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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Post [Story]Einigkeit

    Ein Beitrag zum Wettbewerb Schreim naoch Buchstohm 2.

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Grogosh ak Marschâng, Häuptling des Marschâng-Stammes, genannt die Bewahrerin
    Person B: Temugush ak Marschâng, Grogoshs Bruder
    Person C: Morrok, ihrer beider Schwester, Schamanin im Vargôr-Stamm
    Person D: Bordo ak Ûng-Girâd, Temugushs Braut
    Grund A: Die immer härteren Winter
    Gegenstand A: Ein stumpfes Schwert, ein Symbol des Friedens
    Gegenstand B: Der Schädel von Ragg-Narr Rohog
    Ort A: Das Zelt des Kriegsherrn von Marschâng


    Und hier das Ganze als PDF.
    Geändert von MiMo (30.03.2017 um 16:52 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    1. Vorgabe:
    Wegen Grund A kehrt Person A nach einer langen Zeit zurück. Bei seiner Rückkehr wird Person A von einem unerwarteten Ereignis überrascht, bei dem Person B eine nicht unwichtige Rolle spielt.



    Es ist nicht wie einst.
    Aus der Stadt – einst die größte des Inlands – war ein großes Dorf geworden. Viele der Hütten und Häuser, an die er sich erinnerte, waren verschwunden. Niedergebrannt. Neue waren errichtet worden, doch sie waren nicht so zahlreich wie die alten.
    Er war von Süden gekommen, wo sich das Gras bis zum Horizont erstreckte. Braun und karg, nur hie und da von einigen Flecken Schnee gesprenkelt. Ruhig bis auf den sanften Windstoß, der es dann und wann in Bewegung versetzte. Er war gewandert, bis er den Fluss erreicht hatte. Jenen großen Strom, an dessen Ufern er geboren worden war. Der Kiesboden am Ufer glänzte vom Frost. Auf dem Wasser trieben Eisschollen dahin. Eis und Wasser waren grau. So grau wie der Himmel über ihm. Er war dem Lauf des Flusses in Richtung Quelle gefolgt. Nach Nordwesten. Heimwärts.
    Zuerst hatte er die Boote gesehen. Die flachen Nachen der Fischer, die an jedem Morgen stromaufwärts und stromabwärts aus der Stadt hinausfuhren. Es waren weniger als in seiner Erinnerung. Oder spielten ihm die Jahre einen Streich? Er war jung gewesen, so jung. Erschien einem Kind nicht alles größer, alles eindrucksvoller? Überhöhte die Erinnerung nicht das Verflossene?
    Nein, es waren weniger Boote als früher. Spätestens als er endlich die Stadt erblickte, die noch immer am Südufer des großen Stroms lag, hatte er keine Zweifel mehr. Die Bewohner mussten gefallen sein, geflohen, versklavt. Einige waren wiedergekommen, hatten die Ruinen bezogen, hatten aufgebaut, was zerstört worden war. Doch viele andere waren niemals zurückgekehrt.
    Er passierte die Vergängliche Stadt. Er erinnerte sich noch gut an den Ring aus Zelten und Jurten, der sich stets um die eigentliche Stadt ausgebreitet hatte. Manchmal, wenn die Wanderungen unterbrochen und Versammlungen einberufen oder Feste gefeiert wurden, reichten die Zelte bis zum Horizont. Heute waren es nur wenige. Kinder spielten zwischen ihnen, Männer gerbten Fälle, Frauen melkten die Tiere. Gesichter wandten sich ihm zu, als er vorbei schritt. Mehr und mehr Augenpaare verfolgten ihn stumm. Einige Leute tuschelten. Doch niemand sprach ihn an. Anders war es bei den Hunden. Die großen schwarzen Biester sprangen auf und rissen an ihren Ketten. Ihr wütendes Gebell verfolgte ihn auf seinem Weg.
    Ihm entgingen nicht die zwei Zelte, die etwas abseits von den anderen standen. Das waren nicht die Jurten einfacherer Leute. Das waren die Zelte von Kriegern. Kriegern, die hier nicht her gehörten. An einem in die Erde gerammten Pfahl hing ein Banner. Der Wind, der sich nur dann und wann zu einer trägen Böe erhob, ließ das Ende der Fahne lustlos flattern, breitete sie aber nicht aus, sodass das in den Stoff gestickte Zeichen nicht zu erkennen war. Dennoch ließ die blaue Farbe keinen Zweifel. Sein Mund presste sich zu einem grimmigen Strich zusammen.
    Inmitten des Zeltrings lag die Ewige Stadt. Hütten aus gewobenem Gras, die kaum weniger provisorisch wirkten als die Zelte und die man von fern leicht mit kleinen Hügeln verwechseln konnte. Und hölzerne Katen. Hier lebte die ständige Stadtbevölkerung, die nicht durch das Land zog, um nur dann und wann hier einzukehren. Über fünftausend waren es einst gewesen. Die größte Siedlung des flachen Lands, übertroffen nur von den Häfen an den Fjorden. Doch die Feinde, die mit Feuer und Axt gekommen waren, hatten die Bevölkerung gelehrt, wie ewig ihre Ewige Stadt wirklich war. Er blickte zum Flussufer. Dort standen zahlreiche Fischerhütten auf hölzernen Pfählen, mit Stegen, die aufs Wasser hinausragten – einige, die dort schon immer gestanden hatten, viele, die neu errichtet worden waren. Doch der Hafen war verschwunden. Einzig einige einsame Pfähle, grün und modrig von der langen Zeit im Wasser, kündeten noch von den vielen Anlegestellen, die einst von den Flößern aus den Wäldern im Westen und von den Binnenschiffern von der Küste im Osten genutzt worden waren.
    Endlich betrat er den großen, kreisrunden Versammlungsplatz. Ein Ring von Findlingen umschloss ihn, jeder einzelne behauen, sodass er ein Gesicht, ein Fabelwesen oder eine Dämonenfratze darstellte, die allesamt auf die Mitte des Platzes starrten. Und dort ragte ein Totempfahl in die Höhe. An seiner Spitze, hoch oben über den reichen Verzierungen und Schnitzereien, saßen mehrere Wildentenschädel, alle in rote Farbe getaucht. Das Zeichen von Marschâng.
    Zumindest die große Versammlungshalle hatten sie nicht zerstört. Oder vielleicht war sie wieder aufgebaut worden. Es handelte sich um einen niedrigen Graspalast. Zwei Reihen von nach innen gebogenen Pfeilern bildeten das Grundgerüst. Die meisten von ihnen waren Mammutstoßzähne, doch es hieß, dass auch einige Rippen von Drachen darunter waren, die von großen Kriegern vor Urzeiten erschlagen worden waren. Aus Gras gewebte Wände verbanden die Pfeiler und ein Grasdach ruhte auf ihnen.
    Der Eingang der Halle, der direkt auf das Totem und den dahinterliegenden Fluss zeigte, war wie stets nur von einem Vorhang aus Perlenketten verdeckt. Er streckte seine Hand nach ihnen aus, und als er sie durch seine Finger gleiten ließ und langsam beiseiteschob, war es ihm, als blitzten Bilder seiner Kindheit vor ihm auf. Er erinnerte sich an das Leben, das in dieser Halle einst geherrscht hatte, an die vielen Feste, die hier gefeiert worden waren. Und an die Versammlung, die alles verändert hatte.
    Heute war die große Halle fast leer. Die Feuerstellen waren ausgebrannt. Durch die runden Löcher in der Decke, die als Rauchabzug dienten, fiel Tageslicht herein, das den Raum schwach erleuchtete. An der Stirnseite der Halle saßen auf den Steinbänken, die nur den Ehrenvollsten und Geachtetsten vorbehalten waren, sechs alte Frauen in langen Gewändern, eine von ihnen verschrumpelter und runzliger als die andere. Und dann waren da die Krieger, die in ihrer Mitte saßen. Vier Stück. Sie aßen getrocknetes Fleisch, tranken vergorene Mammutmilch und sahen zwei Sklavinnen beim Tanzen zu. Einer von ihnen unterhielt sich gedämpft mit einer der alten Frauen.
    Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Er wusste, wer diese Krieger waren. Das zu zahlreichen dünnen Zöpfen geflochtene Haar, die Stickereien auf ihrer Kleidung und vor allem der blaue Stoff ließen keine Zweifel. Er hatte sie hier erwartet, seit er ihre Zelte am Rande der Vergänglichen Stadt gesehen hatte. Und wenngleich er ihre Zelte nicht erwartet hatte, hatten sie ihn doch nicht überrascht. Er wusste, was in all den Jahren seiner Abwesenheit geschehen war.
    Jetzt bemerkten sie ihn. „Was willst du hier, Bursche?“, rief ihm einer der Krieger entgegen und sicherte ihm damit auch die Aufmerksamkeit seiner Kameraden und der Alten; die Sklavinnen tanzten unbeirrt weiter, sie waren gut abgerichtet.
    „Dies ist die Halle von Bor Mar-Shang, dem Wildentenjäger“, sagte er ruhig, während er weiter auf die Krieger zu schritt. „Die Halle von Urdo der Weitsichtigen. Von Shrorgo der Versöhnerin. Von Rug-Shror, der Frühlingsbraut.“ Furcht und Entsetzen waren auf die Gesichter der alten Frauen getreten, zwei von ihnen schüttelten flehend die Köpfe, diejenige, die gerade mit einem der Krieger gesprochen hatte, formte ein „Nicht!“ mit den Lippen. Er ließ sich nicht beirren. „Dies ist die Halle, in der Gumbash der Ernter seinen Sieg feierte. Und nach ihm Urbosh die Krähengeißel.“ Er hatte die Halle endlich durchmessen und blieb drei Schritte vor den Kriegern stehen. „Fragt einen Sohn Marschângs nicht, was er hier will. Es ist an mir, diese Frage zu stellen: Was wollt ihr hier, Vargôr?“
    Der Krieger, der bei seinem Eintreten mit einer der Ältesten gesprochen hatte, erhob sich. Sein schwerer graublauer Mantel wies ihn als einen ausgezeichneten Krieger aus. „Wäre dies kein heiliger Ort und würde Blutvergießen in dieser Halle nicht den Großen Geist erzürnen, wärest du jetzt tot, Marschâng.“ Er sprach „Marschâng“ wie eine Beleidigung aus und zeigte damit deutlich, dass er keinen Respekt vor den großen Häuptlingen und Kriegsherren des Stammes hatte, die einst in dieser Halle gesessen hatten. Und wie hätte er den auch haben sollen, waren sie doch nicht mehr als Namen, war doch die alte Größe von Marschâng vergangen?
    „Wenn du Blut vergießen willst, dann stelle ich mich dir zum Kampf. Draußen auf dem Platz. Unter den Augen der Geister.“
    „Auf Leben und Tod?“
    „Auf Leben und Tod.“
    Der Krieger verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. Seine Kameraden erhoben sich ebenfalls. Die drei wollten schon nach draußen gehen, doch er hielt sie zurück: „Bist du bereit, mehr aufs Spiel zu setzen als dein Leben?“
    „Ein wahrer Krieger ist bereit, die ganze Welt aufs Spiel zu setzen. Würde ich meiner Kraft so wenig vertrauen, dass ich glaubte, ich könnte verlieren, würde ich mein Schwert niederlegen und Viehtreiber werden.“
    Er nickte. Sein Feind machte es ihm leichter als gedacht. „Dann fordere ich, dass deine Kameraden Marschâng auf der Stelle verlassen, wenn ich dich töte. Sie werden nicht das Schwert gegen mich oder einen der meinen erheben, sie werden ihre Zelte unverzüglich abbrechen und nachhause ziehen.“
    „Einverstanden.“
    „Urtash, hältst du das für klug?“, zischte einer der anderen Krieger.
    Damit erregte er offensichtlich den Zorn seines Anführers: „Glaubst du etwa, ich werde verlieren?“
    „Nein, natürlich nicht!“
    „Also kann ich ihm versprechen, was immer er will.“ Der Krieger namens Urtash wandte sich wieder ihm zu. „Abgemacht. Wenn du mich besiegst, wird keiner meiner Brüder dich oder irgendjemanden in dieser Stadt angreifen. Und sie werden noch heute abziehen.“
    „Du schwörst bei deiner Ehre?“
    „Bei meiner Ehre!“, rief Urtash und schlug sich mit der Faust auf die Brust. Und seine drei Gefährten taten es ihm nach wenigen Augenblicken gleich. „Bei meiner Ehre!“, erklang es wie aus einem Mund.
    Er nickte und ging voran nach draußen. Sein Rücken war ungedeckt, als er durch den Perlenvorhang und über den Platz schritt. Doch das machte ihm keine Sorgen. Geister und Orks gleichermaßen verfluchten und ächteten die Ehrlosen. Wie sehr Urtash und seine Vargôr-Krieger ihn auch verachten mochten, sie würden ihre Ehre nicht beschmutzen.
    Unter dem Totem drehte er sich herum. Urtash blieb einige Schritte vor ihm stehen. Die anderen Krieger waren am Eingang der Halle verblieben. Dort sah er nun auch die Greisinnen, die ihnen gefolgt waren und besorgt des kommenden Kampfes harrten. Und da waren andere. Männer, Frauen und Kinder, die sich um den Platz scharten, um das Spektakel zu sehen, als sie erkannten, dass ein Kampf bevorstand.
    Er schlug sich mit der Faust aufs Herz, dann streckte er sie seinem Gegner entgegen. „Ehre und Stärke.“
    Urtash wiederholte die Geste. „Ehre und Stärke.“ Ohne weiteres Zeremoniell riss er sich sein Krush Varok vom Gürtel und schlug zu.
    Er wich nach hinten aus und griff zu seiner Axt. Dieser Urtash war zweifellos kräftig und wusste mit seiner Waffe umzugehen. Aber er war stolz. Und er unterschätzte ihn. Und das würde sein Untergang sein. Er ließ Urtash Boden gewinnen. Er wich weiter und weiter vor seinem Gegner zurück, parierte die Schläge des geflammten Schwertes, doch ließ zu, dass er dabei immer wieder ins Straucheln kam, ließ immer wieder seine Flanke ungedeckt. Die Finte wirkte. Urtash wurde noch selbstsicherer. Und unvorsichtig. Anstatt auf Technik setzte er auf rohe Muskelkraft. Seine Schläge wurden härter, wilder. Und dann endeten sie abrupt, als einer von ihnen ins Leere ging und der Vargôr-Krieger plötzlich eines der Axtblätter im Magen hatte. Ein Ausdruck des Erstaunens trat auf sein zuvor so herablassendes Gesicht. Dann sank er zu Boden.
    Er hielt für einen Moment inne und holte keuchend Luft, während er breitbeinig über seinem toten Feind stand. Dann holte er mit seiner Axt aus, und mit einem einzigen Hieb trennte er den Kopf der Leiche von ihrem Körper. Er griff nach Urtashs Zöpfen und riss sein Haupt daran in die Höhe, sodass alle anwesenden es sehen konnten und sodass die toten Augen des Orks seine drei Kameraden anstarrten.
    „Sagt euren Brüdern, es war Temugush ak Marschâng, der euren Anführer erschlagen hat. Sagt ihnen, Urtash ak Varôg musste sterben, weil er die Ehre des Marschâng-Stammes beschmutzt hat, und dass es jedem anderen ebenso ergehen wird.“
    Für einen Moment starrten ihn die drei Orks aus reglosen Gesichtern an. Wie es sich für einen echten Krieger geziemte, verbargen sie ihre Gefühle hinter emotionslosen Masken. Dann drehten sie sich mit einem Mal um und gingen wortlos davon.
    Temugush setzte sich inmitten des Platzes im Schneidersitz nieder, lehnte seinen Rücken gegen den Totempfahl, legte seine Axt über seine Knie und pflanzte den Kopf des toten Gegners vor sich im Gras auf.

    Das war, wie ihn seine Schwester fand.
    „Deine Schwester möchte ihrem verlorenen Bruder um den Hals fallen. Dein Häuptling möchte den Verräter zum Tode verurteilen.“
    Er öffnete die Augen. Er hatte geruht, zwischenzeitlich geschlafen, dann stumm zu den Geistern gebetet, dann wieder geschlafen, ohne von der Stelle zu weichen. Nun aber hob er seinen Blick. Aus den Augenwinkeln nahm er die vielen Orks wahr, die am Rande des Platzes standen. Krieger, größtenteils. Doch da waren auch die Ältesten. Und einfache Orks, die ihn anstarrten; neugierig, verängstigt, bewundernd, zornig. Doch sein Blick ruhte nur auf der Person vor ihm. Seine Schwester war zu einer schönen und stolzen Frau herangewachsen. Ihr langes dunkles Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, ihr Bart zu zweien, die unter ihren Achseln hindurchgeführt und hinter ihrem Rücken mit ihrem Haupthaar verknotet waren. Ihr prachtvolles rotes Kleid, die goldenen Ringe in ihren Ohren, die zahlreichen Ketten aus Türkisen und Bernsteinen wiesen sie als den Häuptling des Marschâng-Stammes aus.
    „Sage du mir, Temugush, was soll ich tun? Soll ich als deine Schwester zu dir sprechen oder als dein Häuptling?“
    „Wollen wir in die Halle gehen?“, fragte er ruhig.
    Seine Schwester nickte nur.
    Er erhob sich. Seine Axt legte er vor dem Totem ins Gras. Den Kopf seines Feindes aber ergriff er bei den Zöpfen und nahm ihn mit sich.
    Als sie durch den Perlenvorhang getreten waren, nahm Temugush seiner Schwester die Entscheidung ab und schloss sie in seine Arme. Im ersten Moment versteifte ihr Körper sich. Als er murmelte: „Es ist gut, dich wiederzusehen, Grogosh“, entspannte sie sich jedoch und erwiderte seine Umarmung.
    „Es ist auch gut, dich wiederzusehen, Temugush.“ Dann ließ sie ihn los und trat einen Schritt zurück. Sie seufzte tief. „Ich wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen gewesen. Was hast du dir dabei gedacht? Weißt du, was du angerichtet hast?“
    „Was schon lange jemand hätte tun müssen.“ Er begann, durch die Halle zu schreiten. „Seit Jahren zahlst du Vargôr Tribut. Ist das, was aus Marschâng geworden ist? Sind wir vielleicht Vasallen? Ich erinnere mich an eine Zeit, da wir es waren, die von anderen Tribut forderten.“
    „Ja, und diese Zeit ist vorbei. Unser Stamm ist nicht mehr so groß wie er einst war. Und die Hälfte unserer eigenen Vasallen hat sich entweder für unabhängig erklärt oder sich anderen großen Stämmen unterworfen – nicht wenige davon Vargôr.“ Grogosh ging hinter ihm her. „So ist der Lauf der Welt, Temugush. Kriege werden geführt, Kriege werden verloren. Große Stämme verlieren ihre Macht, kleine Stämme steigen zu großen auf.“
    „Willst du das etwa hinnehmen?“
    „Hinnehmen?“ Grogoshs Stimme nahm einen gefährlichen hohen Ton an. Ein Ton, der ihm durchaus noch aus Kindertagen bekannt war. „Temugush, ich nehme unseren Niedergang sicherlich nicht hin! Ich nehme unsere Demütigung nicht hin! Aber ich werde auch nicht unsere sinnlose Vernichtung hinnehmen!“ Nun rauschte sie an ihm vorbei und warf sich in den steinernen Thron am Ende der Halle. Wütend funkelte sie ihn an. „Als wir das letzte Mal geschlagen wurden, kamen sie nach Marschâng. Sie brannten drei Viertel der Ewigen Stadt nieder. Sie töteten die Männer. Sie raubten die Frauen. Sie versklavten die Kinder. Als sie weg waren, kamen die Überlebenden, um wieder aufzubauen, was verloren war. Doch noch heute sind wir nicht zu alter Größe zurückgekehrt. Was glaubst du, passiert, wenn wir ein zweites Mal geschlagen werden?“
    „Wir würden in Ehre sterben. Wir würden uns nicht unterwerfen wie die niederen Stämme. Sind wir vielleicht Bisamratten, Grassäer oder Verwehte? Wir sind die Wildentenleute. Wir sind einer der großen Stämme. Und entsprechend sollten wir handeln.“
    Grogosh schlug so heftig auf einen der beiden Orkschädel, die auf den Armen ihres Throns saßen, dass er brach. „Ich werde nicht zulassen, dass du uns in den Untergang führst! Du warst nicht hier! Du hast das Leid nicht gesehen! Dir muss Marschâng heute klein vorkommen. Aber weißt du, wie klein es war, als ich Häuptling wurde? Sie nennen mich Grogosh die Bewahrerin. Weißt du wieso? Weil ich den Stamm am Leben erhalten habe. Weil ich die versprengten Familien und Klans zusammengeführt habe. Weil ich Marschâng wieder aufgebaut habe. Weil ich Frieden geschlossen habe. Ja, der Frieden hat einen hohen Preis. Aber er erlaubt uns, unsere Wunden zu lecken. Er erlaubt uns, zu genesen. Er erlaubt uns, aufs Neue zu wachsen. Und wenn der Tag kommt, dann mögen wir in den Kampf ziehen. Doch nicht jetzt!“
    Er lächelte sanft und stimmte einen versöhnlichen Ton an. „Du bist die Bewahrerin, Grogosh. Und dafür wird man sich noch in hundert Generationen an dich erinnern, so wie man sich an die Versöhnerin oder an die Weitsichtige erinnert. Aber in einem Punkt liegst du falsch: Der Tag ist gekommen. Und ich sage dir, was zu tun ist: Rufe alle Marschâng-Klans und alle verbliebenen Vasallen zusammen. Lass sie...“
    „Das habe ich bereits.“
    Das überraschte ihn, und für einen Moment verlor er den Faden. „Du hast schon...?“
    Grogosh rollte mit den Augen. „Was glaubst du, warum dich die Ältesten nicht an meiner statt gerichtet, sondern auf meine Rückkehr gewartet haben, Temugush? Was glaubst du, warum die Vargôr-Krieger mich mit neuen Tributforderungen erwartet haben? Ich war bereits auf dem Weg hierher. Und die übrigen Klans des Stammes sind ebenfalls schon auf dem Weg.“
    „Warum?“
    „Wegen des Winters“, sagte sie leise. „Du musst es auch bemerkt haben.“
    Temugush nickte. Er hatte es bemerkt. „Schnee südlich des Bunlar. Und das Eis. Um diese Jahreszeit.“
    „Ja, das gab es früher nicht. Und es betrifft nicht nur uns, Temugush. Das ganze Land wird kälter und kälter. Letztes Jahr mussten der Bergklans ihre Dörfer verlassen und in die Täler ziehen. Und du weißt, was für Kälte und was für Stürme sie gewohnt sind. Die Fjorde waren die letzten beiden Jahre zugefroren. Das Wild in den Steppen wird weniger. Vargôr ist genauso betroffen wie wir. Deshalb kommen sie immer öfter und fordern immer mehr.“
    „Du glaubst, dieser Winter wird genauso unnatürlich kalt und lang wie die letzten drei?“
    „Ja, und die Schamanen haben es bestätigt. Deshalb musste ich handeln. Oben im Norden ist es bereits jetzt zu kalt. Ich hätte meine Leute dort nicht mehr lange durchbringen können. Also habe ich beschlossen, jetzt schon in Marschâng zu überwintern. Außerdem haben die Schamanen mir geraten, den gesamten Stamm hier zusammenzurufen. Also habe ich auch das getan.“ Sie seufzte. „Ich hätte nur nicht damit gerechnet, dich hier vorzufinden und von dir beinahe in einen Krieg mit den Vargôr gestoßen zu werden.“
    Ihren letzten Satz hatte er kaum noch gehört. Was sie davor gesagt hatte, hatte ihn aufhorchen lassen. Und nun trat ein breites Grinsen auf sein Gesicht. „Aber Grogosh, verstehst du denn nicht? Das ist ein Zeichen!“ Er sank vor ihr auf die Knie und ergriff eine ihrer Hände.
    Unwirsch entriss sie ihm ihre Hand und fragte: „Was für ein Zeichen ist es, dass du drohst, alles zunichtezumachen, was ich die letzten Jahre aufgebaut habe?“
    „Die Schamanen sagten, du sollst den gesamten Stamm hier zusammenrufen. Sagten sie weshalb?“
    „Sie sagten, nur das könne uns retten. Vor dem Winter. Und vor dem Untergang.“
    Seine Laune wurde immer besser und sein Grinsen immer breiter. „Und wer hat behauptet, diese Rettung bestünde nur darin, hier zu überwintern? Ich habe schon jetzt Schnee in der Steppe und Eis auf dem Fluss gesehen. Der Winter wird uns auch hier einholen. Grogosh, vielleicht haben die Geister mich geschickt. Und vielleicht wollen sie nicht deshalb, dass du den Stamm hierher rufst, weil es hier noch etwas wärmer ist als im Norden, sondern weil es Zeit ist, zu den Waffen zu greifen.“ Er setzte das Haupt seines getöteten Feindes neben ihrem Thron ab, auf dem Berg aus Schädeln, der dort lag. Orkschädel vornehmlich, aber auch einige Menschenschädel. Manche alt und braun, andere jünger und heller. Manche zerbrochen, andere intakt. „Hier. Ich gebe dir Urtash ak Vargôr. Es wird Zeit, dass Marschâng wieder anfängt, die Schädel seiner besiegten Feinde zu sammeln.“ Er schoss in die Höhe. Euphorie hatte ihn nun erfasst. Ja, es war ein Zeichen der Geister, es musste einfach so sein. Er war genau im richtigen Augenblick gekommen. „Wir warten auf die übrigen Marschâng-Klans. Und wenn der ganze Stamm versammelt ist, dann berufst du die Versammlung ein. Wenn die Frauen Frieden wählen, dann kannst du mich noch immer dafür verurteilen, ihn gebrochen zu haben. Aber wenn nicht, dann werden wir einen Kriegsherrn wählen und dann werden wir kämpfen. Nicht nur gegen Vargôr, gegen die Kälte!“
    Seine Schwester starrte ihn an, als sei er wahnsinnig geworden. „Du kannst Kälte nicht bekämpfen.“
    „Nein. Aber wir können ihr entkommen. Deine Idee, den Stamm nach Süden zu führen, war richtig. Aber du bist noch nicht weit genug gezogen. Hier wird uns die Kälte schon bald einholen. Aber wenn wir noch weiter nach Süden gehen... Dorthin, wo es wirklich warm ist, ins Land der Menschen.“
    „Wir würden es nicht einmal über die Berge schaffen. Die Nordmarer würden uns aufhalten, ehe wir das warme Flachland erreichen.“
    „Wenn Marschâng allein kämpft, dann ja. Aber gegen die vereinten Stämme der Orks hätten sie keine Chance.“
    Geändert von Jünger des Xardas (01.09.2014 um 16:42 Uhr)

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    2. Vorgabe:
    Wegen dem unerwarteten Ereignis versucht Person C nun Person A zu finden. Bei sich führt Person C Gegenstand A.


    Er wartete.
    Warten zu können, gehörte zu den wichtigsten Qualitäten eines Kriegers. Diejenigen, die das nicht erkannten, waren in der Regel die ersten Opfer einer jeden Schlacht. Doch die meisten Orks waren das Warten von frühester Kindheit an gewohnt. Warten auf den Sommer, der es erlaubte, wieder in die Weide- und Jagdgründe des Nordens zu ziehen; oder über den großen Gletscher im Süden, um in das Land der Menschen einzufallen. Warten bei der Jagd, bis das Wild in die Falle ging. Warten im Kampf, bis der Gegner einen Fehler beging, sich eine Blöße gab. Warten im Krieg, auf den richtigen Moment, um anzugreifen und den Feind in die Knie zu zwingen.
    Ja, Temugush konnte warten. Er hatte in den Minen gewartet. Tag für Tag. Viele Gelegenheiten zur Flucht hatte er verstreichen lassen. Bis der eine Moment gekommen war, da er sich sicher war, wirklich fliehen zu können und nicht schon nach wenigen Stunden von Verfolgern eingeholt zu werden. Er hatte auf seine Rückkehr gewartet. Er war nicht schnurstracks nach Marschâng gelaufen, er hatte in Erfahrung gebracht, was in all den Jahren geschehen war, hatte lange darüber nachgedacht, was zu tun war. Und hatte er nicht auch abgewartet, anstatt Rache zu nehmen?
    Nein, das Warten auf seine Schwester machte ihm nichts aus. Er stand auf seine Axt gestützt und ließ den Blick über die Vergängliche Stadt schweifen. Mit Genugtuung stellte er fest, dass sie mindestens auf das Zehnfache angewachsen war. Gewiss, die Zelte reichten nicht so weit bis zum Horizont wie in seiner Erinnerung, aber Marschâng war noch immer ein großer Stamm, geschlagen, vielleicht gebrochen, aber nicht vernichtet.
    Um ihn herum herrschte ein unübersichtliches Gewusel. Viele schritten an ihm vorbei, einige grüßten ihn, manche blieben gar stehen, um mit ihm zu sprechen. Da waren jene, die ihn beschimpften, sicherlich. Einen Verräter nannten sie ihn, weil er den Frieden gebrochen hatte. Einen ehrlosen Schwächling, weil er es nicht früher getan und weil er damals seine Familie nicht beschützt hatte. Einen Unglücksbringer, der sie alle in den Untergang stürzen würde. Aber da waren andere, die ihn beglückwünschten. So oder so, er sah viele alte Gesichter wieder.
    Ballo, so rundlich wie in seiner Erinnerung, wenn auch mit einigen grauen Strähnen mehr, zwickte ihn zärtlich ins Ohr und rief aus, wie stattlich er doch geworden sei. „Ich hoffe, wir ziehen in den Krieg“, fügte sie etwas ernster hinzu. „Dann kann der Geist meines Golmek vielleicht endlich Ruhe finden.“ „Es besteht kein Zweifel, wessen Sohn du bist“, sagte Trugork mit vor Stolz so geschwellter Brust, als wäre Temugush sein eigener Sohn. Und bevor er ging, fügte er hinzu: „Wäre ich noch ein paar Jahre jünger, ich hätte es selbst gemacht.“ Ja, alt war er geworden. Das Haar auf seinem Haupt hatte sich weiß gefärbt und sein Rücken war krumm und bucklig. Doch an Stelle des alten Kriegers gab es junge, die ihre fehlende Erfahrung mit doppeltem Tatendrang wettmachten. „Es war an der Zeit, dass wir es diesen Vargôr-Schweinen heimzahlen!“, rief ihm ein junger aber kräftiger Bursche schon zur Begrüßung entgegen, der sich später als Folleck vorstellte. Und der einige Jahre ältere und schon etwas gesetztere, aber deshalb nicht weniger begeisterte Koraz sprach von seinem Vater Ulrock, den Temugush noch gekannt hatte, – er hatte vor drei Wintern auf der Mammutjagd den Tod gefunden – und versprach, sollten die Frauen den Krieg wählen, für Temugush als Kriegsherrn zu stimmen.
    So gut das Lob und die Freundschaftsbekundungen auch taten, so gut es tat, wieder mit den alten Freunden und Bekannten oder doch wenigstens mit ihren Söhnen und Brüdern zu sprechen, ihm entging nicht, dass die meisten derer, die auf seiner Seite waren, nach Vergeltung dürsteten. Sie feiern mich deshalb, weil sie meine wahren Absichten nicht kennen. Viele von ihnen werden sich womöglich in der entscheidenden Stunde gegen mich wenden. Und dann würde so mancher von seinen jetzigen Unterstützern zu einem größeren Feind werden, als es die waren, die ihn jetzt verfluchten.
    „Bist du meinetwegen hier?“ Grogosh hielt nicht an, als sie aus einer breiteren Zeltgasse trat. Temugush schulterte seine Axt und schloss sich ihr auf ihrem Rückweg zur Ewigen Stadt an.
    „Der ganze Stamm ist hier. Jetzt kannst du die Versammlung der Frauen einberufen.“ Die Marschâng-Kral waren der letzte der Marschâng-Klans, auf den sie noch gewartet hatten. Zwei Tage zuvor waren die Marschâng-Ur eingetroffen. Eine Woche davor die Marschâng-Bor und die Marschâng-Gul. Die anderen Klans waren schon vor zwei Wochen alle hier gewesen. Im Sommer und in Zeiten des Friedens zogen die einzelnen Klans in kleineren Verbänden durch die Steppe nördlich und südlich des Bunlar. Doch nun waren sie alle hier an dieser heiligen Stätte zusammengekommen.
    Seine Schwester machte ein gequältes Gesicht. „Temugush, wir brauchen Frieden, nicht Krieg. Gerade in diesen kargen Zeiten. Ich habe alle Klans hier versammelt, um der Kälte zu entkommen und gemeinsam unsere Vorräte zu horten, nicht um den Stamm erneut in den Untergang zu führen.“
    „Und ich sage dir, gerade in diesen Zeiten brauchen wir Krieg. Ja, er wird entbehrungsreich sein, gerade mit dem heranrückenden Winter. Aber wenn wir jetzt nicht kämpfen, wenn wir jetzt nichts riskieren, dann werden wir untergehen. Hier sind wir vor dem Winter nicht viel sicherer als im Norden. Ich sagte es schon einmal, unsere Rettung liegt weiter im Süden. Jenseits des Gletschers, jenseits der Berge noch.“
    Warten zu können, gehörte zu den wichtigsten Qualitäten eines Kriegers. Aber manchmal war die Zeit des Wartens vorbei. Und diesen Moment zu erkennen, war eine ebenso wichtige Qualität eines Kriegers. Es gibt keine bessere Zeit als jetzt. Der Winter war ein Zeichen. Und hoffentlich würde er die Stämme dazu treiben, ihre Streitigkeiten rasch beizulegen und sich zu vereinen. Und die Lage in den Landen der Menschen war ebenfalls ein Zeichen. Es gab keinen besseren Zeitpunkt, sie anzugreifen als jetzt.
    „Temugush, ich habe mein letztes Wort längst gesprochen. Beim Großen Geist und so wahr sie mich Bewahrerin nennen, ich werde keine Versammlung der Frauen einberufen, nur weil du darauf drängst.“
    „Morgen werden dreihundertsiebzehn Frauen vor den Ältestenrat treten und eine Versammlung fordern.“
    Grogosh hielt mitten im Lauf inne und wirbelte herum. Ihre blauen Augen – selten für eine Orkin – funkelten ihn mit einem Ausdruck an, den er noch nicht bei seiner Schwester kannte. Das war nicht einfach Wut... „Für dich ist es so einfach, oder?“, zischte sie. „Du tauchst aus dem Nichts wieder auf und brichst einen Krieg vom Zaun. Warum auch nicht? Du warst ja nicht hier, du musstest nicht jahrelang mühselig wieder aufbauen, was wir verloren haben, du hast ja nicht gesehen, wie es die ersten Jahre war. Aber eines solltest auch du noch wissen, Temugush: Was das letzte Mal geschehen ist, als wir einen Kriegsherrn gewählt haben.“
    „Diesmal wird es anders kommen. Dafür sorge ich.“
    „Du konntest uns damals nicht beschützen. Was macht dich glauben, du könntest es heute?“
    Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern stapfte davon. Temugush brauchte einen Moment, ehe er diese Anschuldigung verarbeitet hatte. Es war unfair, und Grogosh wusste das. Er war noch ein halbes Kind gewesen. Was hätte er tun können? Und doch, er war der Älteste gewesen. Der Schutz der Familie war seine Aufgabe gewesen. Und er hatte versagt. Und wie oft hatte er sich dieses Versagen vorgeworfen...
    Langsam schritt er hinter seiner Schwester her, den Blick auf ihren Rücken gerichtet, wo der große Knoten, der ihre Zöpfe verband, mit jedem Schritt leicht hin und her schaukelte.
    Es war nicht schwer gewesen. Schon seit Grogosh mit ihren Leuten in Marschâng angekommen war, ging er herum und sprach mit den Frauen. Manche verfluchten ihn. Manche warfen ihm die Namen ihrer toten Söhne, Väter, Brüder und Ehemänner an den Kopf und wollten von Krieg nichts hören. Aber andere hörten sich an, was er zu sagen hatte. Auch unter ihnen nannten viele die Namen von toten Söhnen, Vätern, Brüdern und Ehemännern. Doch diesmal, um nach Rache zu fordern. Und diese Frauen verbreiteten seinen Aufruf. Beim Melken der Tiere, beim gemeinsamen Waschen der Kleider im Fluss sprachen sie mit ihren Bekannten und Verwandten. Und bald schon hatte Temugush nicht mehr in der großen Zeltstadt umhergehen und die Frauen ansprechen müssen, bald schon waren mehr und mehr von selbst zu ihm gekommen. Dreihundertsiebzehn Frauen forderten nun den Krieg. Einhundertvierundvierzig Stimmen reichten aus, um die Versammlung einzuberufen. Grogosh mochte Häuptling sein, doch sie stand nicht über den Traditionen. Und selbst wenn die Ältesten auf ihrer Seite waren, würden sie fordern, dass sie dem Wunsch der Frauen nachkam.
    Und dann? Dann würde die Versammlung der Männer einberufen und einen Kriegsherrn wählen. Und dann käme der schwerste Teil: Frieden schaffen. Einen echten Frieden, der mehr war als nur ein Waffenstillstand oder als die Unterwerfung des einen Feindes unter den anderen. Aber ein solcher Frieden brauchte Einigkeit...
    Sie hatten bereits den Rand der Ewigen Stadt erreicht, als er wieder zu seiner Schwester aufschloss und wieder das Wort ergriff. Er versuchte, seine Stimme hart und emotionslos klingen zu lassen. Ein Krieger verbarg stets seine Gefühle. „Eine Schamanin erwartet dich in der Versammlungshalle. Sie hat nach dir gesucht. Man hat ihr gesagt, dass du die Marschâng-Kral begrüßt und ich dich herbringen werde.“
    „Was will sie?“, fragte Grogosh, ohne sich nach ihm umzudrehen.
    „Frieden. Sie kommt mit einem stumpfen Schwert.“
    Nun wandte sich Grogosh doch um. „Sie kommt vom Vargôr-Stamm?“
    „Ja...“
    „Und sie bringt ein stumpfes Schwert?“ Die Augen seiner Schwester leuchteten. „Temugush, die Geister sind mit uns! Vargôr könnte uns den Krieg erklären dafür, dass du Urtash getötet und ihre Krieger gedemütigt hast. Ganz zu schweigen von dem Tribut, den wir ihnen nun schulden. Aber ihre einzige Reaktion ist, eine Schamanin mit einem stumpfen Schwert zu schicken! Das heißt, sie wollen verhandeln. Sie wollen einen Krieg genauso wenig wie wir. Wenn wir die Beleidigung wieder gutmachen, können wir einen Krieg vielleicht noch vermeiden.“
    „Aber wir WOLLEN einen Krieg.“ Auch ihn hatte die Nachricht aufgeregt, auch er hatte in ihr ein Zeichen gesehen. Aber sie verstand nicht. „Grogosh, denk doch nach, was das heißt! Ich habe einen ihrer Krieger getötet und sie gedemütigt. Sie müssten nach Vergeltung schreien! Stattdessen wollen sie Frieden. Sie fürchten uns. Vargôr ist nicht so gefährlich, wie du vielleicht glaubst. Der Winter macht gewiss auch ihnen zu schaffen. Und vergiss nicht, dass sie nie so groß wie Marschâng waren.“
    Wut trat neuerlich in Grogoshs Gesicht. „Nein, DU verstehst nicht. Vielleicht können wir Vargôr schlagen, ja. Aber dieser Krieg wäre für unser beider Stämme verlustreich. Es ist unser beider Interesse, ihn zu verhindern. Und genau das werde ich nun tun.“ Sie wirbelte herum und lenkte ihre Schritte Richtung Versammlungshalle.
    „Ich komme mit dir.“
    „Das wirst du nicht. Ich werde dich nicht in die Nähe dieser Schamanin lassen, nur damit du den Frieden schon wieder in Gefahr bringen kannst. Die Ältesten und ich werden allein mit ihr sprechen.“
    „Du kannst mir nicht verbieten, sie zu sprechen.“ Er zögerte kurz. „Grogosh... Es ist Morrok.“
    Für einen winzigen Moment zögerte Grogosh. Dann aber stand wieder die grimmige Entschlossenheit in ihr Gesicht geschrieben und sie setzte ihren Weg fort. „Noch bist du nicht Kriegsherr, Temugush. Noch bin ich Häuptling dieses Stammes. Und wenn ich sage, du wirst nicht mit mir in die Versammlungshalle kommen, dann wirst du mir gehorchen.“

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    3. Vorgabe:
    Rückblende: Person A stattet Ort A einen Besuch ab, mit dem Vorhaben sich Gegenstand A zu bemächtigen.


    „Ich gebe mich geschlagen.“
    Temugush nahm die Axt von der Kehle seines am Boden liegenden Gegners und reichte ihm die Hand. Borshak ergriff sie und ließ sich beim Aufstehen helfen. Dann schlug er sich die Faust auf die Brust und neigte demütig den Kopf.
    „Sei dabei, wenn sich mein Kriegsrat in der Versammlungshalle einfindet“, sagte Temugush, bevor er sich abwandte.
    Die Umstehenden jubelten, als er den Platz verließ. Zufrieden nahm er wahr, dass ihm mehr zujubelten als noch bei seinem letzten Kampf. Koraz erwartete ihn am Rande des Versammlungsplatzes. Er schlug sich mit der Faust auf die Brust und nickte ihm anerkennend zu. „Langsam dürfte es keine Herausforderer mehr geben.“
    „Das will ich hoffen. Es wird Zeit, dass wir in den Krieg ziehen.“ Gerne wäre Temugush sofort mit seinen Männern aufgebrochen. Aber er hatte mit dieser Verzögerung gerechnet. Es war Brauch, dass ein jeder Krieger einen jeden anderen Krieger zu einer Axtbegegnung herausfordern durfte. Bekleidete der Herausgeforderte einen höheren Rang, musste er den Kampf annehmen und gewinnen, oder aber er verlor seine Position an den Herausforderer.
    „Ich will, dass du den Kriegsrat in der Versammlungshalle einberufst“, wies Temugush den jüngeren Krieger an. Dieser nickte ergeben und wollte schon gehen, da setzte Temugush nach: „Und ich will dich auch in meinem Kriegsrat haben.“
    „Es wird mir eine Ehre sein.“
    Temugush schwang sich seine Axt über die Schulter und schritt über den Platz zur Versammlungshalle. Um ihn herum zerstreute sich die Menge. Es war die vierte Axtbegegnung gewesen, die der Stamm in den letzten Tagen gesehen hatte.
    Die Versammlung der Frauen hatte den Krieg gewählt. Daraufhin war die Versammlung der Männer zusammengekommen, um aus den Reihen der Krieger einen Anführer zu bestimmen. Er hatte viele Unterstützer gehabt, gerade unter den Jüngeren. Dennoch hatte Grambak von den Marschâng-Rug die Abstimmung knapp für sich entschieden. Temugush hatte damit gerechnet, die Abstimmung zu verlieren. Es gab manchen, der unzufrieden war mit dem Beschluss der Frauen und lieber nicht in den Krieg gezogen wäre. Diese Männer hielten ihn für einen ungestümen Narren und hatten ihm ihre Stimme verweigert. Und auch unter jenen, die den Krieg wollten, hatte er beileibe nicht nur Unterstützer. Er hatte sich als Krieger nie einen Namen machen können. Im Stamm war er vor allem dafür bekannt, dass er seine Familie nicht beschützt hatte und später in die Sklaverei geraten war. So jemanden wählte man nicht zum Kriegsherrn, dafür schien er zu wenig seines Vaters Sohn. Grambak dagegen war für seinen Mut und seine Stärke bekannt und hatte sich schon im letzten Krieg hervorgetan. Doch Mut und Stärke allein reichten nicht aus, und mit Grambak an seiner Spitze würde der Stamm ein weiteres Mal in sein Verderben laufen und der Krieg ebenso ausgehen wie beim letzten Mal. Also hatte er ihn zu einer Axtbegegnung gefordert.
    Ein Krieger, der vor einem Zweikampf davonlief, war feige und damit nicht geeignet, zu führen. Ein Krieger, der einen Zweikampf verlor, war schwach und damit nicht würdig, zu führen. Grambak hatte sich dem Kampf gestellt, doch er hatte verloren, und damit war das Ergebnis der Abstimmung nichtig – Temugush hatte bewiesen, dass die Geister auf seiner Seite standen. Doch wie nicht anders zu erwarten gewesen war, war daraufhin auch er wiederum herausgefordert worden. Zuerst von Grambaks zweitem Sohn. Dann nacheinander von Kor-Shach und Borshak, zwei anderen Kriegern, die die Abstimmung verloren gehabt hatten. Er hatte auch sie besiegt und sich als Kriegsherr behauptet. Wer eine Axtbegegnung für sich entschied, hatte das Recht, seinen Gegner zu töten. Er hatte auf dieses Recht verzichtet. Stattdessen hatte er einen jeden seiner Konkurrenten in seinen Kriegsrat berufen.
    Er zweifelte nicht, dass er sich auch in weiteren Kämpfen behaupten würde. Dennoch hoffte er, dass nun langsam niemand mehr wagen würde, ihn herauszufordern. Stellte ein Krieger den Mut, die Stärke und die Ehre seines Kriegsherrn infrage, indem er ihn zum Kampf forderte, musste der Kriegsherr erst vor dem ganzen Stamm und im Angesicht des Großen Geistes beweisen, dass die Anschuldigungen falsch waren. Vorher durfte er keine Entscheidungen mehr treffen. All diese Axtbegegnungen verzögerten also den Kriegszug. Doch hoffentlich würde sich das nun ändern.
    Eine einzelne Gestalt saß am Ende der Halle auf einer der Steinbänke zu Füßen des Throns. Sie wirkte klein und verlassen, wie sie dort kauerte. Irgendetwas lag in ihrem Schoß und sie schien es zu halten wie ein Neugeborenes.
    „Ich habe gesiegt.“ Langsam schritt er auf sie zu.
    „Ich habe nichts anderes erwartet.“ Grogosh schaute nicht auf. Ihr Blick blieb auf den länglichen Gegenstand in ihrem Schoß geheftet. Es war das stumpfe Schwert, das Morrok gebracht hatte, erkannte er beim Nähertreten. Er seufzte innerlich.
    „Trauerst du noch immer dem Frieden nach?“ Temugush ließ sich nicht auf dem Thron nieder, der nun sein rechtmäßiger Platz war, sondern setzte sich neben seine Schwester auf die Bank. Seine Axt lehnte er an die steinernen Stufen.
    „Es war dieses Schwert, das ihn brachte“, murmelte sie, während sie gedankenverloren mit einem Finger über die stumpfe Klinge fuhr. „Ich erkenne es wieder.“
    „Und Morrok hat ausgerechnet dieses Schwert gebracht...“
    „Um mich zu erinnern.“ Nun hob seine Schwester doch den Blick. Und der Ausdruck ihrer Augen hätte ihm fast das Herz zerrissen. Ihre veränderte Erscheinung ließ sie dabei nur noch trauriger und verzweifelter aussehen. Sie hatte die roten Gewänder des Häuptlings abgelegt und gegen einfaches Ripperfell getauscht. Die vielen Ringe und Ketten waren verschwunden. Und Haar und Bart waren geschoren, sodass nur noch kurze Stoppeln ihr Kinn und ihr Haupt zierten. Der Frieden war vorbei und die Tradition wollte es, dass der abgesetzte Friedenshäuptling dies vor Orks und Geistern bekundete.
    „Dich erinnern?“
    Grogosh schüttelte traurig den Kopf. „Du verstehst nicht. Wie solltest du auch? Du warst nicht dabei...“ Er setzte zu einer Antwort an, doch sie schnitt ihm das Wort ab: „Morrok war dabei. Und ich auch. Glaubst du vielleicht, es ist Zufall, dass von allen Schamanen der Vargôr ausgerechnet sie kam? Nein. Genauso wenig wie es Zufall ist, dass sie von allen stumpfen Schwertern dieser Welt ausgerechnet dieses mitbrachte.“ Und als er sie nur verständnislos anstarrte, schüttelte sie den Kopf. „Oh Temugush, du weißt gar nichts...“
    Es war ein schöner Tag gewesen, als Kriegsfürst Yurugar ak Marschâng unter den Äxten der Vargôr gefallen war. Der Himmel über der Steppe war blau und wolkenlos gewesen, Irô-Grubash, der Sonnengeist, hatte aus seinem strahlenden Antlitz auf sie herabgelächelt. Das Wasser des Bunlar war ebenso klar gewesen wie der Himmel. Und ein Reiher hatte darin gestanden, halb versteckt im Schilf, von wo aus er sie beobachtet hatte.
    Nie würde sie vergessen, was für ein schöner Tag es gewesen war.
    Vater war auf seinem Mammut an der Spitze des Zuges geritten. Er hatte Umbrash und Olesch bei sich gehabt. Wie stolz Umbrash gewesen war, an der Seite seines Vaters zu reiten und die Standarte mit der roten Wildente zu tragen. Und Olesch, den Mund noch voller Milchzähne, aber schon in einem eigenen Lederpanzer, einen Dolch am Gürtel und eine Armbrust auf dem Rücken. Und dahinter waren die Krieger gefolgt. Der ganze Stolz von Marschâng.
    Sie selbst hatte sich in der Mitte des riesigen Tross befunden. Ein Mammut hatte den Karren gezogen, in dem sie geritten waren. Mutter war in ein Schattenläuferfell gehüllt gewesen. Und an ihrer Brust hatte Tempuk gehangen, noch keine zwei Monate alt. Sie erinnerte sich noch genau, wie das Baby mit dem Bronzering gespielt hatte, der in Mutters Bart geflochten gewesen war. Es hatte ihm Vergnügen bereitet, ihn wie ein Pendel hin und her schwingen zu lassen. Sie selbst hatte gegenüber gesessen, zusammen mit Morrok und Grogon. Gemeinsam hatten sie genäht und dabei miteinander geschnattert, wie es nur junge Mädchen konnten.
    Nein, nie würde sie vergessen, was für ein schöner Tag es gewesen war. Jedes Detail hatte sie noch klar vor ihren Augen.
    Jedes Detail.
    Als sie vom Kampf gehört hatten, war Vater bereits tot gewesen. Die Vargôr-Krieger waren vom anderen Flussufer gekommen und hatten zugeschlagen, als er gerade die Furt überquert gehabt hatte. Die meisten Krieger waren noch auf ihrer Seite des Bunlar oder mitten im Fluss gewesen und hatten nicht helfen können. Vater war mit Umbrash, Olesch und einigen wenigen Kriegern von drei Seiten umzingelt und ins Wasser zurückgedrängt worden. Heilloses Chaos war ausgebrochen. Die Vargôr hatten ihre Warge losgelassen, die über Vaters Krieger hergefallen waren und die Mammute in die Beine gebissen hatten.
    Die Vargôr-Krieger hatten keine Chance gehabt, die Furt zu überqueren. Nicht mit dem Großteil des nun alarmierten Heeres auf der anderen Seite. Doch das hatten sie wohl auch gar nicht vorgehabt. Nach Vaters Tod hatten sie sich rasch zurückgezogen, während der Heerwurm mehr und mehr dem Chaos verfiel, umso weiter sich die Nachricht vom Kopf des Zuges ausbreitete.
    „Der Kriegsfürst ist tot! Der Kriegsfürst ist tot!“, hatten einige geschrien. Alles war zu einem Halt gekommen. Alles war durcheinandergerannt. Krieger liefen zum Fluss, vielleicht im Glauben, der Kampf sei noch nicht vorbei und sie könnten noch etwas tun. Andere liefen zum Ende des Zuges, um die Nachricht weiterzuverbreiten oder vielleicht nach ihren Freunden und Familien zu sehen. Frauen und Kinder rannten umher und suchten ihre Männer und Väter. Und mittendrin hatten sie gesessen, in ihrem Wagen.
    Mutter hatte verzweifelt die Vorbeirennenden um Auskunft gebeten, doch niemand hatte Genaues sagen können und viele hatten gar nicht erst innegehalten und zugehört. Irgendwann war Umbrash erschienen, das Gesicht blutig, einen Bolzen in der Schulter. Er hatte ihnen von dem Überfall erzählt, hatte berichtet, wie sie Vater umzingelt und auf ihn mit ihren Äxten eingeschlagen hatten. Mutter hatte ihn nach seinem jüngeren Bruder gefragt. Umbrash hatte für einen Moment geschwiegen und dann geschildert, wie einige der Mammute in dem Chaos und aufgeschreckt durch die Wargbisse ausgebrochen waren und wie der kleine Olesch unter ihren Füßen zertrampelt worden war.

    „Vargôr...“, murmelte Grogosh. „Wir waren nicht einmal im Streit mit ihnen. Wir kamen gerade von dem Kriegszug gegen Ulrôg zurück.“
    „Es musste so kommen. Wir waren zu mächtig. Wie oft kommt es vor, dass drei Stämme sich verbünden und einen gemeinsamen Kriegsfürsten wählen? Und Vater hat jede seiner Schlachten gewonnen. Er hat einen Stamm nach dem anderen unterworfen. Wir hatten keinen Streit mit Vargôr, aber Vargôr wusste, dass wir früher oder später auch gegen sie ziehen würden. Und dass Vaters Armee nur größer wurde, je länger sie warteten.“
    „Sie haben erreicht, was sie wollten. Sie haben uns aufgehalten. Sie mussten nur Vater töten und sein ganzes Heer ist zerbrochen.“
    Temugush war nicht zugegen gewesen, aber er wusste dennoch, was geschehen war. Der gewaltige Zug – die drei Stämme von Marschâng, Dunmârr und Kalprêk mit all ihren Unterklans, ihre Vasallenstämme, die kleineren Stämme, die sich der Allianz im Laufe der Zeit angeschlossen hatten – hatte den Fluss nicht überquert. Die Marschâng-Krieger hatten Ragnor zu Vaters Nachfolger als Kriegsherr gewählt. Doch Dunmârr und Kalprêk hatten sich Yurugars Befehl unterworfen gehabt, nicht dem Marschângs. Seinen Nachfolger wollten sie nicht als Kriegsfürsten anerkennen. Der Kalprêk-Kriegsherr, Urdnot, hatte daraufhin ebenfalls Anspruch auf die Führung über alle drei Stämme und ihre Verbündeten und Vasallen erhoben. Kämpfe waren ausgebrochen. Einige der unterworfenen Stämme hatten die Chance genutzt, sich loszusagen, und im Heerlager gewütet, bevor sie abgezogen waren. Ein Teil der Marschâng-Vasallen hatte sich Kalprêk unterworfen und sich gegen seine alten Herren gewendet. Der Kriegsherr der Dunmârr hatte beide Kriegsherren zu einer Axtbegegnung herausgefordert, und als beide den Kampf verweigert hatten – jeweils mit der Begründung, er sei kein Mitglied ihres Stammes und habe daher nicht das Recht, einen solchen Kampf zu fordern – hatten sich die Dunmârr, die dies als Beleidigung der Ehre ihres Stammes sahen, zurückgezogen. Einige Marschâng-Krieger hatten Ragnor für das Desaster verantwortlich gemacht und behauptet, ein weniger schwächlicher Kriegsherr hätte die anderen Stämme im Zaum halten können. Ragnor wurde zu Axtbegegnungen gefordert und schließlich getötet. Doch nun brach Streit in Marschângs eigenen Reihen aus, da jeder der einzelnen Marschâng-Klans einen anderen Kandidaten bei der Wahl des Kriegsherrn favorisierte.
    „Temugush, so endet es immer. Wir sollten es am besten wissen, wir sind Yurugars Kinder, wir haben es am eigenen Leib erfahren. Er hat drei große Stämme unter sich vereint. Weil er stark war und ehrenhaft und weil sein Mut und seine Entschlossenheit selbst seine Feinde beeindruckt haben. Aber diese ganze Allianz hing nur an ihm. Nicht an Marschâng, nicht an den Kriegsherren der anderen Stämme, an ihm. Und sie starb mit ihm.“ Sie ergriff seinen Arm. „Mach nicht denselben Fehler. Es wird genauso enden. Es hat immer so geendet. Vater ist nur das letzte von vielen Beispielen. Und das weißt du. Nur ein einziges Mal haben sich alle Stämme vereinigt und einen gemeinsamen Kriegsfürsten gewählt, um in das tiefe Land der Menschen einzufallen. Und was ist geschehen, als Kriegsfürst Gratoshk fiel? Die Stämme brachen auseinander, die meisten kehrten in die Heimat zurück und die Menschen hielten unseren Siegeszug auf.“
    Temugush sprang so heftig in die Höhe, dass er Grogosh, die noch immer seinen Arm gehalten hatte, fast umwarf. „Glaubst du, das wüsste ich nicht?“, fragte er in einem wütenden Knurren. „Ich weiß, du meinst es gut, aber ich BIN Yurugars Kind, also unterstelle mir niemals, ich hätte vergessen, was damals geschehen ist. Ich werde es nie vergessen. Und ich habe aus Vaters Schicksal und dem seines Kriegszugs gelernt, besser als du glaubst. Du hast Recht, seine Allianz starb mit ihm, so wie die Gratoshks mit ihm starb. Weil es kein echtes Bündnis der Stämme war, sondern nur der Zusammenschluss unter einem gemeinsamen Anführer. Ich gedenke, diesen Fehler nicht zu wiederholen.“
    „Und wenn du ihn doch wiederholst?“ Auch Grogosh sprang nun auf. „Was wenn du fällst und dein Bündnis genauso zerbricht wie das Vaters oder Gratoshks?“ Sie bohrte ihm die stumpfe Spitze des Schwertes in die Brust. „Was wenn du gar nicht so weit kommst, irgendwelche Stämme unter dir zu vereinigen? Was wenn du schon vorher fällst?“ Sie schnaubte abfällig. „Dir kann es gleich sein, du bist dann tot. Nicht mehr da, so wie du damals nicht da warst. Aber wir, die Frauen, die Kinder, die Alten, wir sind es, die den Preis zu zahlen haben, wenn ihr Männer Krieg spielt. Du verstehst nicht. Du kannst gar nicht verstehen.“
    Schon weit vor der Stadt sahen sie die Rauchsäule aufsteigen.
    Morrok blieb stehen und starrte sie ungläubig an.
    „Komm, wir müssen weiter!“ Grogosh riss an ihrem Ärmel.
    „Weiter? Wohin denn weiter? Siehst du denn nicht? Marschâng brennt.“
    „Wir müssen trotzdem dorthin.“
    „Warum? Es hat doch sowieso keinen Sinn mehr. Es ist vorbei, Grogosh. Wir waren Närrinnen, zu glauben hier wären sicher und es könnte alles wieder gut werden. Nichts wird gut werden. Egal wohin wir gehen, uns erwarten nur Tod oder Sklaverei.“
    „So darfst du nicht reden.“ Noch einmal riss Grogosh an ihrem Ärmel, und aus irgendeinem Grund setzte Morrok sich tatsächlich in Bewegung.
    Nein, so durfte sie wirklich nicht reden. Denn es war schon ohne diese Worte schwer genug, nicht selbst zu resignieren. Vater war tot. Olesch war tot. Der Stamm war auseinandergebrochen. Die einzelnen Marschâng-Klans hatten sich in alle Winde zerstreut und jeder von ihnen kämpfte nur noch für sich selbst. Viele ihrer Vasallen hatten sich losgesagt oder gar gegen sie gewendet. Viele ihrer Verbündeten waren davongezogen und hatten die Äxte niedergelegt. Ihre Feinde und sogar einige ihrer ehemaligen Verbündeten machten Jagd auf sie, plünderten, raubten, versklavten. Als Temugush vom Ûng-Girâd-Stamm zurückgekehrt war, hatten sie sich an die verzweifelte Hoffnung geklammert, er würde sie beschützen, irgendwie alles richten. Doch nun war er ein Sklave. Genau wie Umbrash. Tempuk war tot. Mutter und Grogon hatten sie verschleppt...
    Nein. Grogosh verdrängte diese Gedanken. Sie durfte nicht verzweifeln. Sie war nun alles, was Morrok noch hatte. Sie war die ältere. Sie musste stark sein. Und sie würde stark sein. Sie war Yurugars Tochter!
    Es fiel schwer, stark zu bleiben, als das verwüstete Marschâng in Sicht kam. Die Vergängliche Stadt war klein. Die meisten der wandernden Klans waren dort draußen, in der Steppe. Doch die wenigen Zelte, die um die Ewige Stadt gestanden hatten, waren niedergerissen. Ein totes Mammut lag am Rand der Zeltstadt, umringt von einigen Wargen, die sich irgendwie von ihren Ketten befreit hatten und sich nun an dem Kadaver gütlich taten. Es waren Marschângs eigenen Warge, aber dennoch hielten sie sich lieber von den herrenlosen Tieren fern, als sie sich auf die Ewige Stadt zubewegten. Hie und da lagen andere Leichen im Gras. Manche waren von Äxten gefällt, andere mit Bolzen gespickt worden. Einige hatten sich in den einstürzenden Zelten verfangen.
    Der wirkliche Schock kam, als sie die Ewige Stadt sahen. Die Hütten und Katen in Ruinen. Die Grasbehausungen niedergetrampelt, die hölzernen Wände verkohlt und abgebrannt. Das Feuer, dessen Rauch sie von fern gesehen hatten, war mittlerweile größtenteils gelöscht worden. Nur drei Hütten standen noch in Flammen. Die verbliebenen Bewohner der Stadt waren dabei, sie mit Wasser aus dem Fluss zu löschen. Andere liefen umher und räumten die Leichen beiseite. Und wieder andere hatten sich klagend über die toten Körper ihrer Verwandten und Freunde gebeugt. Was immer sie taten, sie alle schienen zu beschäftigt mit den Folgen des Angriffs, um die beiden Mädchen zu bemerken, die langsam auf den Versammlungsplatz zuschritten.
    „Grogosh? Morrok? Ist das denn möglich?“
    Sie fuhren herum. „Antok!“, riefen sie wie aus einem Munde aus und fielen der alten Frau um den Hals. Wie gut tat es, jemanden wiederzusehen, der noch nicht tot oder versklavt war.
    Antok hatte sich in den vergangen Jahren kein bisschen verändert. Noch immer war sie klein und gebeugt, noch immer war ihr Gesicht runzlig wie die Rinde eines alten Baumes. Noch immer ruhte eine Kette von Bernsteinen auf ihrem Busen, die sie als eine der Ältesten des Stammes auswies.
    Antok drückte die beiden Mädchen fest an sich. „Es ist gut, zu sehen, dass ihr unversehrt seid, Kinder. Als wir hörten, wie sich die Klans zerstreut hatten, befürchtete ich das Schlimmste. Was ist mit euch geschehen?“
    „Sie haben uns alle allein gelassen“, klagte Grogosh. „Mutter hat sie angefleht, zu bleiben. Sie hat den Kriegern vorgeschlagen, auf Temugush zu warten und ihn zum neuen Kriegsherrn zu wählen. Sie hat ihn gesagt, dass er stark ist und ehrenvoll wie Vater. Aber sie sagten, er ist nur ein Junge, nichts weiter. Und sie... sie hatten Recht.“
    „Sag so etwas nicht.“ Noch einmal nahm Antok sie in den Arm. „Er war bei den Ûng-Girâd. Aber ich bin sicher, er hätte getan, was er konnte.“
    „Das hat er“, pflichtete Morrok tonlos bei. „Aber es war nicht genug. Sie haben uns gejagt. Wohin wir auch gezogen sind. Wir sind nach Westen gegangen, weg von Vargôr oder Kalprêk. Aber wann immer wir anderen Orks begegnet sind, haben sie versucht, uns zu versklaven. Eine Handvoll Orks ohne Klan, wir waren Freiwild... Sie haben Temugush versklavt“, fügte sie hinzu. „Und dann hatten wir gar keinen mehr, um uns zu beschützen.“
    „Aber ihr seid hier.“ Antok lächelte aufmunternd. „Ihr habt wahre Stärke gezeigt.“
    „Wir sind hier, aber hier ist es ebenso wenig sicher wie dort draußen.“ Morrok fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, um die Tränen beiseite zu mischen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten. Sie hatte etwas Flaum am Kinn, auf den sie stets so unheimlich stolz gewesen war und der sie gewöhnlich älter erscheinen ließ. Doch in diesem Moment sah sie wie das kleine hilflose Mädchen aus, das sie im Grunde noch immer war.
    Selbst Antok schien für den Moment keine Antwort zu haben. Also fragte Grogosh, die sich wieder von ihr gelöst hatte: „Was ist hier passiert? Wer hat Marschâng angegriffen?“
    Die Älteste seufzte tief. „Wer hat Marschâng nicht angegriffen, solltest du fragen. Einer nach dem anderen haben sie uns überfallen. Vorbôsh, Zapôr, Fangmâk, Templûg. Mit jedem Überfall wurden mehr Krieger getötet, mehr Frauen geraubt und mehr Kinder versklavt. Und jetzt sammelt sich Vargôr am anderen Flussufer. Dieses Feuer, das war ihre Vorhut. Aber wenn ihr Hauptheer erst einmal den Bunlar überquert hat, werden wir ihnen nichts entgegensetzen können.“
    „Ist das denn alles, was vom Stamm geblieben ist?“ Verzweifelt blickte Grogosh sich um. Wie viele Orks mochten noch in der Stadt sein? Ein- oder zweihundert? Sie sah einige, die noch Äxte und Schwerter hielten, aber es waren vornehmlich Halbwüchsige oder alte Männer, die noch einmal zur Waffe gegriffen hatten.
    „Nein, so schnell stirbt ein so großer Stamm wie der unsere nicht. Aber nur die Marschâng-Gul und die Marschâng-Zor sind noch hier. Alle anderen Klans sind dort draußen in der Steppe. Und viele kämpfen ihre eigenen Kämpfe. Unsere ehemaligen Vasallen und Verbündeten haben sich gegen uns gewandt. Wenn die Klans wieder zusammenkämen, könnte die Stadt den Überfällen durch Vorbôsh oder Templûg standhalten. Aber dem gesamten Vargôr-Heer? Nicht nach allem, was geschehen ist. Und nicht ohne Kriegsherr.“ Antok ließ den Blick zu den letzten brennenden Hütten schweifen, die mittlerweile ebenfalls gelöscht waren. „Aber das ist gleichgültig. Die Klans wären ohnehin nicht rechtzeitig hier. Also werden wir stattdessen abziehen. Der Ältestenrat hat beschlossen, dass es so das Beste ist.“
    „Abziehen? Fliehen, meinst du? Und Marschâng aufgeben?“ Grogosh starrte die alte Orkin entgeistert an. „Das kann nicht dein Ernst sein!“
    „Es war keine leichte Entscheidung, Kind. Glaub mir das. Aber entweder das oder die Sklaverei. Vielleicht können wir unser Land eines Tages zurückerobern. Aber jetzt müsst ihr mit uns gehen, wenn ihr nicht als Frauen irgendeines Vargôr-Kriegers enden wollt.“
    Mutter und Grogon waren verschleppt und sicherlich von irgendwelchen fremden Kriegern irgendeines fremden Stammes zu deren Frauen gemacht worden. Grogosh und Morrok war es ebenso ergangen. Zwei wilde junge Kerle aus dem Bantôr-Stamm hatten Anspruch auf sie erhoben. Derjenige, der Grogosh geraubt hatte, hatte sogar einen seiner Stammesbrüder getötet, der ebenfalls ein Auge auf sie geworfen gehabt hatte. Ein Mann, der stark genug war, eine Frau, sei sie aus seinem Stamm oder einem anderen, in seine Gewalt zu bringen, hatte das Recht, sie zu seinem Weib zu nehmen. Aber die beiden jungen Krieger hatten wohl das alte Sprichwort vergessen, das ein jeder Ork kannte:
    Du kannst eine Frau besitzen oder ein Messer. Noch in der ersten Nacht hatte Grogosh ihren Bräutigam erstochen. Sie war in das Zelt des anderen Kriegers geschlichen, hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, Morrok aus seinem Lager gerissen und war mit ihr geflohen.
    Nein, sie würde sich nicht noch einmal von irgendeinem fremden Krieger rauben lassen. Und sie würde auch nicht zulassen, dass dieses Schicksal Morrok noch einmal widerfuhr. Aber fliehen? Das war feige und ehrlos. Eines großen und stolzen Stammes wie Marschâng nicht würdig. Und wie konnten sie sich Bor Mar-Shangs Kinder nennen, wenn sie seinen heiligen Wohnsitz einfach seinen Feinden überließen?
    Es musste einen dritten Weg geben.
    Es war Abend, die vier verbliebenen Mammute der Stadt waren so schwer bepackt, wie es nur ging, ohne die Tiere unter der Last zusammenbrechen zu lassen, die letzten Habseligkeiten wurden zusammengesucht, als Grogosh endlich eine Entscheidung traf. Sie wusste, was zu tun war.
    Sie sagte niemandem etwas davon. Einige waren sicherlich auch jetzt noch zu stolz, das Knie zu beugen, und würden ihren Feinden nicht auch noch die Genugtuung geben wollen, um ihr Leben gebettelt zu haben. Andere würden es schlichtweg für aussichtslos halten und fragen, warum um alles in der Welt ihnen Vargôr Frieden geben sollte. Und die Ältesten... Sie mochten die vernünftigsten sein. Und sie mochten das Schicksal des Stammes höher schätzen als seinen Stolz. Aber sie hielten die Traditionen und Gesetze über alles. Und diese besagten, dass nur der Kriegsherr um Frieden ersuchen durfte – zumindest solange sich der Stamm noch im Krieg befand. Und keine Versammlung hatte den Krieg für beendet erklärt. Freilich hatte auch keine Versammlung einen neuen Kriegsherrn gewählt, der von allen Klans des Stammes anerkannt wurde. Den Gesetzen zu folgen, hieß in diesem Falle also, sich selbst zur Untätigkeit zu verdammen.
    Irgendjemand hatte Vaters Zelt nach Marschâng zurückgebracht. Der Ältestenrat hatte es am Rande der Ewigen Stadt aufstellen lassen, als Mahnung und als Zeichen, dass Marschâng sich noch immer im Krieg befand und eines neuen Kriegsherrn harrte. Doch dieser Kriegsherr war nicht gewählt worden und so hatte das Zelt leer gestanden. Und nun war es bei dem letzten Angriff niedergerissen worden.
    Grogosh schritt vorbei an der Standarte, die man umgeworfen hatte. Das rote Banner war in den Schlamm getreten worden, der Entenschädel lag geborsten daneben. Das Zelt selbst war eingestürzt. Sie musste die schwere, aus Tierhäuten zusammengenähte Plane hochheben und darunter kriechen. Dann tastete sie hilflos in dem eingestürzten Zelt umher. Ihre Hände fanden eine der Stangen, die die Plane gehalten hatten, das Horn eines Schwarzen Trolls, ein Krush Pach – zu ihrem Unglück mit einer gut geschärften Klinge –, ein Schattenläuferfell und dann, als sie bereits verzweifeln wollte, endlich, endlich! ein Schwert mit völlig stumpfer Schneide. Ein Kriegsherr musste stets mindestens neun von ihnen in seinem Zelt aufbewahren, sodass er jederzeit mit Feinden Frieden schließen konnte. Trotzdem konnte sie kaum fassen, dass sie tatsächlich eines gefunden hatte. Sollte der Große Geist ihre Gebete erhört haben und endlich, zum ersten Mal seit Vaters Tod, gnädig auf sie herablächeln? Sie fuhr mit dem Daumen über die Klinge. Stumpf. Tatsächlich stumpf.
    Nun verlor sie keine Zeit mehr. Sie strampelte sich aus dem Zelt heraus, rannte durch die Ewige Stadt bis zum Ufer des Bunlar und hielt erst dort inne, um sich gehetzt nach allen Seite umzuschauen. Der Hafen mit seinen vielen Stegen war weitgehend zerstört. Vorbei die Zeit, als Marschâng noch der Knotenpunkt für den Handel zwischen der Küste und den großen Wäldern gewesen war. Aber eine kleine Anzahl Nachen war noch nicht zerstört worden. Grogosh sprang in den nächstbesten und paddelte auf die andere Seite, so schnell sie konnte. An den Fischer, dem der Nachen gehörte, verschwendete sie keinen Gedanken. Er war entweder tot oder bereitete sich gerade auf die Flucht vor.
    Es war die dunkle Stunde vor dem Morgengrauen, als sie von mehreren Vargôr-Kriegern in das Zelt ihres Kriegsherrn geführt wurde. Das geräumige Zelt wirkte klein und eng, so dicht drängten sich die Feldherren der einzelnen Vargôr-Klans und eine Schar von Elitekriegern hier beieinander. Doch sie alle traten beiseite, als Grogosh hineingeführt wurde, beide Hände um den Griff des stumpfen Schwertes gelegt. Sie versuchte die Krieger hinter ihr und die vielen Feinde, zwischen denen sie hindurchschreiten musste, auszublenden. Auszublenden, dass sie mitten in die Höhle des Schattenläufers gelaufen war. Sie durfte sich jetzt keine Schwäche anmerken lassen. Sie war nun nicht einfach Grogosh, sie war Marschâng. Sie musste ihnen zeigen, dass ihr Stamm vielleicht geschlagen aber nicht gebrochen war. Also trug sie das Haupt hoch erhoben, zwang alle Emotionen aus ihrem Gesicht und setzte den stolzesten Blick auf, zu dem sie imstande war.
    Das war, wie sie vor Varek den Großen trat.
    Der Kriegsherr von Vargôr saß auf einem aus Granit gemeißelten Thron. Zwei Wolfsköpfe zierten die Armlehnen und wurden von seinen Klauen umschmeichelt. „Was hat das zu bedeuten?“, bellte er.
    „Dieses Marschâng-Mädchen sagt, sie kommt, um Frieden zu schließen“, erklärte einer der Männer, die sie hereingeführt hatten.
    „So?“ Varek erhob sich und trat auf sie zu. Sein Gang war sicher und stolz, wie es sich für einen Krieger geziemte. Er trug eine schwarze Lederrüstung am Leib. Einzig der blaue Umhang, der von seinen Schultern hing, unterschied ihn von seinen Untergebenen und wies ihn als Kriegsherrn von Vargôr aus. Als er vor ihr stehen blieb, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu schauen. Er war hochgewachsen und von kräftiger Statur. Abermals musste sie sich innerlich ermahnen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Mit einer Beiläufigkeit als nähme er einem Kind das Spielzeug weg, entriss er ihr das stumpfe Schwert. Er hielt es in die Höhe und inspizierte es. Grimmige Falten durchfurchten seine hohe Stirn. Von seinem Hinterkopf hing ein Gewirr schmaler Zöpfe, wie es Brauch bei den Vargôr war. „Frieden wollt ihr also.“ Er ließ das Schwert sinken, sodass die Spitze den Boden berührte. „Und wer bist du, dass du Frieden von mir forderst?“
    „Ich bin Grogosh ak Marschâng.“
    „Mit anderen Worten: Du bist niemand.“ Varek ließ das Schwert zu Boden plumpsen, drehte sich herum und marschierte zu seinem Thron zurück. „Für diese Beleidigung werden wir euch erst recht mit Krieg überziehen.“ Er setzte sich wieder. „Ein Kriegsherr. Ein Häuptling. Schamanen. Der Ältestenrat. – Aber ein rotznäsiges Mädchen, das wahrscheinlich noch kein einziges Kind geboren hat... Ist Marschâng so tief gesunken? Oder sind so wenige von euch übrig?“

    Du darfst dir keine Schwäche anmerken lassen. Keine Verzweiflung zeigen. Grogosh bückte sich langsam, mit so viel Ruhe wie sie nur aufbringen konnte. Als sie nach dem Griff des am Boden liegenden Schwerts griff, musste sie ihre Hand vom Zittern abhalten. Aber es gelang ihr und langsam richtete sie sich wieder auf. „Ich bin Grogosh ak Marschâng“, wiederholte sie. „Tochter von Yurugar ak Marschâng, dem großen Kriegsfürsten.“
    „Dem toten Kriegsfürsten.“ Varek beugte sich leicht nach vorne und sah sie durchdringend an. „Und weißt du, wer für seinen Tod verantwortlich ist? Ich. Ich habe die Frauen meines Stammes dazu getrieben, uns in den Krieg ziehen zu lassen. Und ich führte den Angriff auf die Spitze eures Zuges, der deinen Vater tötete.“ Er lehnte sich wieder zurück und lachte freudlos. „Und nun bittest du den Mörder deines Vaters um Frieden, anstatt dich hier und jetzt auf ihn zu stürzen.“ Und an seine versammelten Krieger gewannt rief er aus: „Seht, wie schwach Marschâng ist!“
    Nun zitterte Grogosh wirklich. Vor Wut. Und wäre das Schwert in ihren Händen nicht stumpf gewesen, vielleicht hätte sie sich wirklich auf Varek gestürzt. Stattdessen zwang sie sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen: „Du nennst es Stärke, beim Versuch, einen Toten zu rächen, in den sicheren Tod zu gehen, und dabei die Lebenden allein zurückzulassen. Ich dagegen nenne es Stärke, meinen Zorn zu bändigen, auf meine Rache zu verzichten und zum Wohle meines Stammes zu handeln.“
    Einige der Umstehenden lachten, zwei oder drei grölten Beifall und selbst Varek schmunzelte. „Gut gesprochen, kleines Mädchen. Aber nichtsdestotrotz, warum sollte ich einem Feind Frieden schenken, der bereits am Boden liegt? Ihr habt uns kein stumpfes Schwert gebracht, als ihr noch stark und unbezwungen wart. Ich bin mir sicher, du konntest einen guten Blick auf unser Lager werfen, als du hierher geführt wurdest. Du hast mein Heer gesehen. Wer glaubst du, wird obsiegen, wenn wir über euch kommen?“
    „Vargôr“, antwortete sie schlicht.
    „Dann sage mir, weshalb Vargôr auf diesen sicheren Sieg verzichten sollte? Sage mir, warum ich dein stumpfes Schwert nicht einfach in den Bunlar werfen und dich dem erstbesten meiner Krieger geben sollte, der Anspruch auf dich erhebt?“
    „Weil auch ein sicherer Sieg verlustreich sein kann. Weil auch der Feind am Boden noch Gegenwehr leistet. Ja, wenn ihr über den Fluss kommt und Marschâng stürmt, werdet ihr gewinnen. Aber wir werden uns nicht kampflos ergeben und einige von euch werden fallen. Viele Marschâng-Klans sind noch dort draußen. Ihr werdet sie einen nach dem anderen schlagen müssen. Das wird euch gelingen. Aber mit jedem Sieg werdet ihr ein Stück schwächer werden.“ Grogosh beschrieb mit ihrem Schwert einen Bogen und zwang so die umstehenden Krieger, noch einige Schritte zurückzutreten. Sie drehte sich einmal um sich selbst und schaute ihnen allen dabei in die Gesichter. „Du willst mich mit eurer angeblichen Macht einschüchtern, Varek, aber so groß wie du mich glauben machen willst, ist sie nicht. Du vergisst, wessen Tochter ich bin. Ich weiß, wie ein großes Heer aussieht.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf den Kriegsherrn. „Du hast uns nicht umsonst am Fluss aufgelauert. Vargôr ist groß, aber nicht so groß, wie Marschâng selbst jetzt noch ist. Nicht so groß wie Kalprêk, Dunmârr oder Ûng-Girâd. Und Marschâng ist nicht euer einziger Feind. Ja, ihr könnt uns vernichten und versklaven. Aber was habt ihr davon, wenn Kalprêk danach dasselbe mit euch tut? Ist es da nicht besser, die Unterwerfung dieses einen Feindes zu akzeptieren, um sich ganz auf die übrigen konzentrieren zu können?“ Sie machte einige Schritte auf Varek zu, trat so nah an seinen Thron heran, wie sie es wagte, und hob das Schwert, um mit seiner Spitze auf die Brust des Kriegsherrn zu zeigen.
    Dieser legte eine Hand um die stumpfe Klinge. „Was also ist das Angebot, das du mir machst?“, fragte er langsam.
    „Drei Monde Waffenstillstand. Drei Monde, in denen ich die anderen Marschâng-Klans aufsuchen und sie um Frieden ersuchen werde. Wenn die Frist verstreicht, ohne dass wir Frieden schließen, magst du den Bunlar überschreiten und uns angreifen. Wenn aber die Klans zustimmen und gemeinsam einen neuen Häuptling für den Frieden wählen, dann wirst du mit ihr einen dauerhaften Frieden schließen. Und wir werden für diesen Frieden zahlen. Wir werden Vargôr regelmäßigen Tribut entrichten und niemand wird sagen können, du wärest vor dem Kampf davongelaufen oder hättest uns nicht unterworfen.“
    Einige Momente herrschte Stille in dem Zelt. Einige Momente sah Varek sie an, seine Miene völlig unbewegt, keinen seiner Gedanken preisgebend. Einige Momente zwang sie sich mit aller Kraft, diesem Blick standzuhalten.
    Dann wurde sein Griff um die Klinge fester und er zog sie ihr aus der Hand. „Zwei Monde.“

    „Dafür dass ich uns vor dem Untergang bewahrt, dass ich Frieden geschlossen und die Klans wieder zusammengeführt habe, haben sie mich zu ihrem Häuptling gewählt.“
    „Ist Morrok zu den Schamanen gegangen, wegen all dem, was passiert ist?“
    „Ja. Ihr wart alle fort. Tot oder versklavt. Ich war Häuptling. Aber für sie gab es hier nichts mehr. Sicher, sie hätte das Weib irgendeines Kriegers werden und ihm viele Kinder gebären können. Aber stattdessen nahm sie Abschied von mir und wurde eine Tochter des Großen Geistes.“ Grogosh hob das stumpfe Schwert vor sein Gesicht. „Und nun als Vargôr Frieden schließen wollte, hat sie sich freiwillig gemeldet, die Botschaft zu überbringen. Und sie hat aus allen stumpfen Schwertern des Stammes dieses ausgewählt. Sie wollte mich erinnern, Temugush. An alles, was damals geschehen ist. Was wir durchgemacht haben. Das Leid, das wir wegen des letzten Krieges erdulden mussten. Damit wir nicht noch einmal denselben Fehler begehen. Aber dafür war es längst zu spät, habe ich Recht?“
    „Kriegsherr.“
    Die beiden Geschwister blickten auf. