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    Post [Story]Der Blutfluch

    Der Blutfluch

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    Geändert von MiMo (30.03.2017 um 15:48 Uhr) Grund: Aktuell 2016

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    Buch I - Der Fluch:

    Am frühen Abend...

    „Elena, ich bin wieder Zuhause!“, kündigte sich Thalis an, als er seine Hütte im Hafenviertel betrat.
    Es war keine schöne Hütte, sie hatte ihre besten Jahre bereits vor langer Zeit gesehen. Das Holz war zum großen Teil morsch und faulig, der frische Meereswind und das salzige Wasser hatten ihm stark zugesetzt. Thalis besserte größere Löcher immer wieder mit viel Spucke, Lehm und Stroh aus. Aber weder Holz noch Lehm konnten den fauligen Gestank des Fisches daran hindern, durch die kleinen Risse und großen Lücken in der Hüttenwand zu kriechen und sich in Thalis Nase fest zu setzen. Doch nach all den Jahren im Hafenviertel, hatte er sich bereits an die Feuchtigkeit und den Gestank gewöhnt.
    „Kein Grund so zu schreien, ich bin schließlich nur in der Abstellkammer“, erwiderte seine Frau, woraufhin sie kurz darauf hinten rechts im Raum aus einem mit Holz abgetrennten Bereich auftauchte. Elena hatte sich große Mühe gegeben der Hütte einen heimeligen Charakter zu geben. Kerzen standen auf dem veralteten, hölzernen Tisch; diese hatte sie aus mühevoll gesammelten Resten gegossen. Die Feuerstelle war mit gleichmäßig großen Steinen umrandet, ein großer Kessel hing über dem stets brennenden Feuer. Kleine Regale waren an der Hüttenaußenwand angebracht worden, sodass Elena Teller, Becher und Vorräte dort lagern konnte.Unweit des Feuers waren Decken auf Stroh ausgebreitet. Eine alte Truhe stand direkt am Kopfende, Elena bewahrte dort alle wichtigen Habseligkeiten auf, die sie und Thalis besaßen. In der Ecke war ein Kleiderschrank zusammen gezimmert worden.
    „Hast du alles bekommen?“, erkundigte sie sich über den Einkauf ihres Mannes, der diesen bereits auf dem Holztisch in der Mitte des Raumes auspackte, während sie sich den Staub aus ihrem schulterlangem blonden Haar rieb. Sie trug ihre Haare die meiste Zeit offen, sie mochte weder Hauben noch Bänder und achtete stets darauf ihre Haare sorgsam mit ihrer Pferdehaarbürste zu kämmen. Das braune Kleid pflegte Elena so gut es ging, neben einem leichteren Sommerkleid, und zwei dickeren Kleidern, war es das einzige was sie besaß.
    „Fenchel, Mehl und einen Beutel Leinsamen, wie aufgetragen“, antwortete er.
    „Außerdem hing am Schaukasten ein recht ungewöhnliches Pergament“, erzählte er nachdenklich weiter und fuhr sich mit den rauen Fingern über seine Bartstoppeln. Seine blonden Haare fielen ihm immer wieder in das Gesicht, es würde bald wieder Zeit werden, dass Elena sie schneiden musste.
    „Ein Pergament?“, bohrte Elena neugierig und näherte sich dem Tisch.
    „Ja“, bestätigte er.
    „Es wurde eine Ausgangssperre verhängt. niemand darf die Stadt verlassen, das obere Viertel betreten, oder nach Anbruch der Dunkelheit das Haus verlassen.“ Er zog sich seine alte Lederjacke aus und warf sie über einen der beiden Stuhllehnen. Das graue Leinenhemd zog er aus seiner Stoffhose, während er seine Füße aus seinen Stiefeln befreite. Zuhause störte es niemanden, wenn er seine mehrfach geflickten Wollsocken auszog, um sie zum Lüften über die andere Stuhllehne zu legen.
    „Eine Ausgangssperre?“, wiederholte Elena skeptisch und begann die eingekauften Güter in den Kochbereich zu bringen.
    „Warum wurde sie verhängt?“
    „Darüber gab die Stadtverwaltung keine Auskunft“, antwortete Thalis und sah seiner Frau hinterher.
    „Es wird außerdem sämtlicher Schiffsverkehr bis auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, wodurch ich wohl vorerst nichts mehr zu tun habe.“
    „Na super“, seufzte Elena.
    „Dann müssen wir früher oder später unser Erspartes ausgeben.“
    „Das wird schon reichen...“, antwortete Thalis zuversichtlich.
    „Merkwürdig ist, dass sowohl Lord Regonas, als auch Lord Irenicus dem Ganzen zugestimmt haben“, fuhr er fort und trat dicht hinter Elena, um ihr berauschendes Parfüm zu riechen, bestehend aus eingelegten Blumen und einem Hauch von Lavendel.
    „Ich liebe diesen Duft“, grunzte er und umklammerte ihren Bauch mit beiden Armen, wodurch er sie von der weiteren Arbeit in der Küche abhielt.
    „Ich hoffe, nicht nur den Duft!“, erwiderte sie forsch und befreite sich von ihm um das gekaufte Mehl in eine hölzerne Schale zu schütten.
    „Junge Frau, ich würde gerne meinen Sprössling begrüßen!“, schnaufte Thalis empört.
    „Wie kannst du es also wagen, mir auf solch dreiste Weise auszuweichen?“
    „Erstens...“, begann Elena grinsend.
    „...weißt du nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.“
    „Und zweitens?“, seufzte Thalis.
    „Hattest du ganz bestimmt anderes im Sinn.“
    „Weißt du“, begann Thalis und näherte sich ihr erneut von hinten.
    „Wir könnten die Zeit der Ausgangssperre nutzen und es uns so richtig gut gehen lassen.“ Er vergrub beide Hände in ihrem bis zum Boden reichenden Kleid, bis er ihre Oberschenkel zu fassen bekam.
    „Aber nicht, solange du es nicht lernst, deine Jacke wieder zurück in den Kleiderschrank zu hängen!“, erwiderte sie schnippisch und verhinderte seinen Annäherungsversuch, in dem sie mit ihrem zierlichen Körper elegant zur Seite huschte.
    „Außerdem müssen wir jetzt wohl sparen...“

    Am späten Abend saßen beide schließlich beim Abendessen zusammen. Elena hatte deftigen Zwiebelkuchen gebacken, den Beide nun bei Kerzenschein und den knisternden Flammen der Feuerstelle vertilgten.
    „Es ist alles so ruhig“, unterbrach Elena die Stille. Der sonst so heulende Wind, war an diesem Abend still. Kein Hafenarbeiter, trunkener Seemann und auch keine Dirne waren zu hören. Das Gelächter aus der angrenzenden Hafenkneipe blieb heute stumm. Einzig zankende Möwen und eine heulende Katze waren in der Nähe zu hören.
    „Die Dunkelheit ist angebrochen und somit tritt die Ausgangssperre in Kraft“, argumentierte Thalis und gönnte sich einen weiteren Bissen des Kuchens.
    „Das ist so ungewohnt“, antwortete sie, während sie der bedrückenden Stille lauschte.
    „Um diese Uhrzeit hat Kardif normalerweise immer volles Haus“, fuhr sie fort.
    „Nun bleibt er auf seinen Kosten sitzen“, schlussfolgerte Thalis, nachdem er schließlich aufgegessen hatte.
    „Ich kann nicht mehr“, ächzte er und ließ sich in die Stuhllehne fallen.
    „Hat es dir geschmeckt?“, fragte Elena und machte sich daran, den Tisch abzuräumen.
    „Wenn dieser verdammte Käse nicht so schnell sättigen würde, hätte ich den ganzen Kuchen gegessen“, antwortete Thalis stöhnend.
    „Nun haben wir Morgen auch noch etwas“, musterte Elena den übrig gebliebenen Rest des Kuchens.
    „Soll ich dir helfen?“, verfolgte Thalis die Aktionen einer Frau.
    „War das eine rhetorische Frage?“, lachte sie beherzt auf.
    „Ich mag gefühlte einhundert Kilo wiegen, doch bin ich noch zu so mancher Aktion imstande“, stellte er empört klar.
    „Nun dann kannst du ja mein Lieblingsbuch hervorholen und mir gleich am Feuer daraus vorlesen“, schlussfolgerte sie triumphierend.
    „Du meinst doch nicht schon wieder die Gefühlsduselei von diesen Rittersporn“, stöhnte Thalis auf.
    „Das Buch heißt Missgeschicke der Liebe(*)...“, antwortete Elena forsch.
    „Ach und die meine ich sehr wohl!“, stellte sie klar.
    „Also gut...“ stöhnte Thalis erneut auf und erhob sich aus seinem Stuhl.
    „Ich warte an der Feuerstelle auf dich.“

    Stunden später genossen Beide auf einer Decke aus Lammfell vor der Feuerstelle das lodernde Feuer.
    „Kannst du nicht schlafen?“, murmelte Elena und schmiegte sich sanft an Thalis entspannten Körper, während sie mit ihren Fingern sanft über sein Leinenhemd fuhr.
    „Und du?“, überging er die Frage und sah verwundert in die offenen und leicht unterlaufenen Augen seiner Frau.
    „Ich bin sehr müde und versuche die ganze Zeit schon einzuschlafen...“, antwortete sie gähnend.
    „Mir geht es genauso“, stellte Thalis verwundert fest und drängte seine Müdigkeit beiseite.
    „Ist denn schon Mitternacht.“, fragte Elena nun wieder mit geschlossenen Augen.
    „Wir sind etwa zweieinhalb Stunden drüber...“, begann Thalis und stand vorsichtig auf, um Elena nicht zu stören.
    „Was machst du?“, wollte sie überrascht wissen und machte damit seine Bemühungen zunichte.
    „Etwas stimmt hier nicht“, murmelte er.
    „Bei unseren Nachbarn nörgelt schon seit geraumer Zeit deren Tochter.“
    „Ich verstehe nicht“, erwiderte Elena völlig überreizt.
    „Elena...“, begann Thalis, während er ans Fenster trat.
    „Nicht nur wir können nicht schlafen“, fuhr er fort und erschrak
    „In allen umliegenden Häusern ist das Licht an“, keuchte er und öffnete es schließlich.
    „Thalis!“, erschrak nun auch Elena.
    „Was ist hier los!“, murmelte er, ohne auf seine Frau zu reagieren. Kindesschreie vermischten sich mit lautstarken Diskussionen und hektischen Schritten und drangen von überall her durch das Fenster.
    „Warum schlafen die alle nicht?“


    (*)Missgeschicke der Liebe ist ein Gedichtband aus dem Buch „Das Erbe der Elfen“ → The Witcher / Rittersporn
    Geändert von Lord Regonas (24.08.2015 um 22:30 Uhr)

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    Zweiter Tag

    Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, hatten weder Thalis noch Elena auch nur eine einzige Minute geschlafen. Damit nicht genug, zog sich diese Schlaflosigkeit allem Anschein nach durch die gesamte Stadt. Kindesschreie, hin und wieder Kampfgeräusche und zornige Wortfetzen drangen über die ganze Nacht verteilt aus allen Ecken der Stadt. Thalis zog vorsichtig seinen Arm unter Elenas Nacken hervor.
    „Wohin willst du?“, fragte sie besorgt.
    „In die Unterstadt...“, begann er und stand auf.
    „...dort erfahre ich hoffentlich, was genau hier vorgeht“, fuhr er völlig übermüdet fort, während er sein Leinenhemd zurecht rückte.
    „Außerdem muss ich mit Bosper reden, da ich seine Waren nun nicht mehr liefern kann.“
    „Was ist, wenn dir etwas passiert?“, ermahnte Elena und griff nach seinem Arm.
    „Was soll denn schon passieren!“, erwiderte Thalis gereizt und befreite sich von ihrem Griff.
    „Warum fährst du mich jetzt so an? Ich kann auch nichts dafür, dass wir beide nicht schlafen konnten!“, wehrte sie sich enttäuscht.
    „Elena...“, Thalis rieb sich angespannt seine Stirn.
    „...die Miliz wird es zu keinerlei Ausschreitungen kommen lassen, also mach dir keine Sorgen. Ich bin gegen Mittag wieder zurück...“
    „...versprochen“, beendete er seinen angefangenen Satz und gab ihr hektisch einen Kuss auf die Stirn.
    „Versuch dich auszuruhen“, küsste er sie ein weiteres Mal.
    „Ohne Schlaf...“, antwortete Elena verbittert und sah Thalis besorgt nach als er die Hütte verließ.

