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    Harte Arbeit

    Die Axt war stumpf. Wenn man mit dem Finger über das Schneidblatt strich, würde man höchstens in einer der Kerben hängen bleiben, jedoch keine Gefahr laufen, sich selbst zu schneiden. Zum Glück war das Holz, das sie spalten sollte, von der rings um Flusswald weit verbreiteten Kiefer, sehr weich und gab auch bei stumpfen Schlägen nach. Man musste nur genug Kraft aufwenden und konnte einen Klotz mit ein oder zwei Schlägen spalten. Und ein Nord besaß in der Regel viel Kraft. Schwierig wurde das Ganze nur, wenn man die letzten sechs Stunden nichts anderes gemacht hatte und einem die Muskeln schon stärker brannten als ein kräftiger Schluck Feuerbrandwein im Rachen.
    „Genug für heute, Embry“, rief der Müller Hod ihm freundlich zu, „Die Sonne geht schon unter. Lasst uns Feierabend machen.“
    „Na endlich“, brummte Embry erleichtert in seinen dichten Vollbart und donnerte mit einem gewaltigen Motivationsschub das Beil in den Holzklotz. Es brach sauber in zwei Teile, die der Nord auf den Haufen mit Feuerholz warf, den er Tag für Tag höher stapelte. Obwohl der Winter noch lange nicht vor der Tür stand, war es immer gut, einen großen Vorrat Feuerholz zu haben. In Himmelsrand waren plötzliche Temperaturstürze auch im Spätsommer keine Seltenheit.
    Embry wischte sich mit dem Hemdrücken den Schweiß von der Stirn. Er fühlte sich elend. Sein Herz raste vor Anstrengung, die Finger zitterten und sein Blick war total verklärt. Er brauchte jetzt dringend einen Schluck Met im Schlafenden Riesen. Hod war so freundlich gewesen, ihm Arbeit anzubieten, nachdem er sich bei Orgnar, dem örtlichen Wirt, total verschuldet hatte. Jetzt war es wieder an der Zeit, die Früchte seiner Mühen zu ernten. Er wollte einfach nur etwas trinken.
    „Gebt mir meinen Lohn“, bat Embry den Betreiber der Sägemühle.
    Hods Blick wurde ernst: „Ich habe Orgnar für euch bezahlt. Er meinte, ihr würdet euer Geld eher weiter versaufen, als eure Schulden zu begleichen. Kommt doch mit zu mir, ich lade euch zum Essen ein. Meine Frau macht heute ihren fabelhaften Kartoffel-Kohl-Eintopf. Da bleibt immer reichlich über.“
    „Was?!“, Embry warf empört die Axt beiseite und sein Kopf lief rot an, „Das klingt nach einem Essen für Milchtrinker! Ganz ohne Fleisch. Und wie könnt ihr es überhaupt wagen, meinen Lohn für mich auszugeben? Ich kann ja wohl selbst entscheiden, wie ich mit meinem Geld umgehe.“
    „Vergesst nicht“, begann Hod und legte dem Gleichaltrigen väterlich den Arm auf die Schulter, „wem ihr Arbeit und Essen zu verdanken habt. Und nun zügelt euren Zorn, wir haben auch Met im Hause.“
    Embry schnaufte immer noch verärgert, doch wie er das Wort Met vernahm, wurde seine Laune schon etwas besser.
    „Wenn ihr meint. Aber morgen bekomme ich meinen Lohn auf die Hand, abgemacht?“
    Er streckte die große, von Striemen übersäte Hand aus. Der kräftige Holzfäller schlug ein: „Abgemacht.“

    Die beiden Arbeiter machten sich auf den Weg zum Haus des Müllers. Ein sonniger Tag im Monat der letzten Saat lag hinter ihnen. Der strahlende Tag wich bereits einer leuchtenden Nacht, in der die Nordlichter besonders stark auf das kleine Dörfchen Flusswald herabschienen. Eine gewisse Befriedigung machte sich im Herzen des armen Nord breit, der vor einigen Jahren alles verloren hatte. Er dachte an Sovngarde, seine Eltern und sein Weibsbild, die dort auf ihn warten mochte. Der Verlust seiner Liebsten hatte ihn in ein tiefes Loch aus Depressionen und Trunkenheit geleitet und in Momenten wie diesem überkam ihn wieder der unsägliche Drang, seine Sorgen in Met zu ertränken. Er musste sich ablenken.
    „Sagt mal Hod, euer Weib…“
    „Gerdur“, half ihm der Müller auf die Sprünge.
    „Genau, Gerdur. Sie war nicht so begeistert gewesen, als du mir damals Geld für die Tagelöhnerdienste gegeben hattest…“
    Hod lachte: „Ja, sie ist nur besorgt, dass genug Geld und Essen für die Familie übrig bleibt. Aber wir haben dieses Jahr schon viel Holz gefällt, die Verkäufe werden uns über den Winter bringen. Ihr solltet euch keine Gedanken darüber machen.“
    „Wie ihr meint…“


    Als sie am Haus angekommen waren, begrüßte sie mit lautem Gebell der Hund des Müllers. Es war ein schwarzer Wolfshund, ein typischer Hund für den Nordmann. Kräftig, treu und mit einem starken Beschützerinstinkt. Nach einem kurzen Schnüffeln an den Stiefeln des Müllers, war der fremde Embry gleich dran. Der Bärtige kniete sich herab, kraulte dem Hund den Nacken und ließ sich abschlecken. Er hatte eigentlich immer einen guten Draht zu Haustieren.
    „Stomp, aus! Komm her!“
    Ein kleiner Junge kam hinter dem Haus hervorgerannt. Er hatte strohblondes Haar, das ihn als Hods Sohnemann kennzeichnete. In seiner Hand trug er einen Suppenknochen, den er dem Hund hinhielt.
    „Frodnar!“, rief Hod den Jungen, „Komm her und sag Hallo zu unserem Gast. Embry wird mit uns zu Abend essen.“
    Der Knabe kam hergerannt und streckte Embry die gebrechlichen Finger aus. Dieser schlug behutsam ein, zog seine Hand aber sogleich zurück mit einem lauten: „AU! Was zum…?“
    „Hahaha, das war eine Distel!“, der Bengel lachte und schwenkte den Knochen über Stumps Kopf herum. Der Hund schnappte mehrfach erfolglos danach bis er Frodnar beinahe umschubste.
    „Frodnar, geh rein und deck den Tisch“, bat Hod dem etwa Zehnjährigen streng. Dieser schien aber kaum zu hören, war seine Konzentration doch nur darauf gerichtet, den Knochen möglichst lange vom Wolfshund fernzuhalten.
    „Mama hat Fleisch gekauft“, sagte Frodnar vorfreudig, „Darum auch der Knochen.“
    Hod stupste seinen Gast aufmunternd an: „Na was für ein Zufall! Ihr hattet euch doch Fleisch gewünscht, nicht Embry?“
    „Mh…“, brummte dieser unsicher. Statt auf seinen Vater zu hören und rein zu gehen, warf der Bub den Knochen davon und rannte mit dem Hund wieder hinters Haus.
    „Kommt, hier entlang.“

    Embry betrat die Hütte mit einem mulmigen Gefühl. Diese familiäre Atmosphäre war er nicht gewohnt. Auch nicht die Streiche von frechen Bengeln. Er sollte versuchen, gesittet sein Essen zu sich zu nehmen, möglichst wenig zu sagen und früh zu gehen. Aber bei der Aussicht auf Fleisch und Met könnten diese Vorsätze schnell gebrochen werden…
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:23 Uhr)
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    Kaum hatte Embry das kleine Häuschen der Besitzer der Sägemühle betreten, stieg ihm ein schwerer und einladender Duft von gebratenem Wildbret und Kohl entgegen. Es mussten schon viele Tage vergangen sein, seit er zuletzt echte, warme Hausmannskost bekommen hatte. Im Schlafenden Riesen war nur der Met ein Schnäppchen und mehr als den und ein paar Käsestullen hatte er sich dort nie geleistet. Als Überlebenskünstler, wie er sich selbst gerne bezeichnete, schnorrte er sich lieber hier und da einen Happen. Man könnte annehmen, dass ihm die Einladung von Hod gerade recht kam, doch dem war nicht so. Es war eben ein Unterschied, ob man mit betrunkenen Leidensgenossen um die Zeche spielte oder bei der Familie des Arbeitgebers zu Abend aß. Embry musste schlucken. Das roch so verdammt lecker!
    „Hod, ich warte schon seit einer halben Stunde auf dich“, vernahm er die süße, aber doch tadelnde Stimme einer Frau mittleren Alters. Hods Gemahlin Gerdur kam um die Ecke gebogen, in der Rechten eine Schöpfkelle, gehalten wie ein Schwert und bereit, eine Essensschlacht zu beginnen. Sie war so hektisch, dass sie Embry erst bemerkte, als er räusperte, damit sie nicht in ihn herein lief. Dabei war der Bärtige mit seinem stattlichen Bierbauch nun wirklich nicht schwer zu übersehen…
    „Huch? Besuch, Hod?“
    Sie musterte Embry mit ihren großen Smaragdaugen. Ihr Haar war streng zu einem Zopf zurückgebunden und von einem Kopftuch verdeckt, doch hier und da funkelten goldene Strähnen hindurch. Sie war wirklich eine Schönheit. Ein wenig zu zierlich für Embrys Geschmack, aber das konnte man ja noch anfüttern. Er stand ihr mit offenem Mund gegenüber, bekam keinen Ton heraus und suchte mit den Augen die Hilfe des Müllers.
    „Du kennst doch Embry“, stellte Hod ihn vor, „Er hilft mir seit ein paar Tagen beim Holzhacken.“
    „Oh, ja dann. Willkommen in unserer bescheidenen Hütte“, sie legte die Kelle beiseite und reichte ihm die Hand zum Gruß hin. Er schlug mit einem gedämpften „Hallo“ ein, doch Gerdur zuckte gleich zurück.
    „Was? Äh… das sind wohl noch ein paar Distelstacheln…“, entschuldigte er sich und wünschte diesem Blagen Frodnar heimlich eine Ohrschelle.
    „Was verschafft uns denn das Vergnügen?“, wollte Gerdur wissen. In ihrer melodischen Stimme schwang ein Hauch Misstrauen mit, aber das konnte auch nur Einbildung sein. Embry hatte schon lange nichts mehr mit anderen Frauen als der Schankdame der Taverne zu tun gehabt.
    „Ich habe ihn zum Essen eingeladen“, sagte Hod wie selbstverständlich und setzte sich an die Stirnseite eines kleinen, gedeckten Holztisches. Drei Schüsseln standen bereit, in der Mitte ein dampfender Kessel mit wohlduftendem Eintopf. Man brauchte kein Genie sein, um zu erkennen, dass die Hausherrin nicht mit Besuch gerechnet hatte.
    „Wie nett…“, sagte Gerdur mit einer makabren Mischung aus Freundlichkeit und Eiseskälte in der Stimme. Während sie einen vierten Platz deckte, begann Hod schon, bequem von seinem Platz aus zwei Humpen Met aus einem gut erreichbaren Fass zu füllen.
    „Setzt euch, Embry. Wir wollen es doch nicht kalt werden lassen.“
    „Ist es schon!“, hörte Embry das leise Zischen der Müllerin, die ihm eine Holzschale samt Löffel in die Hand drückte. Aber Hod nahm das gar nicht wahr. Bevor sie beginnen konnten, öffnete Gerdur das Fenster und schrie nach draußen: „FRODNAR! KOMM ENDLICH ESSEN!“
    Der kleine Junge kam in Windeseile herein geflitzt und starrte Embry verdutzt an.
    „Er sitzt auf meinem Platz!“
    „Heute kannst du auch mal auf dem anderen Stuhl sitzen“, orderte Hod an.
    „Aber der kippelt…“
    „Wenn dein Vater ihn mal repariert hätte, würde er das nicht tun“, kam es von der Köchin.
    „Gerdur, bitte“, bat Hod und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen, „Setz dich hin oder du bekommst nichts zu Essen.“
    Embry bot ihm absichtlich nicht seinen Platz an. Der Junge hatte ihn mit einer Distel geärgert und wenn das nun die Rache dafür war, war sie nur gerecht.

    Das Essen war wirklich köstlich, hatte aber einen bitteren Beigeschmack. Es schien Gerdur nämlich kein Problem zu sein, über Geldangelegenheiten zu sprechen, während sie Besuch hatten. So kritisierte sie, dass ihr das Fleisch mit einem neuen Topf sicher nicht so sehr angebrannt wäre und sie Hod schon seit Tagen um eine neue Schürze gebeten hatte. Der örtliche Händler hätte wohl eine im Angebot gehabt, sie nun aber an eine andere Kundin verkauft.
    „Ihr Mann vertraut ihr nämlich in finanziellen Dingen. Aber ich bin ja nur die Besitzerin der Sägemühle.“
    Aber alles, was Hod ihr darauf entgegnete, war: „Wo hast du das Fleisch gekauft? Doch nicht beim Händler.“
    „Nein“, entgegnete sie schnippisch, „Die Jäger haben mir etwas abgegeben.“
    „Mama, was ist das hier?“
    „Weißkohl, Schätzchen.“
    „Das ess‘ ich aber nicht.“
    „Du musst dein Gemüse genauso essen wie dein Fleisch, wenn du groß und stark werden willst wie dein Vater“, versuchte sich Embry einzubringen.
    „Ha“, kommentierte Gerdur. Eine wirklich heikle Situation, aus der sich Hod mit einem Schopfen nach dem anderen aushalf. Auch Embry bekam ordentlich eingeschenkt und wurde lockerer. Als er aufgegessen hatte, wollte er der Hausherrin etwas entgegen kommen und ihr beim Abräumen helfen. Doch der Weingeist hatte ihn schon wieder fest im Griff und so stieß er bereits beim Aufstehen mit seinem Hintern gegen den Tisch, woraufhin sein Humpen umfiel und sich der Met über Tisch und Boden ausbreitete.
    „Uhm, ich…“, murmelte er, „Tut mir Leid…“
    „Ihr seid genau so ein Tölpel, wie mein werter Herr Gemahl“, schimpfte Gerdur und begann, mit einem großen Tuch das Malheur zu beseitigen, „Und IHM gibst Geld, mir aber nicht?“
    „Das gehört sich aber nicht so gegenüber einem Gast so…“, lallte Hod von seinem Platz aus. Er konnte inzwischen dem Alkohol und der Müdigkeit kaum noch etwas entgegen setzen.
    Als Embry wieder Platz nehmen wollte, landete er mit seinem Hintern plötzlich auf den harten Dielen. Frodnar lachte laut und hämisch, er hatte ihm den Stuhl weggezogen.
    „Frodnar!“, zischte Gerdur.
    „Du blödes, kleines Drecksbalg“, brummte Embry beim Aufstehen und zog den Bengel mit einem kräftigen Ruck selbst vom Stuhl. Er landete genauso hart auf dem Hintern, aber im Gegensatz zu dem bärtigen Besucher fing er gleich an zu weinen.
    „Was FÄLLT euch ein!? Frodnar, Schätzchen! Ist alles in Ordnung?“
    „Bei Ysmir, was für ein Schreihals“, sagte Embry und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    „Verlasst sofort mein Haus, oder ich…“, sie schwang schon wieder eindrucksvoll mit der Schöpfkelle.
    Das ließ sich Embry nicht zweimal sagen. Er taumelte zur Tür und warf seinen Gastgebern nur noch einen letzten, resignierten Blick zu.
    „Danke für das Essen...“

    Es hätte kaum schlimmer laufen können.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:23 Uhr)
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    Gesättigt aber dennoch schlecht gelaunt machte sich Embry auf den Weg in den Schlafenden Riesen. Wie makaber einem doch der Name des Gasthauses erscheinen konnte, wenn man nicht einmal genug Geld besaß, sich dort ein Zimmer zu nehmen. Eigentlich hoffte der erschöpfte Obdachlose nur, dass ihm jemand ein Getränk spendierte und der Wirt ihn erst in den Morgenstunden nach einem langen Schläfchen auf dem Schanktisch rauswarf. Wie oft trauerte Embry doch seinem alten Haus hinterher, dessen Dach vor vielen Monden schon unter der schweren Last des Schnees zusammengebrochen war. Aber er hatte auch nie die Motivation aufbringen können, ein neues zu bauen.
    Das Gasthaus lag keine hundert Schritt entfernt von Hods Hütte direkt an der Hauptstraße des kleinen Dörfchens. Embry kannte die Straßen wie seine Hosentaschen. Um diese Uhrzeit waren sie wie gewöhnlich leer. Die meisten Häuser lagen im Dunkeln, nur der Schlafende Riese strahlte flackerndes Licht und Lebendigkeit aus.
    Kurz bevor der Tagelöhner eintreten konnte, wurde er von einer bekannten Stimme aufgehalten.
    „Embry, wartet!“
    Es war der Müller Hod. Er war ihm hinterhergetorkelt.
    „Was ist?“, rief der Bärtige barsch, „Ich habe Durst.“
    Hod hielt sich an Embrys Schulter fest und kramte aus seiner Tasche ein paar Goldmünzen hervor.
    „Hier, nehmt euch ein Zimmer. Das bin ich euch schuldig, nachdem mein Weib euch einfach rausgeschmissen hat. Sie ist manchmal…“
    „… anstrengend“, ergänzte Embry.
    „Ja, aber mein Junge Frodnar…“
    „… ist total verzogen“, probierte es der Tagelöhner erneut. Doch Hod schüttelte nur den Kopf.
    „Ihr habt nicht das Recht, ihm weh zu tun, wenn er frech ist. Das ist meine Aufgabe. So sind sie nun mal, wenn sie zu Halbstarken heranwachsen.“
    Der Tagelöhner verschränkte verständnislos die Arme vor der Brust und Hod wurde ernst: „Tut das nie wieder oder ich kann euch in Zukunft weder Arbeit, noch Lohn geben.“
    „Pah“, konterte Embry und warf Hod seine Münzen vor die Füße, „Ich brauche nicht das Mitleid eines Milchtrinkers, der weder Weib, noch Bengel im Zaum hat.“
    „Was?!“
    Der Bärtige kam so richtig in Fahrt: „Ich suche mir eine andere Arbeit. Und ihr solltet besser nach Hause zurückgehen in das warme Bett zu eurer kalten Frau und eure Gute-Nacht-Milch trinken!“
    Das ließ der kräftige Müller nicht auf sich sitzen. Mit einem Schubser warf er Embry zu Boden.
    „Macht doch, was ihr wollt, aber wenn ihr meine Frau oder meinen Sohn beleidigt, werdet ihr euch wünschen, mir nie begegnet zu sein.“
    Und mit diesen Worten machte er auf der Stelle kehrt und ließ den Tagelöhner sitzen. Dieser blickte Hod noch finster hinterher, bis er außer Sichtweite war. Dann sammelte er die Münzen ein und rappelte sich auf. Er brauchte jetzt dringend ein Bier…
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:24 Uhr)
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    „Was wollt ihr hier, Embry?“
    Orgnar, der raubeinige Wirt im Schlafenden Riesen, hatte allen Anschein nach so wenig Kundschaft, dass er sich heute schon selbst um die Bestellungen kümmerte, statt seine Schankdame zu schicken. Doch die Begrüßung eines seiner Stammkunden hätte sich Embry freundlicher vorgestellt. So war es kein Wunder, dass außer ihm nur noch zwei weitere Gestalten das Gasthaus besuchten. Sie saßen am Tisch in der finstersten Ecke der Kneipe.
    „Wonach sieht’s denn aus? Einen trinken natürlich“, antwortete Embry genervt.
    Orgnar putzte einen Humpen mit einem dreckigen Handtuch aus und donnerte diesen auf den Tresen. Sein wettergegerbtes Gesicht musterte Embry kalt und berechnend.
    „Wenn ihr Bier wollt, müsst ihr zahlen. Ich gebe euch keinen Tropfen mehr aus.“
    Bei der rauen Stimme konnte ihm die Kundschaft wirklich nur weglaufen. Zum Glück für ihn lebten in Flusswald hauptsächlich Nord. Würden hier kaiserlicher Milchtrinker leben, könnte Orgnar seine Kneipe dicht machen.
    „Hier“, Embry schob ihm die geforderten Goldmünzen herüber. Der Wirt runzelte die Stirn, nahm sie aber grummelnd entgegen.
    „Ich will gar nicht wissen, wo ihr die schon wieder her habt.“
    „Geht euch auch nichts an.“
    Embry wartete, bis sein Humpen randvoll war. Doch selbst dann war er noch nicht zufrieden.
    „Wollt ihr mich verarschen? Was soll ich mit dem ganzen Schaum?“, er pustete einmal über das Bier und der Schaum kleckerte auf den Tresen, „Füllt es ganz auf.“
    Orgnar brauchte nichts zu antworten, sein eisiger Blick reichte bereits. Aber er kam dem Wunsch seines Kunden nach. Immerhin.
    „Euch sollte klar sein, dass ihr Hausverbot hättet, wenn der Müller euch nicht eure Schulden beglichen hätte.“
    „Immer diese alten Kamellen“, raunte Embry, nahm seinen endlich zur Genüge gefüllten Humpen entgegen und gesellte sich an den Tisch der beiden anderen Gestalten. Wer weiß, vielleicht hatte ja einer von denen noch etwas Gold für ihn. Doch gerade als er Platz nehmen wollte, setzte sich der eine Kerl einen dunklen Hut auf und verabschiedete sich in Windeseile.

