus.“
    „Ich mach’s“, sagte Marcus ohne groß zu zögern, und unterbrach seinen Vater bei einem weiteren Einwand. „Bist du dir sicher?“, fragte Alfred dann nur noch hinterher.
    „Sonst hätte ich es ja nicht gesagt“, raunte Marcus lakonisch. „Also, was muss ich genau machen?“
    „Vorsichtshalber erst einmal nicht die Tür berühren“, sagte Jordir, während er sich an Rudolph und Balduin vorbei nach vorne drängelte. „Sonst kommt es möglicherweise noch zu einer spontanen magischen Reaktion.“
    „Wenn es zu gefährlich wird, brechen wir die Sache ab“, mahnte Alfred, fand bei Jordir aber kein Gehör.
    „Du hast gesagt, das Feuer kam aus dem Boden?“
    „Ja, ich meine, mich erinnern zu können, dass dort so eine Art Klappe aufgegangen ist. Auch, wenn ich hier gar nichts erkennen kann.“
    „Magische Fallen sind meist sehr gut versteckt“, fachsimpelte Jordir. „Weil man eben auf so viel Mechanik verzichten kann, die man bei einer regulären Falle benötigen würde. Spart Platz.“
    „Aha“, meinte Marcus. „Wenn du das sagst. Jetzt sag, was muss ich tun?“
    „Am besten ist erst einmal, du hockst dich hin“, wies Jordir ihn an, und Marcus gehorchte aufs Wort. „Und jetzt streckst du deinen rechten Arm aus, und… ja, ich kann es nicht beschreiben. Ich habe es selber ja noch nie gemacht. Aber mich hatte das Thema interessiert, seit ich mal so ein Buch in der Klosterbibliothek gefunden hatte. Dort stand, der magisch Versehrte kann Magie gleicher Art irgendwie aufspüren. Sie fühlen. Besser kann ich es nicht beschreiben.“
    Marcus spürte und fühlte. Zuerst kam nichts. Als er dann aber die Augen schloss und noch ein wenig wartete, spürte er tatsächlich Wärme in seinem Arm aufsteigen, ganz sachte, von dort, wo einst seine Hand gewesen war, den Arm hinauf bis hin zu seiner Schulter. Dann, im Dunkel seiner geschlossenen Augen, sah er wie aus der Ferne ein Licht aufflackern.
    „Und?“, hörte er Jordir von der Seite fragen. „Spürst du schon etwas?“
    Marcus sagte nichts und hob nur die Hand, um seinem Arbeitskollegen Schweigen zu bedeuten, denn ja, er spürte tatsächlich etwas. Das Licht kam aus der Ferne immer näher an ihn herangerückt, und gleichzeitig spürte er seinen rechten Arm vom Stumpf an immer wärmer werden, bis die Wärme zur Hitze wurde. Im letzten Moment, kurz bevor das einstmals ferne Licht ganz nah an ihm dran war, entpuppte es sich als Flamme, die mit einem letzten Ruck in seinen Arm fuhr. Ein Hitzeblitz erhellte erst das Bild vor seinen geschlossenen Augen und löste dann einen kurzen, sengenden Schmerz in seiner Hand aus.
    Mit einem kleinen Schrei riss Marcus die Augen auf. Alfred kniete neben ihm, hielt ihn fest, sah ihn besorgt an.
    „Und?“, fragte Jordir noch einmal, diesmal sehr aufgeregt.
    „Irgendetwas ist passiert“, gab Marcus Auskunft, und er fühlte sich für einen Moment so erschöpft wie nach seinem Erwachen vor ein paar Stunden. Dieser Moment verflog aber schnell wieder. „Da war ein Licht… vor meinen Augen. Es ist irgendwie… ich kann es schlecht beschreiben. Es ist in meinen Arm gefahren, meinen rechten. Der ist jetzt auch ganz heiß, ihr könnt fühlen. Und wenn ich die Augen noch einmal schließe…“, Marcus tat es probehalber noch einmal, „…dann kann ich dieses Licht nicht mehr sehen.“
    „Das heißt also, es hat geklappt?“, hakte Jordir nochmals nach.
    „Es scheint so zu sein“, meinte Marcus und erhob sich wieder. „Du wirkst überraschter, als du sein solltest.“
    Jordir kratzte sich nur verlegen am Hinterkopf. Das war Marcus Kommentar genug.
    „Offen ist die Tür davon nun aber auch noch nicht“, sagte Alfred, der sich nun ebenso erhob, sichtlich und hörbar erleichtert. „Und sie wirkt etwas zu stabil, um sie einzutreten.“
    „Dafür habe ich ja das hier mitgebracht“, sagte Balduin nun, als hätte er die ganze Zeit auf seinen Einsatz gewartet. Er präsentierte das grün schimmernde Messer.
    „Damit willst du ja wohl nicht die Tür einhacken“, merkte Jordir an.
    „Am Griff ist eine Art Dietrich angebracht, ein sogenannter Skelettschlüssel“, referierte Balduin. „Diesmal wird es klappen. Jetzt, wo die Falle deaktiviert ist.“
    Marcus bemerkte, wie abgeklärt Balduin über diese Sache sprach. Seine Hände zitterten nicht einmal leicht, als er den Skelettschlüssel führte, sich langsam zur Tür drängte und bereits mit seinem Werk beginnen wollte.
    „Ich weiß nicht… sei vorsichtig!“, rief Rudolph von weiter hinten, der aber offenbar bereits eingesehen hatte, dass Balduin von seinem Plan nicht abzubringen war. Ebenso hilflos stand Alfred neben seinem Sohn, erkennbar hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn zu bremsen und dem Wunsch, die Sache einfach selber in die Hand zu nehmen. Marcus klopfte das Herz bis zum Halse, auch er konnte kaum mit ansehen, wie Balduin den Skelettschlüssel nun ins Schloss führte. Er wollte ihn gerade dabei stoppen, als es dann auch schon geschehen war: Der Skelettschlüssel steckte im Schloss, Balduin fing an zu stochern.
    Marcus hielt den Atem an, und er konnte bei den anderen selbiges erkennen. Die steife Körperhaltung, selbst die des vorher recht unbekümmerten Jordir, sprach Bände. Marcus musste allerdings bald erkennen, dass es keine gute Idee gewesen war, den Atem anzuhalten – denn als es plötzlich laut klickte, verschlug es ihm die letzten Reste dieses Atems endgültig.
    Balduin, Alfred und Marcus sprangen in einem hektischen Satz nach hinten zurück, rissen dabei fast Rudolph um, der ins Wanken geriet und sich nur noch gerade eben so an Jordir festhalten konnte – ein Kraftakt, den wohl auch niemand sonst außer Marcus’ kräftigem Arbeitskollegen hätte bewältigen können.
    Marcus und die anderen mussten dabei zusehen, wie sich aus dem unauffälligen Nichts des Bodens vor der Kammertür ein kleines Loch auftat. Marcus sah einen weiteren Hitzeblitz, sah eine orangene Feuersäule, spürte die Hitze in seinem rechten Arm – aber als er die schmerzhaft zusammengekniffenen Augen wieder öffnete, sah er, dass nichts davon wirklich geschehen war. Der Mechanismus hatte ausgelöst, doch er war um seine Magie beraubt.
    „Innos sei Dank“, murmelte Alfred, wenn auch wenig erleichtert und immer noch in sehr verkrampfter Körperhaltung. „Es scheint nichts passiert zu sein, oder?“
    „Das ist das Loch, aus dem die Feuersäule gekommen war, ja“, bestätigte Marcus.
    „Das heißt also“, folgerte Jordir zufrieden, „dass es wirklich geklappt hat! Du hast die Falle deaktiviert, Marcus!“
    „Es scheint so“, antwortete der Angesprochene. „Aber diese Hitze in meinem rechten Arm ist noch immer da. Das ist unangenehm. Geht das auch wieder weg?“
    „Wenn wir hier fertig sind, schaue ich mir deinen Arm noch einmal an“, meinte Jordir. „Natürlich ist es so, dass du jetzt ein wenig mehr Magie mit dem Arm aufgesogen hast. Die sollte sich mit der Zeit aber von alleine verflüchtigen. Groß was passieren kann da nicht mehr. Wenn die Magie aus der Falle zu stark gewesen wäre, dann hättest du das auch sofort bemerkt, dann hätte dein Arm sofort in Flammen gestanden. Jetzt passiert da weiter nichts mehr.“
    „Hätte es denn wirklich passieren können, dass die Magie zu stark ist und mich noch weiter verletzt?“, fragte Marcus nach, bereute das aber noch im selben Augenblick, weil er die grobe Richtung von Jordirs Antwort bereits an dessen Gesicht ablesen konnte.
    „Nunja“, meinte sein Kollege. „Freuen wir uns doch einfach darüber, dass es nicht so gekommen ist.“
    Marcus konnte darüber nur den Kopf schütteln, wusste den pragmatischen Ansatz Jordirs ansonsten aber durchaus zu schätzen. Er spürte, wie sich auf seiner Stirn dicke Schweißperlen gebildet hatten. Rudolph hinter ihm hatte schon ein ganz nasses Hemd. Überhaupt sah die ganze Gruppe ziemlich mitgenommen aus, selbst Jordirs Augen blitzten noch vor abflauender Nervosität. Alfred wirkte um zehn zusätzliche Jahre gealtert. Einzig Balduin wirkte noch relativ gefasst, aber er war nun einmal jemand, der seine Gefühlszustände nur selten deutlich nach außen trug. Man konnte auch sagen: Balduin schwitzte bloß in sich hinein, dorthin, wo es keiner sah.
    „Ich mache dann weiter, wenn alle einverstanden sind“, sagte Balduin dann, wartete auf gar keine Antwort und begab sich mit dem fest in seiner Hand umklammerten Skelettschlüssel zurück ans Schloss.
    Marcus schaute ihm gebannt zu und versuchte, die Bilder zu unterdrücken, die seine Erinnerung ihm aufdrängen wollte. Sein Vater neben ihm war ähnlich angespannt, schloss dann und wann die Augen.
    Rudolphs Atem war deutlich hörbar, Marcus spürte ihn außerdem wie kleine Windböen in seinem schweißnassen Nacken.
    Und dann gab es ein lautes Krachen.
    Marcus fühlte im ersten Moment nicht einmal so sehr das Gefühl des Erschrockenseins, sondern eher das Gefühl der Angst, dass sein Herz diese ganzen Paniksprünge bald nicht mehr jedes Mal aufs Neue aushalten würde. Als klar wurde, dass das Krachen nicht von der Kammertür oder einer weiteren Falle gekommen war, wandten sich die Blicke der Gruppe zur Haustür. Aus dem Zwielicht näherten sich zwei Gestalten. Marcus fühlte, wie er instinktiv mit seiner rechten Hand das alte Breitschwert an seinem Gürtel ergreifen wollte – bis er bemerkte, dass das aus offensichtlichen Gründen nicht klappen konnte. Noch bevor er dann mit der zitterigen linken Hand auch nur den Griff des Schwerts erreichen konnte, hatten sich die beiden Gestalten als zwei Männer entpuppt, die Marcus auf den zweiten Blick sogar wiedererkannte.
    „Ist hier jemand namens Alfred anwesend?“, fragte der ältere, gröbere der beiden Wachmänner. Marcus’ und Balduins Vater zögerte nicht lange und trat hervor.
    „Was wäre, wenn?“, fragte er mit fester Stimme.
    „Marcus, der Lagermeister, schickt uns“, antwortete nun der jüngere von den beiden. „Und Hauptmann Garetzik irgendwie auch, auch wenn der nicht so ganz begeistert davon war. Wir sollen euch ausrichten, dass wir die Vorhut sind.“
    „Die Vorhut?“, fragte Alfred, weniger aus echten Verständnisproblemen, als vielmehr aus einer gewissen Fassungslosigkeit heraus.
    „Jawoll“, übernahm der ältere wieder, der in seiner Fülle fast von einer Wand zur anderen des schmalen Eckgangs reichte. „Ich bin Ulf, und das hier ist mein Kollege Aaron. Marcus hat uns alles erzählt. Naja, fast alles. Wir sind jedenfalls im Bilde. Hauptmann Garetzik ziert sich noch ein wenig, gegen die Pfaffen die Hand zu erheben. Verstehe ich gar nicht, dabei hat er sonst auch immer über die gemeckert und meinte, wir sollten uns von denen nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Naja, jedenfalls bequatscht Marcus ihn noch ein wenig. Er hat jedenfalls zugestimmt, uns beide schon einmal vorgehen zu lassen. Wir seien entbehrlich, meinte er. Vermutlich schenkt er uns damit sein Vertrauen, schätze ich. Wenn alles gutgeht, kommt nachher noch weitere Verstärkung. Dann sollen diese Stadtpfaffen mal sehen, aus welchem Holz wir echten Milizen geschnitzt sind! Ich bin eine Altmiliz, wisst ihr. Und Aaron hier, dem bringe ich das Handwerkszeug von der Pike auf bei. Macht euch also keine Sorgen, diesen Monzing da kriegen wir schon dingfest gemacht. Aaron hier hat seine Prüfung in Fesselungen und Festnahmen nämlich mit Bestnote bestanden. Also, wo ist der Kerl?“
    Marcus sah Ulf und Aaron an. Diese sahen Alfred an. Alfred wiederum sah Ulf und Aaron, dann Marcus, Balduin und den Rest der Gruppe an. Die sahen sich gegenseitig an. Und währenddessen sagte keiner etwas. Der Auftritt der beiden Wachmänner kam Marcus einfach nur surreal vor. Er fragte sich, ob die beiden ihn und Balduin überhaupt wiedererkannten, oder ob sie ihre Begegnung bereits wieder vergessen hatten. Aber es spielte auch keine Rolle. Wenn die beiden das einzige waren, was die Kaserne ihnen zur Unterstützung schicken konnte, dann hätte der alte Marcus sich den Gang dorthin auch gleich sparen können. Zumal diese beiden Wachmänner, wenn Marcus es sich recht überlegte, mit ihrem übereifrigen Verhalten auch dazu beigetragen hatten, dass sie alle hier nun Jagd auf den Monsignore machen mussten. Die Kaserne war das Rathaus der Dummen. Andererseits schloss Marcus, nachdem die Leute im Rathaus so viel Ärger, Leid und nachgerade Verderben über ihn gebracht hatten: Das Rathaus war die Kaserne der Niederträchtigen.
    „Richter Monsignore Huff ist nicht auffindbar“, ergriff Alfred nach einigem Abwarten endlich das Wort. Marcus erkannte deutlich, wie sein Vater sich in eine sehr förmliche Redeweise flüchtete. Das bemerkte er manchmal auch bei Balduin. „Wir sind aber gerade dabei, uns Zugang zu dieser Kammer hier zu verschaffen. Wir vermuten den Monsignore dort drin. Oder zumindest Hinweise auf seinen Aufenthaltsort.“
    „Alles klar“, tönte Ulf. „Wir können die Tür gerne öffnen. Lasst mich nur vorbei, ich kriege das schon hin.“
    „Das wird nicht nötig sein“, wehrte Alfred ab. „Mein So… unser Spezialist hier nimmt sich der Sache gerade an.“
    Alfred nickte seinem Sohn aufmunternd zu, und Balduin machte sich wieder ans Werk. Marcus war erstaunt, wie dann nach wenigen Augenblicken ein erneutes Klicken ertönte, welches aber ganz eindeutig das Geräusch eines geöffneten Schlosses darstellte. Offenbar hatte Balduin nun doch noch sein lange verborgenes Talent entdeckt. Und das unter diesen Umständen. Wer hätte das gedacht.
    „Im Prinzip ist die Tür jetzt offen“, sagte Balduin zur Bestätigung, richtete sich wieder auf und blickte die Gruppe an. „Sie muss jetzt eben nur noch… naja, eben aufgemacht werden.“ Gestik und Körperhaltung Balduins zeigten, dass er nicht derjenige sein wollte, der als erstes die Kammer betrat.
    „Ich mache das.“ Alfred trat wieder hervor und packte an die Klinke der Kammertür. „Wir halten uns bereit“, schallte es noch kurz von hinten aus dem Munde des dicken Wachmanns namens Ulf, und dann war die Tür auch schon einen Spalt offen. Mit entschlossenem Griff stieß Alfred sie dann ganz auf und trat ein, mit zwei, drei Schritten weit in den Raum hinein, sodass alle – bis auf Ulf und Aaron – genug Platz hatten, um die Kammer ebenfalls zu betreten.
    Natürlich sah Marcus die Schränke, Truhen und Regale, die Gefäße, Karteien und Schubladen, welche die Schriftstücke, Waffen, Bücher, Statuetten, Symbole, Gemälde, Gold, Kräuter, Schreibfedern, Stempel, Kerzen, Runen und noch vieles Weitere beinhalteten, und das in einer Form und einem Umfang, dass es nur schwer zu glauben war, dass dies alles wirklich Asservate sein sollten. Und natürlich sah Marcus auch die restliche Einrichtung, die entzündeten Fackelleuchter an den Wänden, ein Schreibpult, einen schmucklosen, dunkelroten Teppich und noch weitere Einrichtungsgegenstände, die der Räumlichkeit einen gehörigen Amtsmuff vermittelten. Aber all diese Eindrücke waren im Moment des Eintretens nur bloßes Beiwerk, eine leise Begleitmusik, die von dem Crescendo direkt vor ihnen gnadenlos übertönt wurde.