    Ein kalter Wind zog durch die Gassen des Hafenviertels und der Himmel war von dicken Wolken in allerlei Grautönen überzogen. Zweifellos ein unangenehmer Morgen und dennoch trieb es den Großteil der Hafenbewohner bei Tagesanbruch außer Haus. Die Fischer fuhren an diesem Morgen nicht auf das Meer hinaus und die Handelsschiffe des Festlandes durften nicht anlegen. Die Händler ließen ihre Stände geschlossen und die Schiffsbauer ließen ihre Werkzeugkästen stehen. Stattdessen bildete sich auf der Hauptstraße innerhalb kürzester Zeit eine größere Menschenmenge, die vom Hafenviertel fort zur Unterstadt ging. Vermutungen wurden zur Gewissheit und ließen Thalis letzten Endes nur zu einen Schluss kommen... sie alle hatten vergangene Nacht nicht geschlafen. Wortlos reihte er sich in die Menge mit ein und entdeckte einige bekannte Gesichter.
    „Bennet... Carl“, grüßte er den Schmied des Hafenviertels und seinen Gesellen. Während Carl nickend auf den Gruß reagierte, machte Bennet diesbezüglich keinerlei Anstalten. Erst als mehrere Sekunden verstrichen und sie ein paar Schritte mit der Menge gegangen waren, ergriff er monoton das Wort:
    „Diese verdammten Schweine haben es gewusst!“
    Irritiert sah Thalis den Schmied an, wodurch er erstmals dessen mit Blut unterlaufendes Auge sah.
    „Ich verstehe nicht...“
    „Was gibt es daran nicht zu verstehen!“ Bennet sah nicht nur schlecht aus, sondern war auch extrem gereizt und warf Thalis einen bösen Blick zu.
    „Niemand konnte vergangene Nacht schlafen und die Lords haben davon gewusst“, mischte sich von hinten eine weitere Bekannte ein. Ihre Stimme war dabei bedächtig leise, als wollte sie den ohnehin schon gereizten Schmied nicht noch mehr aufregen.
    „Fenia...“, erkannte Thalis erschrocken die Lebensmittelverkäuferin, die normalerweise egal zu welcher Tageszeit immer tadellos aussah. An diesem Morgen jedoch, erinnerte sie nur noch an einen verblassenden Schatten aus der Vergangenheit. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Haut wirkte blass und war von tiefen Falten gezeichnet.
    „Die Miliz hat alle weggesperrt, die die Ausgangssperre gestrige Nacht missachtet haben“, berichtete Carl besorgt, während sie weitergingen.
    „Die Miliz soll dabei sehr hart durchgegriffen haben“, fügte Fenia ausdruckslos hinzu.
    „Sie haben die Bewohner in den Kerker geprügelt! Sag es doch, wie es ist!“, korrigierte Bennet gereizt.
    „Ignaz, den Alchemisten haben sie auch weggesperrt, obwohl er dabei helfen wollte, etwas gegen die Schaflosigkeit zu unternehmen!“
    „Beruhige dich mal wieder, Bennet“, ermahnte eine wohl jedem bekannte Stimme seitlich von ihnen.
    „Oder willst du auch im Kerker landen?“
    „Schnauze Moe!“, fuhr Bennet aggressiv den Türsteher der Hafenkneipe an. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen, machte Moe einen erschreckend fitten Eindruck. Es musste definitiv daran liegen, dass er es als Türsteher gewohnt war, auf nächtlichen Schlaf zu verzichten.
    „Wenn die mich wegsperren wollen, erleben die ihr blaues Wunder!“
    „Niemand wird hier weggesperrt, denn die Miliz ist schon längst abgezogen!“, ergriff Fenia allmählich genervt das Wort.
    „Wir werden uns jetzt alle beruhigen.“ Auch wenn die Diskussionen augenblicklich aussetzten, lag das nicht an den Worten der zerzausten Verkäuferin. Vielmehr lag es daran, dass sie im Viertel der Handwerker angekommen waren und dort ein erschreckendes Durcheinander herrschte. In keinem der zahlreichen Handwerksbetriebe wurde gearbeitet, stattdessen liefen unzählige Stadtbewohner, dem Anschein nach, ziellos umher. Die städtische Schmiede links von ihnen stand leer und das Haus des Schmieds war verschlossen. Nebenan befand sich unter einer steinernen Unterführung das Haus des Alchemisten, vor dem sich mehrere Bürger versammelt hatten. Sie versuchten mit aller Gewalt in das Haus des Alchemisten zu gelangen und versuchten erfolglos die verschlossene Tür mit Hammer und Brecheisen zu öffnen.
    „Haben die denn alle den Verstand verloren..“, versuchte Fenia ihre abstrusen Eindrücke im Vorbeigehen in Worte zu fassen.
    „Seht ihr jetzt, was die Lords angerichtet haben!“, hetzte Bennet und verzog wütend das Gesicht.
    „Ignaz hat versucht zu helfen und wurde weggesperrt und dieser städtische Scharlatan verkriecht sich in seiner Höhle und macht nicht einen Finger krumm!“
    „Wo ist die Miliz? Warum sorgen die nicht für Ordnung!“, empörte sich Moe an den katastrophalen Zuständen.
    „Die hat am Tor des oberen Viertels genug zu tun“, lenkte Thalis die Aufmerksamkeit aller zum südöstlichen Ende des Viertels. Am dortigen Tor, welches zum oberen Viertel führte, befand sich eine größere Menschenansammlung. Sie nahm dabei den Platz vom Südtor ausgehend, bis hin zum Haus des Bogenmachers ein. Eben dieses Haus passierte nun die Gruppe aus dem Hafenviertel. Die meisten Bürger standen schweigend in der Menge und warteten ungeduldig auf eventuelle Reaktionen seitens der Stadtverwaltung. Andere wiederum verliehen ihrem Wunsch nach einer Stellungnahme seitens der Lords lautstark Nachdruck und versuchten die versammelte Menge anzustacheln. Die Wachen hinter dem eisernen Tor reagierten darauf allerdings in keinster Weise und versuchten mit ihrer Haltung möglichst beruhigend auf die Menge einzuwirken. Dabei versicherten sie, auch nicht über mehr Informationen, als die Offiziellen zu verfügen.
    „Da ihr euren Verstand noch beisammen zu haben scheint, rate ich euch umzukehren“, meldete sich
    eine vertraute Stimme aus dem Geschäft des Bogenmachers. Während sich der Großteil der Gruppe unbeirrt weiterhin zum Südtor fortbewegte, verweilten Thalis, Moe, Bennet, Carl und Fenia.
    „Bartok!“, zuckte Thalis beim Anblick des städtischen Jägers zusammen. Der wiederum begann zu lachen.
    „Du solltest mal dein Gesicht sehen!“
    „Du siehst auch nicht viel besser aus“, ergriff Fenia für den überforderten Thalis das Wort und studierte das unrasierte und von Müdigkeit gezeichnete Gesicht des städtischen Jägers.
    „Er sieht genauso scheiße aus, wie er sich verhält!“, fügte Moe genervt hinzu.
    „Machst du dir immer noch ins Hemd, weil ich Coragorns Kneipe im Gegensatz zu deiner Abstellkammer bevorzuge?“
    „Wie kannst du es wagen!“, brüllte Moe und stürmte auf den städtischen Jäger los, nur um im nächsten Moment wieder zum Stehen zu kommen.
    „Wer Ärger mit meinen Angestellten anfängt, bekommt für gewöhnlich einen Pfeil zwischen die Augen“, erklang die Stimme des Bogenmachers, der kurz darauf mit angespannten Bogen aus der Haustür heraustrat. Obwohl Moe seiner Wut am liebsten freien Lauf gelassen hätte, entschied er sich dann doch für den Rückzug. Dennoch kam er nicht ohne hin, noch eine Bemerkung fallen zu lassen:
    „Dann nimm deinen Köter an die Leine.“ Trotz dieser Provokation, entspannte Bosper seinen Bogen wieder, da Moe tatsächlich zurückwich.
    „Ihr solltet dort nun wirklich nicht hingehen“, machte Bosper auch noch mal auf die Menge am Tor des oberen Viertels aufmerksam.
    „Über früh oder lang wird die Situation dort eskalieren.“
    „Außerdem habe ich ein interessantes Mittel gegen die Müdigkeit von Constantino erstanden, das eure Körper wieder halbwegs auf Kurs bringen wird“, argumentierte Bosper und provozierte mit dieser Aussage erneut den Türsteher der Hafenkneipe.
    „Ich denke wir werden einiges wegen der ausstehenden Lieferungen zu besprechen haben“, erklärte sich Thalis einverstanden. Fenia stimmte der Einladung ebenfalls zu.
    „Deine Suppe kannst du dir in den Allerwertesten stecken!“, stichelte Moe.
    „Wir verzichten ebenfalls!“, fügte Bennet entschlossen hinzu und fuhr nach einer kurzen Atempause wieder fort.
    „Die Lords können sich im oberen Viertel nicht ewig verstecken.“ Einzig Carl schien mit dem Gedanken, sich früher oder später innerhalb einer wütenden Menge zu befinden, nicht einverstanden zu sein. Verunsichert sah er in das entschlossene Gesicht seines Ausbilders und suchte verzweifelt dessen Blick, doch als das erfolglos blieb, nahm er all seinen Mut zusammen und räusperte sich.
    „Ich würde gerne...“, begann Carl mit zitternder Stimme, ehe er von Bennet forsch unterbrochen wurde:
    „Du kleiner Scheißer kommst mit, schließlich bezahle und ernähre ich dich seit Monaten!“ Allen Beteiligten stockte der Atem, doch als sich Moe und Bennet auf den Weg zum Südtor machten, folgte Carl ihnen schließlich widerstandslos.
    „Nun denn... Ich schlage vor, dass ihr ins Haus kommt. Hier draußen wird es schon bald nicht mehr sicher sein“, forderte Bosper die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Thalis, Bartok und Fenia folgten der Aufforderung und Bosper schloss die Tür. Er sicherte sie von innen mit einer dicken Türgriffkette, um unerwünschten Besuch daran zu hindern, ins Haus einzudringen. Der Raum, in dem sie sich alle befanden, war der Verkaufsbereich des Bogenmachers. Ein rustikaler Tresen aus Holz trennte den Raum in zwei Bereiche. Sie befanden sich vor eben diesen Tresen, von wo aus sich sonst die Kundschaft die Ware des Bogenmachers ansah und bei Gefallen dann auch kaufte. Im hinteren Bereich befanden sich zahlreiche Bogenhalter und Pfeilkörbe, die jedoch keinerlei Waren beinhalteten. Bosper ging eilig an seinen Gästen vorbei und steuerte auf eine Tür im hinteren Bereich zu, um sie schließlich zu öffnen.
    „Folgt mir in den Wohnbereich.“ Zuerst zögerten Fenia und Thalis, doch auch Bartok losging folgten sie schließlich. Der zweite Raum war in etwa ebenso groß, wie der Verkaufsraum. Allerdings wirkte er durch den fehlenden Tresen in der Mitte wesentlich größer. Ein großer Kamin und ein üppiger Kronleuchter an der Decke, sorgten zudem für eine viel angenehmere Beleuchtung als im Verkaufsraum. Ein mit Edelmetall verzierter Tisch aus Holz, mit einem fein säuberlich abgestellten Service, in der Mitte des Raumes, bot zudem ausreichenden Platz für Gäste.
    „Kommt und macht es euch bequem“, sagte Bosper und begann das Service vom Tisch entsprechend den Stühlen zu verteilen.
    „Das Wundermittel, was ich von Constantino erhalten habe, nennt sich Kaffee. Es soll sich dabei angeblich um eine Delikatesse von den südlichen Inseln handeln, die zudem noch erfrischend wirken soll.“ Er schenkte nach und nach jeder Tasse etwas von der schwarzen Flüssigkeit ein, während sich Fenia, Thalis und Bartok zögerlich an den Tisch setzen.
    „Erfrischend wirkt es in der Tat, sogar mehr als das. Eine Delikatesse ist es allerdings nicht. Das Pulver, mit dem das Zeug gemacht wird, will sich einfach nicht auflösen!“, schimpfte Bosper unbeirrbar weiter, wodurch seine Flüssigkeit skeptische Blicke seiner Gäste kassierte.
    „Hast du überlegt, es einmal aufkochen zu lassen?“, schaute sich Fenia den Inhalt der Tasse genauer an.
    „Also...“, versuchte Bosper zu antworten, wurde aber von Thalis unterbrochen:
    „Wir sind hauptsächlich wegen etwas Anderem hier.“
    „Natürlich!“, lachte Bosper auf und setzte sich ebenfalls an den Tisch.
    „Thalis lass mich dir sagen, wie gern ich dich habe. Du bist der zuverlässigste und schnellste Transporteur, den die Stadt zu bieten hat.“ Bartok legte eine kurze Pause ein und atmete tief durch.
    „So lange die Schifffahrtstätigkeiten eingestellt sind und kein Schiff entladen werden darf, habe ich allerdings nichts zu tun für dich, so leid es mir tut.“
    „Ich hatte so etwas geahnt“, seufzte Thalis innerlich enttäuscht.
    „Ich weiß natürlich um die Schwangerschaft deiner Frau, doch du musst mich auch verstehen“, versuchte sich Bosper zu rechtfertigen.
    „Wenn die Docks nicht bald wieder ihre Arbeit aufnehmen, dann bin ich ruiniert.“ Bedrückendes Schweigen trat ein.
    „Ein Problem, mit dem über kurz oder lang die ganze Stadt zu kämpfen haben wird“, brach Bartok zur Erleichterung aller die unangenehme Stille.
    „Denn wenn wir Jäger nicht mehr unserer Arbeit nachgehen können, bedeutet das auch, dass die Stadt keine Nahrung mehr erhält.“
    „Wir sind uns sicherlich alle einig, dass sich die Maßnahmen der Lords in unmittelbaren Zusammenhang mit der Schlaflosigkeit befinden“, ergriff Fenia das Wort.
    „Löst man also das Problem der Schlaflosigkeit, wären die Maßnahmen nicht mehr notwendig und alles würde sich wieder normalisieren.“
    „Der alte Alchemist ist jedenfalls der festen Überzeugung, dass die Schlaflosigkeit magischer Natur ist“, begann Bosper.
    „Wie kommt er darauf?“hakte Thalis skeptisch nach.
    „Es sind einfach zu viele...“, antwortete Bosper , wobei sein Atem merklich schneller wurde.
    „Man bräuchte mehrere hundert Fässer, um die ganze Stadt mit einem entsprechenden Mittel zu vergiften.“
    „Der Zugang zum oberen Viertel ist versperrt“, warf Fenia ein, doch Bartok schüttelte den Kopf:
    „Ich war gestern erst beim Händler Lutero im oberen Viertel. Da waren definitiv keine Fässer.“
    „Constantino hat einem ausgewachsenen Menschen im gesunden Zustand allerhöchstens fünf Tage ohne Schlaf als Frist gesetzt“, berichtete Bosper weiter.
    „Was ist, wenn wir keine Heilung finden?“, fragte Fenia mit einem Zittern in der Stimme, während sich ihre Augen mit Tränen füllten, doch niemand antwortete.
    „Die Schwächeren Menschen werden zuerst zu Grunde gehen...“, antwortete Thalis schließlich mit bedrückender Stimme.
    „Es wird also zuerst die Senioren, Kranken und Kinder treffen.“
    „Bei Innos!“ Fenias Atem stockte und Tränen begannen an ihren Wangen herunterzulaufen.
    „Fenia...“, versuchte Thalis sie erfolglos zu beruhigen. Hysterisch stand sie auf und stieß dabei ohne jegliche Rücksicht ihren Stuhl um.
    „Du musst dich beruhigen!“, ermahnte Bartok die schluchzende Verkäuferin und stand nun ebenfalls auf. Fluchtartig verließ sie den Wohnbereich und nun standen auch Bosper und Thalis von ihren Stühlen auf, um ihr zu folgen.
    „Lasst mich hier raus!“
    „Du musst von der Tür weg kommen!“, rief Bosper und erreichte als erster den Nebenraum.
    „Du sollst mich hier raus lassen!“, schrie sie auf und schlug nun mit ihren blanken Fäusten gegen die massive Haustür aus Holz.
    „Lass sie gehen...“

    Die Mittagssonne war bereits seit Stunden weitergezogen, als Thalis das Haus des Bogenmachers verließ. Erst jetzt bemerkte er, dass Fenia bereits vor mehreren Stunden geflohen war und der Nachmittag bereits angebrochen war. Er wusste, dass sich Elena bereits Sorgen machen würde. Am Südtor waren mittlerweile weniger Menschen versammelt, als noch am Morgen. Auch von Bennet, Carl und Moe war dort nichts mehr zu sehen. Allgemein hatte sich die Hektik vom Vormittag gelegt und nur noch vereinzelt kamen ihm durch die Müdigkeit gezeichnete Menschen entgegen. Ein bedrückender Mantel der Stille lag auf der gesamten Stadt. Durch die verschlossenen Geschäfte, blieb das Tagesgeschäft aus, was sich wiederum negativ auf die gesamte Infrastruktur auswirken würde. Auch am Haus des Alchemisten befand sich inzwischen niemand mehr, dafür war die Haustür schwer ramponiert. In diesem Zusammenhang begann er sich nun ernsthaft um Elena zu sorgen und beschleunigte seinen Gang ins Hafenviertel. Er ließ die städtische Schmiede hinter sich und folgte eilig der Hauptstraße des Hafenviertels. Auch hier waren weniger Menschen unterwegs, als es sonst der Fall war. Als er schließlich die Seitenstraße betrat und an dessen Ende seine Hütte und dessen unberührte Haustür sah, atmete er erleichtert auf. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass er viel später nach Hause kommen würde, als er es versprochen hatte und das bereitete ihm ein schlechtes Gewissen.
    „Wo warst du?“, fragte Elena ihn mit vollkommen emotionsloser Stimme, als er die Hütte betreten hatte. Er entdeckte sie auf den Fußboden sitzend in der Nähe der erloschenen Feuerstelle.
    „Elena...“ Er streifte sich seine Jacke von den Schultern und ging ohne ihr zu antworten ebenfalls dorthin.
    „Ich habe gefragt, wo du warst!“, fauchte sie ihn an.
    „Elena...“, wiederholte er besorgt ihren Namen und blieb mitten im Raum stehen.
    „Ich war die ganze Zeit über bei Bosper.“
    „Ja genau und du wolltest schon vor Stunden wieder zurück sein!“, erwiderte sie lauter werdend.
    „Ich habe mir verdammt noch mal Sorgen gemacht!“
    „Ich weiß.“
    „Es tut mir leid.“ Er umarmte sie von hinten und spürte eine von ihrem Körper ausgehende überraschend hohe Temperatur.
    „Ich bin so müde...“, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn.
    „Abgesehen davon, wie fühlst du dich?“
    „Mein Kopf wummert...“ Thalis legte seine Hand behutsam auf ihre Stirn. Sie war wesentlich wärmer, als es sonst der Fall war.
    „Ich glaube, du bekommst Fieber.“
    „Wenn etwas passiert, dann richtig“, antwortete sie verbittert.
    „Bosper lässt dich im übrigen grüßen.“
    „Versucht er sich jetzt mit Nettigkeit bei uns zu entschuldigen?“, fragte sie ihn mit sarkastischer Stimme.
    „Bosper trifft doch gar keine Schuld!“, versuchte er energisch seinen ehemaligen Chef zu verteidigen.
    „Es ist die Ausgangssperre, die die Menschen in der Stadt in eine solche Notlage zwingt.“
    „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich.
    „Ich bin nur so gereizt.“
    „Wollt ihr denn etwas unternehmen?“
    „Ich treffe mich Morgen mit Bartok. Er ist mit Jemanden von der Stadtwache verabredet und wir hoffen, bei dem Treffen etwas mehr über die momentanen Umstände zu erfahren“, antwortete er ihr.
    „Aber genug davon, du musst dich ausruhen, Elena.“
    „Dein Essen steht noch auf der Küchenzeile. Ich werde mich etwas hinlegen“, antwortete sie und löste sich aus seiner Umarmung.