    „Da komme ich wohl gerade richtig, was?“
    Den anderen kannte Embry. Es war Sven, ein blondschöpfiger Barde, der fast jeden Abend in der Taverne spielte. Zugegeben, das war vermutlich die einfachste Art und Weise, Geld zu verdienen: nicht anstrengend und völlig ungefährlich. Aber für den Tagelöhner kam das nicht in Frage. Er war immerhin ein stolzer Nord, der sich sein Geld nicht damit verdienen wollte, in eine Holzflöte zu pusten. Wäre der andere nicht so schnell gegangen, hätte sich Embry mit ihm über Sven lustig machen können, wie er es früher oft mit seinen alten Kumpel getan hatte. Aber allein machte das keinen Spaß. Er würde also einfach nur sein Bier trinken und Sven Schläge androhen, wenn er ihm nicht ein bisschen Gold für ein Zimmer vorausstreckte.
    „Ich gebe euch kein Geld, Embry“, war die reizende Begrüßung des Barden, dessen blonder Schopf völlig zerzaust zu sein schien. Seinen Met hatte er auch noch nicht angerührt.
    „Beibt locker. Wir könnten doch um zehn Münzen spielen. Ich wette, dass ich euren Humpen in einem Zug leeren kann. Seid ihr dabei?“
    „Ihr bekommt meinen Met nicht.“
    „Na gut…“, der bärtige Trunkenbold ließ aber nicht locker, „Dann wette ich mit euch um zehn Münzen, dass ich meinen Krug schneller leeren kann, als ihr euren.“
    Sven hob argwöhnisch den Kopf, musterte erst Embry und dann die beiden Humpen.
    „Abgemacht.“
    „Echt jetzt?“, der Tagelöhner konnte sein Glück kaum fassen. Er würde die Nacht also doch noch ein Dach über dem Kopf haben. Diesen Milchtrinker würde er zeigen, wer den stärksten Zug südlich von Weißlauf hatte.
    „Gut, dann auf drei. Eins, zwei,…“
    Embry setzte schon an, bevor er drei gesagt hatte, aber Sven ließ sich davon nicht beirren. Das kühle Bier spülte sich wie samtiger Honig seine Kehle hinab. Doch er verschluckte sich beinahe, als Sven seinen Humpen schneller auf den Tisch knallen ließ und „Fertig“ rief.
    „Das glaub ich jetzt nicht“, brachte der Verlierer hervor, dessen Bauch viel mehr darauf schließen ließ, dass er häufig Wetttrinken gewann, „Ihr habt doch geschummelt!“
    „Ich habe mir den Schluckreiz abtrainiert“, sagte Sven mit schelmischem Grinsen, „Jemand aus der Bardenakademie sagte mal, dann könnte man besser singen. Ob das wirklich so ist, kann ich nicht beurteilen. Aber mir reicht schon euer dummes Gesicht, um zu wissen, dass es mir etwas genützt hat.“
    Embry schüttelte sich. Erst piesackte ihn ein kleiner Junge und jetzt war ihm dieser Flöterich überlegen. Am liebsten würde er sogleich seine Faust in dem hässlich gepuderten Gesicht des Barden versenken, aber dann würde Orgnar ihn garantiert nie wieder rein lassen.
    „Ich habe kein Geld“, gab Embry zu und trank seinen übrigen Schluck aus. Er fühlte, wie sein Gesicht glühte. Wut, Scham und Alkohol trugen zu dieser Demütigung bei.
    „Habe ich auch nicht erwartet. Aber ihr könntet mir einen Gefallen tun.“
    „Was?“
    „Könnt ihr angeln?“
    „Jeder echte Nord kann angeln“, prahlte Embry.
    „Gut. Ich will einen Trank brauen und mir fehlt noch eine Zutat. Die Schuppen eines Flusspeitschers. Wenn ihr mir einen bringt, schuldet ihr mir nichts mehr.“
    „Pff… wenn das alles ist, ich habe aber keine…“
    „Eine Angel gebe ich euch auch.“
    „Hmpf… na gut. Aber ich verlange trotzdem noch zehn Goldmünzen von euch. Denn so viel ist eure Bitte mindestens wert.“
    „Sicher, hier…“
    Sven kramte tatsächlich die geforderten Münzen hervor, mit denen sich Embry ein Zimmer nehmen konnte. Was für ein Idiot.
    „Ich treffe euch morgen zum Sonnenaufgang am Fluss, verstanden?“
    „Höhö, klar doch.“
    Sven war zufrieden und verabschiedete sich von Embry, der damit der letzte Gast in der Kneipe war. Orgnar kam schon mit dem Besen an, um auch ihn heraus zu scheuchen, doch der Überlebenskünstler drückte ihm sein eben billig verdientes Geld in die Hand und verlangte breit grinsend ein Zimmer für die Nacht. So schlimm der Abend auch angefangen hatte, letztlich hatte er doch gut geendet.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:25 Uhr)
  5. #5 Zitieren
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    Am nächsten Morgen wurde Embry durch die ohrenbetäubenden Schläge eines Blechlöffels gegen einen gusseisernen Kessel aus dem Schlaf gerissen. Als er die vom Schlafsand noch ganz verkrusteten Augen zu kleinen Schlitzen öffnete, erkannte er den Wirt Orgnar am Bett neben ihm stehend, der immer noch am Trommeln war, als wolle er eine Stadt vor einem Angriff der Kaiserlichen Waschlappen warnen.
    „Was soll’n der Mist? Raus aus meinem Zimmer, ich bin unten ohne.“
    Der Wirt unterbrach den Lärm.
    „Dann muss ich euch wohl noch etwas extra berechnen, denn die Decke und das Laken kann ich ja jetzt verbrennen“, sagte er kalt, „Steht auf! Ihr habt eine Verabredung mit eurem kleinen Freund Sven.“
    „Is nich mein Freund. Was geht euch das überhaupt an?“, brummte Embry und drehte sich wieder um.
    „Nichts. Aber das ist immer noch mein Haus und ich bestimme, wen ich reinlasse und wen ich rausschmeiße. Und euch schmeiße ich jetzt raus, denn die Sonne ist schon längst aufgegangen.“
    Der Morgenmuffel versuchte, Orgnar einfach zu ignorieren und weiterzuschlafen, doch das ging gehörig nach hinten los. Der Wirt kam nur noch näher mit dem Kessel an sein Ohr heran und begann dann wieder so lautstark zu trommeln, dass Embry fast vor Schreck aus dem Bett fiel.
    „Bei den Göttern, ihr seid ja schlimmer als meine Mutter!“
    „Steht ihr nun auf oder soll ich mal ein bisschen auf euch rumtrommeln?“
    „Jaja, untersteht euch“, knurrte Embry, der nach diesem Schreck ohnehin nicht mehr einschlafen könnte. Der Tag ging ja mal richtig beschissen los. Er hatte kein Geld, aber dafür einen dicken Kater und seit Neustem anscheinend auch noch einen persönlichen Weckdienst.
    „Wollt ihr nun raus gehen? Ich will mich umziehen.“
    „Keine Sorge. Das will ich nicht sehen.“
    Mit diesen Worten verließ der Wirt das Zimmer und Embry konnte sich für einen neuen Tag auf der Suche nach Arbeit, Geld und Alkohol bereit machen…

    Sven erwartete ihn bereits unten am Fluss. Als Embry seine schmierige Visage zu Gesicht bekam, ballte er instinktiv seine Hände zu Fäusten. Ihm war danach, jemanden die Schuld dafür zu geben, dass er hungrig und müde in den Tag starten musste und wer war da kein besserer Sündenbock als der schmalzlöckige Flötist?
    „IHR!“, raunte Embry ihn kampfeslustig an.
    „Da seid ihr ja endlich“, entgegnete Sven ruhig, aber mit gezücktem Dolch. Das bremste den wütenden Nord in seinem Vorhaben.
    „Was soll denn die Waffe? Ich dachte, ihr wolltet angeln?“
    „Nein“, antwortete der Barde und deutete auf eine Angel, die an einem Baumstamm lehnte, der umgekippt halb im Fluss lag, „Ihr werdet angeln. Ich werde aufpassen, dass ihr eure Schulden auch begleicht.“
    „Wollt ihr mich etwa ehrlos nennen? Pah! Ich werde angeln! Ich werde euch das freche Grinsen aus dem Gesicht angeln, denn ich bin ein echter Nord und ein echter Nord kann angeln!“
    „Wenn ihr weniger Zeit damit verbringen würdet zu prahlen und mehr damit, eure Taten sprechen zu lassen, dann wären wir viel schneller fertig und hätten wieder Zeit für wichtigere Dinge. Oder wollt ihr so enden wie Ragnar der Rote?“
    Embry schnaubte wie ein bockiges Pferd, ging dann aber vor zum Fluss und schnappte sich die Angel. Er war doch nicht wie Ragnar der Rote! Von diesem Prahlhans sangen Barden wie Sven nur zu gerne ein Lied. Von seinen leeren Reden, seinem unersättlichen Metkonsum und seinen Aggressionen gegenüber der einfachen Bevölkerung. Ragnar war der Sage nach von einer Schildmaid enthauptet worden, die seinem barbarischen Verhalten überdrüssig war.
    „Ich kann gar nicht wie Ragnar der Rote enden“, grübelte der bärtige Nord laut, „denn ich weiß, wie man mit Frauen umzugehen hat!“
    Ja, daraufhin fehlten Sven die Worte und erst dann war Embry zufrieden. Seine knallharte Argumentationsfähigkeit war schließlich in ganz Flusswald gefürchtet.

    Er schnappte sich die Angel und setzte sich auf einen großen Felsen ans Ufer des Weißflusses. Der Fluss hatte seinen Namen vermutlich wegen der vielen Stromschnellen und Wasserfälle, an denen die weiße Gischt hoch aufschäumte. Das ideale Revier für Fische wie die hier heimischen Lachse oder den von Sven heiß begehrten Flusspeitscher. Es war sehr wahrscheinlich, dass sich diese Fische hier tummelten. Ob es Embry gelang einen zu fangen, stand auf einem anderen Blatt. Er war nicht gerade der geduldigste Mensch und neigte dazu, wenn es langweilig wurde einfach einzuschlafen. Das minderte die Erfolgsaussichten schon mal. Außerdem war die Angel ein Witz. Ein Stock mit einem Garn daran und einem Haken am anderen Ende. Welcher Fisch würde da grundlos herein beißen?
    „Hier, Bürschchen, schaut her“, Embry winkte Sven heran und deutete auf den Angelhaken, „Das Wichtigste beim Angeln ist ein Köder.“
    „Erzählt mir mal was Neues.“
    „Wo sind eure Köder?“
    Aber der blonde Schönling zuckte nur mit den Schultern: „Ich werd‘ mir die Finger ganz bestimmt nicht schmutzig machen und nach Würmern buddeln.“
    „Ach ja?“, Embry drehte sich zu Sven herum, um nachzusehen, ob er immer noch sein Messer in der Hand hielt. Leider war dem so, er schien zu wissen, dass sein Arbeiter nicht lange fackeln und ihm die Waffe wegnehmen würde, wenn er unaufmerksam wurde. Seufzend blickte der Tagelöhner wieder an das Ufer. Vielleicht fand er ja irgendeinen Köder, ohne erst im Schmodder zu graben. Während er am Fluss entlang schlenderte, wich Sven keinen Augenblick von seiner Seite. Das hatte etwas Gruseliges an sich. Er hing ihm geradezu an der Pelle und beobachtete, wie Embry dann und wann kleine Kiesel in den Fluss kickte, in der Hoffnung, darunter vielleicht einen Wurm zu finden. Er hörte, wie der Magen des Tagelöhners knurrte, der noch kein Frühstück hatte und wartete auch geduldig ab, als Embry für seine Morgentoilette hinter einem Gebüsch verschwand. Es war schrecklich. Er musste diese Klette loswerden. Vielleicht konnte er ihn ja ablenken.
    „Was soll das eigentlich für ein Trank werden, den ihr da brauen wollt?“, fragte Embry und pflückte ein paar frühreife Beeren von einem Strauch, der fast im Wasser wuchs. Sie schmeckten unangenehm säuerlich, aber füllten den robusten Magen des Nord‘ zumindest ein wenig.
    „Ein Liebestrank“, antwortete Sven selbstbewusst, „Für Camilla Valerius. Dann wird sie endlich mein sein.“
    „Die Schnecke aus dem Handelskontor?“, schlussfolgerte Embry, „Da habt ihr euch ja ein Weibsbild rausgesucht.“
    „Sie ist ein Traum.“
    „Sie hat mächtig pralle Euter“, Embry deutete mit seinen Händen das Volumen an seiner eigenen Brust an.
    „Hört auf, so oberflächlich von ihr zu reden. Sie hat einen wunderbaren Charakter.“
    „… den ihr euch mit einem Liebestrunk gefügig machen wollt, richtig?“
    „Tse“, wieder war Sven von der Spitzzüngigkeit des bärtigen Nordmanns pikiert, „Wie lange dauert es denn noch bis ihr euren Köder gefunden habt?“
    „Lange. Das kann den ganzen Tag dauern…“, vielleicht konnte er Sven ja so die Motivation an seiner Idee rauben und endlich wieder wichtigen Dingen nachgehen - wie er sich ein Mittagessen erbettelte zum Beispiel.
    „Also echt, ich dachte ihr seid der große Nordmann, der ach so toll angeln kann.“
    „Wartet!“, unterbrach Embry das jammernde Muttersöhnchen und deutete auf die Stromschnellen, wo die Gischt besonders hoch schäumte.
    „Was ist?“
    „Dort!“, man konnte deutlich erkennen, dass etwas die Stromschnellen aufwärtssprang. Es waren elegante, goldrote Fische, eine ganze Schar. Embry zog sich die Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Die Füße hatte er sich bestimmt seit einer Woche nicht gewaschen.
    „Puh“, Sven wedelte sich gespielt mit der Hand vor der Nase herum, „Was soll das werden?“
    „Blöde Frage. Ich fange euch euren Fisch.“
    „Mit der Hand?!“
    Embry stapfte in das knietiefe Wasser. Es war eisig, aber für einen Nord nicht ungewöhnlich. Sein Ziel war es, sich nahe bei den Stromschnellen hinzustellen und zu hoffen, dass einer der Fische ihm direkt in die Hände sprang. Er hatte auch schon fast die optimale Position eingenommen, da spürte er plötzlich einen beißenden Schmerz in seiner linken Wade. Ein Fisch mit messerscharfen Zähnen hatte sich ihm stromabwärts genähert und von hinten angegriffen. Es war einer der gefährlichsten Vertreter Himmelsrands, ein Schlachterfisch. Wenn diese leisen Killer in großer Zahl auftraten, waren sie in der Lage, einen Menschen bis auf die Knochen abzunagen. Vermutlich war er ebenfalls von den vielen Friedfischen an die Stromschnellen gelockt worden. Embry als echter Nord wusste, was zu tun war.
    „AAAAARGH!“, er rannte panisch aus dem Wasser, ging auf dem Weg sogar noch auf die Knie und tauchte mit seinem ganzen Körper ein. Sven half ihm ans Ufer, der Schlachterfisch knabberte noch immer an Embrys Bein. Eine tiefrote Fleischwunde hatte er ihm schon zugefügt. Energisch drosch Embry das Bein auf den Boden bis sich der Griff des anderthalb Ellen langen Monstrums löste. Benommen klatschte das Biest am Ufer entlang und suchte die Rettung des kühlen Nass‘.
    „Den Dolch!“, schrie Embry zu Sven, „Schnell, spießt ihn auf!“
    „W… was?“
    „Gebt schon her!“
    Embry riss dem Blondschopf das Messer einfach aus der Hand und wunderte sich für einen Moment, wieso er vorher so eine Angst davor hatte. Diesen Milchtrinker hätte er mit Leichtigkeit entwaffnen können. Mühsam kroch er dem Schlachterfisch hinterher und rammte ihm mit aller Gewalt die Klinge in den schuppigen Leib. Das Biest zuckte noch ein-zwei Mal, darum schlug Embry auch noch mal mit der Faust drauf. Sicher ist sicher.
    „Da habt ihr euren scheiß Fisch“, brachte er schnaufend hervor, „Jetzt sucht mir einen Arzt, schnell!“
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  6. #6 Zitieren
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    Flusswald war ein Dorf von gerade mal zwei Dutzend Einwohnern. Einen richtigen Arzt gab es im Ort nicht. Wenn wirklich mal jemand krank war, wurde er für gewöhnlich in die Hauptstadt des Fürstentums geschafft. Doch obwohl Embrys Bein schmerzte, als hätte man es im Schraubstock bearbeitet, würde so eine nicht lebensbedrohliche Verletzung nicht dafür sorgen, dass irgendjemand ihn mit dem Karren bis nach Weißlauf schaffte. Sven schlug vor, den Verletzten zu seiner Mutter zu bringen, sie wüsste bestimmt einen Rat. Notgedrungen sagte Embry zu, nicht jedoch ohne Sven noch daran zu erinnern, den toten Schlachterfisch mitzunehmen.
    „Die Schuppen werden ja wohl auch ihren Zweck erfüllen. Sind doch alles dieselben“, hatte der Tagelöhner gesagt, der damit einfach nur aus der Schuld gegenüber der Schmalzlocke befreit werden wollte. Sven war einverstanden, schnappte sich den Fisch in der einen Hand und stützte Embry mit der anderen bis zu seiner Hütte am südwestlichen Stadtrand.
    Es war eine kleine, mit Schilfdach gedeckte Holzhütte und zweifelsfrei nicht von Sven selbst gebaut worden, denn dem traute Embry kein derartig handwerkliches Geschick zu. Vermutlich gehört sie, wie auch die alte Vettel, die in einem Schaukelstuhl auf der Veranda saß, zu dem Inventar, das Svens Vater hinterlassen hatte. Die Alte hatte schon viele Winter auf dem Buckel, schien aber ansonsten noch ganz vital zu sein, so schnell wie sie schaukelte. Als sie erkannte, dass es ihr Sohn war, der sich mit einem blutenden Kameraden näherte, erhob sie sich aus ihrem Stuhl, nur um sich gleich wieder am Geländer der Veranda festzuklammern.
    „Schven!“, rief sie, „Wasch kommscht du scho früh heim? Un wie schauschde denn überhaupt schon wieder aus?“
    Embry stellte fest, dass die Alte kaum noch Zähne hatte und dachte an seinen letzten Zahn, der ausgefallen war. Lange würde es bei seiner Mundhygiene nicht mehr dauern, bis er auch so redete. Aber insgeheim hoffte er, dieses Alter nie zu erreichen.
    „Hallo Mama…“, grüßte Sven erschöpft. Es war ihm nicht leicht gefallen, den schweren Brocken Embry so weit zu stützen und irgendwie gebührte ihm dafür sogar Respekt.
    „Ach du dickes Liesschen! Wasch isch denn mit deinem Schpielkameraden paschiert?“
    „Spielkamerad?“, brummte Embry verunsichert. Die Alte schnappte sich eine Krücke und kam an den Verletzten heran getreten.
    „Isch dasch Blut?“
    „Nein, aus meiner Wunde fließt Honig“, knurrte Embry zynisch.
    „Dud dasch weh?“, fragte sie und klopfte mit dem Stiel ihrer Gehhilfe dagegen.
    Embry zuckte mit dem Bein zurück: „AU! Ja! Was glaubt ihr denn?!“
    „Kommt rein, dasch musch verbunden werden. Ihr schollded eusch auschruh‘n, isch habe auch Tee gegocht“, die Alte winkte die beiden herein und Sven war drauf und dran ihr zu folgen.
    Embry hielt ihn zurück und brummte: „Ich will nicht.“
    „Warum denn nicht?“, fragte das Muttersöhnchen genervt.
    „Sie ist so… alt. Alte Menschen machen mir Angst.“
    Er sah sich nach jemand anderem um, der ihm helfen könnte, denn so recht traute er Sven und seiner Mutter nicht. Doch die Straße war menschenleer. Nein, halt! Bewegte sich da nicht jemand hinter dem Haus gegenüber? Embry kniff die Augen zusammen, doch erkannte beim zweiten Hinsehen nichts Ungewöhnliches.
    „Jetzt stellt euch nicht so an, ihr seid verletzt und ich kenne niemanden sonst, der euch helfen könnte“, fuhr Sven unbeirrt fort und führte ihn herein, „Also los!“