    In etwa in der Mitte der linken Wand des Raumes, vor einem Tisch, der offenbar notdürftig von allerlei eingelagerten Gegenständen freigeräumt worden war, saß auf einem Stuhl eine Gestalt mit blasser Haut und Resten eines dunklen, langen Haarschopfs, aufrecht und starr, wie, als seien ihre Knochen alle zu Stein geworden. Sie war von den Beinen bis hin zum Oberkörper eingehüllt in eine Art überlange schwarze Tunika mit roten Einsprengseln, die jedoch ab und an etwas von ihrer Haut freigab, welche dadurch nur umso bleicher wirkte. Das Gewand reichte bis zu ihrem Hals, der beim unbedeckten Übergang zum Kinn feuerrote, aber auch schwarze Flecken aufwies. Am auffälligsten aber war das Gesicht dieser starren, bleichen Gestalt, das bis auf einen verbrannten Flecken am Kinn vollständig von einer goldenen Metallplatte verdeckt war, und für welche Marcus kein anderer Begriff einfiel als der einer Totenmaske, denn auf der Goldschicht waren grob die Züge eines leblosen Frauengesichts nachgezeichnet. Trotz dieses seltsamen Talars, trotz des geschundenen Körpers, trotz des verfremdeten Gesichts und wider allem besseren Wissen, welches Marcus in sich trug, brauchte er nur einen kleinen Moment, um zu erkennen, dass diese Frau dort auf diesem Stuhl nur Katharina sein konnte.
    „Primas Daron!“, entfuhr es plötzlich einer Stimme von hinten, die zu Aaron gehörte, der sich doch noch in den Raum hineingedrängelt hatte. Erst auf diesen Ausruf hin bemerkte Marcus, dass hinter dem Stuhl, auf dem Katharina saß, ein Mann in einer schwarz-roten Robe ähnlich der des Monsignores stand – nur, dass es nicht der Monsignore war.
    „Das ist der falsche Kirchenmann, oder?“, tönte nun auch Ulf, der sich ebenso Platz verschaffte und in die Kammer eintrat.
    „Nun nun, das ist ja eine Überraschung. Oder vielleicht auch nicht?“
    Der Mann in der Robe, der von Ulf und Aaron als Daron identifiziert worden war, legte seine verknöcherten Hände auf Katharinas Schultern. Erst anhand dieser Geste und der schwachen Reaktion, dem kurzen Aufatmen Katharinas, erkannte Marcus überhaupt, dass sie tatsächlich lebte. Auch wenn sie wie von dieser Welt entschwunden aussah, wirkte sie dabei immer noch lebendiger als der Greis hinter ihr, der überhaupt völlig in seiner Robe zu versinken schien und dem Totenreich ganz eindeutig näher war als der Welt der Lebenden. Seine Haare waren schlohweiß, mit wenigen schwarzen Einsprengseln, ein wirrer, ausgedünnter Schopf, der ihm über die wachsige, verkraterte Gesichtshaut fiel. Sein Mund war ein unförmiges Loch, das sich, wenn er sprach, nur schief öffnete, dabei keine Zähne preisgab und von so blassen Lippen umrandet wurde, dass diese mit der restlichen Haut rund um seinen Mund konturlos verschmolzen.
    „Katharina“, rief Balduin nun, „du lebst!“ Marcus hätte auch gerne irgendetwas gerufen, aber in seinem Mund war es so schrecklich trocken, und hätte er nur irgendeinen Laut von sich geben wollen, er wäre, so glaubte er, in einem schlimmen Hustenanfall erstickt.
    „Aah, ihr seid also Freunde unserer neuen Schwester Oberin“, griff Daron den Faden auf. Seine Stimme knarrte wie die Äste eines alten Baumes im Wind.
    „Was hast du mit Katharina gemacht?“, entfuhr es nun Rudolph an der Stelle von Marcus, der genau das gleiche gerufen hätte, hätte er gekonnt.
    „Frage nicht, was ich mit ihr gemacht habe, sondern frage, was Innos mit ihr gemacht hat, welches Geschenk er ihr gegeben hat“, entgegnete Daron wie aus einer auswendig gelernten Predigt. „Denn ohne ihn würde sie nicht mehr leben.“
    „Ohne ihn wäre sie aber vermutlich auch nicht in diesem… Zustand“, wandte Jordir erstaunlich unaufgeregt ein. „Zumindest, soweit ich das verstanden habe.“
    „Aah, ja… in der Tat“, erwiderte Daron milde, und wie schon bei Monsignore Huff glaubte Marcus, einen natürlichen Hall in der Stimme des Geistlichen zu hören. „Das Feuer des Herrn ist in sie gefahren. Doch hat die heilige Flamme ihren Körper nicht nur versengt. Nein, sie erfüllte auch ihren Geist. Das magische Feuer reinigte ihren Leib und erleuchtete ihre Seele. Nur wenige Menschen überleben so etwas. Doch sie… sie war nicht nur die Frucht des Zufalls, sondern eine Figur göttlicher Vorherbestimmung. Innos lockte sie hierher, um sie mit seiner Magie zu erfüllen. Ihre körperlichen Wunden werden nie ganz abheilen, doch sie wird lernen, diese Male mit Stolz zu tragen. Sie ist nun ein Geschöpf voll pulsierender Magie. Magie, mit der wir das Übel auf dieser Insel vielleicht endgültig verbannen können.“
    „Katharina, sag doch was!“, rief Rudolph noch einmal von hinten, doch der Ruf blieb ungehört. Katharina saß auf dem Stuhl, stumm, atmete schwach, bewegte sich sonst aber gar nicht. Sie schien nicht einmal mitbekommen zu haben, dass Marcus und Balduin und auch Rudolph vor ihr standen, sie schien überhaupt gar nichts wahrzunehmen, bis auf Daron hinter ihr. Das Starren ihrer goldenen Maske war unerträglich.
    „Versucht nicht, sie aus ihrer göttlichen Seligkeit herauszureißen“, sagte Daron und breitete die Arme aus. „Denn es wird euch nicht gelingen. Innos’ Wille ist stärker als wir alle!“
    „Primas Daron“, ergriff Alfred nun das Wort, äußerlich völlig ungerührt von den wirren Reden des Geistlichen. „Gebt Katharina frei. Stellt Euch, und verratet uns den Aufenthaltsort von Richter Monsignore Huff. Dann wird Euch nichts geschehen. Eure Herrschaft hier ist beendet. In diesem Moment ist eine ganze Truppe aus der Kaserne auf dem Weg hier hin, um die Führung der Stadt wieder in bürgerliche Hände zu legen. Ihr tätet gut daran, zu kooperieren.“
    Marcus war beeindruckt. Während er selbst noch nach Worten gerungen hatte, um sie diesem Priester namens Daron entgegenzuschleudern, hatte sein Vater bereits formvollendete Befehle ausgesprochen. Er führte es auf eine gewisse Routine zurück, die Alfred als Jaron im Krieg gesammelt haben und nie ganz losgeworden sein musste.
    Daron allerdings zeigte sich davon wenig beeindruckt. „Mit der Kraft Innos’ werden wir zu verhindern wissen, dass diejenigen bürgerlichen Hände, welche diese Stadt erst in den Abgrund trieben, wieder gierig nach ihrer Herrschaft greifen. Wir versuchten, die Gnade des Feuergottes walten zu lassen, indem wir nur die Spreu vom Weizen zu trennen versuchten, mit sanfter Hand und der Hoffnung auf Einsicht.
    Doch die letzten Tage zeigten, dass dies keine Früchte tragen würde. Und so setzen wir uns zur Wehr, das ist alles. Ihr habt keine Macht über mich, über keinen von uns!“
    „Das werden wir ja sehen“, ertönte Jordirs Stimme von hinten, der – ebenso wie bereits Ulf und Aaron – seine Waffe gezogen hatte. Marcus sah auch seinen Vater neben sich das mitgebrachte Langschwert ziehen, und tatsächlich erkannte Marcus, dass auch er selbst seine linke Hand unwillkürlich an den Griff seines Breitschwerts gelegt hatte.
    „Das ist Eure letzte Chance!“, sagte Alfred laut und deutlich. „Ergebt Euch, oder wir zwingen Euch mit Waffengewalt nieder!“
    Daron hob als Reaktion die Hände, und für einen ungläubigen Moment dachte Marcus schon, der Priester wollte sich tatsächlich ergeben, doch das schiefe Grinsen in seinem Gesicht und der gehässige Tonfall in seiner Stimme ließen sofort wieder anderes vermuten.
    „Dieser Kampf wird nicht mit Waffengewalt entschieden werden“, krächzte er. „Das Führen niederer Waffen hat keinen Platz in meiner Sphäre. Lasst euren Zorn nur walten, doch er wird schon bald auf euch zurückfallen!“
    Kurz darauf umgab ein blaues Glitzern die Umrisse Darons und wenig später auch die Katharinas, ein heller Lichtblitz erfüllte den Raum und ein grollendes Rauschen ertönte – und dann war der Stuhl, auf dem Katharina gesessen hatte, leer. Daron hinter ihr war ebenso verschwunden. Jordir stampfte wütend auf.
    „Ein Teleportzauber, verdammt“, rief er. „Wer weiß, wo die jetzt hin sind! Dieser Feigling!“
    Marcus fühlte, wie die Anspannung in seinem linken Arm nachließ. Sein rechter Arm allerdings glühte noch immer, und er war in der Gegenwart Katharinas sogar noch wärmer geworden. Jetzt aber fühlte er ihn wieder langsam abkühlen.
    „Wir finden den schon“, sagte Ulf mit siegessicherem Unterton. „Wenn erst einmal unsere Männer aus der Kaserne ausgerückt sind… die lassen keinen Stein auf dem anderen, wir finden den Kerl schon. Und Huff auch.“
    „Es bleibt zu hoffen“, seufzte Alfred. „Denn spätestens jetzt gibt es kein Zurück mehr.“
    Marcus blickte seinen Vater an. Zu den zehn Jahren, um die er innerhalb der letzten Stunde bereits gealtert war, hatten sich noch fünf weitere in sein Gesicht eingegraben. Die kurze Konfrontation mit Daron hatte ihn sichtlich angestrengt. Marcus sah diese Art von Anstrengung aber in den Gesichtern aller Anwesenden, sodass er sich sicher war, diese Erschöpfung auch selbst zur Schau zu tragen. Hinzu kam, dass einige aus der Gruppe – jedenfalls er selbst, Balduin und Rudolph – schon länger nicht mehr richtig geschlafen hatten. Aber an so etwas wie Schlaf war nun auch gar nicht mehr zu denken. Kein Schlaf, bis die Stadt von diesen Pfaffen befreit war.
    „Was nun?“, fragte Aaron, und sprach damit die Frage aus, die alle anderen in sich hinein schwiegen. „Erst einmal auf die Verstärkung warten? Lange sollte es ja nicht mehr dauern.“
    Niemand gab Antwort, aber die allgemeine Passivität war wohl Erwiderung genug. Es schien, als wollte jeder erst einmal sich selbst zuwenden. Marcus war da keine Ausnahme. Und so machte er es wie die anderen, schaute sich ein wenig planlos in der Kammer um, wich den Blicken der anderen aus und wanderte umher. Ab und an ergriff jemand noch einmal das Wort, aber mehr als die Bekundung, dass man wirklich vorerst abwarten müsse, kam dabei in der Regel nicht heraus. Es war eine bizarre Szene. Marcus setzte auf seinen Vater, den nächsten Schritt zu machen, doch der stand nur stumm in der Mitte des Raumes und dachte angestrengt nach. Der erste, der Marcus’ Aufmerksamkeit wieder ganz auf sich ziehen konnte, war Rudolph.
    „Da vorne sind ja Siegelstempel“, sagte er, und bewegte sich auf ein hoch angebrachtes Regalbrett zu, in direkter Nähe zum Stuhl, auf dem vor wenigen Augenblicken noch unglaublicherweise Katharina gesessen hatte. Marcus hätte gerne an eine Illusion geglaubt, jetzt, wo sein Blick noch einmal auf den leeren Stuhl fiel. Aber Katharina war eindeutig echt gewesen. Echt und lebendig – wobei das angesichts ihres Zustandes davon abhing, was man unter lebendig verstehen wollte.
    „Wir müssen sie auf jeden Fall befreien“, sagte Marcus lauter, als er wollte, und zog damit ein paar Blicke auf sich, die zwar Zustimmung beinhalteten, aber auch in Ratlosigkeit ertranken. Der Ausdruck in den Gesichtern seiner Mitstreiter war so schwach, wie Marcus sich fühlte. In ihm selbst pulsierte zwar der Drang, Katharina zur Hilfe zu eilen, doch er wusste nicht wo und nicht wie, und so lähmte ihn dieser Drang im Ergebnis eher, statt ihn vorwärts zu treiben.
    „Wenn wir schon einmal hier sind und sowieso warten“, zog Rudolph erneut die Aufmerksamkeit auf sich, während er einen der Siegelstempel in die Hand genommen hatte. „Dann kann ich doch eigentlich endlich mein Versprechen einlösen. Ich weiß, es hat keinen Sinn mehr. Aber ich habe es euch doch versprochen.“
    „Wie meinen?“, fragte Jordir, obwohl er ersichtlich nicht angesprochen war. Marcus hoffte, dass er Rudolph jetzt nicht schon wieder irgendwie ärgern wollte.
    „Wir haben hier alles da, glaube ich“, fuhr Rudolph fort, klaubte fleißig eine rote Kerze zusammen, suchte noch einmal nach dem seiner Meinung nach besten Siegelstempel, und fand schließlich sogar noch ein paar ausrangierte Feuersteine. Die musste man wohl mal einem Brandstifter abgenommen haben, dachte Marcus. Damals, als die Brandstifter noch nicht magiebegabte Geistliche gewesen waren.
    „Und du hast doch auch noch die Urkunden, Balduin. Das stimmt doch? Das war doch so, dass du deine noch… machen musstest? Marcus?“
    „Das Siegel auf meiner fehlt noch, ja“, sagte Marcus, während Balduin erneut bereitwillig die beiden Urkunden hervorzog. „Wenn das nicht so wäre, dann stünden wir alle nicht hier in diesem Raum. Könnt ihr euch bei mir recht herzlich bedanken.“
    „Ich weiß, es ist albern. Aber wenn es euch nichts ausmacht, würde ich mein Versprechen gerne einlösen. Einfach so. So als… Zeichen.“ Rudolph ergriff eine der Urkunden aus Balduins Hand, besah sie sich, und erkannte sie nach einiger Zeit des Lesens als das Schriftstück, das Marcus’ Geburtsurkunde hatte werden sollen.
    „Wenn du meinst“, sagte Marcus. Ihm war es mittlerweile vollkommen egal. Wenn Rudolph sich dadurch aber besser fühlen würde, weil er seiner Meinung nach dann nicht mehr in der Schuld von irgendwem stand, dann sollte er es eben so machen. Dann musste er es vielleicht auch so machen. Marcus hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, dass Rudolph mit in die Sache hineingezogen worden war. Das hatte er nicht verdient.
    „Das Siegel kommt dann hier unten hin“, sagte Balduin und präsentierte zum Vergleich seine eigene Geburtsurkunde. „Meinst du, du schaffst das?“
    „Ich muss es schaffen“, sagte Rudolph mit einem solchen Ernst, dass Marcus trotz der verfahrenen Situation zum Schmunzeln zumute war.
    „Die Wachsspritzer, die da noch kleben vielleicht, die kannst du einfach drauf lassen“, fügte Marcus zur Ermunterung noch hinzu. „Lässt die Urkunde nur echter wirken.“
    „Wir schauen dann am besten mal weg, was, Aaron?“, warf Ulf ein, der Interesse am Geschehen bekommen hatte. „Aber wenn es gegen diese Pfaffen geht, dann nur zu. Drücke ich gerne ein Auge zu. Oder gleich zwei.“
    Marcus hätte den feisten Wachmann für diese Aussage am liebsten gebissen. Es war schwer zu schlucken, dass sie alle nicht in diese Katastrophe hineingerutscht wären, wenn dieser Kerl namens Ulf gleich von Anfang an bei ihrer ersten Begegnung derartige Zurückhaltung geübt hätte. Es war unfassbar, mit welcher bitteren Ironie hier in dieser Kammer nun eins zum anderen kam.
    Rudolph legte die Urkunde auf dem Tisch ab, unweit vom leeren Stuhl, und fing an, mit den Feuersteinen über dem Docht der halb heruntergebrannten Kerze herumzunesteln. Marcus bezweifelte, dass diese Kerze überhaupt dafür geeignet war, selbst als Grundlage für den Stempel zu dienen. Aber immerhin war es rotes Wachs. Ganz unabhängig davon sah Rudolphs ungeschicktes Vorgehen wenig erfolgversprechend aus. Noch viel eher sah Marcus die Chance eines weiteren Brandes. Aber das fand er umso besser: Sollte Rudolph die Bude hier doch abfackeln. Und überhaupt: Wie er sich dort mit vor Konzentration seitlich heraushängender Zunge bemühte, den Feuersteinen einen entscheidenden Funken zu entlocken, das gefiel Marcus irgendwie. Rudolph strengte sich eben wirklich an – und das letzten Endes für ihn. Obwohl er doch überhaupt keine Verpflichtungen gegenüber ihm hatte, nicht in Marcus’ Schuld stand.
    „Pass nur auf, dass du dich nicht verbrennst“, mahnte Alfred, der endlich aus seiner Gedankenstarre erwacht war. Wenig später schien der erste Teil des Werks vollbracht.
    „Sie brennt!“, verkündete Rudolph, und tatsächlich strömte die Kerze nun den Geruch des angebrannten Dochts aus. „Das Wachs dort drin wird auch sofort wieder flüssig.“
    „Zünd doch noch ’ne zweite Kerze an“, meinte Jordir mit verstecktem Spott. „Dann haste schneller mehr Wachs.“
    „Das ist eine gute Idee!“
    Rudolph schnappte sich, ganz unbekümmert, eine zweite rote Kerze vom Regal, und zündete sie an der anderen an. In der Tat hatten sich in den Kerzen relativ rasch zwei Wachspfützen gebildet, die zwar lange nicht ausreichten, um Grundlage für ein ordentliches Siegel zu geben, die Rudolph aber zufrieden stellten – ein unordentliches Siegel war ja schließlich besser als nichts.
    „Siehste“, zeigte sich auch Jordir gespielt erfreut. „Jetzt musste du die nur noch unten auf der Urkunde ausgießen, ein bisschen warten, bis es so mittelfest ist, und dann hauste den Stempel drauf.“
    „Ja“, meinte Rudolph nur, und machte sich ans Werk, von den Umstehenden mehr oder minder interessiert beobachtet. Jordir hatte sich direkt neben Rudolph an die Wand gelehnt, um die Arbeit zu beobachten. Marcus wurde nicht schlau aus dem Kerl.
    „Jawoll“, kommentierte Jordir. „Jetzt den Stempel drauf.“
    Rudolph holte weit nach oben aus und knallte den Stempel auf das Wachs auf dem Papier. Die Urkunde war fertiggestellt, und trotzdem oder gerade deswegen zog es Marcus den Boden unter den Füßen weg – im wahrsten Sinne des Wortes.
    Es schien alles gleichzeitig zu geschehen, wenn auch eine Reihenfolge vorhanden gewesen sein musste, doch für Marcus ging es zu schnell, um alles ordnen zu können. Kaum war das Siegel auf die fertige Urkunde geknallt worden, hatte es direkt noch einmal geknallt, wie in einem großen Widerhall, und nach einem sekundenlangen Rumoren begann es unter ihm zu vibrieren, ein Vibrieren, das sich zu einem Beben auswuchs und auch von den anderen nicht unbemerkt blieb. Nur einen Atemzug später wurde Marcus von den Füßen gerissen, denn der Boden unter ihnen, samt dem Teppich, fuhr in rasender Geschwindigkeit zur Seite weg in die Wand der Kammer hinein, sodass sich ein Loch unter ihnen auftat, in das sie alle hineinstürzten. Alle, bis auf Jordir und Rudolph, die sich noch an den schmalen Streifen an der Seite des Raumes hatten retten können, der diesem versteckten Mechanismus, den Rudolph offenbar irgendwie durch seinen kräftigen Schlag auf den Tisch ausgelöst hatte, nicht zum Opfer gefallen war.
    Aber bevor Marcus sich diese ganzen Zusammenhänge überhaupt bewusst machen konnte, waren sein Körper und auch sein Geist bereits ins bodenlose Dunkel gestürzt.
    Geändert von John Irenicus (11.08.2016 um 19:53 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Jordir hätte von sich selbst niemals behauptet, der schnellste Denker zu sein, aber in dieser Situation dauerte es selbst für seine Verhältnisse sehr lange, bis er auch nur in groben Zügen verstand, was da gerade eben passiert war.
    Rudolph neben ihm schien es ähnlich zu gehen. Wie sich der Wachmann im Formate eines Eichenschranks eng an die Wand presste, um keinen Millimeter zu nahe an den Abgrund vor ihm zu treten, hatte er nicht einmal Gelegenheit, diese seltsame Bewegung mit seinen Fingern zu machen, die er während ihres Zusammenseins vorher beinahe unablässig ausgeführt hatte. Stattdessen schwitzte er und zitterte, und Jordir selbst musste sich nicht einmal auf die Stirn fassen, um zu wissen, dass sich auch bei ihm selbst dicke Schweißperlen angesiedelt hatten. Tatsächlich war ihm heiß, ganz plötzlich hatte ihn eine Hitzewelle überkommen, die er nicht einmal voll und ganz auf den Schrecken des mit einem Mal verschwundenen Bodens in dieser Kammer zurückführen konnte. Da war noch etwas anderes gewesen, das diese Hitze in ihm ausgelöst hatte. Er fragte sich, wie Marcus, mit seiner ganzen neu gewonnenen Magie im Körper, dieses Phänomen erlebt hatte. Falls er es denn erlebt hatte und er überlebt hatte.
    „Sie sind alle weg“, schnappte Rudolph und presste sich noch weiter an die Wand, sodass Jordir Fantasien vor das geistige Auge sprangen, in denen der groß gewachsene und breit gebaute Kerl mit seinem Rücken die ganze Mauer zu Fall brachte. Er legte ihm so sachte wie möglich eine Hand auf die Schulter.
    „Das sehe ich auch“, sagte er und bemühte sich, seine eigene Nervosität so gut wie möglich zu überspielen. „Aber noch wissen wir nicht, was passiert ist. Gehen wir einfach mal davon aus, dass sie nun in irgendeinem Gewölbe angekommen sind, wo die Pfaffen dieser Stadt sie ganz bestimmt nicht haben wollen. Und jetzt räumen die da sicher auf. Sie sind immerhin zu… naja, die Kollegen von der Kaserne rechne ich vorsichtshalber mal nicht mit ein. Aber Marcus, Balduin und ihr Vater werden das Kind schon schaukeln.“
    Jordir glaubte nicht selber an die Absolutheit, mit der er diese Worte sagte, aber immerhin schaffte er es, sich selbst zu überzeugen, dass die von ihm präsentierte Variante zumindest einen der möglichen Geschehensabläufe darstellte. Rudolph dagegen schien die Erklärungen gar nicht gehört oder verstanden zu haben, denn er krallte sich weiter mit seinen Fingern in die Wand hinter ihm, den Blick starr auf den großen Abgrund vor ihm gerichtet.
    „Habe ich das gemacht?“
    „Es könnte natürlich sein, dass du mit dem Stempelschlag auf den Tisch einen versteckten Mechanismus ausgelöst hast“, kombinierte Jordir, bereute es aber sogleich, seine Gedanken laut ausgesprochen zu haben. „Das heißt aber natürlich nicht, dass es so sein muss“, fügte er deshalb rasch hinzu. „Und selbst wenn, dann konntest du das ja nicht wissen. Du wolltest ja nur Gutes. Dem Marcus seine Urkunde endlich fertigstellen, und so weiter.“
    „Aber jetzt sind sie dort unten“, hauchte Rudolph. Jordir war überrascht, dass der große Kerl neben ihm offenbar doch aufnahm, was er sagte. „Und die Urkunde ist immer noch hier. Und überhaupt ist alles eine Katastrophe.“
    „Das weißt du ja wie gesagt noch gar nicht“, erwiderte Jordir rasch. Er spürte mehr und mehr die Befürchtung in sich aufkeimen, dass Rudolph jeden Moment in das Loch springen würde, der verschwundenen Gruppe um Alfred und Marcus hinterher. Deshalb schob er sich ein wenig näher an Rudolph heran und packte diesen am Arm. Er fühlte angespannte Muskeln.
    „Lass uns doch erst einmal diese Kammer verlassen, bevor noch mehr passiert“, schlug Jordir vor. Auch diese Worte bereute er aber nur wenig später schon wieder.
    „Du meinst, damit ich nicht noch mehr Unheil anrichte“, platzte es aus Rudolph heraus. „Es ist doch alles meine Schuld! Ich muss es wieder gutmachen! Diese blöde Urkunde! Ich wollte sie doch Marcus bringen… und Balduin… um jeden Preis! Ich werde diesen verfluchten Monsignore…“ Der Stadtwächter – sofern er denn überhaupt noch einer war, was Jordir nach den vergangenen Ereignissen doch sehr bezweifelte – verstummte und wollte nun tatsächlich einen Schritt nach vorne machen. Jordir nahm jetzt auch noch seinen zweiten Arm zur Hilfe, um Rudolph zurück an die Wand zu drücken. Er berührte dabei zufällig die Urkunde, diese Unsinnsurkunde, die der Wachmann sich nach Aktivierung des Mechanismus hastig zwischen Gürtel und Hosenbund gesteckt hatte.
    „Dafür wirst du auch sicher noch Gelegenheit haben“, sagte Jordir ins Blaue hinein. „Für beides.“ Jordir fühlte sich bei diesen Worten alles andere als gut. Es wurde ihm mehr und mehr zur Anstrengung, nach außen hin die Ruhe zu bewahren, während er doch selber fassungslos über die jüngsten Geschehnisse war. „Erst einmal sollten wir uns aber selbst in Sicherheit bringen. Sonst können wir nämlich überhaupt nichts mehr machen.“
    „Zu spät“, hallte eine Stimme durch den Türrahmen. Jordir und Rudolph wandten gleichzeitig ihre Köpfe und erblickten einen großen Mann in schwarz-roter Robe mit schulterlangen Haaren und glühenden Augen.
    „Richter… Monsignore Huff“, brachte Rudolph leise hervor und sprach damit aus, was Jordir bereits vermutet hatte.
    „Es scheint, als habe es noch nicht genug Abschreckung gegeben“, erhob der Richter erneut seine Stimme. „Aber vielleicht sehnt ihr euch ja auch nur danach, eurer teuren Freundin Katharina nachzufolgen. Wenn ihr wollt, zünde ich auch für euch eine Kerze an und mache euch eure Aufwartung, nachdem ihr das bedauerliche Leben eines unbedeutenden Schafs verlassen habt und zum göttlich erfüllten Werkzeug Innos’ geworden seid.“
    „Kein Bedarf“, antwortete Jordir, nach außen hin so kühl, dass es das genaue Spiegelbild seines brodelnden Innern darstellte. Er hatte zwar als Novize gelernt, wie er mit mehreren unangenehmen Sachen gleichzeitig fertig werden konnte, ohne Haltung zu verlieren. Das aber, was hier geschehen war und gerade geschah, waren mehr als nur bloße Unannehmlichkeiten. Jordir spürte die Anspannung in seinen Fingerspitzen kribbeln, bereit, in jeder kommenden Sekunde auf eine weitere Wendung der Ereignisse zu reagieren. Er war beinahe froh, dass er bei all diesen Eindrücken nicht einmal Zeit hatte, um irgendeine Form von Angst zu entwickeln. Stattdessen fühlte er sich bloß getrieben.
    „Das sagen sie alle, bis sie die Wunder der brennenden Erleuchtung erfahren“, säuselte Richter Monsignore Huff weiter. „Wer von euch will der erste sein?“
    Noch bevor Jordir die Worte des Geistlichen richtig verarbeitet hatte, machte Rudolph neben ihm einen bizarr anzusehenden, hohen Schritt nach vorne, der in der Luft stehen blieb – begleitet von einem unterdrückten Schrei. Jordir konnte nur vermuten, dass der Stadtwächter, getrieben von Wut auf diesen verfluchten Pfaffen, diesem an die Gurgel hatte springen wollen, bis er bemerkt hatte, dass die Kluft zwischen dem schmalen Streifen, auf dem sie standen, und dem Boden bei der Tür zur Kammer, zu groß für ihn war, um sie mit einem Satz zu überbrücken. Die Hilflosigkeit auf dem Gesicht des jungen, bulligen Mannes währte aber nur kurz, denn sie wurde alsbald von verzerrtem Schrecken abgelöst.
    „Dein Wille geschehe!“, hallte die Stimme des Richters durch die zur Seite und nach unten offene und damit eigentlich gar nicht mehr auf Hall ausgelegte Kammer, begleitet von einem gleißend roten Lichtblitz, der Jordir schmerzhaft zwang, seine Augen zu schließen. Als er es wagte, sie wieder zu öffnen, stand Rudolph in Flammen.
    Ringförmig tanzendes Feuer leckte an der Haut des Hünen, biss ihm ein ums andere Mal in den Leib und entlockte ihm so spitze Schreie, die aber nach und nach von der aggressiv lodernden Glut erstickt wurden, ebenso wie sich sein Körper unter dem Flammen zersetzte, nicht nur verbrannte, sondern geradezu schmolz und dabei nicht einmal mehr Asche übrig ließ. Jordir hatte einige magische Verletzungen gesehen, in der Realität und auf Zeichnungen, hatte über sie gelesen und von ihnen gehört, aber das Bild, was sich ihm hier nun bot, die totale Vernichtung eines Mannes in nur wenigen Augenblicken, das bewegte sich, selbst jetzt noch, wo er es leibhaftig sah, vollkommen außerhalb seiner Vorstellungskraft. Lediglich der trügerisch, beinahe spotthaft milde Geruch von magisch versengtem Fleisch war es, der ihn tatsächlich daran glauben ließ, dass dies die Wirklichkeit war, dass Rudolph gerade vom Feuer des vor Magie nur so glühenden Geistlichen verschlungen wurde, und dass er, Jordir, nichts dagegen unternehmen konnte. Der Geruch von versengtem Fleisch – und der Geruch von verbranntem Wachs.
    Richter Monsignore Huff beobachtete das Geschehen mit erhobenen Händen, glühenden Augen und einem entrückten Lächeln. Als der Körper Rudolphs nach ein paar Minuten beinahe vollständig heruntergebrannt war und nur einen unförmigen Klumpen aus Gebeinen, zusammengeschmolzener Haut und einem schwarzgebrannten Daumen als widerwärtiges Detail zurückgelassen hatte, erhob der Geistliche erneut die Stimme, ruhig und gefasst, wie am Ende einer Predigt.
    „Innos möge seiner schwachen Seele gnädig sein, denn diesem Körper war es nicht vergönnt, zum Wirt der Allmacht des Feuergottes zu werden.“
    Jordir fand sich nun selber an die Wand gepresst wieder, ganz, wie es Rudolph noch einige Augenblicke zuvor gehalten hatte. Der verbrannte Klumpen aus Fleisch, Knochen und Asche neben ihm jagte ihm nun doch noch Angst ein. Der Richter hob erneut seine Hände und setzte zu weiteren Worten an.
    „Nicht jeder Leib hält die sengende Flamme aus, wie es eure Freundin Katharina getan hat. Es ist ein Jammer, doch Körper und Geist deines Freundes hier waren zu schwach. Doch sei sicher, dass Innos auch für ihn einen Platz haben wird, sollte er irgendwann seine Sünden bereuen und seine eigene Schwäche einsehen. Teil des göttlichen Plans jedoch kann er nie mehr werden.“
    Jordir verspürte den seltsamen Drang, sich an den Hals zu fassen, der sich von innen so trocken anfühlte, von außen aber so nass war, als hätte er ihn gerade gewaschen. Er blickte in die glühenden Augen des Richters und spürte nur noch Panik in sich aufsteigen. Mit einem Mal waren all die lockeren Sprüche, sein gepachtetes Rebellentum, der Kampf gegen die Geistlichen und sein Wunsch auf ein Leben abseits des Glaubens in Gefahr. In Gefahr, von der sengenden Magie dieses Mannes hinweggedrängt zu werden.
    „Ich spüre Magie in dir, schwach zwar, doch vorhanden“, sprach der Monsignore weiter und fixierte Jordir mit seinen glühenden Augen. „Vielleicht sollst du es an seiner Stelle sein, der einen Platz im Wirken des Hochheiligen einnimmt. Noch steht es dir frei, dich zu entscheiden. Dir könnte eine tragende Rolle im göttlichen Plan zuteil werden. Du kannst deine miserable Existenz im Jetzt hinter dir lassen, um einem höheren Zweck zu dienen und die Leere und die Sinnlosigkeit in dir zu füllen.“
    Jetzt, wo sich Jordir einer wahren, tatsächlichen Bedrohung gegenüber sah, fragte er sich, ob sein bisheriges Handeln nicht einfach nur falsch gewesen war. Aufgeklärt, mutig, frei zwar – doch im Ergebnis falsch, töricht, dumm. Er schalt sich für seine Naivität, wünschte sich seine einstige Leichtgläubigkeit und Sorglosigkeit aus seinem Leben, wollte diese zwischen seinen Zähnen zerbeißen, all diese Eigenschaften, für die er sich selbst so gefallen hatte, die ihm jetzt aber gegenüber der Feuermagie des Mannes namens Richter Monsignore Huff zum Verhängnis werden würden. Zumindest, wenn er nicht…
    „Das Spiel ist aus, Monsignore!“, krakeelte eine Stimme von außerhalb der Kammer, direkt hinter dem Geistlichen, der sich vor Schreck umdrehen wollte, dabei aber bereits nach einer Vierteldrehung wie versteinert stehenblieb – weil er, wie Jordir aus seinen geweiteten Augen erkennen konnte, eine drohende Schwertspitze im Rücken hatte. An den Umrissen des Geistlichen vorbei erkannte Jordir dann auch schließlich, wer die rettenden Worte ausgesprochen hatte. Zusätzlich zum pochenden Herzschlag der Panik gesellte sich in seinem Innern nun noch ein Gefühl der verheißungsvollen Aufregung, die nahe Hoffnung, dem Feuer des Geistlichen doch noch zu entkommen. Sein Herz schlug derart stark, dass er fürchtete, es würde seinen Brustkorb mitsamt allen Rippen brechen.
    „Eine falsche Bewegung, und deine Kutte bekommt Löcher und noch ein paar rote Muster mehr“, knurrte der Lagermeister und warf einen flüchtigen Blick in die Kammer hinein. „Alles klar bei dir, Jordir?“
    Hatte Jordir vorher schon kaum gewusst, wie ihm geschah, so wusste er es jetzt gar nicht mehr, und nein, er konnte nicht behaupten, dass alles klar war hier bei ihm, überhaupt nichts war klar. Er hoffte nur, dass Marcus wusste, was er tat.
    „Welch schicksalhafte Zusammenkunft“, fabulierte der Monsignore, wollte die Hände zur Predigt heben, ließ sie aber rasch wieder sinken, als er einen unsanften Stoß von Marcus’ Schwertklinge in den Rücken bekam. Nach hinten und zu den Seiten des Lagermeisters hatten sich zwei, vielleicht drei oder sogar noch mehrere Männer, die nicht an die Tür der Kammer passten, aufgereiht. Sie alle trugen die Milizenkleidung der Kasernisten und waren ebenfalls mit Schwertern bewaffnet. Jordir hoffte, dass dies nicht die gesamte Streitmacht war, die Marcus dem Hauptmann hatte entlocken können. Aber es war immerhin ein Anfang.
    „Dir blüht gleich ein ganz anderes Schicksal“, setzte der Lagermeister nach. „Es wäre besser für dich, du ergibst dich. Oder es genügt ein Stoß, und du landest ein paar Etagen tiefer.“
    Richter Monsignore Huff machte eine kleine, unmerkliche Drehung, sodass er seinen Blick auf das dunkle Loch werfen konnte, wo früher einmal der Boden der Asservatenkammer gewesen war. Er warf Jordir dabei einen weitaus mehr als nur unmerklichen Blick zu, ein Grinsen huschte über seine Gesichtszüge.
    „Keine Sorge“, raunte er dann, ohne dabei jemand Bestimmten anzusprechen. „Ich werde noch früh genug dort unten sein. Doch vorerst…“
    Der Richter brach ab, ein blaues Glitzern umgab seine Umrisse, welches immer dichter wurde, wie eine Ansammlung kleiner Irrlichter oder meeresfarbener Glühwürmchen, ausgreifend wie Eiskristalle und verschmolzene Schneeflocken. Dann hob er seine Arme – und noch bevor Marcus seinen Schwertstreich ausführen konnte, war der Richter verschwunden. Die Klinge des Lagermeisters fuhr zischend durch die Luft.
    „Verdammt“, fluchte Marcus, und Jordir konnte auf dem verhärmten Gesicht des alten Lagermeisters ablesen, dass dieser nicht eher ruhen würde, bis er Richter Monsignore Huff zur Strecke gebracht hatte. Er, oder jemand anders.

    _____


    Marcus fühlte sich, als hätte er drei Wochen unter Steinen gelegen. Seine Glieder waren kalt, klamm und steif, seine Beine waren schwer wie Blei, seine Schultern wirkten wie zertrümmert, sein Kopf pochte als sei er mehrmals zwischen Hammer und Amboss geraten und selbst seine rechte Hand, die – wie er sich sofort erinnerte – ja gar nicht mehr vorhanden war, strahlte giftige Schmerzen aus. Erst nachdem Marcus all diese Eindrücke von Schmerzen, Erschöpfung und Niedergeschlagenheit halberlei sortiert hatte, öffnete er die Augen.
    Marcus sah Schwärze, aber er sah auch, wie diese Schwärze von einigen wenigen flackernden Fackeln an schwarzen Steinwänden durchbrochen wurde. Er selbst befand sich auf einem harten Boden, der aus dem selben dunklen Stein gemacht war wie die Wände, inmitten eines viereckigen, mittelgroßen Raumes, der nur zu einer einzigen Seite hin seinen Ausgang in Form eines mehr oder minder engen Ganges nahm, der aber so rasch eine Biegung machte, dass Marcus von seiner Position aus nicht sehen konnte, wo er hinführte.
    Als sich seine Augen langsam an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er seinen Kopf wandte, erkannte er, dass der Raum nicht so leer war, wie es ihm auf den ersten Blick vorgekommen war. Zwischen den nackten und kalten Steinwänden lagen nicht nur er selbst, sondern auch verstreute Gegenstände, Kissen, Teppiche, Holzreste, unfertige oder beschädigte Schränke und Kommoden, hier und dort Gegenstände des Alltags und ebenso nicht so alltägliche Gegenstände, die er im schwachen Licht der Fackeln kaum identifizieren konnte. Bei der Frage, woher dieser ganze Krimskrams denn kam, fiel sein Blick nach oben an die Decke. Die Decke, die eigentlich keine sein sollte, denn er erinnerte sich nur zu gut – dazu waren nicht einmal die Schmerzen an seinem geschundenen Körper nötig – dass er von oben in diesen Raum gestürzt war, als ihm in der Asservatenkammer der Boden unter den Füßen weggezogen worden war. Statt einfallenden Lichts von oben aus der Kammer begegnete ihm jedoch nur Schwärze. Das ihn umgebende Fackellicht deutete zwar an, dass oben in der Decke tatsächlich ein Schacht hinaufging, unerreichbar und sehr lang, aber mehr war dort nicht zu sehen. Marcus konnte nur spekulieren, ob die Schwärze an einer Art Zwischentür oder seltsamen Biegungen lag, die der Schacht machte und so verhinderte, dass Licht aus der Kammer in dieses Gewölbe eintrat. Zu einer Lösung kam Marcus durch diese Überlegungen aber nicht. Er konnte auch nur Vermutungen anstellen, wie weit er gefallen war. Weit genug jedenfalls, um sämtliche Knochen seines Körpers an den Rand eines Bruchs zu bringen. Als er schließlich aufstand, bemerkte er, dass zumindest sein kleiner Zeh des rechten Fußes, und vielleicht auch der Zeh daneben diesen Rand wohl überschritten hatten. Das jedoch konnte er, wenn er die Alternativen durchdachte, sehr gut verschmerzen, im wahrsten Sinne des Wortes – auch wenn es beim Auftreten ordentlich wehtat.
    Sämtlicher körperlicher Schmerz war jedoch auf einen Schlag vergessen, als Marcus den Goldhaufen nicht weit von ihm entdeckte, der ihm zunächst wie ein besonders spektakuläres, in dieser Unterkammer verstecktes Asservat vorkam, dabei aber sehr schnell sein wahres Grauen enthüllte. In dem Goldhaufen nämlich, der gemessen an Marcus’ Körpergröße etwa hüfthoch aufgetürmt war, steckte, neben einigen anderen nebensächlichen Dingen, ein großes, nahezu riesiges Schwert, mit Knauf, Heft und Parierstange voran im Gold selbst und der Spitze der Klinge nach oben hin aufgestellt. Marcus folgte mit seinem Blick dem Verlauf der Schneide vom im Gold eingesunkenen Griff bis hin nach oben – und blieb bereits bei der Hälfte stecken. Seine Beine, die vorher bereits unmerklich geschwankt hatten, gaben sofort nach. Mit einem dumpfen Geräusch fiel Marcus auf die Knie. Der Schmerz zitterte sich durch seinen Körper und klärte seinen etwas vernebelten Geist, befreite ihn von dieser sinnlosen Gemütlichkeit, die ihn beim Aufwachen in diesem Raum überfallen hatte. Sein Herz fühlte sich nun an, als sei es von dieser mächtigen Schneide durchbohrt worden – und im Grunde war es auch genau so. Auf etwa der Mitte der nach oben aufragenden Klinge, dort, wo sie wesentlich breiter wurde, steckte ein näherungsweise runder Gegenstand, der wiederum an einem noch viel größeren Gegenstand klebte, der sich alsbald als ein Leib herausstellte. Und in diesem Moment sah Marcus ganz klar, als sei der ganze Raum schlagartig und kurzzeitig von einem gleißenden Lichtblitz erhellt worden: Balduin, sein Bruder, war mit dem Kopf, genauer dem rechten Auge, von diesem riesigen Schwert durchbohrt worden.
    Marcus’ Lunge wurde kalt und sein Atem blieb stehen. Er blinzelte einige Male, sah zwischendrin immer wieder das Bild der Klinge, die sich durch das vernichtete Auge hindurch bohrte und auf der anderen Seite heraus aus Balduins Hinterkopf trieb, wie der schwache Leib seines Bruders unförmig und mit schwarzroter Blutkruste angekettet an den beschmutzten Stahl auf dem Goldhaufen lag, wie überhaupt das Blut, all das Blut aus seinem Körper, seinem Kopf, seinem Auge den ganzen Umkreis benetzte.
    Und dann erbrach Marcus sich, zwischen seine Oberschenkel, auf den schwarzen Steinboden.
    Er schnappte nach Luft, wand sich, warf sich geradezu in diese krampfhaften Wehen hinein, wollte sich am liebsten selbst einmal ganz überstülpen, wollte alle seine Organe herauskotzen, damit sie ihn in Frieden ließen, damit er nichts mehr spüren musste. Doch er spürte alles, vor allem, wie sein Magen tobte, wie er versuchte, nicht mehr vorhandene Reste von längst vergangenen Mahlzeiten abzustoßen, dabei aber nur dickflüssige Fäden aus Speichel freisetzte und die Rippen schmerzen ließ. Erst jetzt wurde Marcus bewusst, wie ewig lange seine letzte Mahlzeit her war, und es war ein so schrecklich banales Detail, dass er sich selbst zur Strafe gleich in die nächste Wehe des Erbrechens warf, bis schließlich all das Zucken und Drücken und Würgen, die Atemnot und die Beklemmungen, der Schmerz in Bauch, Brust und Magen, bis all das schließlich unwiederbringlich verebbte.
    Und als Marcus seine feuchten Augen erneut auf den Goldhaufen vor sich richtete, hatte sich nichts verändert. Gar nichts.
    „Balduin“, wisperte Marcus, in der Hoffnung, seinen Bruder so wieder zum Leben erwecken zu können, das falsche Spiel beenden zu können, die Illusion vertreiben zu können, die dieses Terrorbild sein musste, ja, eine Illusion musste es sein, denn seine Widersacher waren doch Magier, ihre Widersacher waren Magier, die vor keinem Trick und keinem Zauber zurückschreckten, die ihn brechen wollten, damit er keine Gefahr mehr für sie darstellte, die sich diese bizarre Szene ausgedacht hatten, von einem Balduinauge durchbohrt von einer Schwertklinge, von Blut auf Gold und Gold auf Stein, dort, wo so etwas doch gar nicht hingehörte, von einem wahrhaft gefallenen Bruder, der in so unfassbar unglücklicher Weise auf den Stahl gestürzt war, dass es gar nicht wahr sein konnte. Und Marcus wusste, dass Berührung das Mittel war, um diese Illusion zu entlarven, ein Greifen ins Nichts, wo dieses Trugbild auf ihn lauerte, und doch war dort Angst, Angst davor, dass er doch zerschlitzte Haut und zertrümmerte Augen fühlte, wenn er nach seinem Bruder tastete, dass die Illusion wieder Fleisch werden würde, wenn er ihr zu nahe kam, und irgendwann wurde diese Angst zur Gewissheit und dann zu einem Wissen, einem Wissen, einer schrecklichen Erkenntnis darum, dass es ja doch gar keine Illusion war, dass es Tatsachen waren, schrecklich zufällige und doch so schicksalhafte Tatsachen, die den Tod seines Bruders durch eine Klinge zeigten, die halb absichtlich, halb unglücklich hier gelauert hatte, um zumindest einem der herabstürzenden Eindringlinge den Lebensodem auszuhauchen. Mit einem Mal wurde all der Nebel um und in Marcus wieder fest, und er musste einsehen: Balduin, sein Bruder, war tot.

    _____


    „Verdammt… verdammt… ver…“
    Marcus schreckte auf, als er glaubte, ein Stöhnen neben sich zu hören. Noch bevor er sich erinnerte, wo er überhaupt war, dachte er an Balduin, wusste wieder, dass etwas Schlimmes passiert war, und zog aus der Stimme, die er gehört hatte, doch noch Hoffnung, dass sein Bruder lebte. Diese Hoffnung wurde allerdings zerschmettert, als sein trüber Blick auf den Goldhaufen fiel, vor dem er lag, und dann hoch hinauf zum Schwert und dem unveränderten Bild, das sich dort bot. Die Klinge einmal durch Balduins Kopf, in sein rechtes Auge hinein und durch den Hinterkopf wieder hinaus. Sein Bruder, aufgespießt auf einem Schwert, welches wahrscheinlich irgendeine dem Feuergott geweihte Reliquie war.
    „Es… tut mir leid… dass ich nicht… helfen konnte.“
    Marcus schreckte erneut auf. Die Stimme war also kein Traumgespinst gewesen. Ungelenk, mit tauben Gliedern, aber nun halbwegs klarem Verstand, richtete er sich auf. Seine vermutlich gebrochene Zehen schmerzten nun noch mehr, auch fühlte sich sein unterer Rücken nicht gerade bereit dafür an, schwere Lasten zu heben. Dennoch schaffte er es, mit zitterigen Knien einige Schritte im Dämmerlicht zu gehen, hin zu der Ecke des Raumes, aus der er die Stimme vernommen hatte. Dort im Halbschatten sah er dann sogleich einen jungen Mann an die Wand gelehnt, kraftlos, die Arme verdreht am Körper hängend wie alte, spröde Seile. Auf den zweiten Blick erkannte er in ihm den Stadtwächter namens Aaron.
    „Du lebst“, hauchte der junge Mann, den Kopf an die Wand gelehnt und die Augen eher zur Decke als direkt vor sich gerichtet. Er wirkte wie erblindet, schien sich im Raum gar nicht zurechtzufinden.
    „Du auch“, antwortete Marcus, in Ermangelung klügerer Worte. Die Atmosphäre hier war gespenstisch, und wie er auf den kreidebleich gewordenen Aaron schaute, hatte er tatsächlich das Gefühl, mit einem Geist zu sprechen.
    „Ulf hat es erwischt“, würgte Aaron daraufhin hervor, seine Stimme brach in der Mitte des kurzen Satzes. „Er liegt… dort drüben.“
    Aaron wies mit zitternder Hand grob in die Richtung des Ganges aus dem Raum heraus. Marcus folgte diesem Fingerzeig, konnte aber niemanden in dieser Richtung entdecken, obwohl der Gang selbst relativ gut ausgeleuchtet war. Mehr durch Zufall streifte Marcus’ Blick dann einen Bereich rechts von Aaron, unweit von ihrer Position, wo ein grobschlächtiger Leib mit dem Bauch voran auf dem Boden lag, bewegungslos und tot. Aaron musste bereits vollkommen die Orientierung verloren haben.
    „War heftig… der Sturz war ganz heftig… ganz schön heftig…“, fuhr der Wachmann fort, die Augen dabei weiß überlaufend. Marcus kniete sich nun hin, der Geruch nach Urin kroch ihm in die Nase, Aaron redete einfach weiter. „Du hattest wohl… Glück. Schwein gehabt… was?“
    Aaron ließ ein kehliges Geräusch ertönen. Nur einen Wimpernschlag später kam ein dickflüssiger Schwall Blut aus seinem Mund hervorgequollen, der sich über seine Milizenkleidung ergoss. Sein Körper krampfte, zitterte, sein Kopf hämmerte in ungeradem Takt geräuscharm gegen die Steinmauer hinter ihm. Marcus ließ beide Arme nach vorne schnellen, erkannte dann in einem bitteren Moment, dass er nur noch die linke Hand zur Verfügung hatte, und ergriff mit dieser schließlich den Hinterkopf Aarons. Er zuckte zusammen und ließ einen Laut des Entsetzens los, als er bemerkte, dass seine linke Hand den Kopf des Wachmanns nicht richtig zu fassen bekommen konnte. Seine Finger, die er eigentlich um den Schädel des jungen Mannes legen wollte, gingen tief hinein in sein Fleisch. Er zog die Hand rasch zurück, sah, dass sie mit dickem Blut und anderen Flüssigkeiten benetzt war. Im nächsten Moment machte Aarons Oberkörper wie von Geisterhand gesteuert einen Satz nach vorne, Hals und Kopf wurden schlaff zur Seite geschleudert und schlugen beinahe auf die Schulter, und dann sah Marcus, was er soeben gefühlt hatte. Aarons Schädel war hinten vollkommen aufgeschlagen, geradezu gespalten. Dort, wo die knöcherne Schädeldecke hätte sein sollen, klaffte ein unförmiges Loch, aus dem Substanzen quollen, die das Innere des Kopfes eines gesunden Menschen niemals hätten verlassen sollen. Marcus machte einen Satz zurück, noch in der Hocke, ließ sich dabei schmerzhaft auf den Steinboden zurückfallen. Binnen weniger weiterer Sekunden ebbte das krampfhafte Zucken Aarons wieder ab, sein Kopf fiel zur Seite, entblößte die klaffende Wunde vollständig – und dann lag er dort, reglos, leblos, tot.
    Marcus nahm sich einige Minuten, er wusste nicht, wie viele, in denen er einfach nur seinem eigenen rasselnden Atem lauschte. Die Erkenntnis, dass er bei seinem Sturz derart viel Glück gehabt hatte, dass ein paar gebrochenen Zehen und vielleicht auch Rippen, ein paar Schmerzen und Unannehmlichkeiten einem aufgeplatztem Schädel, einem durchbohrten Kopf und sonstwelchen Verletzungen, insgesamt also drei Toten gegenüberstanden, war bitter. Marcus konnte das alles nicht als Glück akzeptieren. Vielmehr empfand er es als Strafe, dass er der einzige war, der diesen Sturz überlebt hatte. Jeder Tod war einer zu viel, und den Wachmännern, so viel Ärger sie gemacht hatten, ja so viel Schuld sie selber daran trugen, dass es so weit gekommen war, hatte er viel Schlechtes gegönnt – nur nicht einen solchen Tod. Aber ihre Leben waren in seiner persönlichen Rechnung trotzdem nicht viel wert, nicht im Vergleich zum Verlust seines Bruders. Marcus wollte sich lieber selbst noch oben drauf auf diese Klinge des Schwerts stürzen, die ihm wie ein aus einer tückischen Grabmalsfalle geschossener Speer seinen Bruder genommen hatte. Aber einige, zwanzig, dreißig, vierzig Atemzüge später, kam Marcus zur Besinnung, zum Schluss, dass er das nicht tun konnte. Und dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, sparte den verfluchten Goldschatz und die Ecke mit Aaron großzügig aus, erfasste nur am Rande den toten Ulf, und bemerkte, dass eine Person fehlte. Vielleicht hatte er noch nicht alles verloren. Vielleicht konnten sie gemeinsam Rache nehmen.
    Marcus’ Beine waren die ersten, die aufstanden, dann war es sein Oberkörper, dann seine Arme, dann seine Schultern und sein Kopf, und zuletzt war es er selbst, der aufstand. Er wusste, dass es ein Trick seines Verstandes sein musste, all das Grauen beiseite zu wischen und einer grimmigen Entschlossenheit weichen zu lassen. Aber wenn es so war, dann wollte er von diesem Trick gerne profitieren. Schnurstracks machte er sich mit immer fester werdenden Schritten auf zum Gang, hinaus aus diesem Raum. Egal, was er an dessen Ende finden würde, er wollte nun keine Zeit mehr verlieren. Er wollte retten, was es noch zu retten gab. Falls es noch etwas zu retten gab.
    Als Marcus den Raum verließ und in den engeren Gang eintrat, spürte er inmitten all der klammen Kälte eine gewisse Wärme in seinen rechten Arm fließen. Er besah sich die in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebrachten Fackeln und kam zu dem Schluss, dass sie magisches Feuer tragen mussten, denn die Flammen knisterten nicht und blieben stumm. Das bestärkte ihn in seiner Vermutung, dass dieser Gang nicht bloß in eine unwichtige Abstellkammer führen würde. Es kam ihm selbst überhöht vor, doch mit jedem Schritt hatte er noch mehr das Gefühl, in das Zentrum der Macht der Geistlichen vorzudringen. Nicht nur in die Höhle des Löwen, sondern auf direktem Weg zu seinem Herzen.
    Marcus nahm die Biegung, die er schon von weitem, aus dem größeren Raum heraus, gesehen hatte. Er machte nicht einmal Anstalten, vorsichtig um die Ecke zu spähen, verlangsamte seinen Gang nicht ansatzweise. Schnell wurde klar, dass er auch gar keinen Anlass zu gesteigerter Vorsicht hatte: Nach der Biegung sah der Gang genau so aus wie vor der Biegung. Gleichwohl warf Marcus immer mal wieder einen genaueren Blick über Decke, Boden und Wände, um etwaige Fallen oder sonstige Hindernisse auszumachen – fand dabei aber keine.
    Es dauerte nicht lange, da wurde Marcus auf eine Einlassung in der Wand zu seiner rechten aufmerksam, die sich, sobald er näher an sie herangekommen war, als eine Reihe hoher, rund geformter Gitterstäbe aus Eisen entpuppte. Eine ebenfalls vergitterte Eisentür schottete den Gang von einem länglichen Raum ab, der selbst vollkommen unbeleuchtet war und nur von dem hereinfallenden Licht der Fackeln an der gegenüberliegenden Wand des Ganges zehrte. Es reichte aus, um Marcus nach einigem Spähen zu verraten, dass ganz am Ende des Raumes eine Gestalt an der Wand lehnte, sitzend oder hockend. Marcus’ Herz begann zu pochen, als ihm die Bilder des zerschmetterten Schädels von Aaron wieder vor die Augen strömten, doch als sich die Gestalt am Ende der Zelle regte, beruhigte er sich langsam wieder. Die Gestalt musste auch ihn gesehen haben, machte sich auf, sich zu erheben, zögerte ein bisschen, und schritt dann auf die Gitterstäbe zu. Noch bevor die Gestalt den Rand der Zelle ganz erreicht hatte, erkannte Marcus, wen er da vor sich hatte.
    „Alfred!“, rief er, und seine Stimme wurde als mehrfaches Echo von den Wänden hinfort getragen.
    „Marcus?“
    Mit dem letzten Schritt wurde auch das Gesicht der Gestalt erhellt, eingefallen, verschattet zwar, aber doch das Gesicht seines Vaters. Er sah alt aus, geschafft, aber seine Körperhaltung war die eines jungen Mannes.
    „Innos sei Dank, es geht dir gut“, hauchte Alfred und fasste sich an die Stirn, um nicht vorhandenen Schweiß abzuwischen. „Ich habe schon gedacht…“
    „Innos ist wahrscheinlich nicht der Richtige zum Danken“, meinte Marcus nur. „Zumindest nicht heute.“ Er machte eine Pause, zwang sich für einen Moment aus seinem Grimm heraus. „Papa, ich bin so froh, dich zu sehen. Ich habe Balduin gesehen und…“
    „Ich auch“, schnitt sein Vater ihm rasch das Wort ab. „Erwähne es bitte nicht noch.“
    Marcus sah die Trauer im Gesicht seines Vaters, die er eigentlich in sich selbst hätte spüren müssen, und begriff jetzt erst so richtig, wie schwer der Verlust auch für seinen Vater wiegen musste. Der Verlust eines Sohnes. Mit Aussicht auf Verlust des zweiten Sohnes. Marcus schalt sich, bei seinem Weg durch den Gang nicht vorsichtiger gewesen zu sein, sein Leben mehr oder minder aufs Spiel gesetzt zu haben, wo doch sein Vater auf ihn gewartet hatte.
    „Geht es dir gut, bist du verletzt?“, fragte Marcus seinen Vater.
    „Es geht, ich habe Glück gehabt“, sagte dieser, mit im Schatten flitzenden Augen, die so etwas wie Ungläubigkeit ausdrückten. „Du ja anscheinend auch. Der Sturz war heftig, ich habe ihn bei vollem Bewusstsein erlebt. Mein Schlüsselbein ist gebrochen und vielleicht auch mein Fuß, und meine Knie haben auch schon bessere Tage gesehen, aber sonst scheint alles gut zu sein. Ich bin mir aber nicht sicher, ob man mir nicht die Schulter ausgekugelt hat, als man mich hierher geschleppt hat.“
    „Wer hat dich hierher geschleppt?“
    Alfred antwortete erst nicht. Seine Augen hörten mit dem Flitzen auf, sie richteten sich kurz gen Boden.
    „Wer?“, hakte Marcus noch einmal nach.
    „Es waren dieser Primas Daron und… Katharina.“ Erst nach diesen Worten hob Alfred wieder sein Haupt und sah Marcus starr ins Gesicht. „Sie war weiterhin wie von Sinnen, er sowieso. Sie packten mich, vor allem sie. Ihre Hände waren wie Feuer, meine Arme fühlen sich noch immer ganz verbrannt an. Ich konnte mich nicht wehren, und so sperrten sie mich in diese Zelle. Dann verschwanden sie. Daron erzählte noch irgendwas von seinem göttlichen Plan und was weiß ich nicht alles. Dann verschwanden sie beide weiter den Gang entlang. Ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Ich weiß auch nicht, ob sie irgendetwas mit mir vorhaben, dass sie mich hier einsperren. Es wirkte aber so.“
    „Warum haben sie mich nicht eingesperrt?“
    „Sie hielten dich für tot.“ Alfred atmete tief aus. „Wie… wie die anderen.“
    „Dann haben sie sich wohl getäuscht“, murmelte Marcus, und fühlte den Grimm in sich zurückkehren. „Ich hole dich da raus.“
    „Sei vorsichtig!“, raunte Alfred, seine Stimme von den Wänden widerhallend. „Ich weiß nicht, ob sie dieses Schloss mit einer Falle gesichert haben.“
    „Das lässt sich herausfinden“, sagte Marcus und ging auf die Knie, das Schloss der Gittertür direkt auf Höhe seiner Augen, die er nun allerdings schloss. Er spürte Wärme in seinem Arm und sah im Dunkeln jede Menge ferner Lichter, die er alle den magischen Fackeln im Gang zuordnen konnte. Dort, wo er in seiner inneren Orientierung das Schloss vermutete, sah er jedoch kein Licht, und von dort konnte er auch keine Wärme spüren. Er blieb noch eine Weile bei diesem Bild stehen, zwang sich dazu, sich immer weiter auf das Schloss zu konzentrieren, doch es blieb kalt und dunkel. Erst nach einiger Zeit öffnete er die Augen wieder.
    „Keine magische Falle“, teilte er seinem Vater daraufhin mit. Er war nun so nahe an einer Gewissheit, wie er sein konnte.
    „Und für eine mechanische Falle müssten sie schon irgendwelche Apparate in den Gitterstäben versteckt haben, aber die sind nicht hohl, ich habe schon geklopft“, fügte Alfred hinzu. „Trotzdem, Marcus…“
    „Ich hole dich da raus“, sagte Marcus noch einmal. Er betrachtete das Schloss nun etwas genauer. Es war ein großes Schloss, kein Vorhängeschloss, sondern in die Gittertür eingelassen. Ob es kompliziert war oder nicht, das konnte er nicht beurteilen, dafür fehlte ihm die nötige Erfahrung. Vom Schlösserknacken verstand er nichts. Aber…
    „Der Skelettschlüssel“, raunte er dann. „Warte hier, ich bin gleich wieder da!“
    „Ich werde schon nicht weglaufen… sei vorsichtig!“, rief Alfred noch, da war Marcus schon wieder auf den Beinen und eilte, so sehr es seine schmerzenden Zehen zuließen, zurück in den Raum, in dem er erwacht war. Der Weg war nicht lang, und schon bald sah er, nachdem er um die Biegung gegangen war, den Goldhaufen von weitem glitzern. Diesen verfluchten Goldhaufen.
    In einer Mischung aus Ab- und Zuneigung näherte Marcus sich dem vom Kopf her aufgespießten Leichnam Balduins. Um ihn herum war vom sonst so grünlich schimmernden Messer mit dem Dietrich am Griff nichts zu sehen, sodass Marcus sich – ganz von seinem Grimm im Zaum gehalten – dazu zwingen musste, seinem toten Bruder an den Gürtel zu gehen. Nach einigem Genestel, Gesuche und Gefühle rund um den kalten Leib – immer noch nichts. Marcus zählte beim Suchen nicht die Minuten, doch als er aufgab, war seinem Gefühl nach sicher deutlich mehr als eine Viertelstunde vergangen, und er hatte Balduin so gründlich abgetastet, dass seine eigenen Finger mit Leichenkälte befleckt waren wie von einem unsichtbaren Wachs. Auf dem Boden des Raumes fand Marcus nach einiger Zeit – abgesehen von den Waffen von Aaron und Ulf, die er jedoch unangetastet ließ – sein eigenes Breitschwert, oder besser gesagt das rostige Stück Metall in Schwertform, welches ihm der Lagermeister vor einiger Zeit aufgedrängt hatte. Und wie so vieles andere wirkte auch das alles schon ewig her, wie Jahre weit weg oder in einem ganz anderen, fernen Land geschehen.
    Mangels Alternativen nahm Marcus das Schwert an sich und kehrte in den Gang zurück. Als er die Zelle erreichte, hatte sich sein Vater bereits wieder hingesetzt, war nur noch ein Schatten, der an der Mauer lehnte, den Kopf gesenkt. Als er Marcus kommen hörte und sah, stand er auf, und an seinen Bewegungen glaubte Marcus zu erkennen, wie sehr ihm die Beine schmerzen mussten. Als er an die Gitterstäbe trat und ihn anschaute, verriet seine gefasste Miene aber nichts von alledem.
    „Ich habe den Skelettschlüssel nicht finden können“, gab Marcus unumwunden zu. Es war ein seltsames, sehr bitteres Gefühl, seinen Vater in so einer Situation so enttäuschen zu müssen.
    „Vielleicht haben sie ihn mitgenommen“, vermutete Alfred, seine Miene unverändert sachlich, als hätte ihm sein Sohn gerade lediglich berichtet, dass er morgen leider keine Zeit haben würde, seiner Mutter beim Kochen zu helfen. „Ich konnte nicht auf alles achten.“ Er rieb sich seine dünnen Handgelenke. Marcus glaubte, im Zwielicht Brandwunden an ihnen zu erkennen, aber er war sich nicht sicher. Er hielt es für besser, nicht weiter danach zu fragen.
    Marcus hob sein Schwert vor das Eisengitter, um es seinem Vater zu präsentieren. „Vielleicht klappt es damit“, sagte er. Er ging langsam und bedächtig auf die Knie, wie, als wollte er sich mit seinem eigenen Schwert selbst zum Ritter schlagen. Als er die Spitze der Klinge langsam zum Schloss in der Gittertür führte, bemerkte er, wie seine Hand zitterte. Aber auch unabhängig davon gelang es ihm nicht, die Klingenspitze auch nur ansatzweise tief genug in das Schloss einzuführen. Das Schwert war zu breit, das Schloss zu fein und zu kompliziert. Das hatte zwar auch vor diesem Versuch schon verdächtig danach ausgesehen, nun aber war es endgültig bestätigt.
    Marcus griff das Schwert noch fester, um das Zittern in seinem linken Arm zu unterbinden. Dann stand er auf, hastig, holte mit dem Schwert aus und biss gleichzeitig auf die Zähne – und dann hieb Marcus auf das Schloss ein, sodass Alfred erschrocken einen Satz zurück machte. Einmal, zweimal, dreimal, er traf die Gitterstäbe und manchmal auch nur die dünne Luft dazwischen, schlug immer und immer wieder zu, Metall auf Metall, manchmal auch Metall auf Stein, und binnen weniger Sekunden waren die Zelle und der Gang ein Meer aus wogenden Echos, ein Nebel aus Hall, und selbst als Alfred sich demonstrativ beide Ohren zuhielt, machte Marcus weiter. „Marcus!“, rief sein Vater, doch Marcus wollte nicht aufhören, ihm war es Genugtuung, all den angestauten Zorn an diesen Gitterstäben auszulassen. Metall auf Metall, Geklirre und Gescheppere – zum ersten Mal in seinem Leben war etwas Musik in seinen Ohren, und Marcus war Dirigent und Schlagwerker zugleich. „Marcus!“, rief sein Vater noch einmal, lauter, durch den Lärm hinweg. Erst, als er einmal heftig gegen die Gitterstäbe trat, ließ Marcus das Schwert endlich sinken. Er fühlte den Schweiß an seinem ganzen Körper, seine Haare klebten nass an seinem Kopf, ihm war warm und er spürte ein angenehmes Kribbeln in der linken Handfläche, von den vielen Stößen, die er mit dem Schwert ausgeführt hatte und die ein ums andere Mal den Schwertgriff in seiner Hand erschüttert hatten. Als er dann seinem Vater wieder in die Augen sah, schwer atmend, fühlte er sich wie ein kleiner Junge, der eine Dummheit begangen hatte. Ein vertrautes Gefühl der Peinlichkeit überkam ihn.
    „Das hilft alles nichts“, sagte Alfred, in einem Tonfall, als wäre Marcus’ Raserei mit dem Schwert tatsächlich eine zumindest potentielle Möglichkeit gewesen, ihn aus der Zelle zu befreien. „Mit diesem Lärm hast du höchstens diesen Priester auf dich aufmerksam gemacht, wenn er noch irgendwo hier sein sollte.“
    Die Worte seines Vaters waren nicht als Vorwurf formuliert, sie kamen bei Marcus aber als Vorwurf an. Diesen Vorwurf aber wollte Marcus wiederum ignorieren, denn im Moment scherte es ihn überhaupt nicht, ob Daron auf ihn aufmerksam wurde oder nicht. Sollte dieser Pfaffe doch kommen.
    „Wir müssen uns etwas anderes überlegen“, sagte Alfred, schüttelte dabei aber hilflos den Kopf. Es schien nichts weiter zu geben, was man überlegen konnte. „Ohne den richtigen Schlüssel wird das nichts.“
    „Dann werde ich diesen Schlüssel eben holen“, entschied Marcus. „Irgendjemand wird ihn ja haben. Und wenn es Daron selbst ist.“
    Alfreds Miene verfinsterte sich. Marcus konnte kaum sagen, ob es eine Veränderung seines Ausdrucks war oder doch nur ein zufällig gefallener Schatten im Zwielicht des Kellergewölbes. „Etwas Besseres fällt mir auch nicht ein“, sagte sein Vater dann nach einer Weile. „Ich hätte jetzt gerne gesagt, dass das viel zu gefährlich ist und deshalb gar nicht in Frage kommt. Aber nachdem wir wohl weniger auf eine Spontanrettung durch Jordir, den großen Kerl von der Stadtwache oder gar Marcus setzen sollten, und ich dich sowieso nicht daran hindern kann…“
    „Ich will ja auch hier raus“, fügte Marcus hinzu. „Und da gibt es im Augenblick wohl nur eine Richtung. Ich werde schon auf irgendwas oder irgendwen stoßen. Und sobald ich eine Möglichkeit habe, dich hier herauszuholen, komme ich zurück.“
    „Und was, wenn du nicht zurück kommst?“, fragte Alfred dann, und seine Augen wurden ganz klein.
    „Ich komme zurück“, wiederholte Marcus. Es war ein ganz eigenartiger Moment zwischen ihm und seinem Vater, in dem beiden klar war, dass alles Gesagte vollkommen bedeutungslos war. Ob sich die beiden nun so sehr wünschten, dass Marcus zurückkehren und Alfred befreien würde, oder auch nicht – besonders großen Einfluss darauf, dass, nein ob es passieren würde, hatten beide nicht. Ganz im Gegenteil hatte Marcus in den vergangenen Tagen erfahren müssen, dass ihn der Zufall desto wirksamer getroffen hatte, je planmäßiger er hatte vorgehen wollen. Angefangen beim harmlosen Fälschen einer Urkunde, über den nicht mehr ganz so harmlosen Einbruch in das Haus des Richters, bis hin zur noch fataleren Rückkehr zur Asservatenkammer.
    Am besten war es wohl, all die Pläne sein zu lassen und einfach vorwärts zu gehen.
    „Ich versuche, mich zu beeilen“, sagte Marcus und löste sich von den Gitterstäben. „Vielleicht kann ich doch noch eine Art Überraschung ausnutzen. Vielleicht ist aber auch niemand mehr hier. Wir werden sehen. Bis… gleich.“
    Marcus sah seinem Vater an, dass er noch viel mehr zu sagen hatte, aber nach einer Weile sagte er ebenfalls nur „Bis gleich“. Marcus nickte ihm noch einmal zu, dann wandte er sich ab und schritt weiter den Gang entlang. Aus den Augenwinkeln konnte er gerade noch erkennen, wie sein Vater sich sofort wieder an der Wand herabsinken ließ.
    Die Augen nach vorne gerichtet, war Marcus ab jetzt deutlich vorsichtiger, was seine Schritte auf dem steinernen Gang anging. Er besah sich den Boden und auch die Wände genau, blickte ab und an zur Decke, um auszuschließen, dass dort ein riesiges Fallbeil auf ihn wartete. Als er an einer weiteren Biegung ankam, stoppte er dort sogar, ging in die Hocke und schloss seine Augen, um mit Hilfe der – wenn auch schwindenden – Magie in seinem Körper nach anderen magischen Quellen außer den Fackeln zu suchen. Als er nach einiger Zeit keine Auffälligkeiten fand, drängte er seinen aufkommenden Verfolgungswahn allerdings wieder etwas zurück und nahm die Biegung des Ganges ohne noch weiter zu zögern. Nach nur einigen Schritten aber blieb Marcus erneut stehen, denn der Gang mündete in einen weiteren Raum.
    Dieser Raum war deutlich größer und auch deutlich heller erleuchtet als der erste Raum, und so konnte Marcus auf den ersten Blick erkennen, dass er nicht alleine war. Am Beginn des Raumes, zu seinen Füßen, war eine Art roter Kreis auf dunklen Steinen abgebildet, der ein Symbol in sich trug, das Marcus auf die Schnelle als das Symbol Innos’ identifizierte, in dessen Mitte ein Altar thronte, vor dem wiederum ein Mann in schwarz-rotem Talar und eine Frau in ähnlichem Gewand mit goldener Maske standen, als hätten sie die ganze Zeit nur auf ihn gewartet.
    „Sieh an, er lebt ja doch noch“, erhob Daron gleichzeitig seine Arme und seine Stimme. Die Ärmel seines Gewandes schlackerten und deuteten an, wie zweigdünn die Arme des alten Priesters sein mussten. „Möglicherweise lodert die Flamme Innos’ in ihm stärker, als wir dachten.“
    Katharina neben ihm stand nur stumm da, starr wie eine Statue, eine ausdruckslose und leblose Maske, die zwar auf Marcus gerichtet war, aber doch gar nichts sehen konnte. Marcus spürte den Drang, auf Katharina zu zu rennen, um sie von diesem furchtbaren Priester weg zu zerren, doch sein Verstand bedeutete ihm, dass das keine gute Idee sein würde. Noch nicht. Der Griff um sein Schwert verhärtete sich, ebenso wie sich seine Kehle verhärtete. Marcus wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was, und sein Kehlkopf schien ebenso starr wie das künstliche Gesicht Katharinas.
    „Möchtest du deiner Freundin etwa nachfolgen?“, fragte Daron, die Arme immer noch erhoben, einen neckischen Tonfall aufgelegt, der ihn wie ein altes, runzeliges Kind wirken ließ. „Dann hättest du das doch gleich sagen können. Aber, wir wissen: Die Wege des Herrn sind unergründlich. Nur er weiß, warum er dich diese Irrpfade nehmen ließ. Die einen würden sagen, es war Zufall, dass du durch eine Verkettung vieler kleiner Umstände schließlich hier in diesem Kellergewölbe gelandet bist, noch dazu lebendig. Ich aber kenne die Wahrheit um dieses Geschehen: Es ist konstruiert, nicht etwa ein Produkt von Zufälligkeiten, sondern von einer höheren Macht erdacht und dann ganz plangemäß umgesetzt, wie sich jeder früher oder später den Plänen des Höchsten fügen muss und gar nicht anders kann, als ihnen zu folgen. Was passiert, wenn man ihnen doch nicht folgt, hast du auf deinem Weg hierhin sicherlich schon mehrfach erlebt: Wer den Pfad der göttlichen Vorgaben verlässt, der scheidet aus dem Leben. Es spricht für dich, dass du es bis hierhin geschafft hast.“
    „Ich habe meine eigenen Pläne“, brachte Marcus schließlich unter zusammengebissenen Zähnen hervor und spürte dabei endlich wieder diesen Grimm, der ihn überhaupt bis hierher gebracht hatte. „Du brauchst mir keine Angebote zu machen oder mir was weiß ich versprechen. Ich bin nur hier mit einem Ziel. Katharina befreien, meinen Vater befreien, mich selbst befreien, dann die Stadt befreien.“
    „Befreien?“, fragte Daron und ließ die Arme ein Stück sinken, damit er besser mit den Schultern zucken konnte. „Aber wovon denn? Wenn es um Befreiung geht, wie ich sie verstehe: Vor dir siehst du eine Befreite. Ich habe dir das Angebot bereits gemacht, nein, Innos selbst hat es dir gemacht: Folge ihr nach und befreie dich selbst.“
    Marcus’ Griff ums Schwert wurde nun noch härter, er spürte, wie sich die Schwielen, die ihm sein Kampf gegen die Gitterstäbe zugefügt hatten, passgenau an das Heft des Schwerts schmiegten. Gleichzeitig sagte ihm seine innere Stimme, dass ihm die Waffe in diesem nun kommenden Kampf noch viel weniger helfen würde.
    „Ich sage es noch einmal“, blieb Marcus beharrlich. „Ich gehe auf keine Angebote ein. Ich habe nur selbst eins: Gebt Katharina frei, gebt meinen Vater frei, dann gebt die Stadt frei. Dann könnt ihr gehen und von mir aus woanders euer Unwesen treiben. Ihr habt schon genug Schaden angerichtet. Wegen euch ist mein Bruder tot. Nicht einmal alles Gefasel auf der ganzen Welt zusammengenommen kann das aufwiegen. Versuch es also erst gar nicht, mich mit irgendwelchen Predigten zu überzeugen. Das hat lange genug bei anderen funktioniert. Jetzt aber nicht mehr. Die Weltherrschaft der Laberköppe endet genau hier.“
    Marcus hatte kaum Kontrolle über das, was er sagte. Ihm war es, als konnte er nur einen Rahmen dafür vorgeben, in welche Richtung sein Gesagtes gehen sollte. Die Anspannung, der Drang, erst dem Mann an die Gurgel zu gehen und dann die Frau neben ihm wegzuzerren, belegten so große Teile seines Denkapparates und schufen einen so engen Tunnel, dass dort kaum noch Platz war für andere Dinge.
    „Nun, wenn du dir da so sicher bist, dann soll es eben so sein“, hallte die Männerstimme von vorne, die auf einmal aber viel tiefer und fester klang als vorher. Marcus glaubte zuerst, Daron spräche aus einer Art trancehaftem Zauber heraus oder hätte anderweitig seine Stimme verändert, doch tatsächlich hatte gar nicht er, sondern ein anderer Mann gesprochen, der sich nun als Schatten von der gegenüberliegenden Wand ganz am Ende des Raumes löste. Als er ins Licht der vielen kleinen magischen Fackeln hinter den Altar trat, erkannte Marcus ihn sofort wieder.
    „Wenn dir die Worte des Primas nicht gefallen, dann bist du mit mir wohl besser bedient“, sagte Richter Monsignore Huff und faltete seine Hände zu einer gütlichen Geste, die so gar nicht zu dem aggressiven, zähnefletschenden Ausdruck passte, den er in seinem Gesicht trug.
    „Monsignore Huff, wenn Ihr wollt, dann kann ich Euch unterstützen“, bot Daron mit einer angedeuteten Verbeugung an, was Marcus ein wenig erstaunte, denn auch wenn er von Titeln und Rangfolgen unter Geistlichen nicht viel wusste, so hatte er den Primas Daron in der inneren Hierarchie doch weit über dem Mann, der sich Monsignore schimpfte, eingeschätzt. Letzten Endes war es ihm aber auch egal, vielleicht waren die inneren Wirren unter den Männern, die sich zu den Führern dieser Stadt aufgeschwungen hatten, nur ein Zeichen ihrer Schwäche. Dann war es umso besser.
    „Eure Unterstützung wird woanders gebraucht, Primas Daron“, entgegnete der Monsignore mit gespielter Freundlichkeit. „Wir haben darüber gesprochen. Ein paar trotzige Bürger nehmen Sturm auf das Rathaus. Der Pater wird froh sein, Euch an seiner Seite zu wissen.“
    „Dann soll es so sein“, sagte Daron, ohne sich auch nur einen Augenblick von Marcus abzuwenden. „Schade, dass es so enden muss“, sagte er dann direkt an ihn gerichtet. „Betrachte dein Schicksal damit als besiegelt. Aber wisse, dass Innos trotzdem einen Platz für dich an seiner Seite haben wird. Die Frage ist nur, wann und wo dieser Platz sein wird.“
    Daron faltete seine dürren Arme und steckte sie in die Ärmel seiner Robe, warf erst Marcus und dann Katharina einen letzten Blick zu und stolzierte dann an Monsignore Huff vorbei zu der Wand, von der sich dieser einige Augenblicke zuvor gelöst hatte. Als Daron dann wie durch einen Zauber verschwand, erkannte Marcus, dass im Schatten dieses Raumes ein Treppenaufgang lag. Er hörte die langsamen Schritte des ältlichen Priesters, wie er die Stufen erklomm. Nachdem die Geräusche verhallt waren, wandte er sich dem Monsignore zu, der nun einmal um den Altar herumging und sich neben Katharina postierte, welche die ganze Zeit über keinerlei Regung gezeigt hatte.
    „Wir hatten ja nun schon das Vergnügen“, begann der Geistliche, mit sehr ruhiger Stimme und ohne die predigthaften Anklänge, die Daron in seine Worte gelegt hatte. „Du weißt also, zu was ich imstande bin, und dieses Mal werde ich nicht zögern, es auch zu Ende zu bringen. Du hast schon gesagt, dass du auf keine Angebote von uns eingehen willst, und ich will diese Entscheidung auch akzeptieren – du bist schließlich derjenige, der darunter leiden wird. Unsere Regeln verlangen aber, dass ich dich vor der Vollstreckung noch ein weiteres Mal frage: Willst du dein Leben in den Dienst Innos’ stellen und dich von seiner heiligen Flamme reinigen lassen, auf dass du ein Werkzeug seines göttlichen Plans wirst?“
    „Nein.“
    „Nun gut. Dann ist es also entschieden.“
    Marcus hatte seinen Griff um das Schwert bis zur Schmerzgrenze intensiviert, hatte er doch erwartet, dass Monsignore Huff nach seiner Antwort sofort zum Angriff übergehen und ihn in einem Regen aus Feuer untergehen lassen wollte, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen ging er auf Katharina zu und fasste ihr an die Schultern.
    „Schwester Katharina. Es ist nun Zeit, das Gelernte anzuwenden. Bitte kümmere dich um ihn.“
    Richter Monsignore Huff blieb vor dem Altar stehen und beobachtete, wie Katharina in ihrer goldenen Maske und dem mechanischen Gang langsam auf Marcus zu schritt, dabei aber stetig schneller wurde und so den ohnehin schon geringen Abstand zu ihm immer rascher verringerte.
    „Katharina!“, rief Marcus, schlicht, weil ihm nichts Besseres einfiel. „Katharina, hörst du mich?“
    Selbst wenn sie gehört hatte, sie reagierte nicht auf seine Rufe, sondern marschierte weiter auf Marcus zu. Der war hin und her gerissen zwischen dem Drang, sein Schwert in Stellung zu bringen und dem tiefen Wunsch, nicht gegen Katharina kämpfen zu müssen – was immer sie, oder besser gesagt der Monsignore, auch vorhatte. Als Katharina auf drei bis vier Schrittlängen an ihn heran gekommen war und eine Hand vor sich ausstreckte wie eine Schlafwandlerin, machte Marcus ein paar Schritte zurück und versuchte es noch einmal.
    „Katharina! Ich bin es! Marcus! Was tust du?“
    Als Katharina dann noch ein paar Schritte nach vorne machte und dabei plötzlich blitzschnell wurde, konnte Marcus nicht anders, als sein Schwert zu erheben – doch es war bereits zu spät. Die nach vorne ausgestreckte Hand Katharinas hatte sich blitzschnell um Marcus’ Hals gelegt und drückte zu. Marcus blieb unmittelbar darauf die Luft weg, doch noch schlimmer als die Finger Katharinas, die sich in sein Fleisch gruben, war die unfassbare Hitze, die von ihren Handflächen ausging. Es war diese ganz spezielle Art von Hitze, die er nun bereits zu Genüge von magischem Feuer kannte, und wie er reflexartig die Augen schloss, sah er Katharinas Silhouette vor sich als weiß gleißenden Schemen voller Magie.
    Der Schmerz schoss so stark durch seinen Körper, dass er sein Schwert fallen ließ, doch das gab ihm die Gelegenheit, mit der nun freien Hand seinerseits Katharina anzugreifen – mit der Folge, dass er sich an ihrer Schulter verbrannte, schon als er sie nur kurz berührte. Dieser Moment war es, in dem Marcus alle Hoffnung, all diesen entschlossenen Grimm, den er in der vergangenen Stunde in sich aufgesogen hatte, schon wieder fahren lassen wollte. Katharina war von Sinnen, kontrolliert von diesem Geistlichen, voller Magie und ihm überlegen, hatte ihn im Würgegriff und verschwendete offenbar keinen Gedanken daran, noch weiter zu zögern oder ihren Angriff gar abzubrechen. Marcus konnte nur vermuten, wie Katharina hinter dieser starren, goldenen Maske mit dem Gesicht einer Frau aussah, was sie dachte, was in ihr vorgehen mochte. Die Lippen des platten Goldgesichts senkten sich weiter auf ihn herab, während Katharina immer fester zudrückte, bis Marcus das Gefühl hatte, das Weiße in seinen Augen nicht nur nach außen kehren zu müssen, sondern sogar, einmal umgeschlagen, wieder in ihm drin zu sehen. Zwischendrin tauchte immer wieder diese Maske vor seinem Sichtfeld auf, und schließlich kam Marcus ein verzweifelter Gedanke, der weniger eine Idee, als ein bloßer unkontrollierter Nervenblitz aus seiner Panik heraus war, und im nächsten Moment griff er mit seiner Hand an die Maske Katharinas, berührte das Gold, welches von außen so kalt aussah, bei Berührung aber noch mehr vor Hitze flirrte als alles andere, und doch ließ Marcus nicht los, packte immer kräftiger zu, versuchte, ihr die Maske vom Gesicht zu reißen, dieses starre Horrorgesicht, und gerade als er glaubte, genug Kraft aufwenden zu können, nahm Katharina nun ihre andere Hand und griff ihm schmerzhaft an den linken Arm und dann hinauf bis zu seiner Hand.
    Nicht auch noch die andere Hand, nicht auch noch die andere Hand, dachte Marcus panisch, seine Zähne knirschten vor Druck und Schmerz, und dann geschah in seinem Körper etwas, das er offenbar selbst in Gang gesetzt hatte, dabei aber gar nicht steuern konnte. Es war ein Gefühl, als gingen in seinem Körper Schleusen und Ventile auf, die den Hitzestrom, der durch seinen Hals und vor allem durch seine linke Hand eintrat, umleiteten, weiterleiteten, bis hin zu seinem rechten Arm, der nun immer heißer wurde und dabei sämtliche Magie aufsog. Marcus spürte, wie all die flammende Energie, die Katharina in ihn hineingab, ab jetzt ihren Weg zielsicher in seinen rechten Arm, in den magisch versehrten Stumpf suchte, bis dieser brannte, ja, tatsächlich brannte und in tanzenden Flammen aufging. Genau dieser Moment war es aber, der Marcus in seinem linken Arm und seiner linken Hand ungeahnte Kraft verschaffte, die er ein letztes Mal voller Verzweiflung bündelte, er entwickelte einen gewaltigen Zug – und fiel dann mit einem Mal hintenüber.
    Es schepperte. Einmal, zweimal, dreimal. Dann war Stille. Und als Marcus die Augen wieder öffnete, die er unmerklich geschlossen hatte, sah er die goldene Maske unweit von sich auf dem Boden liegen. Sein zweiter Blick galt Katharina – ihr Gesicht noch erkennbar menschlich und von Bruchstücken vertrauter Züge verziert, insgesamt dabei aber nur ein verbranntes Etwas, welches ihr früheres Aussehen wirklich nur noch in Ansätzen erkennen ließ. Doch das alles war jetzt nicht wichtig, wichtig war die veränderte Körperhaltung Katharinas, der Wandel von der statuenhaften Starre hinweg zu einer Geschmeidigkeit, die Marcus von früher aus ihren Bewegungen kannte. Es brauchte nicht einmal ihre Worte, um Marcus zu verraten, dass sie wieder sie selbst war.
    „Marcus, dein Arm!“, rief sie, und erst jetzt fiel Marcus’ Blick auf seinen rechten Arm. Die Flammen, die ihn umzüngelt hatten, waren am Erlöschen, doch mit ihm erlosch auch sein so schmerzhaft brennendes Fleisch, und vor seinen Augen spielte sich genau das ab, was er auch schon bei seiner Hand mit hatte ansehen müssen: Teile des Armes bis hin zur Schulter wurden zu Asche, die anderen Teile verschwanden gleich ganz, wurden heiße Luft. Immerhin nicht auch noch die andere Hand, dachte Marcus reflexartig durch das Geflecht aus Schmerzen hindurch und vergewisserte sich, dass seine linke Hand tatsächlich noch da war. Sie war es. Versengt zwar, aber nicht verloren.
    Er wusste nicht, wie er dafür noch die Kraft aufbringen konnte, aber er stand auf und nickte Katharina zu, unfähig, passende Worte zu finden. Aber das Nicken und ihre Blicke genügten, um sich zu verstehen.
    „Zwei gegen einen“, hauchte Marcus entkräftet. Er war sich nicht einmal sicher, ob die Worte beim Monsignore überhaupt ankamen. „Ich habe zwar keine solchen Regeln… aber jetzt biete ich dir auch noch einmal an, dich zu ergeben. Deine letzte Chance.“
    Die Antwort war ein gellender Schrei, und einen Moment später war der Raum zum Bersten gefüllt mit pulsierender Hitze. Marcus fühlte sich an die Situation in seinem – ehemaligen – Haus erinnert, erkannte aber, dass der Monsignore dort nur einen Bruchteil dessen bewirkt hatte, zu dem er offenbar potentiell fähig war. Jetzt standen seine Haare wirr ab, seine Augen glühten und sein Gewand flatterte, während er mit den Armen und Händen gebetsartige Gesten vollführte, die jedoch keinen Segen, sondern einen magischen Feuerball hervorbrachten. Ehe Marcus sich versah, lag er am Boden – seine Beine waren schneller gewesen als sein Hirn und hatten ihn unter dem heranfliegenden Feuergeschoss hinwegtauchen lassen.
    Noch während Marcus sich aufrappelte, hatte Katharina bereits gehandelt und ähnliche Gesten wie der Priester vollführt, und tatsächlich hatte auch sie damit einen Feuerball erschaffen, den sie nun drohend zwischen ihren Handflächen vor sich her wirbelte. Als Marcus wieder stand, kam er nicht umhin, einen weiteren Blick in Katharinas vom Feuer erleuchtetes Gesicht zu werfen. Die Haut weiß, rot, grau und schwarz, ihr Haarschopf nur noch einige herabhängende Strähnen und Büschel, das Gesicht zu einem großen Teil entstellt, die Nase ein Knubbel, der mehr Loch als Fleisch war. Und doch, es war unverkennbar Katharina, die nun Monsignore Huff ins Visier nahm und agierte, als sei ihre seltsame Trance hinter der goldenen Maske nur ein kurzes, kräftigendes Nickerchen gewesen. Wenn Marcus blinzelte, sah er vor seinen geschlossenen Augen die Umrisse Katharinas weiß aufblitzen – der Monsignore aber blieb dagegen seltsamerweise dunkel.
    „An deiner Stelle“, setzte Katharina an, musste dann aber kurz Luft holen. Nun hörte man doch, dass ihr das Sprechen noch etwas schwer fiel, dass die vergangenen Stunden Spuren an ihr hinterlassen hatten, die sich nicht nur in Verbrennungen und der Gabe der Magie äußerten. „An deiner Stelle würde ich jetzt aufgeben, Huff.“
    Der Priester antwortete nicht, sein Gesicht war wutverzerrt, zu angespannt zum Reden. Er wirbelte um den Altar herum und bereitete direkt seinen nächsten Zauber vor, einen Feuerball dunklerer Farbe, vielmehr einen Feuerring, den er auf seiner Handfläche gleiten ließ. Marcus war von der Situation überfordert, suchte sein Schwert, bis er es in seiner eigenen verbrannten Hand fand, schmerzhaft umklammert, aber in dieser magischen Schlacht so deplatziert. Ihm fielen Witze von Dorftrotteln ein, die mit einem Messer zu einer Schießerei unter Einsatz von Bögen und Armbrüsten erschienen. Ähnlich fühlte er sich hier mit seinem Stück Metall, das von den magischen Flammen wahrscheinlich im Nu aufgezehrt werden würde.
    Als der Feuerring die Hände des Monsignores verließ und wenige Augenblicke später plötzlich in alle Richtungen zerstieb, wurde der ganze Raum in rotes Licht getränkt, und Katharina schrie, zog Marcus wieder zu Boden, der sich doch gerade erst wieder aufgerappelt hatte. Ein kleinerer Feuerregen ging nieder, dessen größter Teil offenbar wirkungslos verpuffte, dessen unscheinbarere Bestandteile aber auf Marcus’ Körper niederregneten und ihm lokal begrenzte, aber schmerzhafte Brandwunden zufügten. Einzig Katharina schien von dem magischem Feuer mehr oder minder unbeeindruckt zu sein und stand schon wieder auf den Beinen. Erst jetzt bemerkte Marcus, was sie tat: Sie sog die Magie in sich auf. Vor Marcus’ geschlossenen Augen war seine Freundin nun bald nichts mehr als ein wabernder, rotweißer Energieball.
    „Das wird zu viel!“, rief Marcus nun über das in Wahrheit nicht vorhandende Brüllen des bereits verloschenen Feuers hinweg. „Die ganze magische Energie wird dich noch umbringen!“
    Marcus war kein Experte in der Magie, hatte sie bis vor einiger Zeit – zumindest in diesem Ausmaße – noch für Märchengeschichten oder längst ausgestorbene Phänomene gehalten. Aber seit er mit der Feuermagie – buchstäblich – in Kontakt gekommen war, trug er dieses Gefühl, dieses ureigene Verständnis davon mit sich. Und genau das trieb ihn zu der Einschätzung, dass es nicht gut sein konnte, dass Katharina mit ihrem ohnehin schon voll mit Magie erfüllten Leib noch weitere Energie dieser Art in sich aufnahm. Das konnte kein Körper lange aushalten. Selbst Marcus’ Arm hatte sich irgendwann angefühlt, als müsste er jeden Moment platzen – und genau dieser Arm war nun fort.
    Katharina jedoch schien die Worte nicht zu hören, nicht hören zu wollen oder Marcus’ Ansicht nicht zu teilen. Was auch immer es war, sie jedenfalls schien keine Bedenken dabei zu haben, dem Monsignore offen gegenüberzutreten und dessen abklingende Zauber, so gut es ging, zu absorbieren. Tatsächlich schien Katharina, wohl bedingt durch ihr vorangegangenes, vollkommenes Bad in magischen Flammen, einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Monsignore zu haben: Während sie, im Dunkeln weiß glühend und pulsierend, einen Großteil der verpuffenden Feuermagie des Monsignores in sich aufnehmen konnte, hatte dieser keine Möglichkeit, sich derartig vor den Auswirkungen etwaiger flammenhafter Querschläger zu schützen. Auch der Monsignore trug die Magie in sich, doch die Flamme hatte ihn ganz offenbar nicht so berührt, wie sie Katharina – oder auch Marcus selbst – berührt hatte. Während sich Katharina also höchstens darum sorgen musste, dass die magische Energie ihren Leib nicht irgendwann aufzehrte oder die Zauber sie zu direkt trafen, musste der Monsignore selbst den allerkleinsten Funken fürchten, der auf ihn niederfuhr. Dementsprechend hektisch war seine Ausweichbewegung, als Katharina gleich zwei kleinere Feuerbälle in seine Richtung schleuderte, von denen der zweite den Saum seiner Robe ansengte. Als der Monsignore dieses beginnende Feuer heftig und äußerst unelegant ausgetreten hatte und er dann wieder zu seinen Kontrahenten aufschaute, sah Marcus etwas, was ihn endgültig aus seiner Ehrfurcht vor diesem magischen Duell herausriss: Angst. Marcus sah Angst. Neben dem Zorn, der Wut, der Arroganz, die in das Gesicht des Monsignores eingefressen waren, sah Marcus in diesem Moment auch Angst, Furcht vor dem, was er und die anderen Geistlichen, was diese vermaledeiten Pfaffen mit Katharina geschaffen hatten. In diesem Augenblick verstand Marcus, was Katharina bereits angedeutet hatte: Sie war dem Monsignore über. Zumindest, wenn er, Marcus, ihr dabei half.
    Für lange Absprachen war keine Zeit, und so lief Marcus einfach drauf los, frontal auf den Monsignore zu, verstärkte den Griff um sein Schwert noch. Er hoffte, dass alles in etwa so ausgehen würde, wie er sich das vorstellte, und dass Katharina damit irgendwie umgehen würde. Tatsächlich ging der erste Teil seines Plans auf: Noch bevor er die Hälfte der Wegstrecke zum Monsignore vor dem Altar, inmitten dieses auf dem Boden aufgemalten Kreiszeichens, zurückgelegt hatte, hatte der Monsignore einen voluminösen, schwelenden Feuerball in seinen Händen erschaffen, den er Marcus sogleich entgegenschleuderte. Dieser aber hatte genau damit gerechnet, warf sich kurz vor dem flammenden Geschoss auf den Boden und rollte sich ab, nur um direkt im nächsten Moment wieder aufzustehen, was ihm mit nur einem Arm mehr schlecht als recht, aber immerhin überhaupt gelang. Der Feuerball war nun hinter ihm in rasender Geschwindigkeit auf dem Weg zu Katharina, während er selbst nun, direkt vor dem Monsignore wieder aufgetaucht, diesem nicht nur die Sicht, sondern endgültig die Fassung raubte. Marcus’ erster Schwertschlag ging daneben, weil der Geistliche sich – für sein geschätztes Alter erstaunlich gewandt – zur Seite wegrollte und nun rücklings auf dem Altar lag. Auch Marcus’ zweiter Schwertschlag ging daneben, weniger wegen der weiteren Ausweichbewegung des Monsignores, sondern wegen seiner Ungeschicktheit beim linkshändigen Führen der Waffe, die ihm zu allem Unglück beim Fehlschlag auch noch entglitt. Dafür aber hatte Marcus seine Hand nun frei, was ihm ermöglichte, den sich wieder aufrappelnden Monsignore an der Kehle zu packen.
    „Katharina, jetzt!“, rief Marcus, ohne genau zu wissen, was seine Mitstreiterin nun am besten tun sollte. Er legte für einen Moment all seine Kraft in seinen Griff, seine Finger gruben sich in die lederige, raue Haut am Halse des Monsignores ein. Als er es einen halben Wimpernschlag später hinter sich heiß werden spürte, ließ er sich – ohne Rücksicht auf Verluste – mit dem Gesicht voran nach unten fallen, sodass er Altar und Monsignore zu Füßen lag – und dann gab es eine derartige Feuerexplosion, dass ihm buchstäblich Hören und Sehen vergingen. Das Sehen verging ihm dabei vor allem deshalb, weil der magische Sturm, den der Aufprall des Feuergeschosses auf – hoffentlich – den Monsignore einen derartigen Druck, gleichzeitig aber auch Sog entfachte, dass es die Fackeln an den Wänden ringsum für einen Moment erstickte. Erst nach einer ganzen Weile, nachdem das letzte Echo des Knalls verhallt war, lebten vereinzelt die Feuer in den Fackeln wieder auf, wobei gut und gerne die Hälfte davon jedoch erloschen blieb. Marcus spürte, dass Teile des Feuergeschosses aus Katharinas Händen, das wirklich gewaltig gewesen sein musste, seine Haut verbrannt hatten, überall, am Kopf, am Rücken und am Nacken, selbst am Bauch, an den Armen und Beinen. Doch der Schmerz war ihm wie der Beweis, dass er noch lebte, und deshalb nahm er ihn zufrieden mit. Mit pochendem Herzen und starrem Gesicht erhob er sich und wandte sich zuerst um, dorthin, wo er Katharina vermutete. Und tatsächlich: Sie stand dort, schwer atmend, entkräftet, die ausgedünnten Haarsträhnen wirr über ihr nasses Gesicht verteilt, und obwohl dieses Gesicht längst nicht mehr dasjenige in der Mittagssonne am Hafenlager war, verspürte Marcus wieder diesen Drang, ihr die Strähnen zur Seite zu wischen.
    „Huff“, rief Katharina zu ihm rüber und verschluckte sich beim Atmen. „Ist er…?“
    Marcus drehte sich nun wieder zum Altar, und was er dort sah, hätte man sich als Zeichnung für ein Mahnbuch über verbotene Totenbeschwörung nicht besser ausdenken können. Auf der Steinplatte waren Knochen verstreut, braune Knochen, die aussahen, als hätten sie schon seit Urzeiten hier gelegen, die dabei aber ganz eindeutig dem Monsignore zuzuordnen waren – oder dem, was einmal der Monsignore gewesen war. Das Grinsen des Totenschädels war halbiert, ein Großteil des Brustkorbs pulverisiert, Reste seines Talars zierten die anderen quer liegenden Knochen, und noch immer ging eine große Hitze von den Überresten aus. Der Monsignore war auf seinem eigenen Altar geopfert worden. Marcus erschrak bei den Anflügen der Befriedigung, die er bei diesem Anblick empfand. „Der hat’s hinter sich“, sagte er dann.
    Katharina war nun zu ihm gekommen und besah sich das Ergebnis auf dem Altar mit eigenen Augen. Ihre Reaktion war lediglich ein knappes Nicken. Marcus konnte sich nur vorstellen, was gerade in ihr vorging, wo sie der Monsignore – zusammen mit dem, der sich Primas Daron nannte – doch auf welche Art auch immer hinter dieser Maske geknechtet hatte.
    „Katharina“, sagte Marcus dann nach einer Weile. „Du lebst. Wir waren alle… ich hoffe, es geht dir gut.“
    „Den Umständen entsprechend“, sagte Katharina, und dieser schnippische Unterton, den sie so unpassend in diese Situation einbrachte, rang Marcus ein verstecktes Lächeln ab. Hatte er vorher noch daran gezweifelt, ob Katharina nach ihrem Erwachen aus der Trance, überhaupt nach dem Unglück in der Feuerfalle, noch die selbe war, so hatte er nun die Bestätigung erhalten, dass all die schlimmen Ereignisse sie nicht verändert hatten – innerlich nicht.
    Ein leiser, in der sie umgebenden Stille aber umso wirkungsvollerer Knall und ein anschließendes Knistern ließen Marcus und Katharina zusammenzucken. Ihre Blicke richteten sich direkt wieder zum Altar. Hinter dem steinernen Aufbau konnten sie eine Person erkennen. Für einen Augenblick dachte Marcus, Richter Monsignore Huff sei wieder auferstanden. Doch als die Gestalt ins Licht trat, sah er seine Befürchtung nicht bestätigt – und war trotzdem alles andere als beruhigt.
    Vor ihnen stand ein alter Mann, der ganz offensichtlich zu Primas Daron und Monsignore Huff gehörte, denn auch er trug eine lange Robe, die ihm ein priesterliches Aussehen verlieh. Im Unterschied zu den eher schwarz geprägten Talaren der beiden anderen Geistlichen, die Marcus und Katharina bereits kennengelernt hatten, war die Robe dieses Mannes jedoch deutlich von der Farbe Rot geprägt und von einer Länge, dass der Saum fast als kleine Schleppe hätte durchgehen können. Auf dem Kopf trug der Mann nur noch wenige graue Haare, die Stirn war hoch und seine Haut schien von einem schwachen roten Leuchten umgeben zu sein. Seine Augenhöhlen waren tief, verliehen seinem Gesicht eine Ausgezehrtheit, die eines Toten würdig war, und trotzdem wirkten seine Augen wie weit hervorgetreten. Am auffälligsten war aber seine Halsschlagader, die sich so deutlich abzeichnete, dass sie wie ein angeklebtes, fleischiges Rohr aussah – ein pulsierendes fleischiges Rohr.
    „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“, erhob der rot gewandete Mann nun seine Stimme, die eine ganz neue Art von Kälte in diesen Raum brachte. „Aber beeindruckt bin ich nicht. Ein edler Recke und seine holde Dame. Es sind doch immer die gleichen Pärchen, die lästig werden.“
    Marcus wollte instinktiv nach seinem Schwert greifen – und musste sich daran erinnern, dass er es zuvor ja irgendwo in der Nähe des Altars verloren hatte. Der spöttische Blick des Fremden verriet, dass er Marcus’ subtil suchende Bewegungen eingefangen haben musste.
    „Ich werde mich nicht auf lange Diskussionen einlassen“, sagte der Geistliche. Er stand ganz starr dort, keine großen Gesten, keine zur Predigt gehobenen Arme. Nicht einmal sein Mund schien sich groß beim Reden zu bewegen. Lediglich die deutlich hervortretende Schlagader an seinem Hals pulsierte immer deutlicher, heftiger. Sie wirkte wie der einzig lebendige Teil an einem längst vergangenen Körper.
    „Wir auch nicht“, erwiderte Marcus, und fing sich daraufhin einen strengen, beinahe lehrerhaften Blick des Priesters ein, der zudem wirkte, als hätte ihn der Geistliche erst jetzt so richtig wahrgenommen.
    „Das solltet ihr auch nicht“, antwortete der Priester mit knappen Worten. „Denn wer so viel Schuld auf sich geladen hat, der sollte besser schweigen.“
    „Schuld auf sich geladen?“, durchschnitt nun Katharinas Stimme die gefrierende Luft im Raum. „Ihr seid es doch, die Schuld auf sich geladen haben! Ihr allesamt! Ihr seid es, die diese Stadt ins Chaos stürzt! Wegen euch sind mehrere Menschen gestorben! Und wer weiß, was noch alles passiert, wenn wir euch nicht stoppen! Wie kannst du da von irgendeiner Schuld reden? Du bist Schuld! Ihr seid Schuld! An allem! Eure kirchlichen Lehren von Schuld und Sühne sind dagegen nur fantastisches Geschwafel. Aber ja, darin seid ihr gut, anderen irgendwelche Schuld für irgendetwas zuweisen. Und selber überall die Finger drin haben. Dein Kollege liegt verbrannt dort auf dem Altar vor dir. Und wenn du nicht aufpasst, gesellst du dich gleich dazu.“
    Der Fremde lächelte nur entrückt, zupfte sich die Robe zurecht und wischte sich über den Stoff am Schulterbereich, als wollte er die Worte Katharinas wie kalten Staub von sich weg fegen. Erst nach einer Weile setzte er zu einer Erwiderung an. Seine Stimme trug das unruhige Brodeln eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch in sich.
    „Glaubt nicht, dass ich die Ereignisse der vergangenen Tage nicht beobachtet hätte. Ich bin ein einfacher Pater im Dienste Innos, doch Innos selbst verlieh mir die Gabe, viele Dinge zu sehen, die dem einfachen Menschen verschlossen bleiben. Ich weiß, denn ich habe gesehen, wo eure Verantwortung in dem ganzen Geschehen liegt, zu dessen Opfer ihr euch stilisieren wollt. Doch ihr seid nicht die Opfer. Ihr seid die Täter. Denn ihr habt euch gegen die von Innos vorgegebene Ordnung aufgelehnt. Ihr habt Unrecht getan. So wie sich rotes Wachs über ein gefälschtes Schandpapier ergoss, so ergoss sich später auch rotes Blut. Man kann all diese Handlungen und all diese Ereignisse nicht voneinander trennen, denn sie stehen in einer Kette von Zusammenhängen, einer langen Reihe von Ursache und Wirkung. Sie alle sind durch eure Hand geschehen. Ihr tragt die Verantwortung für die Tode eurer Mitmenschen. Und deshalb seid ihr es, die ihr dafür büßen müsst!“
    Nun riss der Pater doch noch die Arme hoch, das rote Glühen auf seiner Haut wurde zu einem weißen Gleißen, Marcus spürte, wie das Feuer aus nahezu allen Poren des Mannes austrat – und im nächsten Moment, mit einem Aufschrei des Paters, war schon wieder alles vorbei. Ein metallener Gegenstand steckte im Bein des Geistlichen, rotes Blut quoll auf roten Stoff.
    „Marcus, ist alles in Ordnung?“
    Marcus wagte es, seinen Blick vom Pater abzuwenden und nach hinten zu schauen, wo die vertraute Stimme hergekommen war, und tatsächlich: Dort stand Alfred, sein Vater, aufrecht wie eh und je. Als er einige Schritte auf Marcus und Katharina zu machte, bemerkte Marcus, dass er seine Beine eher schleppend nachzog. Trotzdem strahlte er eine Menge Kraft aus. Sein Gesicht jedoch zeigte vor allem noch Sorge.
    „Katharina“, sagte er, als er die junge Frau neben Marcus wiedererkannte. „Du bist wieder…?“
    Katharina nickte nur. Sie war überrascht, Alfred zu sehen, das sah man ihr an. Ebenso glaubte Marcus, in ihrem Gesicht Anteile von Scham zu sehen. Scham darüber, was sie, noch gefangen hinter der goldenen Maske, getan hatte, um Alfred einzusperren.
    Der Pater vorne am Altar zischte nun, wie eine Schlange, den metallenen Gegenstand aus seinem Bein herausgezogen und in der Hand. Es war ein Beil, nicht besonders groß, kurz, von seiner Beschaffenheit wohl auch nicht zum Werfen gedacht. Marcus war beeindruckt, dass sein Vater trotzdem so zielsicher getroffen hatte. Gleichzeitig drängte sich ihm die Frage auf, ob sein Vater das wohl im Krieg gelernt hatte, und mit wie vielen solcher Würfe er so manchem Menschen ganz andere Dinge angetan hatte. Glück im Unglück war, dass Marcus in dieser Situation gar keine Zeit hatte, genauer darüber nachzudenken.
    „Soso“, sagte der Pater mit grollender Stimme und pulsierender Halsschlagader. „Ihr glaubt also, ihr bemitleidenswertes Trio könntet euch selbst retten, indem ihr mich angreift, was? Zwei Kinder und ein Greis. Wenn das alles ist, was euer kleiner Widerstand zu bieten hat, dann muss ich euch leider sagen… das ist zu wenig.“
    „Das lässt sich ändern“, hallte daraufhin ein Knurren von der gegenüberliegenden Wand am Ende des Raumes herüber. „Hier unten sind sie, mir nach!“
    Kurz darauf erfüllten metallisches Gerassel und Schrittgeräusche das Gewölbe, und vom Treppenaufgang her traten mehrere Männer in den Raum, in Reih’ und Glied, angeführt von einem Mann, den Marcus schon längst an der Stimme erkannt hatte.
    „Was schaut ihr alle so?“, rief der alte Lagermeister amüsiert und strich sich zufrieden über sein Kriegswams. „Habt ihr nicht mehr mit uns gerechnet, oder was ist los? Ihr schaut ja drein wie der Primas, als wir ihn erwischt haben. Und dem geht’s jetzt wesentlich schlechter als euch. Egal, wie mies es euch gerade geht. Glaubt mir.“
    Unmittelbar hinter dem alten Marcus kamen nun zwei weitere Gestalten zum Vorschein, die sich von den anderen Männern – an die zwei Dutzend Bewaffnete, in Milizenkleidung uniformiert – deutlich abhoben. Zum einen war dort ein großgewachsener, breiter Kerl. Der junge Marcus hatte keine Mühe, ihn als Jordir wiederzuerkennen. Zum anderen war dort ein Mann, der auch Milizenkleidung trug, dabei aber deutlich schwerer gerüstet und auch älter wirkte als die anderen Milizionäre. Ein voller, brauner Bart zierte sein Gesicht, kleine, aber wache Augen schauten unterhalb seiner buschigen Brauen hervor. Das musste Hauptmann Garetzik sein. „Haltet eure Schwerter bereit, Männer!“, rief er in einem lauten Bariton, und die Angesprochenen gehorchten aufs Wort. Schleifende Metallgeräusche hallten von den Wänden wider. Eine Sekunde später waren etliche Schwerter auf den Pater gerichtet. Und der, die tiefe Fleischwunde in seinem Bein immer noch Blut durch den Talarstoff spuckend, schüttelte nur traurig, fast mitleidig, den Kopf.
    „Es gab eine Zeit“, begann er, „da wurden Geistliche wie ich verehrt als die Beispiele Innos’ auf Erden, als ein helles Licht, das die Menschheit führen möge.“
    Der Pater senkte kurz den Kopf, schien schwer zu schlucken. Der junge Marcus starrte gebannt auf diese pulsierende Halsschlagader, deren Gezucke mehr und mehr abstarb. Als der Priester den Kopf wieder hob, glühten seine Augen, wie sie einst beim Monsignore geglüht hatten. Und vielleicht auch bei Primas Daron, kurz bevor er den Schwertern dieses Miliz-Bataillons zum Opfer gefallen war.
    „Aber diese Zeit scheint vorbei zu sein. Und das nach allem, was die Kirche Innos’ für diese Insel, für das Land, ja für das ganze Reich getan hat. Wie oft haben die Lehren Innos’ die Menschheit gerettet, und wie wenig Dankbarkeit haben seine Jünger dafür erfahren? Wir, die Jünger Innos’, wir haben Frieden über dieses Land gebracht. Und wir, die Jünger Innos’, wollten dafür sorgen, dass dieser Frieden auch Bestand hat. Aber die Menschen sind das Problem. Ihr seid das Problem. Ihr könnt den Frieden nicht ertragen. Seht euch nur an! Was für eine Sünde habe ich gegenüber euch begangen, dass ihr mir nach dem Leben trachtet?“
    „Für so ein Gerede haben wir keine Zeit“, rief der alte Marcus dazwischen. „Ergebt Euch, werter Pater, oder Ihr gesellt Euch zu Euren anderen beiden Kollegen. Den Monsignore scheint’s ja auch erwischt zu haben, wenn ich mich hier so umgucke. Dann wäre das Triumvirat wieder komplett. Eigentlich ein netter Gedanke.“
    „Lasst Euch festnehmen, und Euch wird nichts geschehen“, fügte Hauptmann Garetzik mit ernster Miene hinzu. „Wenn Ihr jedoch Widerstand leisten solltet, werden meine Männer keine Gnade walten lassen.“
    Der Pater schüttelte den Kopf, sagte zunächst nichts, lachte leise in sich hinein. In diesem Moment kam er Marcus noch viel älter vor als ohnehin schon. Die Energie, die der Pater bei seiner Ankunft ausgestrahlt hatte, die so übergreifend und raumerfüllend gewesen war, hatte sich wieder in seinen Körper zurückgezogen. Nur seine Augen, die glühten noch immer.
    „Ihr solltet euch selber reden hören, alle zusammen. Genau diese Art von Mensch ist es, die uns immer und immer wieder den Krieg bringt. Die Art von Mensch, die Konflikte nicht besiegeln oder begraben, sondern nur einfrieren und im Stillen weiter hegen kann. Menschen, denen es nach Blut dürstet. Es ist bezeichnend, dass es gerade eine Gruppe von Kriegsveteranen ist, die mir den Garaus machen will, die nur darauf wartet, mich niederzustrecken. Und warum? Ich sehe dreiundzwanzig Gründe für meinen Tod in euren ausgestreckten Händen – doch wie viele sind in euren Köpfen? Was ist es, das die Menschen dazu treibt, sich beständig gegenseitig umzubringen? Welchen Grund haben sie?“
    „Der Grund“, ergriff Alfred nun das Wort, etwas heiser, doch er bemühte sich nicht, sich zu räuspern, „sind Leute wie du. Leute, welche die Herrschaft an sich reißen wollen, um andere zu unterjochen. Krieg entsteht nur, weil die Menschen sich dagegen wehren. Weil es ihr Recht ist.“
    „Nein“, wurde der Pater nun wieder lauter, besänftigte seine Stimme aber sogleich wieder. „Was du sagst, was ihr alle sagt, ist falsch, und ihr könnt die Falschheit eurer Worte und eures Denkens leicht erkennen, wenn ihr nur zurückverfolgt, wer Schuld an all dem Leid ist. Ihr seid es, die auf Blut aus seid, beständig, wiederholt, immer und immer wieder. Die Lehren Innos’ sind es dagegen, die den ewigen Frieden, eine gewaltlose Welt ohne die Sturzbäche aus Blut anstreben. Hätten sich alle, hättet ihr euch alle diesen Lehren gefügt, stünden wir nicht hier. Und eure Freunde, die ihr so betrauert, zurecht betrauert, würden noch leben. Das zeigt, dass euer Hunger nach Gewalt und euer Durst nach Blut nur durch die Herrschaft Innos’ gebändigt werden kann. Für nichts anderes habe ich, haben Primas Daron und Monsignore Huff, haben all die anderen, die im Dienste Innos’ stehen, gestritten. Aber eine Welt ohne Gewalt, ein Leben ohne beständiges Blutvergießen, das ist nichts für den kriegslüsternen Menschen.
    Und so steht auch ihr wieder hier und richtet eure Klingen auf meinen Leib.“
    „Werter Pater“, knurrte der Lagermeister dazwischen. „Kommt zum Schluss, oder ich beende eure kleine Rede vorzeitig.“
    Der Pater nickte, starr und ausdruckslos. „Gut“, sagte er dann. „Euer Verhalten ist mir Schluss genug, denn es bestätigt alles, was ich euch soeben gesagt habe. Ich kann nur für euch hoffen und beten, dass euch das Licht Innos’ eines Tages die Augen öffnet und dass ihr eure Fehler erkennen werdet. Noch ist es nicht zu spät. Beansprucht eure Herrschaft über diese Insel. Reitet sie wieder hinein in Kriegswehen und Blutvergießen. Brecht den Frieden auf, den wir Jünger Innos’ so sorgsam gepflegt haben. Reißt eure Stadt nieder mit eurer Blutgier. Ich werde wiederkommen, wir werden wiederkommen, um diese Stadt irgendwann wieder aufzubauen.“
    Der Pater riss die Arme hoch, Marcus tat selbiges, um sich vor einem etwaigen Angriff zu schützen – und dann umgab ein blaues Rauschen den Geistlichen, bis er einen Augenblick später verschwunden war.
    „Verdammt, nicht schon wieder!“, rief Jordir, noch während einige der Milizionäre nach vorne hechteten, um den Pater doch noch zu fassen zu bekommen – vergebens.
    „Eine feige Bande ist das“, knurrte der alte Marcus, sah sich noch ein wenig im Raum um, und zuckte dann mit den Schultern. „Ich habe es Euch ja gesagt, Garetzik. Windige Kerle sind das.“
    „Haltet euch trotzdem noch bereit, Männer“, bellte der Hauptmann unter seinem Bart hervor. „Man kann nie wissen, ob das nicht doch nur ein Trick ist!“
    Marcus warf einen Blick zu Katharina. Sie schien das Gleiche zu fühlen wie er: Die Magie des Paters, die eben noch so spürbar durch den Raum gewabert war, war nun verschwunden. Und Marcus glaubte nicht, dass sie so schnell zurückkehren würde. Es war vorbei.
    „Marcus, dein Arm!“, rief Alfred nun und eilte, so gut es auf seinen versehrten Beinen ging, zu seinem Sohn. „War das…“
    „Das war der Monsignore“, sagte Marcus und rieb sich mit der linken Hand über das, was von seinem rechten Arm übrig geblieben war und bereute dies sogleich, weil der Schmerz, der die letzten Minuten betäubt gewesen war, nun wieder aufflammte. Dafür, dass er jetzt die gesamte Gliedmaße verloren hatte, so dachte Marcus bitter, dafür tat es gar nicht mal so sehr weh. „Die Hand war ja eh schon futsch“, fügte er in seiner Bitterkeit noch hinzu. „Wie bist du aus der Zelle rausgekommen?“, fragte er dann.
    „Das war…“ Alfred stockte kurz, er schien sich sogar sammeln zu müssen. Auf seinem Gesicht war nun die Verwunderung abzulesen, die er die ganze Zeit gehabt haben musste, die aber bei den Ereignissen um Auftauchen und Verschwinden des Paters zwischenzeitlich komplett untergegangen war. „Ich dachte erst, du seist zurückgekehrt, aber du warst es nicht. Das war eine Gestalt, ganz in schwarz gehüllt, und eine Kapuze über den Kopf gezogen, tief ins Gesicht, sodass ich es nicht sehen konnte. Ich habe an der Stimme und den Bewegungen erkannt, dass es eine Frau war. Sie hat erst etwas gesagt, was ich nicht verstehen konnte, weil ich so überrascht über ihr Auftauchen war. Sie zog dann auf einmal ein grünes, schimmerndes Messer, so eines wie… es hatte diesen Dietrich am Griff, und mit dem hat sie das Schloss tatsächlich aufbekommen. Sie hat nicht mehr viel gesagt, aber das, was sie gesagt hat, ist mir umso mehr in Erinnerung geblieben. Sie sagte: ’Geh und hilf deinem Fleisch und Blut, wie ich es auch hätte tun müssen, aber nicht konnte.’ Dann hat sie aus ihrem Mantel, oder was auch immer sie trug, plötzlich diese Waffe hervorgeholt und mir in die Hand gedrückt. Sie wollte danach direkt loseilen, blieb dann aber doch noch einmal stehen. Das letzte, was sie dann sagte, war: ’Vorsichtig mit der Axt.’ Und dann war sie auch schon wieder weg. Ich habe so verdutzt das Beil in meiner Hand angestarrt, dass ich gar nicht gesehen habe, wohin sie verschwunden ist. Ich hätte gedacht, ich würde sie hier finden, aber ihr habt sie wohl nicht… Katharina!“
    Marcus hatte es schon vor dem Ruf seines Vaters gesehen und eilte nun gemeinsam mit ihm zu Katharina, die mit einem Mal in sich zusammengesackt war. Marcus fing die junge Frau auf. Sie war ganz heiß, aber bis auf ihre Bewusstlosigkeit schien ihr nichts passiert zu sein, denn nur wenige Atemzüge später erwachte sie auch schon wieder. Und wie sie dann von Marcus’ verbliebenen Arm getragen nach oben in sein Gesicht schaute, hatte sie brennende Tränen in den Augen und formte mit den Lippen ein Wort, das Marcus nicht hörte, aber trotzdem verstand.
    Geändert von John Irenicus (27.08.2016 um 09:37 Uhr)

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