    Am Abend befanden sich beide am Schlafplatz. Thalis hatte den restlichen Zwiebelkuchen vom Vortag verzerrt und hatte anschließend noch gespült. lena lag währenddessen auf der Decke aus Lammfell. Als Thalis zu ihr gekommen war, hatte sie die Augen geschlossen. Sie atmete in regelmäßigen Abständen hörbar durch den Mund, sodass es den Anschein hatte, sie würde schlafen. Er wusste es besser.
    „Es ist schlimmer, als vergangene Nacht“, flüsterte sie mit immer noch geschlossenen Augen.
    „Was meinst du?“
    „Hörst du das denn nicht?“
    Thalis wusste genau, was sie gemeint hatte, versuchte es aber bisher zu ignorieren.
    „Das kleine Ding ist schon seit Stunden am schreien und es hört sich immer wehleidiger an. Kannst du dir vorstellen, wie schrecklich das für die Eltern sein muss?“, fragte sie ihn, während die erste Träne ihre Wange herunterlief.
    „Elena...“ Er strich ihr mit beiden Händen sanft über Kopf und Wange und versuchte sie zu trösten.
    „Ich denke halt die ganze Zeit, dass es auch unser Kind sein könnte, dass da so vollkommen hilflos am schreien ist und das macht mich wahnsinnig!“
    „Glaube mir Elena, soweit wird es niemals kommen, das verspreche ich dir!“, antwortete Thalis entschlossen und legte sich direkt neben sie, um sie in seine Arme zu nehmen.
    „Kannst du das denn?“

    Er wusste keine Antwort.
    Geändert von Lord Regonas (24.08.2015 um 22:35 Uhr)

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    Dritter Tag - 48 Stunden ohne Schlaf

    Der Tag war noch nicht angebrochen, als Thalis aufstand, um sich für das bevorstehende Treffen vorzubereiten. Er hatte mit Bartok den frühestmöglichen Zeitpunkt für das Treffen gewählt und wollte pünktlich bei Tagesanbruch am vereinbarten Treffpunkt sein. Seine Augen brannten, seine Glieder schmerzten und zu allem Überfluss zitterte sein ganzer Körper vor Kälte, obwohl die Flammen des Kamins noch loderten.
    „Kannst du dich bitte beeilen?“ Elenas Stimme klang elendig schwach und löste in Thalis eine abgrundtiefe Angst aus, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte.
    „So schnell es geht“, antwortete er entschlossen und zog sich schließlich seine alte Jacke über, um dann das Haus zu verlassen.
    Obwohl es früher Morgen und die Ausgangssperre erst seit kurzen beendet war, hielten sich bereits ungewöhnlich viele Bewohner des Hafenviertels auf der Straße auf. Die meisten von ihnen liefen soweit Thalis das beobachten konnte, hektisch zum westlichen Ende des Viertels, wo sich bereits eine kleinere Menge vor Kardifs Hafenkneipe versammelte. Unter den versammelten Hafenbewohnern, konnte Thalis bei genauerer Betrachtung Bennet, Carl und Moe ausmachen, allerdings verspürte er dabei keinerlei Erleichterung. Vielmehr ahnte er, dass die drei wie bereits angekündigt, etwas gegen die Miliz ausheckten. Dennoch ließ er seinen Unmut beiseite und bog nach Osten zur Unterstadt ab. Noch immer nagten die Strapazen der Müdigkeit an ihm. So war er bereits nach den paar Metern völlig aus der Puste. Doch er versuchte dies zu ignorieren, indem er sein Tempo erhöhte, was er sogleich auch wieder bereute. Heftige Seitenstiche überkamen ihn und zwangen ihn zur ungewollten Pause. Doch in Gedanken bei seiner Frau konnte und wollte er nicht stehen bleiben und ging trotz Schmerzen mit gemäßigten Tempo weiter.
    In der Unterstadt angekommen, bemerkte Thalis als erstes den arbeitenden Schmied. Dies war für gewöhnlich kein seltener Anblick, doch in Anbetracht der aktuellen Situation, war dieses Verhalten mehr als sonderlich. Haralds Blick war starr auf das Stück Metall gerichtet, dass er mit aller Kraft bearbeitete. Thalis wollte keine weiteren Gedanken über dieses stumpfsinnige Verhalten verschwenden und konzentrierte sich wieder auf das bevorstehende Treffen. Er bog, nachdem er die Schmiede hinter sich gelassen hatte nach Osten zum Marktplatz ab. Das Treffen fand dort in der Herberge von Hanna Statt. Als er Constantinos Laden für Alchemie passierte, blieb er erschrocken stehen. Die Tür aus Massivholz war in der Mitte aufgebrochen worden und in dem kleinen Laden herrschte ein wüstes Durcheinander. Von Constantino fehlte jede Spur. Das zwei schwer ausgerüstete Paladine in diesen Moment um die Ecke gebogen kamen, bemerkte er nicht.
    „Können wir helfen?“ Thalis fuhr erschrocken zusammen.
    „Ich...“, begann er stotternd unter den erwartungsvollen Blicken der Soldaten. Er fühlte sich ertappt, obwohl er überhaupt nichts getan hatte. Zudem hatte er den Eindruck, dass ihn beide mehr oder weniger bedrohten, weswegen all seinen Mut zusammen nahm, um sie wieder loszuwerden.
    „Ich wollte gerade gehen!“ Entschlossen ging er an beiden vorbei und lies sie schließlich, ohne sich umzudrehen, hinter sich. Erleichtert atmete er auf, als er an der Herberge ankam und bemerkte, dass ihn die Soldaten nicht gefolgt waren. Eilig hämmerte er mehrmals gegen die Tür aus Holz und wartete unruhig darauf, dass sie geöffnet wurde. Dies geschah dann zu Thalis Zufriedenheit auch nach wenigen Sekunden.
    „Thalis“, begrüßte ihn Bartok.
    „Schnell, komm rein!“ Eine Aufforderung, der er mit dem größten Vergnügen nachkam. Drinnen angekommen, entdeckte Thalis neben der Besitzerin der Herberge auch noch die bereits angekündigte Stadtwache. Es war Wambo.
    „Wir müssen uns beeilen!“, ermahnte Bartok und trat hinter den hölzernen Tresen, hinter dem auch Hanna stand.
    „Die Paladine kontrollieren jetzt auch tagsüber die Stadt, um Übergriffe zu verhindern. Sie lösen alle Versammlungen auf und verhaften jeden, der sich verdächtigt macht.“
    „Umso erstaunlicher, dass du es tatsächlich geschafft hast, eine Stadtwache zum Reden zu bringen“, antwortete Hanna sarkastisch und musterte Wambo kritisch.
    „Aber wenn man von Fisstech(*) abhängig ist, dann würde man alles tun und jeden verraten, nur um sich den nächsten Schuss setzen zu können, nicht wahr?“
    „Ich weiß nicht wovon du redest!“, erwiderte der Soldat energisch und erntete dafür spöttische Blicke der Wirtin.
    „Schau doch mal in den Spiegel... deine Nase ist bestimmt nicht so rot, weil es in meiner Herberge so kalt ist.“
    „Bitte! Wir haben keine Zeit für so etwas!“, ermahnte Bartok und wandte sich Wambo zu.
    „Erzähl uns was du weißt!“
    „Das alle in der Stadt nicht Schläfen können, wisst ihr ja bereits. Doch die Ausgangssperre wurde nicht deswegen verhängt.“ Er musste plötzlich niesen.
    „Da haben wir es ja... das verräterische Niesen“, schmunzelte Hanna und kassierte dafür von Wambo einen verächtlichen Blick.
    „Die Ausgangssperre...“, sagte Bartok, um den Soldaten davon abzuhalten, auf den Satz der Wirtin zu reagieren.
    „Ja richtig“, antwortete dieser.
    „Die Lords planten schon seit längerer Zeit an einer neuen Regierungsform für die Stadt. Die städtische Führung besteht in diesem Plan aus mehreren Vertretern der Stadtbewohner. Jedermann kann sich als Vertreter anmelden und wählen lassen. Doch eine Gruppe von einflussreichen Männern war von Anfang an dagegen. Es gab letzten Endes konkrete Hinweise darauf, dass diese Gruppe kurz davor stand, die Lords zu stürzen.“
    „Sind die auch für die Schlaflosigkeit verantwortlich?“, fragte Thalis, doch Wambo schüttelte den Kopf.
    „Die kam erst, als die Ausgangssperre bereits beschlossene Sache war.“
    „Die Lords haben das Militär und den Großteil der Stadt hinter sich. Wer sollte da auf die Schnapsidee kommen, einen Putsch zu versuchen?“, fragte Hanna belustigt und zeigte durch ihre Mimik sehr deutlich, was sie von der Geschichte hielt.
    „Wer redet denn hier von einem...“ Ein Mehrfaches Poltern an der Tür ertönt.
    „Im Namen des städtischen Miliz! Sofort aufmachen!“
    „Verdammt, das ist die Miliz. Wenn die euch hier mit dem Soldaten sieht, dann seit ihr geliefert“, flüsterte Hanna und verschwand plötzlich unter dem Tresen.
    „Verdammte Scheiße!“, fluchte Wambo nervös.
    „Ich hätte mich niemals darauf einlassen dürfen! Die sind mit Sicherheit einem von euch Idioten gefolgt!“
    „Jetzt halt mal die Luft an! Wir müssen auf der Stelle Verschwinden.“ Auch Bartok wurde nun deutlich nervöser, als plötzlich erneut auf die Tür eingehämmert wurde.
    „Im Namen der städtischen Miliz! Wenn ihr nicht aufmacht, werden wir die Tür mit Gewalt öffnen!“
    „Was steht ihr da so doof rum?“, fragte Hanna, nachdem sie ganz plötzlich wieder hinter dem Tresen hervor gekommen war.
    „Kommt rum hier und verschwindet gefälligst!“ Zögerlich kamen Bartok und Thalis um den Tresen herum. Hanna hatte offenbar kurz zuvor einen schweren Teppich beiseite geschafft und unter dem kam nun eine bereits geöffnete Luke zum Vorschein.
    „Diese Luke führt zu einem alten Fluchttunnel, den früher Schmuggler benutzt haben. Geht in westlicher Richtung und ihr landet im Hafenviertel. Nehmt diese Fackel und diesen Schlüssel, um die Luke im Hafenviertel zu öffnen!“
    „Aber was ist mit dir?“, fragte Bartok besorgt.
    „Mach dir um mich keine Sorgen. Den Soldaten werden sie nicht verhaften, außer sie erfahren von mir, was er sich so reinzieht. Somit ist es auch von seinem Interesse, dass ich nicht verhaftet werde. Nicht wahr, Wambo?“ Triumphierend zwinkerte sie der Wache zu und schloss, nachdem Thalis und Bartok verschwunden waren, die Luke.