    Das Häuschen, das sich Sven mit seiner Mutter teilte, bestand aus einem einzigen großen Raum, der vom strengen Duft von Eismirriam und Elfenohr getränkt war. Die Schränke und Regale waren mit kleinen Töpfchen, Tellern und Schatullen überfüllt. Am Zustand der Bettdecke konnte man gleich erkennen, in welchem Bett Sven und in welchem die Mutter schlief. Das Gruseligste waren eindeutig die vielen selbstgemachten Puppen, die auf ebenfalls selbstgenähten Kissen auf einer eigens für sie aufgestellten Holzbank das Zimmer bewachten. Über dem Kaminfeuer hing ein Topf mit kochendem Wasser. Ein einziger kleiner Tisch stand mitten im Raum und war mit Teeservice für eine Person gedeckt. Hilde war schon mit zittrigen Händen dabei, einen Tee einzuschenken. Die Hälfte kleckerte daneben und als sie Embry den Krug in die Hand drückte, verbrannte er sich beinahe die Finger am Rand.
    „Setz disch hi und leg die Beine ho‘“, orderte sie Embry in mütterlicher Strenge an. Sven half ihm beim Hinsetzen und schob ihm einen kleinen Schemel für das verletzte Bein hin.
    „Nimm dir ‘nen Eimer und hol kaltes Wascher vom Flusch, Schven.“
    „Geh nicht!“, flüsterte Embry dem Blondschopf noch hinterher, aber der war in Windeseile unterwegs.
    „Wir müschen die Wunde schäubern und verbinden“, sagte Hilde und kam Embry bedrückend nah. Sie legte ihre faltige, cremige Hand auf seine Stirn und murmelte: „Fieber haschde keins. Wasch isch überhaupt paschiert?“
    Erst als sie ihre Hand weggenommen und sich auf den Weg zu einem Regal gemacht hatte, beruhigte sich Embrys Herzschlag ein wenig. Er fühlte sich schrecklich unwohl. Gefangen bei einer alten Vettel mit cremigen Händen und gruseligen Puppen und wegen der Verletzung unfähig zu fliehen.
    „Wir waren angeln“, antwortete er knapp, „Ein Schlachterfisch hat mich angegriffen.“
    „Angeln?“, wiederholte sie, „Wie ungewöhnlisch. Eigentlisch verdient Schven unscher Geld beim Schingen. Er hat eine scho schöne Schtimme…“
    Sie kehrte mit einem Schälchen mit weißer Paste zurück, das einen scharfen Duft ausströmte, wie Meerrettich.
    „Wisscht ihr? Eigentlisch ischt esch gut, wenn er mal wasch bodenschtändisches arbeitet und scheinen Kopf klar bekommt. Diesches Weibschbild, dem er nachschingt, is nisch gut für ihn...“
    „Tscha… äh tja“, machte Embry und deutete auf das Schälchen, „Was ist das?“
    „Ein blutschtillendes Mittel. Damit bischde im Nu wieder auf’m Damm.“
    „Das ist für mich? Igitt.“
    „Dann trink wenigschtens wasch von deinem Tee, Jungschen.“
    Embry schnupperte daran. Der roch genauso grässlich.
    „Und was ist das für Tee?“
    „Brennnescheltee.“
    Er seufzte. Wann hatte er warmes außer Met getrunken? Da konnte er sich ja gleich eine Milch warm machen.
    „Ich trink doch kein Grünzeug“, sagte er stolz und nahm sich das Schälchen mit der Paste. Sven kehrte gerade rechtzeitig mit dem Eimer Wasser zurück, sodass die Wunde schnell behandelt werden konnte. Nach dem Säubern wurde die Salbe aufgetragen. Es kribbelte etwas, fühlte sich aber erstaunlich erfrischend an. Im Nu stoppte die Blutung und die Alte konnte Embry einen Verband anlegen.
    „Damit sehe ich aus wie ein Draugr“, witzelte der Bärtige und dachte dabei an die mumifizierten Toten, die der Sage nach in Grabmälern hausten und die Schätze der Toten vor Plünderern bewachten. Passend dazu stand er auf, schleifte den lahmen Fuß hinter sich her und streckte die Hände nach Sven aus, als wäre er ein lahmer Zombie.
    „Diese Binden sind noch vom Begräbnis meines Vaters übrig“, sagte Sven ernst, „Aber es ist schön, dass es euch schon wieder besser geht.“
    „Oh“, machte Embry und sah, dass Hilde die makabere Unterhaltung ziemlich mitnahm. Er stammelte noch ein paar unverständliche Worte zusammen und verließ dann hinkend das gruselige Puppenhaus.
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  7. #7 Zitieren
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    Die Sonne war bereits hinter dem Hals der Welt verschwunden. Das riesige Gebirge umarmte Flusswald im Südwesten, während vom Berg im Osten aus das Ödsturzhügelgrab über dem Dorf thronte. Die Sonne schien dank der hohen Gebirge und vielen Bäume nur selten in dem verschlafenen Örtchen am Weißfluss. Die hier lebenden Nord litten daher nur selten an einem Sonnenbrand. Embry war das nur recht, er lief oft genug rot an: vor Scham, vor Wut oder vor Trunkenheit. Diesmal war er rot vor Wut, denn der Tag war ähnlich schlecht weiterverlaufen, wie er begonnen hatte.
    Nachdem er sich vor dem verrückten Mutter-Sohn-Gespann verdrückt hatte, war er weiter auf der Suche nach Arbeit und Geld durch das Dorf gezogen. Er hatte ja insgeheim gehofft, seine Verletzung am Bein und ein paar geöffnete Hände luden Durchreisenden zu einer kleinen Gabe ein. Doch heute war niemand den Pass auf dem Weg nach Weißlauf durch Flusswald gekommen. Jeden Tag hoffte Embry, dass die berüchtigte Gilde der Trinker, die Nachtschwärmer, einmal hier vorbeikam und er sich ihr anschließen konnte. Den lieben langen Tag durch Himmelsrand ziehen, singen, Met saufen und Fremdländer ausrauben. Das war sein heimlicher Traum. Doch niemand wusste genau, ob diese Gemeinschaft überhaupt noch existierte. Natürlich konnten sie schon längst im Rausch von einem Bären überrascht worden sein, aber mal ehrlich: gab es einen schöneren Weg nach Sovngarde als glückstrunken mit seinen Freunden dem Ende entgegen zu wanken?
    Bis es soweit war, brauchte er Arbeit und dafür hatte er sich, da das Betteln heute keinen Erfolg versprach, bei den Handwerkern durchgefragt. Dem Milchtrinker von Müller würde er bestimmt nicht wieder in den Hintern kriechen, soviel stand fest. Der Wirt Orgnar dagegen hatte ihn gleich wieder vor die Tür gesetzt, denn das war nicht das erste Mal gewesen, dass Embry ihn um Tageslohn bat. Doch der bärtige Trunkenbold hatte sich dabei immer so ungeschickt angestellt, dass Orgnar ihm keine Chance mehr gab. Es waren einfach schon zu viele Teller zu Bruch gegangen und zu viel Met „verschwunden“, als dass der Wirt ihn noch einmal einstellen würde.
    „Aber frag doch mal den Schmied“, hatte Orgnar ihm vorgeschlagen und dieser Idee war Embry zähneknirschend nachgekommen. Der Schmied war Embry schon immer suspekt gewesen und seit dem heutigen Tag wusste er auch wieder, warum. Nachdem er nämlich mehrere Stunden am Blasebalg hatte pumpen dürfen, rieb ihm der stämmige Mann unter die Nase, dass er sich freuen würde, wenn er seine neusten Schwerter an die Soldaten der Kaiserlichen verkaufen konnte, damit sie einigen Sturmmänteln mal kräftig den Arsch aufreißen – oder besser schneiden – würden. Das war zu viel für den streng heimatverbundenen Embry; er hatte den Schmied ein paar verbale Schläge verpasst und war einfach gegangen, ohne ihm wirklich zu erklären, warum. Jetzt war es also schon wieder Abend und er hatte weder Geld, Essen, noch eine Übernachtungsmöglichkeit. Und eben der Frust darüber färbte seinen Kopf tomatenrot.

    Zu allem Überfluss begann es dann auch noch zu regnen. Der Niederschlag hatte aber zumindest ein Gutes: er kühlte seinen Hitzkopf ab und sorgte dafür, dass er sich auf das Wesentliche konzentrierte. Es war ja nicht die erste Nacht, die er im Freien verbrachte, für solche Notfälle besaß er einen kleinen Unterschlupf, den er sich selbst schnell aufbauen konnte. Ein paar alte Felle gespannt über einem Gerüst aus Stöcken. Einem echten Nord war es in die Wiege gelegt, sich die Wildnis Himmelsrands zu Nutze zu machen. Aber war man einmal ein richtiges Bett gewohnt, zermürbte einen so ein Rückschritt natürlich innerlich. Embry war jetzt an einem absoluten Tief angekommen. Schlimmer würde es nicht kommen. Das war doch auch irgendwie etwas Gutes…
    Wie er sich daran machte, seine Hölzer so zusammenzustecken, dass ein halbwegs stabiles Zelt daraus wurde, bemerkte er einmal mehr, dass er beobachtet wurde. Ein hagerer Kerl mit dunklem Hut starrte ihn von der anderen Seite des Flusses an. Embry blickte hinüber, konnte den Fremden aber nicht wirklich erkennen.
    „Hey!“, rief er ihn und kniff die Augen zusammen. Wer war das nur? Der Fremde hob seinen Kopf und Embry erkannte ein tiefschwarzes Gesicht und blutrote Augen. Ein Dunkelelf: eine Daedrabrut aus Morrowind. Natürlich, dieser dämliche Hut! Mit dem Kerl hatte sich Sven gestern doch im Schlafenden Riesen unterhalten, bevor sich Embry an deren Tisch gesetzt hatte.
    „Was glotzt du so blöd, Spitzohr?“, ging er ihn an, „Ich lass dich nicht mit unter mein Zelt.“
    Er schien Embry zu ignorieren, stand einfach nur am Fluss und starrte ihn an. Das war irgendwie unheimlich. Der Nord schnappte sich einen Stein, nur zur Sicherheit. Als er einen gefunden hatte und sich wieder dem Dunkelelfen zuwandte, war dieser verschwunden.
    „Mein Zelt…“, knurrte er eingeschnappt und setzte sich unter seinen notdürftigen Verschlag.
    Es regnete durch.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:26 Uhr)
  8. #8 Zitieren
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    Der Regen hatte sich glücklicherweise nur als kurzer Schauer herausgestellt und mit dem Einbruch der Nacht hatte der tiefrote Mond Masser schon wieder die Oberhand am Himmelszelt eingenommen und mit seinem Aufgehen bekam Embry Besuch vor seinem Verschlag. Aus guter Voraussicht, der Dunkelelf könnte zurückkehren, hatte er den Stein bereits in die Hand genommen und als man ihn aus dem Zelt rief, wollte er schon damit ausholen, konnte sich im letzten Moment jedoch bremsen. Es war kein Dunkelelf, im Gegenteil, es war das Goldlöckchen Sven.
    „Was zum…?“, rief er erschrocken, als er bemerkte, dass Embry auf ihn losgehen wollte und zuckte zurück.
    „Ach ihr seid das…“, brummte der Tagelöhner, „Was wollt ihr denn schon wieder? Ich schulde euch nichts mehr.“
    Ehe Sven antworten konnte, bemerkte Embry das Tablett mit einer großen Portion Fisch in den Händen des Sängers. Er war schon ausgenommen und gekocht.
    „Das ist für euch“, sagte Sven und drückte dem hungrigen Embry das Tablett in die Hand, „Mama hat den Schlachterfisch gekocht. Es könnten aber noch Gräten drin sein, das Viech besteht fast nur aus Gräten.“
    Embry konnte das kaum fassen. Wann war zuletzt jemand so nett gewesen und hatte ihm ein Abendessen gekocht? Nun, eigentlich erst gestern, aber daran dachte er in dem Moment schon gar nicht mehr. Und ausgerechnet von diesem Flötisten bekam er Essen? Er sollte sich freuen, aber eigentlich schämte er sich, so niedrig gesunken zu sein. Früher hatte er so einem Kerl das Essen einfach weggenommen. Was war nur aus ihm geworden?
    Schweigend nahm er das Tablett und mampfte gleich mit den Fingern drauf los. Die wenigen übrigen Gräten knackte er locker mit den kräftigen Nordzähnen und wenn eine mal wirklich zu groß war, eignete sie sich noch als guter Zahnstocher.
    „Wie ich sehe, habt ihr euch einen Unterschlupf gebaut“, säuselte Sven und umkreiste, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das notdürftige Zelt.
    „Besser, als noch an Mutters Brust zu nuckeln“, konterte Embry giftig, besann sich jedoch, dass das Sven gegenüber gerade sehr gemein war, „Vergesst das, ich bin nur mies gelaunt. Das Zelt ist eine Katastrophe, aber ich habe kein Geld für noch eine Nacht in der Taverne.“
    „Ja… ich hätte vielleicht ein Angebot für euch, mit dem wir beide bald besser leben könnten. Ihr mit einem warmen Bett in der Taverne und ich am zarten Busen von Camilla.“
    „Spuckt’s aus!“, forderte Embry und spuckte zur Untermauerung selbst eine Gräte aus. Sven nahm ein kleines Fläschchen aus seiner Hosentasche, es enthielt eine trübe, milchige Flüssigkeit. Passend für einen Milchtrinker wie ihn.
    „Ich habe meinen Liebestrunk fertig, brauche aber jemanden, der mir hilft, an Camilla heran zu kommen.“
    „Habt ihr Angst?“
    „Nein“, rief er empört, „Aber ich bin bei Camilla daheim nicht gerne gesehen. Ihr dämlicher Bruder… ihm gehört das Handelskontor und ich habe dort inzwischen mhmh… Hausverbot.“
    „Ach…“, brummte Embry sichtlich desinteressiert.
    „Wenn ihr Camilla unter einem Vorwand herauslocken könntet und am besten noch ihren Bruder eine Weile ablenkt, könnte ich ihr den Trunk unterjubeln und sie wäre endlich auf ewig mein!“
    Embry runzelte die Stirn und deutete auf die Ampulle mit der weißen Flüssigkeit: „DAS soll sie trinken?“
    „Ich mische es natürlich noch in einen Tee“, entgegnete Sven und steckte den Trunk wieder weg. Dann rieb er sich verschlagen die Hände.
    „Was springt für mich dabei raus?“, fragte Embry.
    „Geld natürlich. Ich gebe euch zwanzig Septime, wenn alles klappt.“
    „Pff…“, machte der Tagelöhner, „So viel ist euch die Liebe also wert, was?“
    „Was stellt ihr euch vor?“
    „Fünfzig“, sagte Embry, „Und die Hälfte davon im Voraus. Wenn ich den Händler ablenken soll, klappt das am besten, wenn ich etwas bei ihm kaufe, oder nicht?“
    „Von mir aus“, grummelte Sven, „Dann eben fünfzig. Ich hol das Geld und ihr esst auf und macht euch vielleicht noch etwas… chic. Wir treffen uns in ein paar Minuten vor dem Handelskontor.“
    „Jaja“, brachte Embry mit einem Rülpsen heraus und schlang den Fisch herunter. Dieser Trottel Sven schien ja die gefundene Geldgrube zu sein.

    Als Embry aufgegessen hatte, band er sich sein schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz und wusch sich das Gesicht am Fluss, diesmal sehr darauf bedacht, an einem flachen Uferabschnitt zu bleiben. Noch einen Schlachterfisch wollte er heute nicht anlocken, auch wenn sie ganz gut schmeckten.
    Die Ärmel seines dreckigen Hemdes faltete er zurück und die Schuhe wischte er durch das nasse Gras, damit er nicht allzu viel Schlamm und Dung ins Handelskontor schleppte. Dann wartete er vor dem Laden auf Sven. Von drinnen vernahm man zwei Männerstimmen und das Knistern eines warmen Kaminfeuers. Die Fensterklappen waren geschlossen, doch das alte Holz wies hier und da ein paar Löcher und Spalte auf, durch welche man rein schielen konnte. Was es da wohl zu gucken gab?
    Embry riskierte einen Blick und sah einen runden Tisch, an dem jemand saß und eine Suppe löffelte. Der Blickwinkel reichte nur vom Teller bis zum Hals der Person, doch was er da sah, reichte Embry.
    „Donnerwetter! Was für ein Vorbau!“, flüsterte er. Der musste zu Camilla Valerius gehören. Embry prägte sich das Dekolleté gut ein und schaute sich vorsichtshalber um, ob er nicht beim Spannen beobachtet wurde. In dem Moment kam Sven mit einem Geldsäckel um die Ecke gebogen. Was für ein Spaßverderber.
    „Da bin ich“, rief er atemlos. Er war gerannt und hinter ihm schwebte eine Wolke von erstickendem Lavendelduft. Das schmalzige Goldlöckchen hatte er besonders stark gekringelt und es schien, als hätte er sein Gesicht mit der Haftcreme seiner Mutter von sämtlichen Unreinheiten befreit.
    „Mein Gold?“, forderte Embry und streckte die große Pranke aus. Zwei Dutzend Septime wechselten unauffällig den Besitzer. In dem Moment öffnete sich die Tür und ein Kerl mit dunklem Hut kam herausgetreten.
    „Der schon wieder!“, knurrte der Tagelöhner und blickte dem Dunkelelfen hinterher bis er hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war. Er bewegte sich gespenstisch schnell.
    „Ihr kennt ihn doch“, meinte Embry zu dem Barden.
    „Hm?“, Sven hatte gar nicht darauf geachtet. Er war damit beschäftigt, sich selbst in einem Handspiegel zu begutachten.
    „Dieser dreckige Dunkelelf mit dem blöden Hut! Ihr habt euch doch gestern mit ihm unterhalten.“
    „Ja… kann sein.“
    „Ich glaube, der beobachtet mich!“, spekulierte Embry, „Was wollte er von euch?“
    „Äh…“, machte Sven und blickte sich nervös um, „Nichts… ich sollte ihm ein Lied vorsingen.“
    Der Nord verschränkte die Arme vor der Brust: „Wollt ihr mich verarschen?!“
    „Schenkt ihm einfach keine Beachtung. Wir sollten uns jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Geht ihr rein und sorgt dafür, dass Camilla das Haus verlässt. Und haltet mir ihren Bruder vom Hals.“
    „Das habe ich schon beim ersten Mal verstanden“, Embry klimperte vorfreudig mit seinem Goldsäckchen und trat an die Tür heran. Als er die Hand schon an der Klinke hatte, flüsterte ihm Sven noch etwas nach.

    „Bei Mara: Versaut es bitte nicht!“
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:27 Uhr)
  9. #9 Zitieren
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    Das Flusswalder Handelskontor war ein gemütlicher kleiner Laden, in dem man sich durch die unzähligen Regale voller Waffen, Schmuck, Bücher und Krimskrams wie ein Bub beim Zuckerbäcker vorkam. Schon beim Schließen der Tür begrüßte Embry der melodische Klang eines Windspiels und ließ ihn für einen Augenblick vergessen, warum er eigentlich hier war. Er ärgerte sich geradezu, noch nie den kleinen Laden aufgesucht zu haben, aber mehr als die wilde Natur und regelmäßige Besuche in der Kneipe brauchte ein echter Nord nicht. So dachte er zumindest immer…
    „Ah, willkommen! Ihr seid spät dran, ich wollte den Laden gerade schließen. Aber bei mir gilt noch das Motto: der Kunde ist König. Also, schaut euch ruhig um. Was auch immer ihr sucht, bei mir werdet ihr garantiert fündig.“
    Der Händler Lucan Valerius hatte dieses klassische Kaufmannstalent, einen Kunden mit seiner flott-frischen Stimme bereits an der Türschwelle um den Finger zu wickeln und das Interesse zu wecken. Er war ein wohlgekleideter Mann im besten Alter, gut gepflegt, aber doch nicht übertrieben herausgeputzt wie Sven vielleicht. Sein dunkles Haar, die braunen Augen und die weiche Stimme verrieten ihn als Kaiserlichen. Doch in diesem Moment der schieren Überwältigung, war in Embrys zerstreutem Kopf gar kein Platz für den Hass gegen diese Eindringlinge aus Cyrodiil.
    Er nickte ihm nur zu und sein Blick erreichte die zweite Person im Raum, zu deren praller Oberweite er nun auch das Gesicht zuordnen konnte. Dunkles, halb offenes Haar und weiche Gesichtszüge, die ihren durchdringenden Katzenblick zu verbergen mochten. Aber ihr wollte Embry auch gar nicht in die Augen schauen, da gab es genug andere Bereiche, die Beachtung verdienten. Sie jedoch würdigte Embry nicht einmal eines Blickes, sondern widmete sich lieber ihrem Abendessen.
    „Das ist meine Schwester Camilla“, stellte Lucan sie vor, „Sie ist wohl das Einzige hier, das ihr nicht haben könnt, mein Freund.“
    „Embry“, brummte der bärtige Nord und trat an den Tresen heran, „Ich habe schon von ihr gehört. Scheint schwer begehrt zu sein hier im Dorf.“
    „Was ihr nicht sagt“, erwiderte Lucan etwas schnippisch, „Aber da unser Vater nicht mit uns nach Himmelsrand gezogen ist, bin ich derjenige, der entscheidet, mit wem sie sich verabredet und mit wem nicht.“
    „Hier in Himmelsrand ist es hin und wieder Brauch, sich das Weib einfach zu nehmen, wenn man störrische Väter oder Brüder im Armdrücken schlägt. Oder wenn man ihnen den Kopf von den Schultern prügelt.“
    Lucan schluckte schwer und Embry konnte gut erkennen, wie er sich unter seinen dutzenden Schmuckstücken schon nach einer geeigneten Waffe umsah, wenn sein Kunde auf dumme Ideen kam. Der blieb aber ganz ruhig.
    „Da könnt ihr froh sein, dass ich nicht so einer bin, hm?“
    Lucan atmete tief durch: „Selbst wenn Spinner wie dieser Windhund Sven auf so eine Idee kommen würden, denen wäre ich noch lange gewachsen!“
    „Euch ist schon klar, dass ich keine drei Schritt neben euch sitze und alles höre, was ihr sagt?“
    Camilla hatte aufgegessen und den Löffel lautstark in die Schüssel fallen lassen.
    „Schwesterherz, du weißt, es ist nur zu deinem Besten!“
    „Vielleicht sollte ich einfach gehen, damit ihr eure Geschäfte abwickeln könnt, was?“
    Für einen Sekundenbruchteil wurde Embry hellhörig. Vielleicht musste er einfach noch weiter darüber reden und sie würde den Laden verlassen und genau in die Arme des Schmalzkopfs laufen.
    „Was ist denn so falsch an Sven?“, fragte Embry scheinheilig, „Er singt doch die süßesten Hymnen drüben in der Taverne.“
    „Das ist auch alles, was er kann“, hakte Lucan ein, „Was ist denn das für eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen?“
    „Wusstet ihr, dass er noch bei seiner Mutter wohnt?“, spottete der bärtige Nord.
    „Eine alte Schabrake“, wusste der Händler, „aber immerhin zahlt sie gut.“
    „Ich frage mich, was sie wohl nebenbei arbeitet, wenn sie auch noch ihren nichtsnutzigen Sohn ernähren muss.“
    Camilla stand empört auf, genau was Embry sich erhofft hatte.
    „Ihr Männer seid so primitiv. Ich halte es hier nicht mehr aus.“
    Daraufhin stolzierte sie eingeschnappt davon, nicht jedoch etwa nach draußen, sondern die Treppe empor in den zweiten Stock.
    ‚Scheiße‘, dachte Embry.

    „Die beruhigt sich schon wieder“, sagte Lucan, „Aber wollen wir nun langsam zur Sache kommen, hm? Was braucht ihr?“
    „Äh…“, der Nord rieb sich den Hinterkopf. Darüber hatte er sich jetzt gar keine Gedanken gemacht. Was brauchte er? Wenn es nicht mit einem Weib klappte, wie wäre es dann mit einem Haus, dessen Dach auch regenfest war? Oder eine Arbeit, die nicht darin bestand, für schnöselige Muttersöhnchen den Verkuppler zu spielen? Im Prinzip genügte Embry eine gute Flasche Met, doch da fiel ihm etwas anderes ins Auge. Auf dem Tresen lag ein glänzendes Prachtstück, das so gar nicht in den ganzen Krempel passte, der sonst so in den Regalen lag. Ein Artefakt von altnordischer Machart: eine rundum vergoldete Klaue.
    „Was ist mit diesem Schmuckstück hier?“, fragte Embry.
    „Unverkäuflich“, unterbrach Lucan ihn und hielt schützend die Hände davor, „Bitte nicht anfassen. Das ist nur Dekoration.“
    „Pff…, dafür, dass alles zum Verkauf steht, habt ihr mich nun bereits zweimal eines Besseren belehrt.“
    „Verzeiht mein Aufbrausen… es ist seltsam. Gerade vor ein paar Minuten kam ein Dunkelelf in meinen Laden und hatte auch reges Interesse an der Goldenen Klaue gezeigt. Als ich ihm gesagt hatte, dass er sie nicht haben könnte, war er richtiggehend bedrohlich geworden.“
    Embry runzelte die Stirn. Anscheinend war er nicht der Einzige, der ein Auge auf diese zwielichtige Gestalt werfen musste.
    „Schon gut. Habt ihr irgendwelches gutes Bier?“
    Lucan klatschte sich freudig in die Hände: „Endlich befinden wir uns auf einer Wellenlänge! Ich habe ein kleines, aber feines Sortiment ausländischer Biere. Da vergesst ihr glatt den lauwarmen Met im Schlafenden Riesen.“
    „Ach?“
    Er bückte sich unter seinen Tresen und kramte eine staubige, dunkle Flasche hervor. Kurz mit einem Tuch gesäubert und fachmännisch über den Unterarm gelegt, präsentierte Lucan es als Argonisches Bier.
    „Dies ist meine letzte Flasche. Sie kommt den langen Weg aus Schwarzmarsch bis hier in den Norden, um von euch gekauft zu werden, Embry. Wie ein guter Wein wird Argonisches Bier immer reifer und kräftiger, je länger man es stehen lässt. Ihr könnt mir glauben, so einen guten Ladenhüter werdet ihr nirgends sonst finden.“
    „Was soll es denn kosten?“
    „Für schlappe dreißig Septime gehört sie euch.“
    „Puh…“, machte Embry und kramte seinen Geldbeutel heraus, „Ich habe nur fünfundzwanzig…“
    „Ach wisst ihr… euch verkaufe ich sie auch für fünfundzwanzig. Das ist mein Rabatt für Erstkunden.“
    „Toll!“
    Geld und Bier tauschten sodann den Besitzer und Embry hatte dabei ein äußerst gutes Gefühl. So einen edlen Tropfen hatte er gewiss schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Da war es ihm auch gleich, ob Sven nun seine Holde bekam oder nicht. Sollte dieser Windhund nach Sovngarde fahren, Embry würde keinen Finger mehr krumm für ihn machen!

    Gerade als er den Laden verlassen wollte, kam Camilla wieder runter. Sie trug einen leeren Eimer in den Händen.
    „Du sollst doch nicht alleine raus gehen, Camilla!“
    „Ich will nur Wasser holen“, antwortete sie spitz, „Embry kann mich ja begleiten.“
    „Kann er?“, fragte Lucan.
    „Kann ich?“, wiederholte Embry verdutzt, „Öhm… ja, kann ich. Keine Angst, so einen wie Sven lasse ich nicht an eure Schwester herankommen.“
    Lucan seufzte: „Wenn’s sein muss. Ich muss eh noch aufräumen. Aber beeilt euch.“
    Sie winkte ihn hinter sich her. Wie kam er denn zu dem Vergnügen? Ohne sich einen weiteren Gedanken über den plötzlichen Sinneswandel des Weibsbildes zu machen, folgte er ihr wie ein treudoofer Köter nach draußen.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:28 Uhr)
  10. #10 Zitieren
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    Draußen hatte es schon wieder mit Regnen begonnen und der frische Duft von feuchten Gräsern umgarnte Embrys Nase, als er hinter der schönen Camilla den staubigen Laden verließ. Ein leises Tropfen auf dem Dach der Veranda war zu vernehmen, dafür war von Sven keine Spur mehr zu sehen. Am liebsten hätte Embry sich hingesetzt, den Eimer einfach raus gestellt und so lange gewartet, bis er vollgeregnet war. Aber es ging hier ja nicht um ihn und zum Glück hatte er diesen Gedanken nicht ausgesprochen, denn ehe er in ein verlegenes Gespräch mit Camilla eintauchen konnte, bog der verliebte Barde um die Ecke des Hauses.
    „Sven?“, fragte Embry, „Was soll - ?“
    Doch das Muttersöhnchen hieß ihn mit einer raschen Geste an, ruhig zu sein und ihm zu folgen. Das taten sie dann auch, beide. Sven führte sie zum nordöstlichen Tor des kleinen Dorfes, das von einer Holzpalisade gesäumt wurde. Die Palisade besaß einen überdachten Wehrgang, der schon seit vielen Jahren als Ausguck für Jäger und als erhöhte Kampfposition für Bogenschützen zur Verteidigung des Dorfes vor wilden Tieren und Banditen diente. Heute bekam er nur die kitschige Rolle zuteil, ein trockener Rückzugsort für verliebte Pärchen zu sein. Auf dem Weg dahin klärte Sven den verdutzen Nord auch darüber auf, wieso Camilla plötzlich so freiwillig das Haus verlassen hatte. Er hatte sie wohl am Balkon abgefangen, als sie oben war, und um ein Rendezvous gebeten. Dass sie dafür ein ganzes Stück mit ihrem Abendkleid durch den Regen tapsen musste, pisste sie in mehrfacher Hinsicht an.
    „Was soll das Sven?“, zickte sie herum, „Ich dachte, ihr wolltet allein mit mir sein, dabei macht ihr gemeinsame Sache mit diesem fetten Lump?“
    Embry brauchte einen Moment, ehe er die Spitze verarbeitet hatte.
    „Hey!“, wollte er protestieren, aber die Furie schnürte ihn mit einer eiskalten Handbewegung im Satz ab.
    „Er wollte gerade gehen…“, flüsterte Sven und drückte Embry möglichst unauffällig ein Geldsäckchen mit seinem Lohn in die Hand. Nicht unauffällig genug.
    „Wofür bezahlst du ihn denn jetzt!?“, zischte sie weiter. Den Rest des Gesprächs wollte sich Embry nicht antun, schließlich hatte er bekommen, was er wollte und das sollte nun wirklich das letzte Geschäft gewesen sein, das er mit dem Schmalzkopf führen würde.
    Als er auf dem Weg zur Taverne war, dachte er sich nur noch: ‚Bei den Göttern, was für eine Zicke…‘

    Der Wirt war ein wenig überrascht, dass sein Stammgast erst so spät aufgeschlagen war und noch überraschter, dass er sich schon wieder ein Zimmer leisten konnte. Embry bestellte auch nichts weiter, sondern zog sich direkt auf seine Kammer zurück. Auch wenn er nicht viel von häuslichen Sitten und Etikette hielt, wusste er doch, dass er im Schankraum nicht sein mitgebrachtes Bier trinken sollte.
    Doch Embrys Ruhe sollte nur von kurzer Dauer sein…
    Noch ehe der erste Tropfen des exotischen Gebräus seine Kehle herab fließen konnte, wurde seine Tür mit lautem Knallen aufgestoßen und ein alter Traum wurde zum Albtraum.

    In der Tür stand Camilla Valerius. Zumindest hatte sie ihre Figur, doch ihr Blick war noch viel eisiger, als Embry es sich hätte vorstellen können. Etwas Schreckliches musste ihr zugestoßen sein und als ihr Antlitz im fahlen Schein der Öllampe erhellt wurde, erkannte Embry auch, was mit ihr nicht stimmte. In ihrem Gesicht wucherte ein Bart, der dem des Säufers selbst Konkurrenz machte. Der war da vorher noch nicht gewesen, sowas erkannte der Nord selbst mit einem Tunnelblick.
    „Bei meinem Barte“, begann Embry.
    „DAS IST ALLES EURE SCHULD!“, kreischte sie und kam in animalischer Geschwindigkeit auf ihn zu. Er hatte sich gerade von seiner Bettkante erhoben, da donnerte schon ihr harter Absatzschuh gegen sein gerade erst verheiltes Schienbein. Vor Schmerz jaulend knickte Embry zusammen.
    „MONSTER!“, brüllte er, während sie mit ihren zierlichen Händen auf seinem Rücken herumtrommelte. Die Schläge spürte er gar nicht, aber sein Bein brannte wie Feuer. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Orgnar und Sven in das Zimmer geeilt und zerrten die Furie von ihm fort.
    „Scheiße, was ist das denn!?“, rief der Wirt erschrocken und zeigte mit dem Finger geradezu auf die von faulem Zauber verschandelte Camilla. Aber da sie von Sven zurückgehalten wurde, schien sie eine Ohnmacht der Hilflosigkeit zu überkommen. Ihre Wut verwandelte sich in Trauer und unter Tränen rannte sie aus der Taverne, Sven hinterher. Embry dagegen lag noch immer mit angewinkeltem Bein auf dem Boden und verstand die Welt nicht mehr. Orgnar kam an ihn herangetreten, klopfte ihm verständnisvoll auf die Schulter und sagte:
    „Keine fremden Getränke in meiner Kneipe!“
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  11. #11 Zitieren
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    Den nächsten Morgen verbrachte Embry ausnahmsweise mal in der Taverne und nicht neben dem Komposthaufen dahinter. Ein bisschen Geld hatte er von gestern noch übrig und da er ein Nord war, der nach der Devise lebte: „was du nicht hast, kann dir keiner klauen“, investierte er einen großen Teil seiner Ersparnisse in ein gar festliches Frühstück. Er bestellte Brot mit Schinkenwurst und Eidarer Käse, frische Eier und Milch. Mann, wie lange war es her gewesen, dass er Milch getrunken hatte? Klar, vor anderen Leuten würde er das niemals tun, er wollte ja nicht Milchtrinker genannt werden. Doch sie wirkte wie Balsam für seinen vom vielen Schnaps gereizten Hals und ließ ihn für einen Morgen fühlen, als wäre er noch in seinem Elternhaus. Mutter hatte ihn morgens immer mit süßem Gebäck verwöhnt, während Vater seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Diesmal war es nicht seine liebe Mutter – möge sie in Sovngarde ihren Frieden gefunden haben – sondern Orgnar, der in der Küche für ihn rotierte, aber es war doch eine angenehme Abwechslung von seinem tristen Alltag.
    Es dauerte gerade mal so lange, bis er den letzten Happen Schinkenbrot mit dem letzten Schluck Milch herunter gespült hatte, da holte ihn der Ärger wieder ein. Er hatte gerade die Ruhe genossen, denn morgens war die Taverne immer leer. Wenn hier überhaupt mal ein paar Jäger oder Händler übernachteten, so standen sie meist in aller Frühe wieder auf, damit sie im Tageslicht die nächste größere Stadt erreichen konnten, was meist Weißlauf im Norden oder Falkenring im Süden war. Seine Ruhe wurde jäh unterbrochen, als die Tür der Taverne aufgestoßen wurde. Instinktiv bewaffnete er sich mit seiner Gabel, denn er befürchtete, dass die bärtige Camilla erneut auf ihn losgehen würde. Doch es war nur ihr Bruder Lucan, der einen nicht weniger eisigen Blick aufgelegt hatte. Embrys Muskeln zuckten voller Kampfeslust. Im Gegensatz zu seinem gestrigen Gerangel mit Camilla, hatte er keine Scheu davor, sich mit ihrem Bruder zu prügeln. Da kam ihm die Tatsache, dass Lucan ein Kaiserlicher war, nur Recht. Außerdem hatte er gut gefrühstückt und war voller Energie.

    Allerdings wunderte er sich doch stark über die Kampfkleidung seines Gegenübers. Lucan schien seine beste Sonntagskleidung zu tragen, einen goldbraunen Wams mit Umhang, feine Lederhandschuhe und geleckt saubere Stiefel.
    „Ihr!“, knurrte er und deutete mit dem Finger auf Embry. Dieser nahm die Provokation herzlich gern an und erhob sich gleich von seinem Stuhl. Sein Bein schmerzte nach wie vor, aber mit diesem schnöseligen Händler würde er es auch auf einem Bein, mit einem Arm hinter dem Rücken und verbundenen Augen aufnehmen können. Aber Lucan kam nicht weiter auf ihn zu, sondern lief mit wachsamem Blick an ihm vorbei in Richtung Theke. Embry setzte ihm nach.
    „Ich warne euch, kommt mir nicht näher oder es wird noch schlimmer für euch!“
    „Was soll der Mist!? Komm her und kämpfe wie ein Mann, statt deine Furie von Schwester auf mich zu hetzen!“
    Aber Lucan ignorierte ihn einfach und zückte aus seinem Ärmel eine Rolle Pergament heraus und reichte sie Orgnar.
    „Oder sollte ich sagen deinen Bruder?“, provozierte Embry ihn weiter, „Denn sie hat ja noch mehr Bart als du!“
    Das hatte gesessen. Lucan drehte sich herum und sein Kopf war so rot wie eine reife Tomate.
    „Daran habt ihr Schuld!“, zischte er mit geradezu krampfhafter Fassung, „Aber damit ist jetzt ein für alle Mal Schluss. Ich sorge dafür, dass ihr aus der Stadt verbannt werdet!“
    „Was?!“
    „Das hier“, er entrollte das Pergament, als sei er ein Bote des Kaisers persönlich, „ist eine Sammlung an Unterschriften von allen Dorfbewohnern mit dem Beschluss, euch als vogelfrei zu erklären.“
    „Pah! Das könnt ihr gar nicht“, rief Embry, „Ihr gehört nicht der Wache des Jarls an. Niemand hier gehört der Wache an.“
    Ein fieses Grinsen legte sich auf das Gesicht des Händlers: „Die Verwaltung des Dorfes obliegt der Inhaberin der Sägemühle: Gerdur. Und sie besitzt das Recht dazu, Leute aus Flusswald zu verbannen, wenn keine Wachen zugegen sind, die diese festnehmen. Sie bat mich eine Liste von Unterschriften zu sammeln von all jenen, die euch hier nicht mehr sehen wollen. Das Ergebnis ist eindeutig. Ihr habt bereits die drei einflussreichsten Menschen des Ortes gegen euch: mich, den Händler, den Schmied und natürlich auch Gerdur selbst.“
    Embry konnte nicht fassen, was dieser hinterhältige Skeever zu sagen hatte. Dieser dem-Kaiserreich-in-den-Arsch-Kriecher von einem Schmied, dem er gestern erst noch geholfen hatte? Und Gerdur, diese zickige Müllerin mit ihrem rotzfrechen Bengel von einem Sohn! Wie konnte Hod ihm das nur antun? Damit hatte der Müller Embrys Respekt vollends verloren.
    „Ich kann nicht schreiben“, sagte Orgnar, „Reicht auch ein Kreuzchen?“
    „Orgnar, ihr auch?!“, fragte Embry fassungslos und donnerte auf die Theke.
    „Tut mir Leid Embry… aber wenn ihr das wirklich wart, der dieses hübsche Weibsbild in ein Monster verwandelt hat, dann kann ich euch nicht mehr hier gebrauchen. Das ruiniert das Geschäft.“
    Mit offenem Mund beobachtete Embry, wie Orgnar den Wisch signierte. Es war so surreal und es war nicht mal seine Schuld. Er war zwar keiner, der gerne andere in die Scheiße ritt, aber in dem Fall…
    „Sven war’s!“
    „Was?“, fragten die beiden gleichzeitig.
    „Sven hat Camilla so entstellt. Er wollte Camilla mit einem Liebestrank verführen, aber dessen Wirkung scheint nicht aufgegangen zu sein…“
    Lucan schien für einen Moment nachdenklich, schüttelte den Gedanken aber gleich wieder ab.
    „Auch wenn ich den Kerl nicht ausstehen kann, seine Mutter hat geschworen, dass er gestern den ganzen Abend daheim war und sich um sie gekümmert hat.“
    „Ach, die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Die deckt ihn doch!“
    „Ich will davon nichts mehr hören“, Lucan rollte sein Pergament wieder zusammen und ließ es in seinem Ärmel verschwinden. Er wollte auf der Stelle kehrt machen, da packte ihn Embry am Kragen und hob ihn wutentbrannt hoch. Wie im Wahn begann er ihn zu schütteln. Orgnar ging gleich dazwischen und löste den Griff.
    „Das werde ich ebenfalls zu Protokoll nehmen“, drohte Lucan mit zittriger Stimme, „Genießt euren letzten Tag im Dorf. Schon morgen werdet ihr es verlassen müssen!“
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  12. #12 Zitieren
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    Embry kochte vor Wut, als er die Taverne verließ. Schlagartig schlug ihm das gute Frühstück schwer auf den Magen, das er vor wenigen Minuten erst so genüsslich verschlungen hatte. Er hatte kaum Zeit gebraucht, seine Gedanken zu sortieren, denn letztlich führte ihn jeder Fetzen nur zu einem Ziel, zu Sven! Was für ein verlogenes Kameradenschwein war er doch, dass er Embry in eine solche Scheiße hereinritt. Wenn er jetzt aus dem Dorf flog, hatte er ohnehin keinen Ort mehr, den er aufsuchen konnte. Sein Elternhaus, seine Jugendliebe, alle waren bereits nach Sovngarde aufgebrochen und sein altes Haus stand in Trümmern. Nun hatten sich auch seine vermeintlichen Freunde aus dem Dorf gegen ihn gewandt. Er war ihnen nie innig verbunden gewesen und doch war mit der Zeit eine Art Wohlgefühl unter den Leuten, denen man jeden Tag über den Weg lief, entstanden. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Er hatte nichts mehr, wofür er hier bleiben musste. Er könnte genauso gut tot sein oder seine Zeit im Kerker verbringen. Das einzige Gute daran war, dass er nun Rache an dem Mistkerl Sven nehmen konnte!
    Sein Weg führte ihn an diesem nebeligen Spätsommermorgen geradewegs zur Sennhütte der alten Hilde und ihres Sohnes Sven. Er ignorierte die schiefen Blicke der anderen Dorfbewohner, der Kleinbauern und Knechte, Tagelöhner und Waschfrauen. Auch den Schmied, auf den er eine gehörige Wut haben dürfte und der ihn mit seinem glasigen Blick anstarrte, als ob er zu lange ins Herdfeuer starrte, ließ er einfach links liegen. Es trennten ihn nur wenige Schritte von der Veranda der Alten, als ihm plötzlich aus einer Seitenstraße jemand mit einem großen Stapel Holzblöcke in den Weg lief. Als dieser jemand, den Embry ebenfalls zu ignorieren versuchte, ihn erkannte, ließ er seine Hölzer einfach auf den Boden fallen.
    „Embry!“, rief er nach ihm und stellte sich ihm in den Weg. Es war Hod.
    „Verschwinde oder ich kann für nichts mehr garantieren“, grunzte der Nord wütend und wollte Hod zur Seite schieben, doch dieser stand breitbeinig vor ihm wie ein Fels in der Brandung. Embry war bislang nicht bewusst, dass der Holzfäller gut einen halben Kopf größer war als er und muskulöser noch dazu. Aber er war ein Milchtrinker, ein Pantoffelheld und ging völlig unter seinem herrischen Weibsbild Gerdur unter. So einer konnte einen echten Nord wie Embry doch nicht aufhalten!
    „Ich weiß, was du vorhast! Aber mach es nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.“
    „Einen Scheißdreck weißt du! Ich kaufe mir diesen Sven jetzt, diesen verlogenen Bastard!“
    Wie er sich an Hod vorbei drängeln wollte, ließ dieser ihn in sich herein laufen und packte ihn, als wäre er sein Lausebub.
    „LASS MICH!“, knurrte Embry, doch da war nichts zu machen. Hod umarmte ihn mit der Kraft eines Bären.
    „Sei vernünftig, Embry! Ich möchte dir nur helfen!“
    Je kräftiger er gepackt wurde, je mehr der Druck zwischen ihm und dem kräftigen Holzfäller stieg, desto mehr Blut strömte in den Kopf des Säufers. Tief verborgene Kräfte schienen sich zu sammeln, sich in seinem Inneren zu bündeln und aufzukochen. Er war kurz davor zu explodieren. Mutter hatte immer gesagt, das käme vom vielen Essen, aber er spürte, dass da noch etwas anderes war. Er kniff die Augen zusammen und stieß plötzlich einen markerschütternden Schrei aus, den echte Nord nur allzu gut kannten. Im schwersten Kriegsgetümmel war dieser Schrei ihr Trumpf zum Sieg gegen alle Feinde Himmelsrands. Diese Kraft steckte in einem jeden von ihnen, doch es bedurfte einer fast unbändigen Wut, sie tatsächlich zu rufen.

    Es war ein nordischer Kriegsschrei.

    Hod ließ ihn erschrocken los, als umhüllte ihn auf einmal einen Mantel aus Feuer.
    „ZUR SEITE!“, schrie Embry und schubste Hod erneut, diesmal ging der Hüne sogar zu Boden. Doch seine Wut war längst noch nicht gesättigt. So schnell wie ein rasender Keiler bahnte er sich seinen Weg zur Hütte von Hilde und Sven und warf die morsche Tür mit einem kräftigen Tritt seines gesunden Beines aus den Angeln. Die alte Frau saß an ihrem kleinen runden Tisch mit einer gruseligen Puppe neben sich und war anscheinend dabei, eine Teeparty zu schmeißen. Sie erschrak, als sie ihn sah und hob ihre Hand an den Kragen des Altweiberkleides. Embry packte den Tisch und warf ihn unter lautem Scheppern der Teller und Tassen um. Dann griff er sich die Alte und riss sie in die Höhe.
    „WO IST ER?!“
    „Hilfe… Hilfe!“, krächzte Hilde unter erstickendem Röcheln.
    „Ich warne dich, du alte Vettel: ich frage nicht noch einmal! WO IST SVEN!“
    Doch in diesem Moment hatte er sich so in seine Rage hereingesteigert, dass er nicht bemerkte, wie sich Hod von hinten näherte. Er spürte nur einen dumpfen Schlag mit einem der Holzblöcke auf den Hinterkopf und wie plötzlich alle Kraft aus ihm zu entweichen schien. Dann wurde ihm schwarz vor Augen…
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:30 Uhr)
  13. #13 Zitieren
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    Es war dunkel ringsum. Der Wald warf seine Schatten über den weichen Moosboden. Embry war ganz alleine in der Finsternis, kein Sven, kein Hod, niemand war bei ihm. Er wusste weder, wie er hierher geraten war, noch, wohin er gehen sollte. Aus dem Dickicht war kein einziges Geräusch zu vernehmen, es war geradezu gespenstisch still.
    Er formte mit den Händen einen Trichter und rief: „Hallo?!“
    Seine Stimme hallte weit durch den Raum, als befinde er sich in einem großen Talkessel. Umso erschreckender, dass sein Rufen der einzige Laut war, der für viele Herzschläge zu vernehmen war. Normalerweise war er in solchen Situationen vorsichtiger. Wie leicht konnten Raubtiere, Wölfe oder gar Bären, auf ihn aufmerksam werden mitten in der Nacht? Aber irgendwie schien ihm das unwahrscheinlich. Solche Tiere würden sich doch selbst verraten, wenn sie ebenso laute Geräusche verursachten. Es schien fast so, als wäre er wirklich ganz allein in einem tiefen Wald.
    „HALLO!“, versuchte er es erneut und noch lauter, „ICH BRAUCHE HILFE! HÖRT MICH JEMAND!?“
    „Embry!“, antwortete eine melodische Stimme. Sie war so leise und zart, dass er fürchtete, sie nicht verstehen zu können, wenn er noch etwas sagte. Er zwang sich zur Ruhe, hielt sogar den Atem an.
    „Embry!“, rief die Stimme erneut und direkt vor ihm erschien ein goldenes Licht. Das musste ein riesiges Glühwürmchen sein!
    „Ja!“, antwortete er, „Wer ist da? Wo bin ich?“
    „Ich bin ein Nachtschwärmer“, antwortete die Stimme. Embry konnte ihren Ursprung nicht heraushören, es war, als spräche sie von überall. Verdammtes Echo! Das kleine Glühwürmchen setzte sich in Bewegung und Embry folgte ihm durch das Unterholz. Es war so furchtbar dicht, dass er sich an Stöcken und Dornen die Arme und Beine aufscheuerte. Doch das Glühwürmchen schien keine Probleme damit zu haben, es wurde sogar noch schneller. Embry setzte zum Sprint an, da trat er gegen eine Wurzel und konnte sich gerade noch so im Vorausstolpern auffangen. Und plötzlich hatte er das Unterholz schlagartig verlassen und stand an einer großen Weidefläche, durch welches ein friedlicher Fluss seine Bahn zog. Genauso überraschend war das Licht, das ihn jetzt in verträumtes Staunen lullte. Ein atemberaubendes Nordlicht säumte das Himmelszelt und Masser leuchtete in einem warmen Rot wie die untergehende Abendsonne.
    „Embry!“, sagte die Stimme wieder. Sie war jetzt direkt vor ihm, er konnte sie klar hören. Es war ein blondes Weibsbild von nicht mal dreißig Wintern. Sie war in ihrem Gesamtbild einfach atemberaubend. Langes, wallend blondes Haar säumte ihren nur mit einer leichten Lederrüstung gekleideten Körper. Ihre Proportionen waren schon fast übertrieben gut, so etwas konnte nur ein Geschenk der Götter sein. Embrys Finger zitterten, sie wollten diese Frau einfach nur… anfassen. In ihren Händen hielt sie zwei Krüge bereit, gefüllt mit köstlichem Honigmet, das konnte Embry gleich riechen. Mit einem verführerischen Lächeln reichte sie dem Nord einen Krug und deutete auf ihre Freunde, die plötzlich aus allen Richtungen erschienen. Junge, Alte, Männer, Frauen, Dicke, Dünne. Sie alle verband die Liebe zur Geselligkeit und zu allem Guten im Leben.
    „Lasst uns anstoßen!“, rief die blonde Schönheit und hob ihren Krug, „Auf Embry! Das neuste Mitglied der Nachtschwärmer.“
    „Ja!“, er freute sich wie ein kleiner Junge, der endlich in die Prügelbande der Großen aufgenommen wurde. Er führte den Becher zum Mund, doch wie er den ersten Schluck nehmen wollte, vernahm er einen lauten Aufschrei. Plötzlich hing er in einem Netz und konnte sich nicht mehr bewegen. Die Nachtschwärmer rannten davon und aus dem Dickicht hervor getreten kamen Sven und Lucan und die bärtige Camilla und alle anderen Dorfbewohner, die ihn aus Flusswald werfen wollten. Sie packten das Netz und er kam sich so vor wie ein erlegter Keiler. Mit lautem Lachen schleppten sie ihn bis zu einer Klippe über dem scheinbar gemütlichem Fluss, der plötzlich zu einem reißenden Strom geworden ist.
    „Nein! Die Nachtschwärmer! Ich bin einer von ihnen, lasst mich gehen!“
    Dann warfen sie ihn ins Wasser.


    PLATSCH!

    Hektisch strampelnd erwachte er aus seinem Traum. Sofort stellte er fest, dass ihm jemand mit einem Eimer Wasser geweckt hatte. Er war völlig durchnässt, aber zumindest war er nicht am Ertrinken. In einem Netz hing er trotzdem, sie hatten ihn an den örtlichen Pranger gehängt wie ein Stück Aushängefleisch. Es war schrecklich unbequem.
    Embry musste mehrmals blinzeln und erst mal wach werden. Sein Kopf hämmerte. Ein kurzes Abtasten ergab, dass er eine dicke Beule an der Hinterseite hatte. Er war niedergeknüppelt worden.
    „Hey!“, knurrte er schlaftrunken und sah sich hilfesuchend um. Er musste eine ganze Weile weggewesen sein. Die Sonne war schon am Untergehen. In den langen Schatten, die der Hals der Welt über das Dorf warf sah er erst spät, wer ihn da eigentlich so sanft geweckt hatte. Seine roten Augen funkelten ihn an wie ein hungriger Daedra. Es war dieser verfluchte Dunkelelf mit dem blöden Krempenhut. Er war ganz in schwarz gekleidet. Sein dunkler Umhang flatterte im kühlen Abendwind.
    „Ihr?“, brummte Embry, „Habt ihr mich hier gefangen genommen?“
    „Seid still“, zischte er. Seine Stimme war rau wie ein Reibeisen, das passte so gar nicht zu seiner kleinen und schlanken Statue.
    „Ich bin der Letzte, der euch in Fesseln sehen will. Ich bin euer Freund.“
    „Ihr seid ein Spanner“, konterte Embry kalt, „Was bei den Neun wollt ihr von mir?“
    „Diese Dorftrottel haben in euch anscheinend einen Sündenbock für all ihre kleinen Problemchen gefunden, ist es nicht so? Sie wollen euch nun sogar der Kaiserlichen Wache in Weißlauf ausliefern, weil ihr die alte Hilde angegriffen habt.“
    „Kommt zur Sache!“

    Der Elf spähte vorsichtig durch die Gassen, als wolle er sich vergewissern, dass niemand ihr Gespräch belauschte. Dann griff er an seinen Gürtel und holte hinter dem schwarzen Umhang einen krummen Langdolch hervor. Das war ganz klar eine Meuchelwaffe und Embry zuckte hilflos in seinem Netz zusammen. Wollte der Kerl ihn abstechen? Hatte Sven ihn dazu überredet? Was wäre das für ein ehrloser Tod für einen Nord. Als er mit der Waffe ausholte, schloss Embry die Augen. Der kalte Stahl traf sein Ziel blitzschnell und durchtrennte es mit einem gezielten Schnitt. Das Seil riss und das Netz mitsamt Embry plumpste von der Schwerkraft motiviert auf die harten Pflastersteine.
    „Au, verdammisch…“, klagte Embry, doch der Dunkelelf war schon bis zu ihm heran gekommen und hielt ihm die eisige Klinge an die Kehle.
    „Gib Ruhe!“, zischte er, „Ich habe dich gerade gerettet. Wie wäre es mit etwas mehr Vertrauen?“
    „Fällt mir schwer“, stammelte Embry, „wenn mir ein Messer an den Hals gedrückt wird…“
    Der Dunmer ließ von ihm ab.
    „Ich habe euch die Freiheit geschenkt und möchte, dass ihr mir jetzt ebenfalls helft.“
    Embry rieb sich den Hals. Er war noch kalt vom Wasser, aber bis auf ein paar Barthaare hatte der Typ ihm nichts abgeschnitten.
    „Warum sollte ich?“
    „Es wäre auch in eurem Interesse“, wieder schaute sich sein Gegenüber hektisch um, „Ihr könntet euch an Lucan rächen. Er besitzt eine schöne, goldene Klaue, die er in seinem Laden ausstellt. Ich möchte, dass ihr sie ihm abnehmt.“
    „Ich? Klar, weil ich so unauffällig bin.“
    Embry schnaubte verächtlich und mühte sich hoch.
    „Damit sie mich gleich an den Galgen hängen können, was? Ich sage euch, was ich mache. Ich werde einfach das Dorf verlassen.“
    Er wollte sich schon in Bewegung setzen, da rief ihn der Dunmer noch einmal an, zu warten.
    „Wo wollt ihr denn hingehen? Ihr habt nichts, keinen einzigen Septim. Ich werde euch fünfhundert Münzen zahlen, wenn ihr mir helft.“
    Das ließ Embry aufhorchen.
    „Das hört sich schon besser an.“
    Fünfhundert Münzen, Mensch, was er sich damit alles leisten könnte! Er würde einen Söldner anheuern, nach Falkenring ziehen und sich dort ein neues Leben erschaffen. Selbst wenn die Wachen von Weißlauf ihn ins Gefängnis werfen wollten, in der Baronie Falkenring war er ein unbeschriebenes Blatt. Dort galten nur die Gesetze des örtlichen Jarls.
    „Aber wie soll ich das machen? Sie werden mich gleich wieder festnehmen, wenn sie mich sehen.“
    „Dafür bin ich ja da. Wir arbeiten zusammen.“
    „Na gut... aber ich will die Hälfte meines Lohns im Voraus.“
    Der Dunmer rollte mit den blutroten Augen: „Vergesst es. Entweder ihr helft mir oder ich liefere euch direkt wieder der Meute aus.“
    Embry funkelte ihn finster an, aber er hatte wohl keine Wahl. Er musste sich wirklich mal wieder eine Waffe zulegen, sonst würden ihn diese Würstchen mit ihren kleinen Spielzeugschwertern immer auf der Nase herumtanzen!
    „Von mir aus.“
    „Ihr seid ein schlauer Mann, Embry“, der Dunmer versteckte seine Waffe wieder hinter seinem Umhang, „Wir treffen uns um Mitternacht am Osttor.“
    Embry nickte: „Könnt ihr mir nicht wenigstens noch euren Namen nennen?“
    Der Dunkelelf grinste finster.

    „Arvel.“
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  14. #14 Zitieren
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    Es dauerte nicht mehr lange bis Mitternacht. In Flusswald gab es weder einen Tempel, noch einen Uhrturm. Eine Sonnenuhr verriet die Zeit tagsüber, doch nachts musste man sich mit dem Stand des Mondes und der Sterne begnügen. Es war eine sehr ungenaue Bestimmungsmethode, aber wie es auf vielen Dörfern der Fall war, lebten die Menschen hier auch sehr entschleunigt. Stress gab es zwar auch, aber nicht wegen irgendwelcher wichtigen Termine. Wenn die Ernte im Herbst vor dem frühzeitig einsetzenden Winter noch eingeholt werden sollte zum Beispiel oder wenn Orgnar einen schlechten Tag hatte und seine Gäste ein paar Stunden eher aus der Taverne warf.
    Embry wusste die Zeit ungefähr, wenn er zum Hals der Welt empor schaute. Das Sternbild des Kriegers konnte man nur in tiefster Nacht sehen, seine ersten Sterne erschienen gegen 11 Uhr und die letzten verschwanden wieder um 1. Natürlich kam das immer auf die Perspektive an... und seine Perspektive war normalerweise die vor dem Taverneneingang aus. Jetzt hockte er in einem Gebüsch außerhalb der Stadt, nahe des Osttores. Arvel war verschwunden und hatte ihn angehalten, hier im Dickicht zu bleiben und ja nicht heraus zu kommen. Jetzt hörte er sogar schon auf Befehle von Dunkelelfen, Embry sollte sich schämen. Aber im Hinblick auf die 500 Septime verschwand auch sein letztes Bisschen Stolz.
    ‚Besser, als am Pranger zu hängen‘, redete er sich immer ein und fragte sich inzwischen, ob die Dorfbewohner sein Verschwinden schon zur Kenntnis genommen hatten.
    Sein Magen knurrte und er fror bitterlich. Die Nacht war sternklar und kühl und seine Kleidung war immer noch klamm von dem kalten Eimer Wasser, mit dem Arvel ihn geweckt hatte. Ihm war klar, wenn die Dorfbewohner ihn wirklich suchten, dann würden sie ihn finden – sein knurrender Magen oder die klappernden Zähne würden ihn letztlich verraten.

    Als das Sternbild des Kriegers über dem Hals der Welt erschienen war, wurde Embry langsam unruhig. Doch Arvel hielt Wort und holte ihn auf leisen Sohlen ab. Embry erschrak, als der Dunkelelf plötzlich neben ihm stand – er hatte das Dorf nicht durchquert, sondern umrundet.
    „Und?“, fragte der Nord nervös, „Ist die Luft rein?“
    „Ich habe eine Fährte gelegt. Sie glauben, du hast dich selbst befreit und bist nach Süden ins Gebirge abgehauen. Dort haben sich der Schmied und der Kaufmann als Wachen postiert. Jetzt wird es ein Kinderspiel, die Klaue zu beschaffen.“
    Embry fragte sich, wie Arvel sich das vorstellte. Wollte er etwa einbrechen? Lucan hatte sicher abgeschlossen oder Camilla war noch daheim. Wie er es auch drehte und wendete, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie kein Aufsehen erregten.
    „Wie gehen wir vor?“, fragte Embry und verschränkte die Arme vor der Brust.
    „Ich knacke das Schloss und ihr werdet reingehen. Die Klaue liegt immer auf Lucans Tresen, ich beobachte sie schon lange. Es wird ein Kinderspiel werden.“
    „Ich laufe nicht gerade auf Samtpfoten“, merkte Embry an, „Wie wäre es, wenn ich einfach draußen bleibe und Wache halte?“
    „Nein. Ihr geht rein. Wenn man euch draußen sieht, wird man euch verfolgen. Außerdem kann ich mich dann noch aus dem Staub machen, wenn ihr versagt. Seht es als Anreiz, ausnahmsweise mal keinen Mist zu bauen.“
    Embry seufzte schwer.
    „Und zieht eure Schuhe aus. Dann könnt ihr euch leiser bewegen.“

    Die Holzdielen knirschten leise, als sich Embry barfuß in das Flusswalder Handelskontor hereinschlich. Arvel hatte nicht zu viel versprochen, es war wirklich ein Kinderspiel hier einzubrechen. Die Tür war nicht mal verschlossen gewesen, das war die Mentalität der Dorfbewohner. Man kannte einander und vertraute sich, wenngleich diese Tatsache in krassem Kontrast zur Ausgliederung des langjährigen Einwohners Embry stand. Als der korpulente Nord vom Knarzen der Bretter den Atem anhielt, vernahm er Geräusche aus dem Obergeschoss. Eine Treppe führte hoch und eine Tür trennte den Raum von unten, aber die Wände waren ziemlich dünn. Es waren zwei Stimmen. Embrys Herz schlug schneller und er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, mit wem er es zu tun hatte.
    Die erste Stimme war schrill und schnell, sie gehörte ganz klar zur bärtigen Camilla, die oben ihr Zimmer hatte. Es war auch eine Art leises Ratschen zu vernehmen – SCHRIPP SCHRAPP - woher kannte Embry dieses Geräusch nur? Jemand war bei Camilla, soviel stand fest. Embry schlich sich ein wenig weiter in den Raum herein, immer darauf bedacht, nicht gegen irgendeine Vase, Statue oder Topfpflanze zu treten, von denen es in dem Kleinwarenhaus nur so wimmelte. Die wohlige Stimmung von neulich, die er hatte, als er all den Krimskrams und Trödel bewundert hatte, war verschwunden. Mit diesem Laden verband er ein finsteres Kapitel seines Lebens, eines, das womöglich noch nicht zu Ende geschrieben war.
    Nach der Klaue hatte er sich schon umgesehen, sie lag wie erwartet auf dem Tresen. Ein Handgriff und er hätte sie in seinem Besitz, aber damit wartete er noch. Die Neugier überwog.
    RITSCH RATSCH!
    Da war dieses Geräusch wieder! Was war das nur? Embry rieb sich nachdenklich durch den Bart und hatte dabei die Antwort schon in den Händen. Jemand war beim Haareschneiden. Mehr noch: jemand rasierte Camilla den Bart ab! Das würde Embry zu gern sehen, aber er musste sich jetzt schon ein erheitertes Prusten unterdrücken. Er ließ von dem Gedanken ab und starrte in Richtung der Klaue. Dann war wieder eine Stimme von oben zu hören.
    „Sei unbesorgt. Lucan wird diesen Mistkerl finden und wieder an den Pranger hängen. Sie haben doch den Schmied dabei. Der ist kräftig.“
    „Ein schwacher Trost“, antwortete Camilla.
    „Aber sieh es mal so, dafür haben wir hier mal einen Abend ganz für uns.“
    „Beeil dich bloß, Sven! Wenn Lucan dich hier erwischt, jagt er dich raus wie einen räudigen Skeever.“
    Embry musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut aufzuschreien. Dieser süßholzraspelnde Mistkerl, dieser blondschöpfige Verräter saß da oben und rasierte seine Freundin, die nicht erkannte, dass er selbst an all ihrem Leid Schuld war? Am liebsten würde Embry sich die beiden schnappen, sie am Bart und ihn an der Tolle und raus in den Fluss werfen für all das, was sie ihm angetan haben. Aber jetzt musste er an sich denken und an das ganze Geld, das er haben könnte, wenn er sich nur diese goldene Klaue schnappte.
    Er lief zum Tresen und…

    „AUTSCH!“, zischte er. Er hatte sich einen dicken Splitter eingefangen, mitten in den großen Zeh. Was für eine dämliche Idee war das gewesen, barfuß zu gehen?
    „Scheiße, er kommt!“, hörte er Camillas schrille Stimme. Dann ging alles unglaublich schnell. Embry klemmte sich die Klaue unter den Arm und stürmte nach draußen, wo ihn Arvel schon ungeduldig erwartete.
    „Habt ihr die Klaue?“, fragte er gierig und streckte die Hand aus.
    „Hier!“, knurrte Embry und warf sie ihm hin, „Wartet hier, ich habe noch etwas zu erledigen.“
    Splitter hin oder her, er wusste genau, wo er jetzt hin musste. Er umrundete das Handelskontor und lief Sven direkt in die Arme, der sich gerade mit einem Bettlaken aus dem Balkon abseilte.
    „Embry?!“, fragte dieser entsetzt, als er ihn erkannte. Dieser grinste breit und finster, ballte seine Hände zusammen und ließ die Knöchel knacken. Sven fiel schon bei der kleinsten Andeutung eines Schlags auf seinen Hintern und krabbelte voller Panik rückwärts.
    „Bitte… lass mich doch erklären…“
    Embry packte ihn am Kragen und hob ihn mit einer Hand auf.
    „Ich werde die anderen auf dich hetzen!“, zischte Sven, als er bemerkte, dass es kein Entkommen gab, „Du wirst es noch bereuen, dass…“
    Doch Embry ließ ihn nicht ausreden. Seine massive Faust landete im Gesicht des schnöseligen Schönlings und mit einem unangenehmen Knacken gab der Nasenrücken unter dem Schlag nach.
    „Licht aus“, sagte Embry zufrieden und warf den Ohnmächtigen in das Rübenfeld hinterm Hof. Dann flitzte er zurück zur Vorderseite des Hauses, um sich mit Arvel zu treffen. Doch von dem war weit und breit keine Spur mehr zu sehen.

    „Da ist er!“, brüllte jemand vom anderen Ende der Straße. Ein kleiner Pöbel hatte ihn bemerkt und kam auf ihn zu gerannt. Als Embry zur Flucht ansetzte, bemerkte er schnell, dass sein verletztes Bein diesem Druck nicht Stand hielt. Sie hatten ihn in wenigen Augenblicken eingeholt.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:31 Uhr)
  15. #15 Zitieren
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    Die Nacht war kalt und windig, Nebelschwaden erschienen beim Ausatmen und lösten sich genauso schnell wieder auf. Es schien, als sei das ganze Dorf zu später Stunde auf den Beinen, dabei wünschte sich gewiss ein jeder, schnell wieder in seinem warmen Bett zu liegen und dem Knistern des Kaminfeuers beim Einschlafen zu lauschen. Und doch, die Neugier, die Sensationslust hielt sie alle wach. Alle bis auf einen. Embry wäre nichts lieber, als sich vor ein gemütliches Feuer zu setzen und sich die eisigen Glieder zu wärmen. Er war auch der Einzige, der in dieser Kälte barfuß unterwegs war. Doch eine erholsame Nacht war ihm anscheinend auch heute nicht vergönnt. Er war schließlich auf unfreiwillige Weise der Grund für diesen nächtlichen Aufruhr und würde sich nirgendwohin verdrücken können, ehe nicht einige Dinge geklärt waren.
    Lucan und der Schmied waren die ersten, die ihn stellten, ihnen folgten einige Bauern, Gesellen, Waschweiber und schließlich auch das Müllergespann Gerdur und Hod. Embry hielt beschwichtigend die Hände in die Höhe, doch Lucan schien auf Krawall gebürstet. Er orderte dem Schmied an, Embry zu fesseln, was dieser geduldig über sich ergehen ließ.

    „Wir müssen reden“, versuchte sich Embry zu erklären.
    „Ich wüsste nicht, was es da zu reden gäbe“, mischte sich Gerdur ein und deutete auf die wissbegierige Meute, „Geht wieder in eure Häuser! Wir haben das alles unter Kontrolle.“
    Die Müllerin schien sich wirklich zur kleinen Prinzessin in ihrem Dorf gekrönt zu haben. Die meisten Anwohner kehrten brav in ihre Häuser zurück. Als die Fesseln um Embrys Handgelenke fest saßen, verabschiedete sich auch der Schmied in eine kurze, restliche Nacht.
    „Häng ihn wieder an den Pranger, Hod“, befahl Gerdur, „Und morgen gehst du in aller Frühe los und lässt nach ein paar Wachen aus Weißlauf schicken. Sie sollen ihn mitnehmen.“
    Embrys Füße verkrampften. Der Splitter steckte noch immer in seinem Zeh und ihn überkam der Drang, sich zu kratzen.
    „Wir können ihn nicht draußen lassen, da holt er sich noch den Tod“, sagte der Holzfäller beschwichtigend, „Schau doch, er hat nicht mal Schuhe an.“
    „Ist das meine Schuld?“, fragte sie schnippisch.
    „Ich bringe ihn in unseren Keller“, sagte Hod bestimmt.
    „Was? Das wirst du nicht tun!“, sie zwickte ihn in die Schulter.
    „Ich lasse niemanden erfrieren, erst recht keinen meiner früheren Kollegen. Dann streich mir doch den Beischlaf, die eine Woche mehr oder weniger werde ich auch verkraften.“
    So makaber die Situation doch war, Embry konnte nicht anders, als ein belustigtes Prusten auszustoßen. Dafür setzte es einen Stoß von Lucan in die Seite. Ein weichlicher Stoß eines weichlichen Mannes.
    „Darf ich vielleicht auch was sagen?“, fragte der Gefangene jetzt und da Gerdur gerade so sprachlos war, nutzte Embry einfach seine Chance und wandte sich an Lucan.
    „Bei euch ist eingebrochen worden. Der Dunkelelf hat eure goldene Klaue gestohlen. Er hat mich befreit, damit ich ihm dabei helfe und dann ist mir Sven über den Weg gelaufen. Der liegt übrigens drüben im Rübenfeld, ich habe ihm ein bisschen das verlogene Gesicht begradigt.“

    Auf den Augenblick genau vernahm man ein gequältes Seufzen aus Richtung des Handelskontors. Sven lag noch in den Rüben und Camilla war bei ihm. Sie waren mit ihrer Rasur nur halbfertig geworden, Kotletten und Schnauzer standen ihr noch wüst im Gesicht.
    „Camilla! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich nicht mit diesem Windhund abgeben sollst!“, Lucan packte sie am Handgelenk und zerrte sie nach drinnen.
    „Die Liste eurer Schandtaten wird länger und länger“, rekapitulierte Gerdur mit einem gespielt enttäuschten Kopfschütteln.
    „BEI DEN NEUN!“, Lucan kam wutentbrannt wieder herausgestürmt und begann, Embry wütend abzutasten.
    „Was soll das werden, wenn’s fertig ist?“, fragte dieser.
    „Meine Klaue, meine goldene Klaue! Sie ist wirklich fort.“
    „Sag ich doch.“
    „Hey ihr!“, rief sie plötzlich eine kratzige Stimme vom anderen Ende der Straße. Es war Orgnar. Sogar er hatte seine Taverne bei dem Tumult verlassen, das machte er sonst nie. Er kam eilig heran und winkte mit einem albernen, schwarzen Hut.
    „Gehört der jemandem von euch? Ich habe ihn auf der Straße vor dem Schlafenden Riesen gefunden.“
    „Das ist der Hut von diesem Dunkelelfen!“, stellte Lucan sauer fest.
    „Ja, was für ein dämlicher Hut“, bekräftigte Embry.
    „Und er war vor der Taverne? Bei den Göttern… das kann nur eins bedeuten“, Lucan wischte sich nervös den Schweiß von der Stirn, „Er ist auf dem Weg zum Ödsturzhügelgrab.“
    „Und was will er dort?“, fragte Hod.
    „Die Ahnen berauben. Ich habe gehört, diese Klaue sei der Schlüssel zu einer versiegelten Grabstätte der reichsten Urahnen des Fürstentums Weißlauf. Wenn er die Stadt nach Norden hin verlassen hat, wird er auf dem Weg dahin sein…“
    „Ach, vielleicht will er euer Schmuckstück auch nur teuer in Weißlauf verhökern“, lenkte Gerdur ein.
    „Nein… dazu weiß er zu viel darüber. Er hat mich ja regelrecht ausgequetscht über die Herkunft der Klaue.“
    „Das tut mir ja ehrlich Leid für euch, Lucan. Aber mir wird gerade wirklich kalt. Ich gehe heim.“
    „Warte Liebes. Ich habe eine großartige Idee, die uns alle zufrieden stellen könnte.“
    Hod zückte ein Messer und zerschnitt die Fesseln von Embry.
    „Seid ihr von Sinnen?!“, fragte Lucan entsetzt. Embry nutzte die Chance sogleich, um sich am Fuß zu kratzen. Der blöde Splitter…
    „Embry wird die Klaue für euch beschaffen“, während Embry sich noch bückte, klopfte Hod ihm so kräftig auf den Rücken, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.
    „Er wird sich in der Taverne aufwärmen und noch vor Sonnenaufgang losmarschieren. Er bringt die Klaue zurück und dafür darf er im Dorf bleiben. Seine Vergehen werden für nichtig erklärt.“
    Lucan rieb sich das Kinn und wirkte irgendwie zuversichtlich.
    „Er hat einem Mann die Nase gebrochen!“, protestierte Gerdur.
    „Ach, das hat der doch verdient, dieser Windhund“, sagte Lucan, „Also… mit dem Kompromiss könnte ich leben.“
    „Und wenn er es nicht schafft, darf er nicht mehr ins Dorf“, ergänzte Hod, „Was sagst du, Embry?“
    Der Nord ballte die Fäuste zusammen.
    „Wenn ich feste Schuhe, eine Spaltaxt und eine warme Suppe kriege, dann hol ich mir diesen Dunkelelf.“
    „Na bitte“, der Holzfäller klatschte in die Hände, „Und dann müsste er nicht mal bei uns im Keller schlafen. Was sagst du, Liebes?“
    Aber Gerdur winkte nur ab: „Macht doch, was ihr wollt. Ich geh heim, mir ist kalt.“
    „Abgemacht! Hey Orgnar, hast du einen gute Tagessuppe?“
    „Linseneintopf mit Fleischbrocken.“
    Embry strahlte vor Freude. Das war sein absolutes Lieblingsessen.
    „Was will man mehr?“

    Endlich war seine Pechsträhne vorüber.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:32 Uhr)
  16. #16 Zitieren
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    Drei Uhr morgens. Embry hatte noch nie in seinem Leben – zumindest erinnerte er sich nicht daran – so früh gegessen. Erst recht keinen Linseneintopf, aber die Umstände stellten ja eine absolute Ausnahme dar. Orgnar hatte ihm gleich den ganzen Topf mit den Resten gegeben und sich ins Bett verabschiedet. Somit war der Eintopf nicht mal mehr warm, aber dafür gut durchgezogen. Der ausgehungerte Embry schaufelte die Linsen in sich herein, als ob es kein Morgen gäbe. Orgnar hatte ihm dazu nur Wasser gereicht, es schmeckte wie aus der Regentonne. Das Argonische Bier hatte der Wirt mit den wohl bekannten Worten „Keine fremden Getränke in meiner Kneipe“ eingezogen. Embry rechnete damit, dass Orgnar es schon weiterverkauft, wenn nicht sogar selbst getrunken hatte. Aber immerhin musste Embry keine Münze für die Linsen bezahlen und so beschwerte er sich auch nicht. Dafür war es eh viel zu spät. Oder viel zu früh. Er hatte zwar lange ohnmächtig im Netz am Pranger geschlafen, als er aber so gemütlich in der Taverne saß und sich mit vollem Bauch zurücklehnte, übermannte ihn einfach die Müdigkeit und er schlief am Tisch ein.
    Etwa drei Stunden später weckte Orgnar ihn, indem er ihm die Nase zuhielt. Unter einem nahenden Erstickungsanfall schreckte der Nord auf und starrte direkt in die in dunklen Höhlen liegenden Augen des Schankwirts.
    „Aufstehen! Du musst los.“
    „Richtig“, lallte Embry schlaftrunken und rieb sich die Augen. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um zu erkennen, dass die Sonne in wenigen Augenblicken aufgehen würde.
    „Ich hätte nie gedacht, dass du so nett bist und mich rechtzeitig weckst.“
    „Pah! Ich halte dein Geschnarche einfach nicht aus. Das hört man ja bis in mein Zimmer. Dabei krieg ich kein Auge zu. Und jetzt mach, dass du raus kommst!“
    Der Wirt geleitete ihn mit einem beherzten Schubser nach draußen. Er war zwar ein ruppiger Geselle, aber Embry spürte, dass er ihm als Stammkunde doch etwas zu bedeuten schien.

    Hod hatte ihm gesagt, er könne sich seine alte Axt einfach an der Scheune der Sägemühle abholen. Es war dieselbe, mit der Embry schon einige Tage gearbeitet hatte und entsprechend wusste er sogar halbwegs, wie er sie zu schwingen hatte, dass er sein Ziel auch da traf, wo er es treffen wollte. Die Axt war in einen Baumstumpf geschlagen und auf ihrem Schaft hatte Hod den Hut von Arvel zurückgelassen.
    Als Embry sie mit einem kräftigen Ruck aus dem Holzblock zog, vernahm er tapsende Schritte aus der Scheune. Instinktiv drehte er sich herum und hielt die Axt sogleich zum Angriff bereit, da er befürchtete, Sven könnte auf die Idee kommen, sich für das Veilchen und die gebrochene Nase zu rächen. Doch es war nur Stump, der Hund von Frodnar, dem kleinen Satansbraten. Embry hockte sich hin und klatschte sich auf die Oberschenkel. Der schwarze Wolfshund trottete gemütlich zu ihm herüber, ließ sich streicheln und leckte Embry über die Wangen und Ohren.
    „Du passt wohl auf, dass hier keiner was klaut, hm?“
    Der Hund wackelte munter mit dem Schwanz. Embry rieb sich nachdenklich den Bart und ließ den Hund an dem doofen Hut schnüffeln.
    „Na los… ähm… such!“
    Der Hund bellte und rannte los. Embry hatte mal gehört, dass Stump ein alter Jagdhund war, sich aber nicht mehr so schnell bewegen konnte. Das kam Embry ganz recht, so konnte er dem Vierbeiner auch auf den Fersen bleiben. Außerdem würde es Stump an seiner Seite besser gehen als bei dem Rotzbengel Frodnar.

    Stump führte Embry auf demselben Weg zurück zur Taverne, den er gekommen war und von dort weiter durch das nördliche Tor. Auf dem Wehrgang, der darüber entlang führte, begann vor zwei Tagen der ganze Schlamassel, der ihn jetzt aus dem Dorf heraus führte. Wie hatte Sven es geschafft, Camilla glauben zu machen, dass dieser Trank, den er gebraut hatte, von Embry war? Und wozu überhaupt einen Trank brauen, wenn Camilla doch offensichtlich bereits Interesse an ihm zeigte? Er hätte viel mehr ein Gebräu benötigt, dass ihm Lucan vom Hals hielt. Vielleicht hätte er den Trank einfach selbst trinken müssen, dann hätte er wenigstens schon mal den Bart eines echten Nord, anstatt dieses Milchflaums.
    Der Weg führte Hund und Herrchen über eine steinerne Brücke, unter welcher der Weißfluss seine Bahn auf dem Weg in Richtung des fernen Geistermeeres zog. Wie friedlich er hier noch floss. Nur vereinzelte Schaumkronen zeugten von seiner stetigen Unruhe und weit und breit waren keine Fische zu sehen, erst recht keine Schlachterfische.
    Das Tal, in dem Flusswald lag, spaltete die beiden großen Berge, den gewaltigen Hals der Welt im Süden und den Ödsturzhügel im Norden, den es für Embry zu erklimmen galt. Auf der Hauptstraße nach Weißlauf zweigte ein kleiner Trampelpfad ab, der den Hügel hinauf führte. Als Stump instinktiv diesen Weg einschlug, war Embry klar, dass der Dunkelelf mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf dem Weg ins Hügelgrab war. Ein noch deutlicheres Signal war der blutige Leichnam eines alten Wolfes, den Stump unweit des Trampelpfades aufspürte. Die Wunde war noch frisch, der Wolf war garantiert erst diese Nacht gestorben und die saubere Schnittwunde erinnerte Embry an den Langdolch, den Arvel bei sich hatte.
    So langsam kamen ihm Zweifel an dieser gesamten Aktion. Es war Monate her, seit er es selbst zuletzt mit einem Wolf hatte aufnehmen müssen und in diesem Kampf hatten die Götter wirklich ihre schützenden Hände über ihn gehalten. Arvel dagegen schien sein Handwerk zu verstehen. Doch irgendwie trieben ihn eine Mischung aus Stolz und Gier und die Hoffnung auf eine Wiedereingliederung in Flusswald an, weiter zu machen. Der Weg wurde holpriger und die Kiefern, die den unteren Hang noch dominierten, wichen bald einer öden Landschaft aus kahlen Sträuchern und Felsen. Vereinzelte Schneehaufen waren die hartnäckigen Zeugen eines nie ganz enden wollenden Winters. In der Ferne war die Ruine eines alten Wachturms zu sehen und als Embry sich dieser nähern wollte, zog der Hund plötzlich den Schwanz ein. Embry bemerkte gerade noch rechtzeitig die frischen Fußabdrücke im Schnee und suchte Deckung hinter einem großen Felsbrocken. Vor dem Turm stand jemand Schmiere, ein bärtiger Kerl ohne Uniform. Er empfing einen kleinen Konvoi aus drei anderen Kerlen, die jemanden auf einer Bahre zum Turm schleppten. Das roch geradezu nach einem Banditenunterschlupf und diese Kerle schienen Ärger zu haben, denn das, was sie da herumschleppten, war ein Schwerverletzter. Embry hatte in seiner Jugend auch mit solchen Leuten Bekanntschaft gemacht und wusste daher, dass er lieber einen großen Bogen um den Unterschlupf machen sollte.

    Der Hund hatte soweit gute Arbeit geleistet, aber Embry wollte nicht das Risiko eingehen, dass ein Bellen ihn auffliegen ließ. Dummerweise hatte er keine Leine, um Stump festzubinden. Er wollte gerade wieder den ganzen Weg zurück laufen und den Hund zu seinem Besitzer bringen, da kam ihm eine Idee. Der Verband, den Hilde um sein Bein gewickelt hatte, war eigentlich ziemlich reißfest. Die Wunde war dank der Salbe schon ausgeheilt, lediglich ein dicker, blauvioletter Fleck war übrig geblieben. Er knotete eine Schlaufe in den Verband und band diese um den Hals des Hundes. Das andere Ende befestigte er an einem Baum nahe dem Trampelpfad. Wenn alles gut ging, konnte er Stump ja auf dem Rückweg wieder einsammeln. Andernfalls würde Hod ihn sicher finden.
    Nun schlich sich Embry hinter Felsen und Sträuchern entlang und konnte den Turm erfolgreich umgehen. Das Hügelgrab war ein gewaltiges Bauwerk, das äußerlich einer Tempelruine glich. Eine große Steintreppe führte auf eine Plattform, von oben vernahm Embry Stimmen. Wieder musste er in Deckung gehen und lauschen.
    „Das war schon der Dritte diese Woche. Ich hoffe, Garret hat noch mehr Leute angeheuert, damit wir nicht auch noch schürfen müssen.“
    Die Stimme klang heiser und genervt.
    „Stell dich nicht so an“, antwortete eine laute, aber ungewöhnlich tiefe Frauenstimme, „Weder Steine, noch Skeever werden uns aufhalten, jetzt wo wir die Klaue endlich haben.“
    Embry durchdachte seine Situation noch einmal kurz und kam schließlich zu dem Schluss, dass er es versuchen musste. Vielleicht konnte er die beiden ja verarschen.

    „HALLO!“, rief er und erklomm möglichst routiniert die Treppe. Die beiden waren sofort in Stellung gegangen und als er auf der Plattform angelangt war, hielten sie ihre Bögen zum Abschuss bereit. Es waren zwei Nord, ein drahtiger Kerl mit langen, fettigen Haaren und eine riesige Frau mit Schultern so breit wie ein Mann. Sie musterten ihn eindringlich.
    „Ich bin der Nachschub vom Turm“, begann Embry in der leisen Hoffnung, nicht direkt einen Pfeil in den Wanst zu bekommen, „Ich soll bei der Ausgrabung helfen.“
    Demonstrativ hob er sein Beil. Die beiden wechselten einen Blick dann zuckte der Kerl die Schultern.
    „Okay, kannst mitkommen. Angus hat’s eh erwischt, da brauchen wir Ersatz. Verdammte Skeever.“
    Die beiden senkten ihre Waffen und das Mannsweib führte ihn zu einem großen Tor, das tief in die Katakomben der Grabstätte führte.
    „Meld‘ dich bei Garret. Er wird dich einweisen.“

    Embry nickte und wusste insgeheim, dass es jetzt keinen Weg zurück mehr gab.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:33 Uhr)
  17. #17 Zitieren
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    Als er die große Eingangshalle des Ödsturzhügelgrabes betreten hatte, hatte Embry erwartet, gleich auf eine Ansammlung von Särgen und Steingräbern zu stoßen. Man hatte ja immer so seine eigene Vorstellung von Begräbnisstätten, aber Embrys Erfahrungen damit beschränkten sich auf unregelmäßige Besuche des großen Friedhofes von Falkenring. Seine Eltern lagen dort begraben, er hatte es nicht über sein Herz gebracht, dort leben zu bleiben und war mit seiner Liebsten nach Flusswald gezogen. Für sie hatte er kein Grab ausgehoben, sondern eine Seebestattung auf dem Ilinaltasee bevorzugt. Der Fischer, der ihm sein Boot geliehen hatte, verlangte dafür schlappe zehn Septimen und damals war sein Haus schon abgebrannt, da war er für jede Möglichkeit, Geld zu sparen, dankbar. Außerdem waren die Flammen der Liebe zu dem Zeitpunkt schon längst erloschen, der Abschied fiel ihm nicht allzu schwer. Aber manchmal ärgerte er sich darüber, ihre Asche mitsamt der Urne in den See geschmissen zu haben. Ihm fehlten die Erinnerungsstücke seiner Vergangenheit, ein Grund mehr, der ihn ständig in die Taverne trieb…
    Die Eingangshalle war durch den Einbruch eines Deckenabschnittes lichtdurchflutet und vom eingedrungenen Schnee und Schmelzwasser feucht. Hier und da überwucherten robustes Moos und kälteliebende Pilze den Boden und die gewaltigen Trägersäulen. Einige halb verfallene Holzbänke zeugten von dem regen Betrieb, den dieses Grabmal zu Nachkriegszeiten ausgemacht hatte. Vor seinem inneren Auge sah Embry einen steifen, altnordischen Priester, der eine Andacht vor zahllosen, trauernden Frauen hielt und im Hintergrund transportierten die Knaben ihre Väter herab in die Krypta.
    Auch heute noch waren die Spuren des Todes gegenwärtig. Überall auf dem Boden lagen Kadaver von erschlagenen Riesenratten, sogenannten Skeevern. Ein strenger Geruch von Fäulnis lag in der Luft und Embry musste sich das Hemd über die Nase ziehen, während er langsam ins Innere des Raumes vordrang. Ein Feuer knisterte dort und einige Männer saßen ringsum beim Frühstück. Es waren zwei Nord und ein dunkelhäutiger Rothwardone. Da dieser zuerst aufstand und Embry musterte, nahm letzterer an, dass es sich um den Anführer Garret handeln musste. Er hatte jedenfalls auch die Statur dazu – er war groß wie ein Nord und sein Gesicht zierte ein ruppiger Dreitagebart. Doch den größten Eindruck erweckte sicherlich die gewaltige Narbe, die sich von seiner kahlen Stirn über eine augenlose Höhle bis zum Kiefer zog. Das verbleibende Auge strahlte einen eisigen Blick aus, der Embry keinen Zweifel daran ließ, dass er es hier mit dem Anführer zu tun haben musste.

    „Ich komme vom Turm, soll euch hier unterstützen“, stellte sich Embry vor. Das Beil hielt er dabei so lässig wie möglich, aber so angriffsbereit wie nötig. Die anderen waren zwar unbewaffnet, aber ihre blutverkrusteten Schwerter lagen nicht weit entfernt auf einem Tisch.
    „Das ging ja schnell“, stellte der Rothwardone trocken fest, „Ich bin Garret, das sind Oleg und Olaf.“
    Embry stellte fest, dass es sich hier um Zwillinge handelte. Es waren noch Halbstarke, sie waren hager und von Kopf bis Fuß mit grauem Staub verdreckt. Die drei Banditen waren gerade dabei, einen der erlegten Skeever zu braten. Embry erinnerte sich an die Zeit, in der er sich auch von Riesenratten ernährt hatte – er konnte es nicht empfehlen. Da bevorzugte er doch einen kalten Linsenteller bei Orgnar.
    „Ich bin Em…“, er zögerte, „Emil.“
    Es wäre nicht ratsam, ihnen seinen echten Namen zu nennen, wenn Arvel tatsächlich hier war. A propos...
    „Ist Arvel auch hier?“, fragte er vorsichtig.
    „Erwähne bloß diesen Namen nicht“, knurrte Garret und verschränkte die Arme vor der massiven Brust, „Der Mistkerl ist hier vor ein paar Stunden aufgekreuzt, faselte etwas von des Rätsels Lösung und ist mit uns runter in die Katakomben gegangen. Im Rätselraum hat er uns ausgesperrt. Wir wollten ihm folgen, aber dann hat uns eine Horde Skeever überrascht. Wir waren froh, die erste Welle vor ein paar Tagen überlebt zu haben und dann das! Den Rest kennst du ja sicher.“
    „Angus hat’s erwischt und jetzt bin ich hier.“
    „So sieht’s aus.“
    Embry fiel ein Stein vom Herzen. Anscheinend kauften sie ihm die Rolle ab. Jetzt musste er nur noch Arvel finden. Die Klaue hatte er garantiert mitgenommen.
    „Komm setz dich erstmal“, meinte einer der Zwillinge und reichte ihm eine Skeeverkeule. Da klebten sogar noch verkohlte Fellreste dran.
    Embry winkte höflich ab: „Danke, ich hatte schon Frühstück, drüben im Turm.“
    „Ach, was denn?“
    „Linsen“, meinte er und erst dann fiel ihm auf, wie bescheuert das war. Wie sollten sich ein paar Banditen, die sich von erlegten Skeevern und gelegentlichen Überfällen auf Bauernhöfen ernährten, Linsen kochen können?
    „Echt?“, fragte der andere Zwilling, „Mann, ich wünschte, ich wäre auch drüben im Turm stationiert. Waren auch Fleischstückchen drinne?“
    „Räucherfleisch“, sagte Embry und nickte grinsend.
    „Verdammt…“
    „Hör auf herumzuheulen!“, raunte Garret ihn an, „Wir haben Wichtigeres zu tun. Jetzt, wo wir wieder zu viert sind, sollten wir runter in die Rätselhalle und Arvel aufspüren, ehe er sich mit dem Schatz alleine aus dem Staub macht. Ich hoffe, du kannst mit deiner Axt umgehen, Emil.“
    „Klar… aber zum Schürfen brauche ich eher eine Hacke…“, antwortete Embry möglichst selbstbewusst.
    „Wir werden nicht mehr weiter schürfen“, Garret und die anderen erhoben sich und griffen nach ihren Schwertern, „Wir werden uns mit gemeinsamer Kraft durch den Hauptgang zur Rätselkammer durchschlagen. Abmarsch!“

    Sie verloren also keine Zeit und brachen direkt auf. Embry hatte nach wie vor ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Er musste die drei irgendwie überwältigen, sonst würde er sich Arvel nicht allein stellen können. Außerdem brauchte er einen Plan, wie er die Gruft wieder verlassen konnte, andernfalls würde er dem Mannsweib und ihrem Anhang direkt in die Arme laufen. Aber darüber konnte er sich auch Gedanken machen, wenn es soweit war.
    Von der Eingangshalle zweigte ein einzelner, mit Fackeln und Bücherregalen gesäumter Gang ab, in dem es noch gewaltiger nach Verwesung stank. Überall lagen Kadaver von erschlagenen Skeevern und nicht nur das, andere Skeever waren sogar dabei, sich über ihre toten Artgenossen herzumachen. Ein makabrer Anblick, wenn man sah, wie die jungen Ratten an ihren Eltern nagten.
    „Pass auf deine Füße auf“, waren Garrets wohlwollende Worte, mit denen er sich in das Getümmel stürzte. Die Skeever waren zwar nicht größer als Hauskatzen, aber sie waren flink und überaus aggressiv. Die anderen stürmten mit ihren Schwertern voraus und bahnten sich tretend, schimpfend und schnetzelnd durch die Horde großgewachsener Ratten. Embry hielt sich erst zurück, doch als ihm ein Jungtier plötzlich am großen Zeh hing – wohlgemerkt derselbe, in dem gestern noch ein Splitter steckte – geriet auch er in einen Kampfesrausch und trat das Ungeziefer beiseite. Das Beil schien ungeeignet, bis ihn ein ausgewachsenes Biest plötzlich aus einem Loch in der Wand ansprang und er sich nur mit einem Schlag der Axt erwehren konnte. Es fühlte sich anders an, wenn man einen Holzstamm spaltete, doch der Schädel des Skeevers brach etwa genauso einfach entzwei.
    Als die Luft rein war, schoben sie ein großes Regal vor das Loch in der Wand. Garret vermutete, dass die Biester dort ihr Nest hatten und Embry fühlte sich auch besser bei dem Gedanken, bei der weiteren Erkundung der Grabstätte den Rücken frei zu haben.

    Sie erreichten die Rätselkammer und Garret warf Embry eine Feldflasche herüber. Der schnupperte kurz daran, es war Schnaps.
    „Das war gute Arbeit, Emil. Gönn‘ dir einen Schluck!“
    Da sagte er nicht nein. Schnaps wärmte seinen Geist, Schnaps machte ihm Mut. In einem anderen Leben wären Garret und er vielleicht gute Gefährten geworden. Zu dumm, dass er Embry sicher umbringen würde, wenn er wüsste, dass er gar nicht zur Bande gehörte. Dann stellte sich Garret in der Mitte des Raumes auf und breitete die Arme vor einem großen Hebel aus, der vor einem geschlossenen Gitter stand.
    „So, Arvel. Was du kannst, können wir schon lange. Auf eure Posten Männer!“
    Die Zwillinge bewegten sich zu drei massiven Felstafeln, auf denen verschiedene Muster abgebildet waren. Auch an der Wand über dem Gitter fand man diese Muster vor. Was hatte das zu bedeuten?
    „Komm her!“, einer der Zwillinge winkte ihn zu sich herüber, „Wir müssen diese Tafeln drehen. Sie müssen dasselbe Muster zeigen, wie dort oben über der Wand zu sehen ist.“
    Embry kniff die Augen zusammen, aber er war schon lange kurzsichtig. Es waren ein Wolf, eine Eule und…
    „Was soll das da sein?“
    „Ein Fisch“, antwortete Garret, „Du drehst die Tafel, bis du den Fisch siehst. Es kann sein, dass sich die Tafel weiterdreht, das darfst du auf keinen Fall zulassen, sonst öffnet sich das Gitter nicht.“
    „Wie ist Arvel hier vorbei gekommen?“, fragte Embry.
    „Wir haben das Rätsel schon einmal gelöst. Arvel ist durch das Gitter gerannt und hat den Hebel auf der anderen Seite gedrückt. Dann ist das Gitter wieder zu gegangen. Er hat uns verarscht und dafür wird er büßen.“
    Garret brachte sich in Stellung.
    „Dreht die Tafeln!“, rief der Rothwardone und Embry drehte sie. Einmal in Bewegung ließ sie sich kaum stoppen. Es war, als würde ein eigenwilliger Mechanismus verhindern wollen, dass man dieses Rätsel allein löste. Mit Mannskraft kämpfte er dagegen an und Garret zog den Hebel. Das Gitter öffnete sich.
    „JA!“, brüllte er und klatschte sich in die Hände, „ENDLICH!“
    Embry war so beeindruckt von der Technik hinter der Falle, dass er ganz vergaß, die Felstafel festzuhalten. Das Gitter war noch nicht vollends hochgefahren, da rastete seine Felstafel in einer anderen Position ein und plötzlich vernahm man ein mehrfaches, lautes Klacken. Pfeile sausten blitzschnell an ihm vorbei und trafen Garret, der noch am Hebel stand, aus mehreren Richtungen. Der Rothwardone war gerade fertig mit Klatschen gewesen, da klatschte sein eigener Körper noch ein letztes Mal – leblos auf den harten Felsboden.
    „SCHEISSE! WAS HAST DU GETAN!?“, brüllte einer der Zwillinge und packte ihn am Kragen. Der andere beugte sich entsetzt über seinen gefallenen Kameraden. Embry befreite sich aus dem Griff und schubste den Halbstarken von sich weg. Dann kroch er geistesgegenwärtig unter dem halbgeöffneten Gitter hindurch und betätigte den Hebel auf der anderen Seite. Das Gitter sauste herab und ließ die beiden Banditen hilflos auf der anderen Seite zurück. Eine Treppe führte ihn tiefer in die Katakomben und nun spürte er, dass er seinem Ziel zum Greifen nahe war.

    „Arvel, ich komme!“
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:33 Uhr)
  18. #18 Zitieren
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    Tiefer und tiefer führten die Treppen ihn hinab bis ins Herz des Berges. Die Luft wurde stickiger, das Gemäuer kälter und das fahle Licht, das oben noch von reichlich Fackeln gespendet wurde, versank in tiefschwarzer Finsternis. Embry hatte sich eine uralte Öllampe gesucht und sich daraus mit Müh und Not eine Lichtquelle geschaffen. Damit konnte er gerade mal so weit sehen, wie er greifen konnte, aber das wäre ihm für ein Überraschungsmanöver gegen Arvel auch nur dienlich.
    Mit der Linken leuchtete er sich einen Weg voraus, während in der Rechten sein Beil ruhte. Sein Herz schlug wie verrückt, während er einen Schritt vor den anderen tat und sich langsam an der Wand entlang tastete. Es gab so viele schreckliche Möglichkeiten, in den nächsten paar Augenblicken das Leben zu verlieren, dass ihm ganz schlecht wurde.
    ‚Was könnte schlimmstenfalls passieren?‘, diese Frage kreiste in seinen Gedanken, ‚Nun, die Zwillinge könnten den Mechanismus knacken und mich verfolgen. Ach was… dafür waren sie viel zu schockiert von der Falle im Rätselraum gewesen. Nur ein Wahnsinniger würde eine Ahnengruft mit solchen Fallen freiwillig betreten. Genau, so einer wie ich! Und wenn es keine Falle ist, dann vielleicht noch eine Schar Skeever?‘
    Er schüttelte sich bei der Vorstellung, in absoluter Finsternis von einer Horde Ratten überwältigt zu werden. Das war selbst für einen tapferen Nord eine der gruseligsten Arten, sein Leben zu verlieren. Dann doch lieber in einem ehrenhaften Kampf! Aber wer sollte ihm diesen bieten? Arvel, das Schlitzohr? Was für ein ehrloser Tod wäre es, von einem Dunkelelfen heimlich aufgeschlitzt zu werden? Irgendwie musste ihm das Unmögliche gelingen: er musste einen Meister der List überlisten.

    Eine weiche, faserige Masse streifte ihm durch das Gesicht. Sofort zuckte er zurück und schüttelte sich wie ein Verrückter die Spinnweben aus dem Bart. Wenn es etwas gab, was er noch abscheulicher fand als Ratten, dann war es das Gefolge des Spinnengottes Mephala. Für einen Moment wunderte ihn, warum es hier in der Finsternis überhaupt Spinnen geben konnte, immerhin lockten diese Weber der Unterwelt ihre Opfer meist in einen trügerischen Lichtschein. Und tatsächlich, als Embry seine Öllampe kurz wegstellte, bemerkte er, dass vor ihm ein Raum begann, der von fahlem, blauem Licht erfüllt war. Er hatte davon schon mal gehört, es gab Pilze, die in den düsteren und feuchten Grotten Himmelsrands verbreitet waren und in einer Art Symbiose mit den Spinnen lebten. Sie lockten andere Insekten mit ihrem Leuchten an und die Spinnen trugen dafür die Sporen der Pilze weiter aus. In was für eine mystisch-gruselige Gesellschaft Embry da geraten war…
    Als er den helleren Raum erreichte, erblickte er darin die ersten Gräber und Urnen. Doch es stank nicht nach Verwesung, viel eher wie in einer uralten Bibliothek. In den Regalen lagerten Leinen und Balsamierwerkzeug, alles schon so marode, dass er befürchtete, es würde bei der kleinsten Berührung zu Staub zerfallen. Von dieser Kammer zweigten zwei weitere Wege ab. Einer davon mündete in tiefster Finsternis, der andere wurde von den Pilzen bewachsen. An der Decke des zweiten Ganges erkannte Embry ein rostiges Rohr, aus dem Wasser tropfte. Daher war diese Kammer wohl auch feucht genug für Pilze und Spinnen.
    Er hatte also die Wahl zwischen einem stockfinsteren Gang und einem, in dem es zwar hell war, der aber vor Spinnen vermutlich nur so wimmelte. Es widerstrebte ihm erst, aber er entschied sich schließlich für den beleuchteten Gang und ließ seine Fackel hier zurück. Es war sehr wahrscheinlich, dass Arvel auch diesen Weg genommen hatte, immerhin musste er zu etwas Wichtigem führen, wenn selbst ein Wasserleitungssystem eingebaut war. Außerdem wusste er nicht, für wie lange das Öl noch reichte und er war nicht scharf darauf, sich in der Dunkelheit vollends zu verlaufen. Nicht zuletzt konnte er jetzt auch seine Axt mit beiden Händen führen.

    Seine Entscheidung stellte sich als die Richtige heraus. Obwohl ringsum immer mehr Spinnweben auftauchten und auch immer größere Eier – sie reichten ihm bis zum Knie – vernahm er plötzlich ein Flüstern vor sich, das ganz bestimmt zu Arvel gehörte. Er hatte ihn also aufgespürt! Jetzt hieß es nur noch Ruhe bewahren. Wenn er den Dunkelelfen überwältigen, ihn vielleicht bewusstlos schlagen und als Geisel nehmen konnte, würde er hier vielleicht noch rauskommen, ohne weiteres Blut zu vergießen. Er war zwar ziemlich abgeschreckt, aber der Tod von Garret war nicht spurlos an ihm vorüber gezogen. Der Kerl war ihm trotz seines monströsen Erscheinungsbildes in kurzer Zeit sympathisch geworden und Embry fühlte sich irgendwie für seinen Tod verantwortlich.
    Der Gang spaltete sich wieder auf und so langsam ahnte er, warum Arvel noch nicht weitergekommen war. Er musste sich schlichtweg verlaufen haben. Damit hatte Embry das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Das Flüstern wurde lauter, es war schon viel mehr zu einem Zischen geworden. Embry erreichte eine weitere, große Halle, als plötzlich sein Magen zu Grummeln begann.
    „Oh nein…“, seufzte er und gedachte dem Fehler, der ihm jetzt sein Leben kosten würde. Die Linsen! Sie würden ihn verraten. Genau so war es auch. Einen Herzschlag später spürte er plötzlich kalten Stahl an seiner Kehle.
    „Schhhhht!“, zischte die Stimme hinter ihm und hielt ihm eine dunkle Hand auf den Mund. Es war Arvel.
    „Ich kann mir schon denken, was dich zu mir führt. Aber hier ist Endstation. Leg deine Axt auf den Boden. Ganz langsam!“
    Embry tat wie ihm geheißen. Arvel deutete mit dem Dolch in die Höhe.
    „Siehst du?“
    Embry folgte der Klinge mit dem Blick bis hinauf an die Decke der großen, kuppelförmigen Halle. Ganz oben auf einer Ansammlung von leuchtenden Pilzen saß eine Spinne so groß wie ein Mammut. Embry schreckte zusammen, das war ein verdammter Albtraum. Das konnte er nur träumen!
    „Ich schulde dir noch was, Embry. Immerhin hast du mir geholfen, an die Klaue zu kommen. Dafür habe ich einen ganz besonderen Platz für dich in meinem Plan, an den Schatz der Ahnengräber heran zu kommen. Du wirst einen hervorragenden Köder für dieses Monster da oben abgeben.“
    Er schubste Embry weg von sich und hielt ihn mit seinem Langdolch auf Abstand. Die Spinne lauerte, dass jemand ihr ins Netz ging. Sie war es, die das laute Zischen von sich gegeben hatte. Und das besagte Netz hing mitten im Raum. Dahinter war ein Tor, das anscheinend noch tiefer in die Katakomben führte.
    „Los!“, zischte Arvel, „In das Netz mit dir, dann habe ich freie Bahn!“
    „Nein“, knurrte Embry. So würde es nicht enden! Nicht gegen einen dreckigen Dunkelelfen! Seine anfängliche Angst wich einem tiefen Zorn. In dem schiefen Grinsen auf Arvels Lippen sah er die hässliche Visage von Sven vor sich. Es war alles seine Schuld, dass Embry jetzt hier stand. Er war nie sonderlich anspruchsvoll gewesen, manchmal etwas oberflächlich und rücksichtslos, aber insgesamt war er ein guter Bürger gewesen. Er hatte jede Drecksarbeit erledigt, ganz egal wie hart sie war, um an ein bisschen Geld zu kommen und einen guten Schluck zu trinken. Er war ein sehr genügsamer Kerl und mit sich selbst im Reinen. Sollte er heute nach Sovngarde ziehen, dann war seine Zeit wohl gekommen. Aber verdammt noch mal, er würde sich nicht wehrlos in den Abgrund treiben lassen, nicht von einem verweichlichten Muttersöhnchen und erst recht nicht von einem verdammten Dunmer. Er war ein Nord, ein stolzer Krieger Himmelsrands! Die Ahnen waren bei ihm, während er sich auf Arvel zubewegte.
    „Was soll das werden?“, der Dunkelelf hielt seine Waffe aufrecht und verpasste Embry einen Schnitt in den Oberarm. Doch das schürte nur das heiße Feuer in ihm. Mit einem markerschütternden Ahnenschrei ließ er das ganze Gewölbe beben. Arvels blutrote Augen leuchteten erschrocken auf, da hatte Embry sich schon seinen Arm gepackt. Der Griff war so stark, dass der Dunkelelf seinen Dolch fallen ließ.
    „Ich lass mich nicht gerne verarschen!“, knurrte Embry, nahm all seine Kraft zusammen und warf den Dunkelelfen über seine Schulter in das Netz der riesigen Spinne. Arvel jaulte vor Angst, er klebte sofort an einem astdicken Strang des Spinnennetzes fest und musste mitansehen, wie sich die Riesenspinne langsam auf ihn zubewegte.
    „NEIN! HILF MIR! KOMM SCHON! ICH GEB DIR DIE VERDAMMTE KLAUE AUCH!“
    Die Klaue! Die hatte Embry in seinem Wahn ganz vergessen. Arvel hatte sie noch bei sich und wenn er sich beeilte, könnte Embry ihn auch noch befreien. Andererseits…
    „Ich scheiß auf die verdammte Klaue!“, brüllte er dem verräterischen Dunkelelfen entgegen und lief langsam zurück in Richtung Ausgang.
    „NEIN! BITTE! LASS MICH NICHT SO ZURÜCK! ICH WILL NICHT STERBEN!“
    Mit eisigem Blick beobachtete Embry aus sicherer Entfernung, wie die Spinne begann, Arvel zu einem handlichen Kokon zu verwandeln. Embry hatte seine Meinung geändert. Er dachte gar nicht daran, diesem Verräter zu helfen. Er war kein verdammter Held, er musste jetzt sehen, dass er seinen eigenen Arsch retten konnte. Er nahm sich seine Axt und verließ diese Halle des Todes. Vielleicht konnte er noch einen anderen Ausweg finden.
    Die Schreie des Sterbenden hallten noch lange hinter ihm her, bis er in den zahllosen Gängen schließlich einen gefunden hatte, in den helles Tageslicht strahlte…
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  19. #19 Zitieren
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    Die Öffnung, aus der Embry gekrochen kam, diente ganz offensichtlich nur der Luftzufuhr der Katakomben und war gewiss kein normaler Ausgang. Die Felsen waren steil und brüchig, es würde kein angenehmer Rückweg werden. Doch in dem Moment, da das helle Sonnenlicht seine Augen traf und der eisige Nordwind durch seine Lunge pumpte, fühlte sich Embry so lebendig wie schon lange nicht mehr. Es blieb zu hoffen, dass das keine Halluzination war, ausgelöst durch den steigenden Blutverlust durch die Wunde in seinem Arm.
    Bevor er sich an den Abstieg machte, entledigte er sich seines Oberteils, wischte sich die Wunde ab und verband sie dann so gut, wie man eben mit einer Hand einen Verband anlegen konnte. Die zusätzliche Kälte machte einem Nord wie ihm nichts aus. Dafür hatte er einen stattlichen Pelz voller rotgoldener Krausehaare auf der Brust und sein runder Bierbauch stellte einen zusätzlichen Wärmespeicher dar.
    Von seinem Standort aus konnte Embry in ein tiefes Tal hinabblicken, darin erkannte er einen großen See. Das musste der Ilinaltasee sein, er lag südwestlich von Flusswald. Vermutlich müsste er den Ödsturzhügel hier herabkraxeln und dann umrunden. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, nach oben zu klettern und den Weg zu suchen, den er beim Aufstieg gewählt hatte, aber da lief er Gefahr, den Banditen direkt in die Arme zu laufen. Also ging es wohl oder übel bergab.

    Einen Fuß nach dem anderen bahnte er sich seinen Weg nach unten und bediente sich jeder Möglichkeit, Halt zu finden: ob an kantigen Felsen, kleinen Vorsprüngen oder abgestorbenen Baumwurzeln, Hauptsache sie waren stabil genug, seinen massigen Körper den Berg hinab zu bewegen. Auch seine Axt musste er oft als Widerhaken einsetzen und er stellte erfreut fest, wie vielseitig so eine Waffe doch war. Immer wieder gaben vereinzelte Brocken unter ihm nach, dann erschrak er, wartete ab, bis sein Herzschlag sich wieder normalisiert hatte und suchte sich einen besseren Weg. Dass ihn am unteren Ende des steilen Hanges das Gerippe eines Mammuts erwartete, machte es nicht gerade besser. Aber die Göttlichen hielten wieder einmal ihre schützenden Hände über ihn und so langsam keimte ein schlechtes Gewissen in ihm auf. Vielleicht sollte er nach so vielen Jahren wirklich mal wieder zu ihnen beten und sich dankbar zeigen. Ein bisschen wenigstens…
    Als er endlich unten angelangt war und nicht mehr die Hände zum Festhalten brauchte, spürte er erst, wie stark der Abstieg und natürlich auch der ganze Aufenthalt im Hügelgrab an seinen Muskeln gezehrt hatten. Seine Beine waren weich und wollten bei jedem Schritt nachgeben. Auch sein Rachen war furchtbar trocken, seit dem Schnaps von Garret hatte er keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen. Zum Glück war der See nicht weit, er stolperte darauf zu, entdeckte aber auf dem Weg ein kleines Rinnsal, das vom Hügel in Richtung See plätscherte. Das reichte ihm. Schwer seufzend ließ er sich fallen und trank in langen, gierigen Zügen. Wie oft war er durstig gewesen und wie selten hatte er den Durst wirklich mit Wasser gelöscht? Es fühlte sich gut an, wie eine Medizin, die seine Schmerzen in angenehme Betäubung verwandelte.

    So blieb er eine Weile am Bach liegen und ruhte sich aus, bis er plötzlich Schritte hinter sich vernahm. Erschrocken fuhr er herum und blickte direkt auf eine Schwertspitze, die gegen ihn gerichtet war.
    „Hallo Embry“, säuselte sein Gegenüber und grinste mühsam mit seinem schief geschlagenen Gesicht. Es war Sven.
    „Hey, mach keine Scheiße, Sven!“, rief er und hob beschwichtigend die Hände, „Was willst du überhaupt von mir? Du hast mich verarscht, ich hab dich verdroschen, wir sind quitt.“
    „Ich bin gekommen, um dir die Klaue abzunehmen“, antwortete er melodramatisch, „Ich werde sie zu Camilla zurückbringen, dann wird Lucan endlich einsehen, dass ich seiner Schwester würdig bin!“
    „Ach so…“, Embry beruhigte sich wieder etwas, „Tja, ich hab sie nicht.“
    Dem Schmalzlöckchen stand der Wahn ins Gesicht geschrieben. Seine Augen vibrierten, die eine Braue zuckte unruhig auf und ab.
    „Was soll das heißen? Du kommst doch vom Ödsturzhügel! Ich habe gehört, wie du die Klippe heruntergeklettert bist.“
    „Woher wusstest du denn, dass ich auf dieser Seite herunter komme?“
    „Blöde Frage. Mein Vater liegt dort oben begraben. Ich weiß, wie die Anlage aufgebaut ist.“
    „Tja, dann weißt du sicherlich auch, dass da riesige Spinnen leben. Ich meine wirklich riesig“, Embry breitete die Arme zur Verdeutlichung weit aus, „Und Banditen. Das war es mir nicht wert.“
    Sven steckte seine Waffe weg und drehte sich herum. Embry konnte sehen, wie sein Spatzenhirn am Rattern war, er war richtig aufgebracht. Vorsichtshalber nahm Embry seine Axt zur Hand.
    „Was soll’s“, seufzte Sven, „Dann gehst du jetzt eben noch mal hoch und holst die Klaue raus.“
    Er wollte wieder mit seinem Schwert vor Embrys Nase herumfuchteln, da bemerkte er, dass dieser schon aufgestanden war und die Axt bereithielt.
    „Nie im Leben. Du solltest zusehen, dass du zurück an Mutters Brust kommst, sonst sorge ich dafür, dass dein anderes Auge auch ein passendes Veilchen bekommt.“
    „HALT DIE KLAPPE! HALT ENDLICH DEINE SCHEISS KLAPPE!“, er stampfte wütend auf, wie ein Kleinkind, das kurz vorm Heulanfall war, „Ich bin deine Stänkereien und die dummen Sprüche schon so lange leid! Seit ich angefangen habe, in der Taverne zu spielen, hast du mich Tag für Tag angepöbelt.“
    „Und die Wut hast du an deiner Freundin ausgelassen und mir den Mist in die Schuhe geschoben.“
    „Denkst du, ich wollte, dass das passiert? Es war deine Schuld, dass ich die falschen Schuppen in den Trank gebraut habe. Du bist ein unfähiger Trunkenbold und eine Schande für ganz Flusswald. Und wenn ich die Klaue nicht nach Hause zurückbringe, dann…“
    Er zögerte. Seine Stimme war am Beben.
    „… dann wenigstens deinen Kopf.“
    „Du willst…?“
    Er schwang sein Schwert rhythmisch durch die Luft, als wolle er eine Fliege zersäbeln.
    „Ich fordere dich zum Duell Mann gegen Mann! Auf Leben und Tod!“
    „Du denkst wohl, du könntest es mit mir aufnehmen, weil ich verletzt bin, was? Du kleiner Scheißkerl, ich werde dir zeigen, was ein unfähiger Trunkenbold alles drauf hat. Da kann dir deine Mutti auch nicht mehr helfen.“

    Bei diesem Wort holte Sven zum ersten Schwertstreich aus und erst jetzt wurde Embry klar, dass es der Schönling tatsächlich ernst meinte. Er hätte nie gedacht, dass Sven die Eier dafür hat. Dementsprechend spät konnte Embry erst zurückweichen und feststellen, dass er eine dünne Schnittwunde im Bauch davongetragen hatte. Einen Herzschlag langsamer und Sven hätte ihm den Wanst aufgeschlitzt!
    „Du mieser, kleiner…“
    Aber ehe Embry seinen Fluch beenden konnte, war Sven ihm schon wieder mit dem Schwert gefährlich nah gekommen. Den Angriff konnte Embry nur mit seiner Axt parieren, die dabei eine dicke Kerbe im Stiel abbekam. Für einen Moment steckte das Schwert in dem Holz fest, da rannte Embry schon los und warf Sven mit seinem gesamten Gewicht um. Die Waffen flogen beiseite und aus dem Duell wurde eine klassische Prügelei, wie er sie schon so oft bestritten hatte. Seine gesunde Hand donnerte in den Bauch des Barden, der sich dabei beinahe übergeben musste, sich aber im gleichen Atemzug mit einem Kinnhaken erwehrte. Er hatte einen wirklich dreckigen Kampfstil, blieb auf Abstand, trat Embry gegen das Schienbein, in die Hacke und schlug gegen den verletzten Arm. Embry revanchierte sich, indem er sich abermals auf Sven warf und ihm die Nase ein zweites Mal einschlug. Der Schönling schnaufte erschöpft und blickte ins Leere. Embry war mindestens genauso schwer am Schnauben, doch als er sich aufrichten wollte, trat der listige Mistkerl ihm mit aller Kraft zwischen die Beine.
    Unter unaussprechlichen Schmerzen knickte Embry zusammen und konnte hilflos aus dem Augenwinkel erkennen, wie Sven zu seinem Schwert griff. Das war es dann wohl. Sven hob die Klinge wie eine Henkersaxt und Embry kniff vor Angst und Schmerz die Augen zu.
    „WAUWAU!“
    Lautes Gebell ließ die beiden Kontrahenten aufschrecken. Mit animalischer Geschwindigkeit hatte sich eine Bestie auf Sven geworfen und ihn überwältigt. Embry brauchte eine ganze Weile, um wieder klar sehen und denken zu können. Dann erkannte er, wie ihm eine verschwommene Hand ausgestreckt wurde und er ließ sich aufhelfen.

    Hod und sein Hund Stump hatten ihm das Leben gerettet.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:34 Uhr)
  20. #20 Zitieren
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    Der Wolfshund schlabberte Embry voller Freude über das Gesicht und dem sonst so mürrischen Tagelöhner kam es plötzlich so vor, als ob es doch noch jemanden gab, dem er etwas bedeutete. Womit hatte er das nur verdient? Er hatte Stump an einen Baum gebunden und zurückgelassen, statt ihm zu vertrauen und jetzt hatte dieser ihn gerettet. Wie hatte er das nur geschafft?
    „Danke“, brachte Embry keuchend hervor, „Das war haarscharf. Wie habt ihr mich denn gefunden?“
    Hod klopfte sich die Hände ab.
    „Ich war auf der Suche nach Stump und habe mir irgendwie schon gedacht, dass er mit dir unterwegs ist. Wir haben die Witterung von deinem Verband aufgenommen.“
    Er deutete auf die Leine, die Embry dem Hund aus dem Verband gebastelt hatte.
    „Und die Banditen?“
    Der Müller schmunzelte: „Stump war schlau genug, sie zu umgehen.“
    „Ich habe dich echt falsch eingeschätzt, Stump. Vielen, vielen Dank!“
    „WAUWAUWAU!“
    Der Hund wedelte fröhlich mit der Rute. Mühsam beugte sich Embry zu ihm herab und streichelte ihm über den Kopf. Hod wollte seinen verletzten Kameraden stützen, das lehnte der stolze Nord aber ab. Sein Blick fiel stattdessen auf Sven, der bewusstlos am Rinnsal lag. Er war wirklich grausam zugerichtet, neben den blauen Flecken und der doppelt gebrochenen Nase, zierten jetzt sogar noch Bissspuren seinen völlig geräderten Körper. Das würde ihm ganz sicher eine Lehre sein.
    „Was machen wir mit ihm?“, fragte Embry.
    „Er ihn ohnmächtig, wird aber durchkommen“, meinte Hod und warf sich den dünnen Sven über die Schulter, „Kennst du einen guten Arzt?“
    Embry dachte kurz nach, dann grinste er verstohlen: „Ich denke schon. Lass uns aufbrechen.“




    „AUTSCH! MAAA, LASS DAS!“
    „Ruhisch Schvenni! Lasch dir doch von deiner Mami mal helfen!“
    Die alte Hilde stand wackelig am Bett ihres Sohnes und schmierte ihm eine weiße Pampe ins Gesicht. Es war so eine Wundercreme, die die Blutungen stoppt, aber sie brannte wie Feuer. Embry war auch da und hatte die ganze Prozedur schon über sich ergehen lassen. Jetzt zierten mehrere Verbände seinen Arm, die Schnittwunde am Bauch und natürlich auch den Fuß, der von Splittern, Rattenbissen und hinterlistigen Tritten schon eine klumpige Form angenommen hatte.
    Embry wollte sich für seine Verarztung bei Hilde bedanken, aber die musste so sehr an Sven herumfuhrwerken, dass der Tagelöhner es schließlich aufgab und sich heimlich aus der Hütte verabschiedete. Er war überrascht gewesen, dass Hilde ihm überhaupt geholfen hatte, immerhin war er fast über sie hergefallen. Das war ein Vorteil von alten Menschen, sie konnten manchmal die schlechten Dinge einfach ausblenden.
    Als er aus der Sennhütte von Mutter und Sohnemann austrat, lief Embry beinahe ein hübsches Weibsbild um, das im selben Moment nach drinnen gehen wollte. Er traute seinen Augen kaum, als er erkannte, dass es Camilla war. Ihr Bart war verschwunden, entweder hatte sie sich ordentlich rasiert oder die Wirkung des Trankes hatte nachgelassen.
    „Huii…“, Embry pfiff ihr mit zwei hochgestreckten Daumen hinterher. Sie zeigte ihm nur die kalte Schulter. Es war also alles wieder beim alten.

    Alles?
    Am Schlafenden Riesen erwartete ihn wieder ein kleiner Tumult. Er erkannte Hod und Gerdur, Lucan und Orgnar. Die schrille Stimme der Müllerin hallte bis zum anderen Straßenende. Als Hod Embry sah, winkte er ihn heran. Embry atmete tief durch, denn das konnte jetzt heiter werden.
    „Da seid ihr ja, ihr könnt euch gleich wieder verabschieden“, war die nette Begrüßung von Gerdur. Sie war emotional schon wieder am Kochen. Wie hielt Hod das nur sein Leben lang aus?
    „Aber da waren Banditen, eine ganze Bande“, argumentierte der Müller energisch, „Wir können froh sein, dass er es überhaupt lebend raus geschafft hat.“
    „Nein, die Vereinbarung war, er bringt mir die Klaue zurück oder er verlässt Flusswald“, Lucan verschränkte die Arme vor der Brust, „Wenn er also nicht nochmal ins Hügelgrab geht, soll er das Dorf verlassen. Dafür habe ich ein öffentliches Dokument.“
    Orgnar musste lachen: „Das meint ihr ernst? Eure Schwester ist doch gar nicht mehr entstellt. Dann ziehe ich meinen Stempel zurück. Sie bekommt auch freie Getränke für jeden Tanz in meiner Kneipe.“
    „Untersteht euch!“
    Embry erkannte, dass es Zeit war, dazwischen zu gehen.

    „Ihr solltet euch keine Sorgen mehr wegen mir machen, ich werde Flusswald verlassen.“
    Nun ruhte die Aufmerksamkeit auf ihm.
    „Ja wisst ihr, es gibt so viele andere Sorgen, um die ihr euch hier kümmern solltet. Um eure Beziehung und darum, dass euer Sohn nicht zu missraten wird. Oder darum, dass eure Schwester mit einem Muttersöhnchen ausgeht. Oder auch darum, dass ihr einem Stammgast seinen eigenen Alkohol wegnehmt, selbst wenn er ihn gar nicht in eurer Kneipe trinkt.“
    Orgnar patschte sich auf den Kopf und verschwand kurz nach drinnen. In Windeseile kam er mit dem Argonischen Bier zurück und reichte es Embry.
    „Nehmt es ruhig…. schmeckt eh scheiße.“
    Embry nickte.
    „Und kümmert euch um die verdammten Banditen da oben“, dabei deutete er auf das Ödsturzhügelgrab, das von der untergehenden Sonne noch gut erleuchtet wurde, „Die brüten noch mehr aus als einen kleinen Diebstahl. Ich mach mich jetzt vom Acker, also geht mir aus dem Weg.“
    Gerdur und Lucan ließ er einfach links liegen. Orgnar reichte er die kräftige Pranke zum Abschied und Hod war ihm sogar eine Umarmung wert. Dabei flüsterte ihm der Holzfäller ins Ohr.
    „Warte noch einen Moment.“
    Dann wandte sich Hod an seine Frau und bat sie, nach Frodnar zu sehen. Sie stakste schlecht gelaunt davon. Lucan und Orgnar verschwanden in die Taverne.

    „Sie ist nicht immer so schlimm“, brummte Hod, „Das hat sie nur einmal im Monat…“
    „Ich weiß…“, Embry hatte da schon einige schlechte Erfahrungen gesammelt.
    „Ich habe noch etwas für dich.“
    Er drückte Emby einen Strick in die Hand. Was sollte er denn damit? Sich selbst ein Ende bereiten, bevor es die wilden Tiere im Wald taten? Doch dann stieß Hod mit zwei Fingern im Mund einen lauten Pfiff aus. Wenige Herzschläge später kam Stump fröhlich zu ihnen herüber getrottet. Der Müller band ihn an die Leine.
    „Nimm ihn mit. Fürs Viehhüten ist er zu alt und lahm, aber so wie du durch den Tag bummelst…“
    Embry beugte sich zu Stump hinab und kraulte ihm durchs Fell. Er war so überwältigt, dass er kein Wort über die Lippen brachte.
    „Wir werden uns wiedersehen“, sagte Hod zum Abschied, „Lass einfach etwas Gras über die Sache wachsen und besuch uns mal. Vielleicht im Herzfeuer zum Erntefest.“
    „Ja…“, brachte Embry noch heraus und nickte. Dann nahm er Stump an die Leine und machte sich auf den Weg. Die Sonne schien nur wenige Stunden in Flusswald, denn die hohen Berge versperrten ihre Strahlen. Es war schon lange her, dass Embry einen richtigen Sonnenuntergang gesehen hatte. Jetzt konnte er ihn wieder bewundern.

    Es fühlte sich gut an.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.08.2014 um 21:35 Uhr)
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