    Bartok und Thalis waren unterdessen dabei, dem Fluchttunnel wie aufgetragen in westlicher Richtung zu folgen. Dicke Spinnweben hingen von der Decke herab und reichten teilweise bis zum Fußboden. Sie zogen sich durch den gesamten Gang entlang und schienen jeden einzelnen Meter für sich beanspruchen zu wollen. Immer wieder mussten sie sich mit bloßen Händen einen Weg durch die gespenstischen Fäden wühlen, wobei der Großteil der Spinnenausscheidungen an ihren Händen kleben blieb. Zerbrochene Fässer, deren Überreste sich quer über den gesamten Boden verteilt hatten, erschwerten ihnen zusätzlich den Weg. Selbst von den wahrscheinlich einst so teuer gehandelten Waren, waren meist nur doch die völlig verrosteten Überreste übrig geblieben und vollkommen wertlos.
    „Jetzt wühlen wir uns hier durch diese Spinnenkacke und haben dabei kaum etwas in Erfahrung bringen können“, sagte Thalis genervt, während er sich weiterhin mühevoll einen Weg durch das dichte Geflecht suchte.
    „Wir wissen jetzt immerhin, dass die Ausgangssperre nichts mit der Schlaflosigkeit zu tun hat“, versuchte Bartok die Aktion zu rechtfertigen.
    „Das bringt uns aber auch nicht weiter als vorher“, antwortete Thalis.
    „Die Schlaflosigkeit bleibt bestehen und wir können nichts dagegen unternehmen. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass meine Frau über Nacht Fieber bekommen hat und ich keine Medikamente im Haus habe. Unpassender weise sind Ignaz und Constantino wie von Erdboden verschluckt... oder verhaftet.“
    „Ich weiß, dass Bosper noch einige Medikamente bei sich gehortet hat. Ich werde dir im Laufe des frühen Abends etwas für deine Frau vorbeibringen“, antwortete Bartok und versuchte sich so für die Mühen des Hafenarbeiters zu bedanken.
    „Die Medikamente bringen mir über kurz oder lang auch nichts mehr...“, erwiderte Thalis.
    „Sieh doch. Wir haben das Ende des Tunnels erreicht.“ Bartok zeigte auf eine Luke, die sich etwa drei Meter über ihnen befand.
    „Der Zugang zur Kanalisation ist also ein Zugang zu einem längst vergessenen Tunnel früherer Schmuggler...“, schmunzelte Thalis und betrat als erster die rostige Leiter, die hinauf zur Luke führte.
    „Pass auf, dass wir nicht gleich der Miliz in die Arme laufen!“ Vorsichtig löste Thalis das Schloss der Luke und hob sie ganz gering an.
    „Nichts.“ Mit aller Kraft öffnete er die Luke schließlich ganz und stieg an die Oberfläche. Bartok tat es ihm Sekunden später gleich.
    „Dann also bis zum heutigen Abend“, verabschiedete er sich schließlich und ging. Thalis verharrte noch einen Moment, ehe er sich schließlich auch auf den Heimweg machte. Seine Glieder schmerzten und er war völlig erschöpft. Es war zwar erst früher Nachmittag, doch die Schlaflosigkeit zerrte an seinem gesamten Körper. So war er dann auch froh, dass sich an der Hafenkneipe nicht die erwartete Menschenmenge aufhielt, wie sie sich noch am Morgen anzusammeln drohte. Ohnehin hatte er absolut keine Nerven mehr dazu, sich an einer möglichen Revolte zu beteiligen. Erleichtert erreichte Thalis schließlich jene Straße, in der er wohnte.
    „Ich brauche Hilfe.“ Er hörte die wimmernde Stimme einer Frau direkt neben sich. Sie kniete im Dreck und trug schmutzige Stofffetzen, die als Kleidung herhalten sollten. Thalis ignorierte sie fürs Erste, doch begann die junge Frau ohne ihn dabei direkt anzugucken erneut zu Wimmern.
    „Bitte...ich brauche Hilfe.“ Thalis blieb schließlich unentschlossen stehen. Er wusste, das er zu seiner Frau zurück musste, doch hatte er auch Mitleid. Mit Bedacht wählte er seine Frage aus, um das Problem einerseits zu lösen und dennoch so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen.
    „Was brauchst du?“ Er trat hektisch bis auf einen Schritt an sie heran.
    „Mein Kind...“, antwortete sie stockend und begann sich dabei langsam aufzurichten.
    „Es schläft... es schläft doch, oder?“ Tränen liefen ihr über beide Wangen, während sie Thalis nun direkt ansah und ihm ein etwa sechzig Zentimeter großes Bündel entgegen hielt.
    „Sie schläft doch, oder?“, wiederholte sie verzweifelt und sah Thalis dabei mit flehenden Augen an. Doch Thalis war in keinster Weise imstande darauf zu reagieren und starrte stattdessen regungslos auf den leblosen Säugling in ihren Armen.Vollkommen friedvoll lag es dort, verspürte weder Hunger noch Kälte und dennoch. Thalis Gefühl der schleichenden Angst wandelte sich zu einer gewaltigen Panik, die ihm jegliche Sinne zu nehmen drohte. Sein Atem ging inzwischen so schnell, dass im davon schwindelig wurde und auch der Rest seines Körpers schien vollkommen aufzugeben. Er wollte seinen Blick mit all seiner Kraft von dem leblosen Säugling abwenden, die verzweifelte Mutter einfach hinter sich lassen und zu seiner heilen Familie zurückkehren, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.
    „So sag doch bitte etwas!“ Die junge Mutter brach nun endgültig in Tränen aus und sank mitsamt des Bündels wieder zu Boden. Genau in diesem Moment gelang es Thalis, seinen Körper wieder annähernd unter Kontrolle zu bekommen. Ohne zu zögern wendete er sich von der am Boden weinenden Mutter ab und ließ sie mit schnellst möglichen Schritten hinter sich. Keine Sekunde später verfiel sie in ein krampfhaftes Weinen und genau in diesen Moment wussten beide, was er getan hatte. Er war den Tränen nahe, verspürte ein wahnsinnig tiefes Mitgefühl und war gleichzeitig von einer gewaltigen Angst getrieben. Er dachte an sein eigen Fleisch und Blut, dass bald geboren werden würde. Wenig später erreichte er endlich sein am Ende der Straße gelegenes Haus. Zitternd öffnete er die Haustür und trat schließlich ins Haus. Ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, schloss er sie schnell wieder. Erleichtert atmete er auf und wandte seinen Blick nun erstmals von der Tür ab und suchte nach seiner Frau. Er entdeckte sie schließlich vor dem lodernden Kamin liegend.
    „Endlich bist du wieder da...“, wimmerte sie wehklagend, ohne sich zu rühren.
    „Wie geht es dir?“, fragte Thalis besorgt und eilte zu ihr. Doch reagierte sie in keinster Weise auf seine Frage, was Thalis schlimmsten Befürchtungen wahr werden lies. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte sich ihre trockenen Unterlippen aufgebissen. Trotz des Schüttelfrosts glühte ihr ganzer Körper vor Hitze. Thalis vergeudete keine Zeit und eilte zur Küchenzeile, um ihr frisches Wasser zu bringen. Er nahm einen verschmutzen Lappen und tränkte ihn im frischen Wasser. Mit dem Lappen und einen mit Wasser gefüllten Tonkrug eilte er wieder zurück zu ihr. Behutsam verteilte er den feuchten Lappen gleichmäßig auf ihrer Stirn.
    „Du musst etwas trinken“, flüsterte er ihr zu und brachte den Tonkrug unterhalb ihres Mundes in eine geeignete Position. Zusätzlich schob er seine rechte Hand unter ihren Nacken und half ihr dabei, sich ein klein wenig aufzurichten.
    „Danke...“, sagte sie schwer atmend, nachdem sie ausgetrunken hatte.
    „Wir haben Blüten eines Lindenbaums und eines Holunderbaums. Du musst beide Blütenarten aufkochen und mir einen Tee bereiten, damit das Fieber sinkt.“
    „Gib mir zehn Minuten!“

    (*)Eine verbotene Droge aus The Witcher 1, auch "Weißer Tod" genannt. Fisstech wird in Form eines weißen Pulvers benutzt und durch die Nase geschnupft. Es ist sehr suchtgefährlich.

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    Am frühen Abend saßen Elena und Thalis schweigend vor dem prasselnden Feuer. Der Tee hatte seine Wirkung getan, das Fieber war gesunken und so genossen sie nun das Knistern der Flammen. Elena schmiegte sich eng an ihren Mann. Seine Hände hatten sich fest um ihren Körper geschlungen. Dann klopfte es an der Tür.
    „Erwartest du noch Besuch?“, fragte Elena sichtlich nervös.
    „Das muss Bartok sein“, antwortete Thalis und stand auf.
    „Er wollte Medikamente vorbeibringen.“ Angespannt ging er auf die Haustür zu, während Elena weiterhin sitzen blieb und ihm nachsah. Zwar hatte sich Bartok für den Abend angekündigt, doch sicher sein konnte er sich nicht. Vor der Tür angekommen, hielt er einen Moment lang inne, um eventuell im voraus schon hören zu können, wer sich auf der anderen Seite befand, doch es blieb still. Ganz langsam und vorsichtig griff er nach der eisernen Klinge. Er ließ eine weitere Sekunde verstreichen und öffnete dann schließlich die Tür.
    „Das hat ja eine Ewigkeit gedauert!“, maulte eine Thalis wohl bekannte Stimme. Keine Sekunde später traten Bartok und auch Bosper ein.
    „Was macht Bosper denn hier?“, fragte Thalis und sah Bartok verwirrt an. Dabei wunderte ihn nicht nur das zusätzliche Erscheinen des Bogenmachers, sondern auch die Tatsache, dass Bartok in voller Rüstung vor ihm stand. Sie war frisch mit Fett eingerieben worden und die eisernen Verschlüsse waren auf Hochglanz poliert. Sein Bogen war neu gespannt worden, das konnte Thalis selbst als Laie erkennen.
    „Wo sind deine Manieren!“ Bosper ignorierte die Frage und ging zu Elena, die nun ebenfalls mühsam aufstand.
    „Wunderschöne Dame, dürfte ich euch wohl um eure Gastfreundschaft bitten?“ Er verneigte sich vor ihr. Bartok begrüßte sie ebenfalls auf die gleiche Weise.
    „Darf ich euch einen Tee anbieten?“, fragte Elena.
    „Das ist mehr als wir erwartet haben“, schmeichelte der Bogenmacher.
    „Doch in eurer Verfassung, sollte dass doch eher der Hausherr übernehmen.“
    Beide ließen sich an der Feuerstelle nieder und legten sämtliche Waffen, die sie mit sich trugen ab. Inzwischen hatte Thalis die Tür verschlossen und ging zur Küchenzeile um zwei weitere Tassen zu holen.
    „Nur weil wir jetzt anderthalb Tage lang nicht geschlafen haben, bedeutet das nicht, dass wir uns wie wilde Wölfe verhalten, merk dir das mal!“, ermahnte Bosper den sehr viel jüngeren Hausbesitzer, als dieser wieder zurück war.
    „Natürlich“, stimmte Thalis entschuldigend.
    „Außerdem musst du mehr Rücksicht auf deine Frau nehmen!“ Thalis verschlug es den Atem.
    „Als ich von Bartok erfuhr, dass du an Fieber erkrankt bist und ihr keine Medikamente im Haus habt, war mir dein Wohl ein persönliches Anliegen“, wandte er sich an Elena.
    „Doch selbst die bringen nichts, wenn du ihr nicht genug Ruhe zukommen lässt und den Tee selbst anbietest!“, ermahnte er wieder den Hausherren.
    „Aber ich...“
    „Ich will nichts hören!“ Thalis beließ es mit einem seufzen dabei und goss seinen beiden Gästen Tee ein.
    „Da draußen verlieren so langsam alle den Verstand“, begann Bosper mit ruhiger Stimme.
    „Moe und Bennet haben einen Aufstand angezettelt. Sie wollen mit einigen Hafenbewohnern gegen die Miliz vorgehen und sich gegen die Ausgangssperre wehren.“
    „Deswegen hatten sie sich alle vor Kardifs Kneipe versammelt“, schlussfolgerte Thalis.
    „Richtig“, antwortete Bosper.
    „Ein absurdes Unterfangen, bei dem mit Sicherheit auch unschuldige Zivilisten verletzt werden.“
    „Zuzutrauen wäre es den Beiden“, unterbrach Elena die Runde.
    „Sie haben sich am späten Nachmittag am Tor zum oberen Viertel versammelt“, berichtete Bartok.
    „Ich sah, wie einige versuchten das Tor gewaltsam mit bloßen Händen zu öffnen. In den hinteren Reihen brüllten sich andere ihre Seele aus dem Leib. Die Bemühungen der Miliz, die Menge in irgendeiner Weise zu beruhigen, waren vergebens. Sie sind mit der Situation völlig überfordert und wurden zudem auch noch von der tobenden Menge mit Steinen beworfen.“
    „Aber sie erreichen dadurch doch nichts!“, schrie Elena entsetzt über das abstruse Verhalten ihrer Mitbürger auf.
    „Als wir uns auf den Weg hier her gemacht haben, war es noch schlimmer...“, begann Bosper traurig.
    „Es lagen mehrere Menschen regungslos am Boden. Ob sie noch lebten oder gar Hilfe bedurften, interessierte niemanden in der Menge. Der mit Kopfsteinpflaster verzierte Boden war mit getrocknetem Blut übersät.“
    „Am Nachmittag hat sich einer vor Schlafmangel vom hauseigenen Dach gestürzt. Ein Anderer hat blauen Eisenhut verzerrt und ist an den Folgen der Vergiftung gestorben“, führte Bartok die Erzählung fort.
    „Das Kraut hat er freiwillig zu sich genommen. Zwei weitere Männer sind aufgrund ihres hohen Alters und des fehlenden Schlafes verstorben. Die Dunkelziffer, so vermute ich, liegt wohl deutlich höher.“ Unweigerlich musste Thalis wieder an den toten Säugling und dessen verzweifelte Mutter denken. Dann sah er Elena an und erinnerte sich, was er ihr versprochen hatte.
    „Wenn wir nicht bald die Ursache für diese Katastrophe finden, lebt in weniger als vier Tagen nicht ein Mensch mehr auf dieser Insel“, sagte Bartok mit trauriger Stimme. Allesamt schwiegen und für einen Moment war nichts weiter, als das Pfeifen des Windes zu hören, doch bereits in der folgenden Sekunde wurde die Stille durch einen lautstarken Tumult auf der Straße beendet. Erst waren nur vereinzelte Stimmen zu hören, doch bereits kurz darauf arteten eben diese Stimmen in lautes Gebrüll aus.
    „Die Ausgangssperre ist in Kraft getreten“, erwähnte Bosper überflüssiger Weise. Klirrende Klingen trafen aufeinander und ein schmerzerfüllter Schrei nach dem anderen war in regelmäßigen Abständen zu hören. Aus jeder Ecke des Hafenviertels war das Klirren berstender Fensterscheiben zu vernehmen, Türen wurden zugeknallt oder eingetreten, immer wieder war ein lautes Krachen zu hören.
    „Bei Innos“, flüsterte Elena zitternd und hielt sich beide Hände vor ihren Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Besorgt nahm Thalis seine Frau in den Arm und streichelte ihr vorsichtig über den Kopf.
    „Es wird alles gut“, flüsterte er ihr zu und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Genau in diesen Moment schlug jemand mit voller Wucht mehrfach auf die Haustür ein. Alle vier zuckten beinahe zeitgleich zusammen und sahen erschrocken der Tür entgegen. Es folgten Sekunden der Stille, die dann aber erneut von heftigen Schlägen gegen die Haustür unterbrochen wurde.
    „Bitte helft mir!“, ertönte dieses Mal allerdings eine flehende Stimme.
    „Verdammt!“, fluchte Bartok und sprang plötzlich auf.
    „Was machst du da!“, schrie Thalis und sprang ebenfalls auf, als sich der Jäger zur Haustür aufmachte.
    „Das ist Rangar! Ich kenne ihn, er gehört zur Miliz.“, antwortete er und öffnete hektisch die Tür, noch bevor Thalis ihn daran hindern konnte. Tatsächlich stand vor der Tür der benannte Soldat der städtischen Miliz. Sein Gesicht war Blutüberströmt und von mehreren Schnittwunden gezeichnet und auch seine ungeschützten Unterarme machten keinen besseren Eindruck.
    „Los komm rein!“, ermahnte Bartok den Soldaten und schloss hinter dem hinkenden Mann hektisch die Tür.
    „Bist du jetzt völlig übergeschnappt!“, fuhr Thalis den Jäger an und ignorierte dabei den Eindringling.
    „Wenn sie ihn hier finden, sind wir geliefert!“
    „Sie werden ihn nicht finden!“, erwiderte Bartok und sah hilfesuchend Bosper an.
    „Beruhige dich, Thalis“, versuchte der Bogenmacher zu schlichten.
    „Wir wären nicht besser gewesen, als diejenigen, die ihm das angetan haben.“
    „Außerdem kann er uns vielleicht erzählen, was hier los ist“, argumentierte Bartok. Allesamt hielten einen Moment inne, bis Bosper mit ruhiger Stimme wieder den Dialog eröffnete.
    „Also entweder versorgen wir jetzt seine Wunden, oder du wirfst ihn wieder auf die Straße. Deine Entscheidung, Thalis.“
    „Also gut“, lenkte Thalis nach mehreren Sekunden des Schweigens schließlich missmutig ein.
    „Ich werde warmes Wasser und Tücher holen.“ Bosper und Bartok führten den Neuankömmling unterdessen an die Feuerstelle.
    „Ihr seht aus, wie ich mich fühle“, begrüßte Elena zurückhaltend ihren Gast.
    „Rangar“, antwortete dieser.
    „Mein Name ist Rangar.“ Thalis war inzwischen mit den erwähnten Utensilien zurückgekehrt und gab sie Bosper. Der Bogenmacher machte sich sofort daran, die Wunden des schwer verletzten Soldaten zu versorgen.
    „Fühlst du dich in der Lage, ein paar meiner Fragen zu beantworten?“, fragte Thalis den Soldaten und erntete dafür strafende Blicke seitens Bosper.
    „Die Fragen, die ich beantworten kann, werde ich als Dank für eure Gastfreundschaft beantworten, mein Herr“, antwortete Rangar mit schmerzverzerrten Gesicht.
    „Das kann sicherlich noch etwas warten!“, ermahnte Bosper den Hausherren.
    „Meine Frau erwartet ein Kind, hat seit etwa sechzig Stunden nicht mehr geschlafen und hat zu allem Überfluss auch noch Fieber!“ Thalis Stimme wurde deutlich aggressiver.
    „Also nein! Das kann sicherlich nicht noch etwas warten!“
    „Aufhören...“, wimmerte Elena weinend. Die anhaltenden Diskussionen und der deutlich schärfere Umgangston waren sichtlich zu viel für sie. Besorgt setzte sich Thalis zu ihr und nahm sie in den Arm, warf dem Bogenmacher jedoch gleichzeitig einen verärgerten Blick zu.
    „Wer hat dich so zugerichtet?“, fragte Bartok dem Soldaten, obwohl sich jeder die Antwort selber beantworten konnte.
    „Einige Bewohner der Stadt haben sich zusammengetan und wehren sich gegen die Ausgangssperre“, antwortete Rangar.
    „Du meinst einige Bewohner des Hafenviertels“, korrigierte Thalis, doch Rangar schüttelte seinen Kopf.
    „Es waren auch Bewohner der Unterstadt in der Menge. Sie gehen mit allerlei Gegenständen auf die Miliz los. Wir sind im Vergleich zu ihnen einfach viel zu Wenige, um etwas ausrichten zu können.“
    „Unter den gegebenen Umständen ist es auch kein Wunder, dass die Bewohner der Stadt durchdrehen“, warf Bartok ein.
    „Von der Schlaflosigkeit wusste Lord Regonas zum Zeitpunkt, als die Ausgangssperre beschlossen wurde nichts“, versuchte Rangar zu rechtfertigen.
    „Die kam ebenso überraschend, wie für alle Anderen auch. Doch am ersten Abend, kurz bevor die Ausgangssperre in Kraft trat, bekam Lord Regonas überraschend einen Brief zugeteilt. Er war von Lord Irenicus unterzeichnet, der seit geraumer Zeit in den nordöstlichen Ruinen der Insel Forschungen betreibt.“ Rangar hielt einen Moment lang inne.
    „Worum ging es in dem Brief?“, fragte Thalis ungeduldig.
    „Nun setz ihn nicht so unter Druck!“, mischte sich Bosper ein.
    „Erst wird er halb totgeschlagen und dann von uns dermaßen unter Druck gesetzt. Ich kann da durchaus verstehen, dass der Junge hin und wieder mal durchatmen muss.“ Thalis ignorierte diese Bemerkung und bohrte erneut:
    „Also?“
    „Man hatte Lord Irenicus gefangen genommen und drohte mit dem Tod aller sich auf der Insel befindlichen Menschen, wenn Lord Regonas nicht innerhalb der folgenden Tage ein mir mächtiges Artefakt aushändigen würde“, berichtete Rangar mit zittriger Stimme.
    „Wer hat den Lord gefangen genommen?“, fragte Bartok skeptisch.
    „Das weiß ich nicht.“
    „Was ist das für ein Artefakt?“, stellte Thalis sofort die nächsten Frage.
    „Das weiß ich auch nicht und es ist unter der Miliz auch nicht bekannt, ob Lord Regonas überhaupt dieses gewollte Artefakt besitzt“, antwortete der Soldat hilflos.
    „Keiner von uns hat den Brief zu Lesen bekommen und weiß auch kaum jemand etwas genaueres.“
    „Was unternimmt der Lord?“, fragte Bosper mit ruhiger Stimme und drängte damit alle anderen Fragen fürs Erste in den Hintergrund.
    „Als die erste Nacht vorbei war, hat er sich sofort mit allen Magiern der Stadt zusammengesetzt und nach der Ursache und einer möglichen Lösung für die Schlaflosigkeit gesucht. Jedoch blieben all diese Bemühungen ohne Erfolg. Am heutigen Morgen dann hat er der Heeresführung die komplette Regierungsgewalt übertragen und ist zu den Ruinen aufgebrochen.“
    „Allein?“, fragte Thalis skeptisch.
    „Obwohl der Hauptmann darauf bestand, dass eine Einheit Milizen ihn begleiten sollte, ging der Lord allein. Im Brief wurde genau das gefordert und Lord Regonas wollte nicht noch mehr Menschenleben gefährden“, antwortete der Soldat.
    „Aber was ist, wenn Lord Regonas das Artefakt aushändigt und sich dann nichts an unserer Situation ändert?“, fragte Elena am ganzen Körper zitternd. Eine Frage, auf die niemand zu antworten vermochte.
    „Sie werden ihn einfach umbringen und das Artefakt an sich nehmen. Dann gibt es keinen Grund mehr, die Schlaflosigkeit zu beenden“, mutmaßte Bartok.
    „Ich besten Fall kommt es so“, ergänzte Bosper.
    „Niemand weiß, was dieses Artefakt kann und wie mächtig es ist.“ Grübelnd fuhr Thalis sich mit den Fingern durch die Haare. Beim Anblick seiner weinenden Frau und bei dem Gedanken an sein ungeborenes Kind begann er durch die anhaltende Hilflosigkeit allmählich zu Verzweifeln.
    „Ich werde es nicht zulassen, dass wir hier vor Schlafmangel umkommen!“, rief Thalis fest entschlossen und zog die Aufmerksamkeit aller wieder auf sich.
    „Ach hör doch auf! Du kommst ja nicht mal aus der Stadt raus!“, erwiderte Bosper und erstickte das Aufkommen jeglicher Euphorie im Keim.
    „Es gibt einen Weg aus der Stadt heraus“, sagte Rangar plötzlich mit zittriger Stimme und alle horchten auf.
    „Es gibt einen alten Schmugglertunnel, der durch die ganze Stadt führt. Über ihn gelangt man unbemerkt aus der Stadt heraus. Man müsste ihm nur in nordöstlicher Richtung lange genug folgen.“
    „Dieser Tunnel führt also auch aus der Stadt heraus?“, wiederholte Bartok ungläubig.
    „Dass und noch zu einigen anderen Orten in der Stadt.“
    „Dann könnten wir ungesehen die Stadt verlassen und all dem Spuk vielleicht sogar ein Ende bereiten“, sagte Bartok zu Thalis.
    „Ihr solltet euch das sehr gut überlegen!“, ermahnte Bosper mit ernster Stimme.
    „Da sind Mächte am Werk, die keiner von uns versteht.“
    „Irgendeiner muss doch gehen...“, wimmerte Elena und brach nun endgültig nervlich zusammen. Thalis nahm sie erneut in den Arm und versuchte sie zu trösten und wieder zu beruhigen.
    „Ich habe dir ein Versprechen gegeben, erinnerst du dich?“ Sie nickte und wischte sich unwirsch mit ihrem Ärmel unter der Nase entlang.
    „Ihr solltet euch einen Satz Fackeln und Waffen mitnehmen“, antwortete sie schließlich mit zitternder Stimme.
    „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht!“ Er drückte sie an sich und küsste sie zärtlich.
    „Rangar und ich werden hier bleiben und sie versorgen“, versuchte Bosper die beiden zu beruhigen.
    „Verbarrikadiert die Tür sobald wir das Haus verlassen habt. Lasst niemanden rein!“, erwiderte Thalis mit sicherer Stimme. Innerlich wusste er nicht einmal, ob er je wieder zurückkehren würde. Ein Gedanke, der ihn beim Anblick seiner Frau an den Rand des Wahnsinns trieb.

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    Es war tiefschwarze Nacht, als Thalis und Bartok und das Haus verließen. Thalis spürte, wie seine Augen brannten, seine Glieder fühlten sich schwer an. Er hatte das Gefühl nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. Seine Beine trugen ihn mehr schlecht als recht und immer wieder befürchtete er im nächsten Moment zu stolpern und der Länge nach auf dem Boden zu landen. Das wilde Rauschen des unruhigen Meeres und der pfeifende Wind vermischten sich mit den andauernden Geräuschen des am vorigen Abend begonnenen Tumults. Allerdings hatte sich dieser inzwischen weiter in die Innenstadt verlagert. Beide liefen dennoch leise und im Schutz der Dunkelheit die schmalen Gasse entlang, die zur Hauptstraße des Hafenviertels führte.Vom Wind getriebene Blätter kreuzten tanzend immer wieder ihren Weg und ein fernes Donnern, kündigte ein kommendes Gewitter an. Als sie an der Hauptstraße ankamen, blieben sie plötzlich völlig erstarrt stehen.
    „Bei Innos.“, flüsterte Thalis und sah schockiert an der Hauptstraße entlang. Sie glich einem einzigen Schlachtfeld. Zertrümmerte Fässer, deren Inneres sich jetzt auf der Straße verteilt hatte, gesellten sich zu unzähligen Glasscherben, die einst zu mehreren nun zerbrochenen Fenster gehörten. Zahlreiche leblose Soldaten der Miliz, als auch Bewohner der Stadt lagen in unregelmäßigen Abstand am Straßenrand. Das Blut der Leichen tränkte den sandigen Boden in ein abscheuliches Rot. Eine erneute Windböe fegte über die Hauptstraße hinweg und ließ die Bekleidung der Leichen auf bizarre Art tanzen, zudem wurde es allmählich deutlich kühler.
    „Je schneller wir uns auf dem Weg machen, umso eher können wir weiteres Blutvergießen verhindern“, drängte Bartok zur Eile und betrat als erster die Hauptstraße in westlicher Richtung. Im ersten Gebäude, an dem sie vorbeikamen, wohnte Fenia. Ihr Verkaufsstand, der sich vor ihrem Haus zur Hauptstraße befand, war vollkommen zerstört worden. All die zum Verkauf angebotenen Waren waren über die gesamte Straße verteilt. Im Haus brannte weder Licht, noch waren Geräusche zu hören.
    „Warte“, flüsterte Thalis plötzlich und blieb stehen.
    „Was hast du vor?“
    „Hier wohnt Fenia und das dort war einmal ihr Verkaufsstand.“ Thalis trat auf eines der beiden Fenster heran und versuchte einen Blick ins Innere des Hauses zu werfen.
    „Wir haben keine Zeit!“, drängte Bartok energisch zur Eile, doch Thalis schüttelte den Kopf.
    „Sie hat eine seltene Krankheit... irgendwas mit ihren Händen. Ich will nur nach ihr sehen.“(*) Er versuchte so leise wie möglich an der Fensterscheibe zu klopfen und wartete einen Moment lang... es kam keine Reaktion aus dem Inneren des Hauses.
    „Komm jetzt!“ Zögernd wandte sich Thalis von der Fensterscheibe ab und folgte dann wieder Bartok, der hastig zum nächst gegenüberliegenden Haus lief.
    „Dort ist Kardiffs Kneipe“, flüsterte er und blieb ein Haus vor der Kneipe stehen.
    „Alles still“, flüsterte Thalis keuchend, nachdem sie einen Moment lang schweigend nach Geräuschen aus der Kneipe gelauscht hatten.
    „Wenn hast du denn erwartet, hier anzutreffen? Die beteiligen sich alle an der Revolte.“, antwortete Bartok mit ernster Miene.
    „Bosper und Rangar werden Elena kaum beschützen können.“ Thalis wurde auf einmal nervös und wirkte geistesabwesend.
    „Wie kann ich sie in einer solchen Situation alleine lassen?“, Panik kam in ihm auf.
    „Verdammt noch mal Thalis!“ Bartok packte ihn fest an beide Schultern.
    „Reiß dich jetzt mal zusammen, hörst du!“ Beide verharrten in dieser Position schweigend einige Sekunden lang, bis sich Thalis allmählich wieder beruhigt hatte.
    „Komm schon, wir müssen weiter!“ Sie ließen das alte Haus hinter sich und kamen direkt dahinter am Hafen an. Auch hier lagen zahlreiche Trümmerteile von einst angefangenen Bauaufträgen verstreut. Am Rande der Kaimauer trieben im Wasser teils komplette Holzkonstruktionen und wurden vom starken Wellengang immer wieder gegen die Mauer geworfen, bis sie schließlich auseinanderbrachen. Vorsichtig machten sie sich auf den Weg in nördlicher Richtung der Kaimauer entlang. Die teils sehr großen Trümmerteile versuchten sie entweder zu umgehen oder mit vereinten Kräften aus den Weg zu räumen. Doch die anhaltende, durch die Schlaflosigkeit verursachte Müdigkeit erschwerte ihr Unterfangen. Zudem peitschte der Wind erbarmungslos über das Hafenviertel hinweg und beeinträchtigte sie zusätzlich in ihrem vorankommen. Völlig ausgelaugt überquerten sie die letzten Meter der Kaimauer und kamen schließlich an dessen Ende an.
    „Hier ist es“, sagte Bartok und zeigte auf den Kanalisationszugang am Boden.
    „Ich bringe uns auf den schnellsten Weg zu den östlichen Ruinen, sobald wir die Stadt verlassen haben.“ Beide machten sich vorsichtig daran den horizontalen Schacht hinab in die Kanalisation zu steigen. Bartok stieg keuchend als Erster hinab und als er schließlich am unteren Ende des Schachtes angekommen war, machte sich Thalis für den Abstieg bereit. Die Stufen waren glitschig und er hatte beim Abstieg dieses Mal wesentlich mehr Mühe sich an den rostigen Gittern festzuhalten. Seine zitternden Glieder erschwerten ihm den Abstieg zusätzlich.
    „Komm ich helfe dir.“ Bartok stützte Thalis und half ihm die letzten Stufen der Leiter herabzusteigen. Thalis bedankte sich schwer atmend.
    „Also dann....“, begann Bosper und entzündete eine der Fackeln.
    „Zuerst müssen wir zurück zu Hannas Herberge und von dort aus dann nach Nordosten.“ So gingen sie den unterirdischen Weg, dem sie am Mittag entlanggelaufen waren, bis unter besagter Herberge entlang. Abgesehen von der Leiter, die hinauf zur Herberge führte, führte nur ein weiterer Weg in nordöstlicher Richtung weiter.
    „Verdammt!“, fluchte Bartok plötzlich und blieb stehen. Thalis stoppte ebenfalls und sah sein Gegenüber verwundert an.
    „Wir sollten zumindest schauen, ob es ihr gut geht. Sie hat uns schließlich geholfen.“
    „Bist du wahnsinnig!“, erwiderte Thalis aufgebracht.
    „Du hörst doch, was da oben los ist!“ Trotz dieser Warnung setzte Bartok dazu an, die Leiter zu erklimmen.
    „Hast du nicht gehört?“ Thalis reagierte sofort und packte den Jäger hinterrücks an den Schultern und zog ihn von der Leiter weg.
    „Du wirst mich zu den Ruinen führen und dort werden wir der Schlaflosigkeit auf den Grund gehen, haben wir uns verstanden!“, wies Thalis den Jäger zurecht.
    „Du hast Recht...“, antwortete Bartok schließlich nach mehreren Sekunden mit niedergeschlagener Stimme.
    „Wir müssen weiter.“ Der weitere Verlauf des alten Schmugglertunnels führte sie in eine geräumige Halle, die einst als Wohnbereich gedient haben musste. Neben dutzenden Betten, befanden sich neben einen alten Ofen auch zahlreiche teils zerfallene Schränke darin. Der einst hier unten geschmuggelte Reichtum war allerdings entweder schon lange fortgeschafft worden, oder unter einer dicken Staubschicht bedeckt und vom Rost zerfressen. Von der abgerundeten Hallendecke hingen meterlange Spinnweben, teilweise bis zum Boden hinab. Eine grotesker Gegensatz zur sich an der Oberfläche befindlichen Stadt. Im Vergleich dazu, wirkte diese unterirdische Welt erbarmungslos von der Zeit verschlungen.
    „Warte mal!“, rief Bartok plötzlich und blieb abrupt stehen.
    „Sieh dir das mal an!“ Thalis schaute vorsichtig an Bartok vorbei und entdeckte einige Meter vor dem gegenüberliegenden Ende der Halle eine Leiche. Sie war stark verwest und zudem mit zahlreichen Verletzungen übersät.
    „Ich kenne diesen Mann“, sagte Bartok und sah sich den verwesten Körper genauer an, ohne diesem dabei näher zu kommen, als nötig.
    „Ich auch“, antwortete Thalis nervös.
    „Das ist Harivald der Journalist (*), der seit geraumer Zeit vermisst wird.“
    „Aber was hat ihn so übel zugerichtet?“, fragte Bartok.
    „Wahrscheinlich war es der absolut miese Gestank, der von ihm ausgeht!“, maulte Thalis schließlich nach mehren Sekunden und hielt sich Mund und Nase mit der inneren Handfläche zu.
    „Was es auch war, ich will nicht das gleiche Schicksal erleiden“, stellte Bartok klar und ging bewusst die Leiche ignorierend weiter.
    „Es wurde damals nicht nur Harivald vermisst“, blieb Thalis zumindest thematisch bei der Leiche und folgte dem Jäger nachdenklich.
    „Was meinst du?“, fragte Bartok seufzend.
    „Ich meine, dass unser ehemaliger Stadthalter Laidoridas damals in etwa zeitgleich vermisst wurde.“ Thalis versuchte sich genauer zu erinnern.
    „Bei den Summen an Geld, die er uns damals abgeknöpft hat, hat er dieses Schicksal im Gegensatz zu Harivald verdient!“, verurteilte Bartok den ehemaligen Stadthalter. Nachdem sie die Halle hinter sich gelassen hatten, folgten sie nun wieder den einzigen in nordöstlicher Richtung führenden Gang. Er verlief stark angewinkelt nach oben und war dementsprechend auch gerade aufgrund der Müdigkeit wesentlich anstrengender zu meistern. Thalis wischte sich den Schweiß der Anstrengung von der Stirn. Seine Beine gaben immer wieder nach und er hatte Mühe seine Augen aufzuhalten. Sein Herz schlug schneller als sonst wenn er sich dermaßen verausgabte. Doch dann endlich erreichten sie das Ende des Tunnels.
    „Endlich... der Ausgang!“ Als sie schließlich wieder unter freien Himmel waren, fanden sich beide in einem mit allerlei Arten von Gras überwucherten Tal und zahlreichen Bäumen wieder. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals erhob sich eine gewaltige Bergkette zum Himmel hinauf, dessen Rücken in der Dunkelheit unterging.
    „Innos sei Dank! Ich weiß, wo wir uns befinden. Wir haben es geschafft!“, rief Bartok erleichtert.
    „Dann sollten wir keine Zeit verlieren“, antwortete Thalis forsch.
    „Wir gehen als erstes zurück zur Stadt und dann folgen wir der dortigen Straße in östlicher Richtung bis wir an der Taverne von Orlan dem Wirt ankommen“, erklärte Bartok die ungefähre Route.
    „Von dort aus folgen wir den Straßen in nordöstlicher Richtung und kommen dann letzten Endes bei den Ruinen an.“ Schnellen Schrittes eilten sie über den schwierigen Naturboden, der mit zahlreichen Wurzeln und Unebenheiten ausgestattet war. Während Bartok recht zügig voran kam, hatte Thalis ernsthafte Schwierigkeiten, mit dem neuen Terrain. Immer wieder taten sich zahlreiche Büsche vor ihn auf, die er mühsam umgehen mussten. Das zerrte zusätzlich an seinen von der Müdigkeit geplagten Kräften. Die großen Baumkronen ächzten unter dem anhalten Wind und ein greller Blitz, gefolgt von einem kräftigen Donnern, erinnerte erneut an das bevorstehende Unwetter. Keuchend kamen sie schließlich am Osttor der Stadt an und machten einen Moment lang halt, um eine Verschnaufpause einzulegen. Erschöpft ging Thalis in die Hocke. Sein Herz schlug dermaßen kräftig, dass er das Gefühl hatte, als würde es ihm gleich aus der Brust herausbrechen. Er wollte einfach nur noch schlafen.
    „Ich kann nicht mehr!“, schnaufte er völlig entkräftet.
    „Das sind die Auswirkungen der anhaltenden Schlaflosigkeit“, antwortete Bartok, der aufgrund seiner Erfahrungen als Jäger noch um einiges besser in Form war.
    „Dennoch müssen wir weiter!“.
    „Nein... ich kann nicht mehr“, keuchte Thalis geistesabwesend.
    „Du musst ohne mich weiter.“ Das Klirren von berstenden Fenstern war aus der Stadt heraus zu hören. Verzweifelte Schreie, gemischt mit den Ausrufen der wütenden Meute drang zu ihnen hinüber. Rauchschwaden und lodernde Flammen waren über die Stadtmauern hinweg zu sehen. Khorinis versank im Chaos.
    „Hörst du das!“, schrie Bartok seinen Weggefährten an.
    „Die schlagen sich immer noch gegenseitig die Köpfe ein und diejenigen, die sich nicht daran beteiligen, werden an der Schlaflosigkeit sterben. Es wird auch deine Frau und dein ungeborenes Kind treffen, wenn du deinen Allerwertesten jetzt nicht hochbekommst!“ Thalis biss so sehr die Zähne zusammen, dass hier hörbar knirschten und stand unter qualvollen Gliederschmerzen wieder auf. Seine Augen spielten ein böses Spiel mit ihm und ließen die Landschaft vor ihm für einen Moment verschwimmen. Er schloss seine Lider und schüttelte sich.
    „Dann los!“, antwortete er schließlich und versuchte stolpernd hinter Bartok her zu rennen. Ihr Weg führte sie an einer Bergkette auf der linken Seite und einer immer größer werdenden Schlucht auf der rechten Seite entlang. Da der Weg einen Hang hinauf führte, strengte ihr Marsch umso mehr an. Dabei kam der Jäger jedoch weiterhin wesentlich schneller voran. Thalis hatte immer wieder Probleme, sein Gleichgewicht zu halten. Sein Kreislauf spielte vollkommen verrückt, wodurch ihn ein Schwindelanfall nach dem anderen überkam. Mehr als eine Unebenheit im Boden brauchte es nicht und er fiel der Länge nach auf den Boden. Bartok verfolgte das Geschehen aus den Augenwinkeln heraus und schrie entsetzt auf, als sich sein Weggefährte gefährlich der Schlucht näherte. Er machte sofort kehrt, um nach Thalis zu sehen, als der sich plötzlich leise fluchend wieder aufrichtete. Bartok war beeindruckt und amüsiert zugleich.
    „Du musst etwas trinken!“, rief Bartok und gab ihm seine Feldflasche.
    „Wie weit ist es noch?“
    „Wir haben bald die Taverne erreicht“, antwortete Bartok und nahm seine Feldflasche wieder entgegen, nachdem Thalis getrunken hatte.
    „Von dort aus ist es nicht mehr weit.“ Beide folgten dem weiteren Weg und schließlich kamen sie an einer steinernen Brücke an. Ihr Weg führte sie darunter durch und so ließen sie erst die Schlucht und wenig später auch das Bergmassiv hinter sich. Die Ebene, auf der sie sich kurz darauf befanden, war von vielen kleineren Wäldern umgeben. In ihrer Mitte beherbergte sie allerdings ein mehrstöckiges Haus aus Backstein und Holz. Ein großes Fass über der Tür des Hauses stellte klar, was man darin bekam.
    „Da wären wir... die Taverne“, sagte Bartok zufrieden und klopfte an der Tür des Gasthauses.
    „Was tust du da?“, keuchte Thalis völlig verschwitzt.
    „Ich kenne den Wirt der Taverne. Er lagert einen Teil meiner Ausrüstung.“ Die Tür wurde langsam geöffnet und ein dunkelhaariger Mann trat hervor.
    „Orlan“, begrüßte Bartok den erschöpft aussehenden Mann.
    „Na sieh mal einer an...“, antwortete der Wirt und versuchte dabei ein freundliches Gesicht aufzulegen, was ihm jedoch nur bedingt gelang.
    „Ich würde ja behaupten, dass du dir einen echt beschissenen Zeitpunkt ausgesucht hast, um ein Bier zu trinken... aber wie ich sehe, seit ihr aus einem anderen Grund hier.“
    „Mein Begleiter aus der Hafenstadt und ich brauchen Ausrüstung“, stimmte Bartok zu.
    „Dann kommt schnell herein.“ Orlan trat einen Schritt beiseite und ließ Bartok und Thalis nacheinander hinein, dann schloss er eilig die Tür.
    „Hattest du vor kurzem Besuch?“ Bartok fiel sofort das angebrochene Glas Wasser auf der staubigen Bartheke links von ihm auf.
    „Nein“. Antwortete Orlan hastig und wich elegant zwischen beiden Gästen hindurch.
    „Ich meine.... ja, aber nur kurz“, korrigierte er sichtlich nervös und lies sie im Eingangsbereich zurück.
    „Ist er immer so?“ fragte Thalis und beobachtete misstrauisch, wie Orlan in einer Kammer am Ende des großen Speiseraums verschwand.
    „Nein“, antwortete Bartok verwirrt.
    „Eigentlich nicht.“ Sekunden später tauchte Orlan wieder auf. In beiden Händen trug er eine sichtlich schwere Truhe und brachte sie zu seinen beiden Gästen.
    „Hier haben wir es!“, rief er stolz und stellte die Truhe auf einem nahegelegenen Speisetisch ab. Sämtliches sich darauf befindliche Geschirr ging entweder zu Boden oder zerbrach unter dem enormen Gewicht der Truhe.
    „War Lord Regonas der Besucher?“, fragte Thalis plötzlich und landete damit einen Treffer. Orlan zuckte zusammen..
    „Hat ein Wasser bestellt...“, begann Orlan und machte eine hörbare Pause, ehe er fortfuhr:
    „...doch bei seinem Gesichtsausdruck hätte er wohl eher Serrikanischen Brand(*) vertragen.“
    „Hat er sich mit dir unterhalten?“, wollte Bartok wissen, doch der Wirt verneinte.
    „Hatte er etwas bei sich... einen seltsamen Gegenstand?“, bohrte Thalis weiter.
    „...seltsamen Gegenstand?“, wiederholte Orlan und verneinte kurz darauf abermals.
    „Wie lang ist er hier gewesen?“, erkundigte sich Bartok und machte sich daran, seine Truhe zu öffnen.
    „Er ist erst vor etwa einer halben Stunde abgereist“, antwortete der Wirt.
    „Ihr hättet seinen Gesichtsausdruck sehen sollen... Müdigkeit ist eine Sache, doch das war etwas vollkommen anderes.“
    „Du kannst mir nicht erzählen, dass der Lord erst vor einer halben Stunde abgereist ist und ihr euch nicht ein bisschen unterhalten habt!“ Thalis trat drohend einen Schritt an den Wirt heran.
    „Was habt ihr hier die ganze Zeit gemacht?“
    „Thalis das reicht jetzt!“, ermahnte Bartok seinen Begleiter und stellte sich schnell zwischen die Beiden, um Thalis von dem Wirt fernzuhalten. Doch Thalis lies sich dadurch in keinster Weise beruhigen und wurde noch wütender.
    „Verstehst du denn gar nichts...! Wenn das, was uns dein Freund hier auftischen will wahr ist, sind wir alle dem Tode geweiht!“
    „Beruhige dich Thalis! Ich kenne Orlan seit mehreren Jahren. Er sagt die Wahrheit.“
    „Ich will mich aber nicht beruhigen!“, Thalis verlieh seiner Stimme nun deutlich mehr Lautstärke.
    „Wenn der Lord das Artefakt gar nicht dabei hat, werden wir alle draufgehen!“ Für einen Moment lang verschlug es Bartok die Sprache. Die letzte Aussage seines Begleiters wies einen Aspekt auf, denn er bisher noch gar nicht beachtet hatte. Orlan ging es ähnlich, wusste er doch lediglich von der Schlaflosigkeit und nicht von dessen Grund.
    „Was meint er damit?“
    „Er meint damit, dass wir nun besser aufbrechen sollten... alter Freund.“


    (*)Diese Geschichte wird in Segen & Fluch erzählt.
    (*)Harivald ist einer der Protagonisten in Saw II.
    (*)Brand aus Serrikanien, der häufig auch Drachenblut genannt wird (The Witcher I).

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    Die nordöstlichen Ruinen - 80 Stunden ohne Schlaf

    Lord Regonas war inzwischen im nordöstlichen Tal angekommen, wo sich die alten Ruinen seiner Vorfahren befanden. Nur mit Mühe und Not hatte er den beschwerlichen Weg geschafft. Seine Füße konnte er kaum mehr spüren und seine Augen fielen ihm immer wieder zu. Wie gerne würde er ihrem Drang nachgeben und sie schließen. Doch er befürchtete, dass sein Herz eine solche Pause mit dem Stillstand honorieren würde und dann wären alle Einwohner Khorinis verloren. Die Ruinen waren der Ort, an dem sich das Überleben seines Freundes und aller anderen Menschen auf der Insel entscheiden sollte. Er war alleine gekommen, wie man es von ihm verlangt hatte und trug lediglich ein für die Miliz übliches Langschwert bei sich. Er trug eine lederne Rüstung und war in Anbetracht des strömenden Regens auch heilfroh darüber, diese leichtere Art der Rüstung gewählt zu haben. Er ging langsam zwischen kargem Fels und zum Teil zerfallen Bauwerken aus vergangenen Tagen vorbei und lief dabei zielstrebig auf das Zentrum des Tals zu. Eben dort befand sich der Eingang zu einem unterirdischen System aus verzweigten Gängen, in dem sich Lord Irenicus in den vergangenen Wochen aufgehalten hatte. Seitlich davon befand sich eine große Pyramide, die noch erstaunlich gut erhalten war. Daneben ragten imposante Säulen anmutig dem endenden Nachthimmel entgegen. Direkt über dem Zugang zu den unterirdischen Gängen, zierte ein meisterhaft erbauter Torbogen das Zentrum des Tals. Doch Lord Regonas vernahm nicht ein einziges all dieser Bauwerke und konzentrierte seinen Fokus vollkommen auf den zentralen Zugang der Ruinen. Er musste sich völlig auf seinen Körper konzentrieren, um sich überhaupt noch auf den Beinen halten zu können. Das zahlreiche Geröll, über dass er immer wieder herüber steigen und teilweise umgehen musste, zerrte zusätzlich an seinen ohnehin schon gemaßregelten Körper. Dennoch kam er schließlich langsam und am Ende seiner Kräfte im Zentrum der Ruinen an. Am Eingang der zentralen Ruine stand ein einzelner Mann mit Lord John Irenicus als Gefangenen. Er war an den Handgelenken, die er vor seinem Bauch hielt, gefesselt. Der Fremde trug einen schwarzen Plattenpanzer, dessen Schulterpartien mit spitzen Nieten versehen waren. Auf der massiven Brustpanzerung prangte eine silbernes Symbol des Schläfers hervor. Ein lederner Wams schien unter dem Brustpanzer hervor und verdeckte einen Teil seiner bis zum Knöchel reichenden Beinpanzerung. Regonas kannte die Rüstungen der schwarzen Paladine. Oft schon hatte er sie in zahlreichen Büchern gesehen, die vom einstigen Ende dieser dunklen Krieger berichteten. John Irenicus war jedenfalls rein äußerlich unversehrt, obwohl man ihm anhand seines Gesichtsausdrucks ansah, dass er alles andere als begeistert über das Auftauchen seines Amtskollegen. Immerhin war er rein äußerlich mindestens genauso von der Schlaflosigkeit gezeichnet, wie Regonas.
    „Du bist ein verdammter Vollidiot!“, rief er und schüttelte seufzend seinen Kopf.
    „Guten Morgen Lord Regonas“, grüßte der Unbekannte und eröffnete somit die Verhandlungen.
    „Da ihr meinen Namen bereits wisst, würde ich gerne den Eurigen erfahren!“, antwortete Regonas nach einigen Sekunden ruhig aber bestimmend, obwohl er am liebsten sofort auf sein Gegenüber losgegangen wäre.
    „Der tut nichts zur Sache und würde Euch ohnehin nicht viel nützen. Habt Ihr dabei, worum verlangt wurde?“
    „Das habe ich“, antwortete Regonas.
    „Hast du vollkommen den Verstand verloren!“, schrie John plötzlich wütend auf.
    „Du wirst ihm auf gar keinen Fall das Artefakt geben, es ist viel zu...“, ehe John seinen Satz vollenden konnte, spürte er einen harten Schlag im Nierenbereich, der ihm jegliche Atemluft nahm. Er ächzte und spürte wie die Luft aus seinen Lungen wich.
    „Sofort Aufhören...!“, schrie Regonas aufgebracht, als John röchelnd zu Boden ging.
    „Ihr bekommt, wonach Ihr verlangt. Nur bitte...lasst Lord Irenicus gehen“, fuhr er mit zitternder Stimme fort und verfolgte angespannt den Zustand seines Freundes. Für einen Moment trat eine gespenstische Stille ein. Feiner Regen und ein sanft wehender Wind eroberten die Geräuschkulisse und erweckten den fälschlichen Eindruck einer friedfertigen Umgebung. Dann griff der Paladin plötzlich nach Johns Schulter, der noch immer auf dem Boden im Schlamm kniete und zog ihn zu sich hinauf.
    „So soll es sein!“, schrie er und gab John einen kräftigen Stoß in den Rücken, wodurch John einige wenige Schritte nach vorwärts stolperte. Als der Abstand zwischen beiden groß genug war, griff der Paladin plötzlich von hinten mit der linken Hand nach Johns Schulter und preschte sein Schwert mit der anderen Hand in Johns Rücken. Regonas Atem setzte aus, als er auf einmal das vordere Ende des Schwertes aus dem Torso seines zuckenden Freundes aufblitzen sah. Doch im kurz darauf verschwand die Spitze des Schwertes wieder und der verwundete Körper des Lords bekam einen weiteren kräftigen Stoß, der ihn in Regonas Richtung schleuderte. Nicht imstande, sich auf den Beinen zu halten, fiel John der Länge nach in den Dreck. Fast zeitgleich, aber dennoch zu spät, schmiss sich Regonas ebenfalls auf den nassen Boden, um seinen Freund aufzufangen. Seine Stoffhose hatte der eiskalten Feuchtigkeit des Bodens nur wenig entgegenzusetzen und so war sie innerhalb weniger Sekunden vollkommen durchnässt. Doch Regonas nahm dies nicht im entferntesten wahr. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er versuchte Johns Körper langsam auf den Rücken zu drehen. Dabei war es ihm völlig egal, dass er dabei immer wieder tief in den feuchten Matsch hinab sank. Als es ihm dann endlich mühsam gelungen war, Johns zitternden Körper auf den Rücken zu drehen, atmete dieser kaum noch, Blut sickerte unaufhörlich aus der offenen Wunde und vermischte sich mit dem Regenwasser und dem Matsch.
    „Du hättest nicht herkommen dürfen...“, röchelte John mühsam.
    „Hast du es etwa in all den Jahren immer noch nicht gelernt? Du wirst mich so schnell nicht los“, antwortete Regonas und versuchte ohne Erfolg zu lachen. John setzte zur Antwort an, doch sein ganzer Körper begann zu krampfen.
    „John!“, rief Regonas verzweifelt und versuchte den Körper seines Freundes festzuhalten um so dem heftigen Krampfen entgegenzuwirken. Doch nur wenige Sekunden später hielt er inne... Lord John Irenicus lag regungslos in seinen Armen. Unter einem gefühlt berstenden Herzen versuchte er mit aller Gewalt seine Tränen zurückzuhalten. Doch der Schmerz des plötzlichen Verlustes war so immens, dass es ihm nicht einmal ansatzweise gelang.
    „Es ist vorbei!“, rief der Unbekannte triumphierend und ging langsam auf Regonas zu.
    „Gib mir das Artefakt und ich werde all dies beenden!“ Regonas blieb regungslos neben der Leiche seines soeben verstorbenen Freundes sitzen und ging in keinster Weise auf die Forderung ein.
    „Entweder du gibst es mir, oder ich werde auch dich töten! Erst dich und dann ganz langsam den Rest der Bevölkerung dieser Insel!“ Der Schwarzpaladin richtete sein Schwert Regonas entgegen. Sie war mit frischen Blut überzogen und in unregelmäßigen Abständen tropfte etwas davon auf den durchnässten Boden.
    „Niemals werde ich dir das Artefakt aushändigen!“ antwortete Regonas nach mehreren Sekunden mit bebender Stimme. Tränen liefen seinen Wangen herunter und er ballte seine Fäuste vor Wut so sehr, dass seine inneren Handflächen davon schmerzten.
    „Sturer Narr, dann stirb!“, schrie der schwarze Paladin wutentbrannt und holte zum Todesstoß aus. Plötzlich zischte ein Pfeil nur wenige Zentimeter an Regonas Kopf vorbei. Überrascht hielt der Schwarzpaladin mit seinem Angriff inne und versuchte irritiert herauszufinden, wer den Pfeil abgeschossen hatte, der ihn nur knapp verfehlt hatte; ohne Erfolg. Es folgte ein weiterer sich durch die Luft schneidender Pfeil, der dieses Mal über den Lord hinweg flog und den Paladin im unteren Brustbereich traf.
    „Verdammt!“, fluchte der Unbekannte und sah mit schmerzerfüllten Gesicht an seinem Oberkörper herunter. Der Pfeil war unterhalb seines Plattenpanzers an der Stelle, wo der lederne Wams begann eingeschlagen. Stöhnend sank er langsam auf die Knie. Am westlichen Horizont der Ruinen kamen zwei ihm unbekannte Personen auf das Zentrum zugelaufen. Einer von ihnen trug einen großen Bogen bei sich (*). Es waren Thalis und Bartok.
    „So oder so wird dich dieser Hinterhalt das Leben aller sich auf der Insel befindlichen Menschen kosten!“, schrie der verwundete Paladin und richtete sich plötzlich stöhnend wieder auf.
    „Und mit dir wird es beginnen!“ Er versuchte in den Kampf überzugehen, als ihm keine Sekunde später ein zweiter Pfeil auf gleicher Höhe des ersten im unteren Brustbereich traf und seinen Versuch vereitelte. Schwankend machte er noch zwei Schritte auf Regonas zu, ehe er schließlich der Länge nach zu Boden fiel. Sekunden später eilten Bartok und Thalis ins Zentrum der Ruinen.
    „Mein Lord!“, grüßte Bartok den noch immer am Boden knienden Regonas.
    „Das ist Thalis und mein Name ist Bartok“, stellte er sich und Thalis vor.
    „Wir sind gekommen, um euch zu unterstützen!“ Irritiert sah Regonas beide an und erkannte zumindest Bartok.
    „Du bist der städtische Jäger, der von Bosper dem Bogenmacher beauftragt wurde. Wie habt Ihr es aus der Stadt heraus geschafft?“
    „Das spielt keine Rolle, mein Lord!“, rief Thalis aufgebracht, ehe Bartok antworten konnte.
    „Wir müssen etwas gegen die Schlaflosigkeit unternehmen!“
    „In der Stadt gibt es eine Revolte und wenn wir nicht schnellstens etwas unternehmen, wird es ein furchtbares Gemetzel geben!“, fügte Bartok hinzu und versuchte der ermahnenden Aussage von Thalis mehr Nachdruck zu verleihen.
    „Habt Dank für Euer plötzliches Erscheinen. Ich denke, ich weiß, wie wir das Problem der Schlaflosigkeit beheben können“, antwortete Regonas schließlich und quälte sich wieder auf die Beine. Er wandte seinen sich einen kurzen Augenblick von Thalis und Bartok ab, kniete sich neben Lord Irenicus und deckte ihn mit seinem Umhang zu.
    „Möge Innos sich deiner Seele annehmen mein alter Freund“, flüsterte er und schwieg für einen Moment. Dann stand er auf und wandte sich wieder Bartok und Thalis zu.
    „Folgt mir!“, rief er und lief zum zentralen Zugang, der in die unterirdischen Ruinen führte. Sie betraten ein quadratisches Podest von wo aus eine steinerne Treppe steil hinab in den Untergrund führte.
    „Dort unten hat John in den letzten Wochen Forschungen betrieben. Es handelt sich bei alledem hier um Bauwerke unserer Vorfahren. Einem schon lange vergangenem Volk“, berichtete Regonas keuchend. Sie folgten der Treppe und tauschten den regnerischen Nachthimmel der Morgendämmerung gegen ein altes Dach aus Stein. An vielen Stellen war die lange Treppe, die etwa drei Meter in die Tiefe führte, bereits so sehr beschädigt, dass jeder Schritt bei entsprechender Stelle lebensgefährlich war. An der rechten Wand waren in regelmäßigen Abständen vereinzelte Fackeln befestigt worden, die den Gang schwach erleuchteten. Ihre flackernden Flammen erzeugten zahllose tanzende Schatten und eine gespenstische Atmosphäre. Thalis Augen schmerzten und zogen sich jedes Mal zusammen, wenn sie an einer erneuten Lichtquelle vorbei eilten. Als sie schließlich am Ende der Treppe angekommen waren, fanden sie sich in einem großen Saal aus Stein wieder. An allen vier Wänden waren neben zahlreichen Schriftzeichen der alten Sprache auch mehrere Abbildungen von Tieren und anderen Kreaturen in den Stein gehauen. Der Boden bestand aus unzähligen Mosaiksteinchen. Sie ergaben im gesamten ein wellenförmiges Kunstwerk. Doch auch hier hatte die Zeit Spuren hinterlassen, denn tiefe Risse zogen sich durch das Muster und an vielen Stellen waren die Steinchen aufgeplatzt. Jeweils ein Gang führte zu beiden Seiten aus der Halle heraus, wobei Lord Regonas den linken wählte, gefolgt von Bartok und Thalis. Die alten Schriftzeichen und die malerischen Abbildungen setzten sich auch hier weiterhin an den Wänden fort. Imposante Säulen, wie sie auch schon auf der Oberfläche zu sehen waren, waren hier links und rechts in regelmäßigen Abständen als Träger eingesetzt worden. An jeder dieser Säulen war eine Fackel befestigt, wodurch der Gang nahezu komplett erhellt war.
    „Wir sind gleich da!“, rief Regonas keuchend, als sie sich schließlich dem Ende des Gangs näherten, der wiederum in einem neuen Saal endete. Doch noch bevor sie den Saal erreicht hatten, trat aus einem für die drei Khoriner nicht einsehbaren Winkel des Saals ein Mann in einer schwarzen Robe hervor. Die lange Kapuze seiner viel zu großen Robe verdeckte die obere Hälfte seines Gesichtes und ließ keinerlei Schlüsse über seine Identität zu. Als er die drei Khoriner sah, zogen seine Mundwinkel sich nach oben und er entblößte eine Reihe spitzer, fauliger Zähne. Noch bevor Regonas, Thalis und Bartok zum Stehen gekommen waren, streckte der Magier ihnen beide Hände entgegen. Ein magische Geschoss in Form eines großen Totenkopfes entwich plötzlich seinen Händen und schnellte auf die drei zu.
    „Geht in Deckung!“, rief Lord Regonas aufgebracht seinen zwei Begleitern zu, die sich hinter ihm befanden und stellte sich dem Geschoss schützend in den Weg. Während sich Bartok und Thalis jeweils links und rechts zur Seite warfen und unsanft auf dem steinernen Boden landeten, wurde Regonas von dem Geschoss getroffen. Eine dunkle Aura legte sich über seinen gesamten Körper und zwang ihn durch unvorstellbare Schmerzen in die Knie. Regonas schrie am ganzen Körper zitternd schmerzerfüllt auf. Er versuchte sich zu wehren, sich wieder aufzurichten, doch je mehr er sich wehrte, desto stärker wurden die Schmerzen. Thalis und Bartok hatten es inzwischen geschafft sich wieder aufzurichten und gingen nun jeweils hinter einer Säule einige Meter vom Lord entfernt in Deckung.
    „Lord Regonas...“, rief der Magier mit einer Stimme, die Thalis unwillkürlich erschauern ließ.
    „Der unrechtmäßige Lord, der sich seinen Titel durch einen geheimen Pakt erschlichen hat.“ Thalis und Bartok verharrten weiterhin hinter den Säulen und verfolgten angespannt die Situation. Regonas hingegen hatte sich inzwischen vollkommen seinen Schmerzen ergeben und lag nun gänzlich am Boden. Am ganzen Körper zitternd rang er qualvoll nach Luft, die ihm sein Körper versagte.
    „Wie fühlt es sich an, wenn einem die Lebenskraft entzogen wird?“ Die dunkle Stimme des Magiers hallte durch die Gewölbe.

    (*)Bei dem Bogen handelt es um einen seltenen Nimroder aus Gothic 1

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    Die nun deutlich lauter werdende Stimme verriet Bartok und Thalis, dass sich der Schwarzmagier, während er zu Regonas sprach, deutlich näher kam. Hinter einer massiven Säule versteckt, bereitete Bartok mit zitternden Händen einen bei Orlan gelagerten Pfeil und seinen Bogen vor. Er sah Thalis auffordernd an, der sich auf der anderen Seite des Gangs ebenfalls hinter einer auf gleicher Höhe liegenden Säule versteckte. Er hatte bereits seinen Dolch gezogen und und stimmte den Versuch eines Angriffes mit einem Kopfnicken zu. Bartok trat so schnell er nur konnte aus seiner Deckung hervor und drehte seinen kompletten Körper samt gespannten Pfeil und Bogen in die Richtung des Saals. In der Tat befand sich der Schwarzmagier ohne jegliche Deckung am Ende des Saals direkt vor dem am Boden liegenden Lord. Doch noch bevor ihn Bartok richtig erfassen konnte, schoss bereits das nächste magische Geschoss auf ihn zu. Panisch brach er seinen Angriff ab und wich wieder hinter die Säule, als das Geschoss nahezu im gleichen Moment von der anderen Seite in selbige Säule einschlug. Der Einschlag glich einer heftigen Explosion, wodurch sich mehrere Gesteinsbrocken aus der Säule lösten und zu Boden gingen. Schwer atmend entspannte er seinen Bogen wieder und versuchte seinen angeschlagenen Kreislauf wieder unter Kontrolle zu bringen. Währenddessen ertönte erneut die Stimme des Schwarzmagiers:
    „Gebt mir das Artefakt und ich sorge dafür, dass euer Freund am Leben bleibt!“ Keiner der Beiden rührte sich und bedrückende Stille kam auf. Einzig das Knistern der brennenden Fackeln und der unregelmäßige Atem des Lords waren zu hören. Bartok war es mittlerweile wieder gelungen, seinen Körper annähernd unter Kontrolle zu bekommen und überlegte nun verzweifelt, wie er einen gescheiten Angriff hinbekommen konnte. Der Atem des Lords wurde allmählich immer unregelmäßiger und glich beinahe schon einem Röcheln, was ihn zusätzlich unter Druck setzte. Auch Thalis spähte ständig hinter der gegenüberliegenden Säule hervor und suchte nach einer Gelegenheit, anzugreifen.
    „Wollt ihr wirklich für seinen Tod verantwortlich sein?“, rief der Schwarzmagier ein weiteres Mal.
    „Wollt ihr für einen einzelnen Gegenstand wirklich das Leben aller Menschen auf dieser Insel opfern?“
    „Der Einzige, der hier sterben wird, bist du!“, rief Thalis plötzlich und lies die Deckung der Säule ohne Bartok in sein Vorhaben einzubinden mit gezogenen Dolch hinter sich. Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen und versuchte sich an das wunderschöne Gesicht seiner Frau zu erinnern. Doch der enorme Druck und auch das extreme Leiden unter der Schaflosigkeit erschwerten es ihm, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Zwischen ihm und dem Schwarzmagier, der ihn bereits entdeckt hatte, lagen drei weitere Säulen und dem noch immer am Boden kauernden Lord. Er wusste, dass er es niemals schaffen würde, nah genug an den Magier heranzukommen, um diesen dann auch angreifen zu können. Seine einzige Hoffnung bestand darin, sich rechtzeitig hinter einer der drei kommenden Säulen zu werfen und Bartok so eine Möglichkeit für einen Angriff geben zu können. Doch als er gerade einmal seine Säule hinter sich gelassen hatte, schoss der Magier bereits das erste magische Geschoss in seine Richtung. Glücklicherweise gelang es Thalis im entscheidenden Moment auszuweichen, wodurch es ihm um Haaresbreite verfehlte und explodierend direkt hinter ihm in die Säule einschlug. Dennoch wandte sich seine Hoffnung nun in panische Angst. Sein ohnehin schon durch die Schlaflosigkeit schnell schlagendes Herz schlug nun so sehr, dass es schmerzte. Seine Sinne versagten ihren Dienst und er verlor allmählich das Gleichgewicht. Stolpernd versuchte er sich auf den Beinen zu halten und trotzdem noch genug Geschwindigkeit aufzubringen, um nicht vom nächsten magischen Geschoss getroffen zu werden, dass bereits wieder im Anflug war. Doch gelang es ihm weder, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen, noch dem Geschoss auch nur ansatzweise ausreichend auszuweichen.
    Bartok, der mit einer solch plötzlich Aktion nicht gerechnet hatte, war völlig überfordert und versuchte hastig wieder seinen Bogen zu spannen. Eine Explosion an der ihm gegenüberliegenden Säule setzte ihn allerdings zusätzlich unter Druck, denn sie verriet ihm, dass Thalis bereits attackiert wurde. Hastig drehte er sich mit gespannten Bogen erneut zum Schwarzmagier, um direkt in den Angriff überzugehen. Doch als in der nächsten Sekunde Thalis am rechten Oberschenkel von einem magischen Geschoss getroffen wurde und zu Boden ging, hielt er erschrocken inne. Er lies wertvolle Sekunden Verstreichen, in denen er vollkommen paralysiert einfach nur da stand. Sekunden, in denen der unbekannte Magier bereits wieder ein neues magisches Geschoss erzeugte, um Thalis endgültig den Rest zu geben. Erst im allerletzten Moment, als das Geschoss zur vollen Größe aufgeladen war, kam Bartok wieder zur Besinnung. Blitzschnell, aber dennoch konzentriert visierte er die steinerne Decke direkt über den Schwarzmagier an, spannte Pfeil und Bogen und lies los. Explodierend schlug der Pfeil an beabsichtigter Stelle direkt über den Magier ein. Binnen eines Wimpernschlages breitete sich eine glühend heiße Feuerwelle in alle Richtung aus und begann zu Boden zu sinken. Dies sorgte beim Magier glücklicherweise für den von Bartok gewünschten Effekt. Er war dermaßen überrascht, dass das magische Geschoss kollabierte und schließlich gänzlich jegliche Struktur verlor. Darüber hinaus sank die Feuerbrunst dermaßen schnell zu Boden, dass er auch nicht mehr imstande war, auszuweichen. Unter entsetzlich qualvollen Schreien, wurde er unter der Flammendecke begraben (*). Die ohrenbetäubenden Schreie erschütterten Bartok bis ins Mark. Nie zuvor hatte er diese Art von Pfeilen eingesetzt und schwor sich innerlich sie auch niemals wieder einzusetzen. Panisch spannte er einen normalen Pfeil ein und bereitete den qualvollen Schreien des Magiers ein Ende. Am ganzen Körper zitternd lies er seinen Bogen zu Boden fallen und löste seinen Köcher. Er bekam nur schwer Luft und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
    „Thalis!“, keuchte er völlig erschöpft und mühte sich zu seinen am Boden kauernden Begleiter.
    „Komm schon... mach mir hier nicht schlapp!“ Er lies sich direkt neben ihm auf seine Knie fallen und versuchte Thalis auf den Rücken zu drehen.
    „Mein Bein... ich habe höllische Schmerzen im Bein“, antwortete Thalis schwer atmend.
    „Keine Sorge... da ist alles noch dran.“, antwortete Bartok, nachdem er sich die besagte Stelle angesehen hatte.
    „Komm schon. Wir sind hier noch nicht fertig!“ Er griff völlig entkräftet nach Thalis Armen und half ihm wieder auf die Beine. Auch wenn Bartok kaum noch dazu in der Lage war, stütze er Thalis. Besorgt sahen sie nach dem am Boden liegenden Lord. Die dunkle Aura war inzwischen gewichen und beim näherkommen konnten sie nur noch ein ganz schwaches Röcheln hören.
    „Mein Lord?“ Vorsichtig lies Bartok seinen Begleiter zu Boden und beugte sich dann zu Regonas herunter.
    „Der Magier ist tot.“ Bartok wusste nicht einmal, ob Regonas ihn noch hören konnte, oder ob er imstande war zu antworten.
    „Was sollen wir jetzt tun, Lord Regonas?“ Es vergingen mehrere Sekunden, in dem Regonas nicht reagierte. Verzweiflung kam allmählich in Bartok auf, doch dann:
    „Der Saal...“, antwortete Regonas nach mehreren Sekunden endlich mit schwacher Stimme. Erleichtert atmete Bartok auf.
    „Verdammt zäher Kerl“, sagte Thalis und versuchte zu grinsen, was im jedoch nur ansatzweise gelang.
    „Ich muss in den Saal“, sagte Regonas mit heiserer Stimme.
    „Nur dort können wir all dem hier ein Ende bereiten.“ Bartok sah besorgt zu Thalis herüber.
    „Kannst du laufen?“,
    „Wenn überhaupt, dann humpeln“, antwortete Thalis und lachte gequält auf.
    „Ich habe das Gefühl, dass die Schmerzen in meinem Bein immer schlimmer werden.“ Mühsam richtete sich Thalis auf. Bartok griff unterdessen schwer atmend nach den Unterarmen des Lords. Langsam und ganz vorsichtig half er Regonas auf die Beine. Unter größter Angstregung passierten sie schließlich den Zugang des Saals. Er sah bis auf ein paar wenige Ausnahmen in etwa genauso aus, wie der vorherige, den sie gesehen hatten. Das aus Mosaiksteinchen bestehende Muster am Boden des Saals war ein anderes und auch im wesentlich schlechteren Zustand. Zahlreiche aufgeplatzte Stellen klafften an mehreren Stellen aus dem Boden und wieder zogen sich tiefe Risse durch das gesamte Muster. Am rechten Ende des Saals war ein imposantes Portal in die Felswand gebaut worden. Eine mit Gold verarbeitete Treppe führte auf ein davor liegendes Podest, welches sich auf etwa gleicher Höhe mit dem Portal befand. Eine große Einkerbung an der rechten Seite des Portals ließ Bartok und Thalis in etwa erahnen, um was es sich bei dem geforderten Artefakt handelte. Für einen Moment lang blieben sie stehen und gönnten sich eine kurze Verschnaufpause. Thalis Schmerzen nahmen immer mehr zu. Mit schmerzverzerrten Gesicht rieb er sich zitternd seinen rechten Oberschenkel.
    „Bartok, es tut mir Leid.“ Er sank zu Boden.
    „Lass ihn sich ausruhen“, mahnte Regonas.
    „Im Gegensatz zu mir hat er noch eine geringe Chance zu überleben. Du musst mich dort hinten hineinlegen.“ Er zeigte auf ein Pentagramm aus Kerzen, das sich am Ende des Saals auf der gegenüberliegenden Seite des Portals befand. Eine bereits völlig vertrocknete Blutlache hatte sich auf den steinernen Boden aus Mosaiksteinchen festgesetzt.
    „Bei Innos, was habt ihr vor?“, fragte Thalis entsetzt, als er all das Blut sah.
    „Ich werde den Fluch beenden“, antwortete schwer atmend.
    „Woher habt ihr das Wissen darüber?“, fragte Bartok nervös.
    „In den Stunden vor meiner Abreise habe ich mich mit den weisesten Magiern dieser Insel beraten. Es gibt nur sehr wenige magische Möglichkeiten, eine Schlaflosigkeit in einem solchen Ausmaß, wie wir sie gerade erleben zu wirken“, berichtete Regonas mit schwindender Stimme.
    „Eine Person opfert sich in einem Pentagramm aus Kerzen und aus dem gewonnenen Blut wird der Fluch ausgesprochen. Je mächtiger der Magier, desto größer der Wirkungsradius.“
    „Wollt ihr euch etwa...?“, fragte Bartok erschrocken und sah Regonas fassungslos an.
    „Es ist der einzige Weg“, antwortete er ausdruckslos.
    „Um diesen Blutfluch zu beenden, muss ich den selben Tribut erbringen, mit dem er erschaffen wurde.“
    „Das dürft ihr nicht!“, schrie Bartok entsetzt auf.
    „Wer soll denn das ganze Chaos in der Stadt beseitigen?“
    „Mein Leben endet in Kürze, so oder so“, antwortete Regonas mit ruhiger Stimme.
    „Also lasst mich das Leben all dieser wunderbaren Menschen auf dieser Insel retten.“ Widerwillig begleitete Bartok den Lord bis in die Mitte des Pentagramms und half ihm vorsichtig dabei, sich auf den Boden zu setzen.
    „Hört mir jetzt ganz genau zu“, begann Regonas und zog einen Ring von seinem Finger.
    „Nehmt diesen Ring und übergebt ihn an den Hauptmann. Berichtet ihm von den heutigen Geschehnissen. Er wird wissen, was er als Nächstes zu tun hat.“ Bartok nahm den Ring an sich und betrachtete ihn einen kurzen Moment lang. Es handelte sich bei dem Schmuckstück um einen abgenutzten Ring aus Silber. In seiner Fassung beherbergte er allerdings einen wunderschön schimmernden Stein aus Auquamarin.
    „Dieser Ring...“, murmelte Bartok und überlegte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.
    „Orlan, der Wirt der Taverne trägt ebenfalls einen solchen Ring“, erinnerte er sich.
    „Was hat das zu bedeuten?“
    „Dieser Ring ist das Erkennungszeichen einer geheimen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft agiert im Hintergrund und hat zahlreiche Mitglieder...“ Er machte eine längere Pause in der er mehrere Male versuchte durchzuatmen. Es viel ihm immer schwerer.
    „Jedes Mal wenn zum Beispiel Artefakte aus vergangenen Tagen gefunden werden, die das Leben aller Menschen auf dieser Insel gefährden, werden wir aktiv.“
    „Das Artefakt, das der Schwarzmagier haben wollte“, ergänzte Bartok.
    „Es ist eine Art Schlüssel, um das Portal am Ende des Saals zu öffnen“, stimme Regonas zu.
    „Wo führt es hin?“
    „Das Wissen darüber hat bereits genug Menschen das Leben gekostet“, wich Regonas der Frage aus.
    „Übergebt den Ring und berichtet von den Ereignissen hier. Nur so könnt ihr sicherstellen, dass sich all dies Leid nicht wiederholt.“ Bartok war mit dieser Antwort nicht zufrieden, doch als Regonas allmählich das Bewusstsein zu verlieren begann, stimmte er schließlich zu. Es dauerte danach nur noch wenige Sekunden, bis schließlich auch Regonas dahinschied. Mit seinem letzten Atemzug entschuldigte er sich bei seinem Amtskollegen und sank schließlich leblos zu Boden.

    (*) Es handelt sich bei dem Pfeil um eine abgewandelte Form eines Explosionspfeils. Mit einem Aufschlagzünder versehen gibt die Explosion eine leicht brennbare Flüssigkeit frei und entzündet sie zugleich.

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    Eine Woche später

    Die östliche Hochebene nahe der Stadt Khorinis...

    Jemand sagte einmal, dass man entweder als Held stirbt, oder so lange lebt, bis man selber zum Bösen wird. An ihn und alle Anderen, die so denken sei folgendes gesagt:
    „Entscheidungen machen uns zu denen, die wir sind. Und wir haben immer die Wahl, das Richtige zu tun.“

    Ein leichter Regen rieselte auf den aufgeweichten Boden und dennoch war der Hügel gut besucht. Egal ob Bürger des Hafenviertels, der Unter- oder Oberstadt, alle waren sie gekommen, sofern es ihnen möglich war. Viele hatten ihr Leben gelassen, viele waren schwer verletzt und mussten ihr Bett hüten. Der Gräuel den man gegen die Miliz, gegeneinander oder auch gegen sich selbst gehegt hatte, war entschwunden. Bartok und Thalis hatten die Stadt nach ihrer Rückkehr in einem tiefen Schlaf vorgefunden. So kann man es wohl sagen. Thalis musste lächeln als er daran dachte, wie Milizionäre oder auch Bürger schlafend auf den Straßen gelegen hatten. Zwei tage und Nächte schlief Khorinis durch, erst danach begannen die Aufräumarbeiten, die selbst am heutigen Tage noch nicht beendet waren und wohl noch Wochen andauern würden. Doch an diesem Tage wollte man denen Ehre zuteil kommen lassen, denen Ehre gebührte. Zwei Lords, die ihr Leben für das einer gesamten Stadt ließen.
    Thalis hatte seinen Arm um Elena geschlungen. Nicht etwa um sich aufgrund seiner Verletzung am Bein bei ihr zu stützen, sondern viel mehr als Geste der Zuneigung. Seine Frau tupfte sich immer wieder mit einem Taschentuch die Augen ab. Sie schniefte und hob ihren Kopf um in die Augen ihres Mannes schauen zu können. Thalis lächelte sie an, als Vatras kurz darauf mit seiner Rede begann:
    „An diesem heutigen Tage nun, wollen wir Abschied nehmen. Abschied von zwei außergewöhnlichen Menschen. Mir ist nur allzu bewusst, dass keiner der Lords wollen würde, dass wir ihren Verlust zu sehr betrauern. Doch man trauert nun einmal um diejenigen, die immer Verständnis gezeigt, um das Wohl anderer bedacht, Veränderungen erzielten, die keinem von uns geschadet haben. Veränderungen, die wohl auch dem ein oder anderen ans Herz gewachsen sind. Wohl keiner hätte von uns erwartet, dass die Lords ihr Leben auf solch tragische aber auch heldenhafte Weise finden würden. Ich hatte immer gedacht, Lord Irenicus würde mit dem Kopf auf einem seiner Bücher sterben, während Regennass seinem Übereifer zum Opfer gefallen worden wäre.“ Ein Schmunzeln ging bei diesen Worten durch die anwesenden Bürger Khorinis.
    „Und doch haben diese beiden Lords nun ihr Leben für uns gelassen. Ehre denen, welchen Ehre gebührt. Möget ihr Euren Frieden finden. Und mögen auch all jene ihren Frieden finden, die ein jeder von uns auf so tragische Weise verloren hat.“ Die Bürger Khorinis legten Steine, zum Schutz gegen Wölfe, auf die Gräber. Etliche alte Menschen, Kinder und Kranke waren verstorben. Zu den Füßen der Lords, waren zu diesem Zweck weitere Gräber ausgehoben worden, in denen die Verstorbenen ihre letzte Ruhe fanden. Der Hauptmann der Miliz gesellte sich zu Thalis und seinen Freunden.
    „Ehre den Lords!“, murmelte er und nickte ihnen zu. Die Männer erwiderten den Gruß.
    „Was wird nun passieren?“, fragte Thalis den Hauptmann interessiert.
    „Wer wird neuer Stadthalter sein?“
    „Diese Frage kann ich Euch nicht beantworten, wenn ich den letzten Befehlen Lord Regonas Folge leisten will.“
    „Und die wären?“, fragte Elena leise.
    Der Hauptmann lächelte sie an.
    „Nun, der letzte Erlass des Lords war es, dass von nun an, die Bürger Khorinis den Stadthalter ernennen sollten. Ich meine, er nannte es eine Demokratie!“

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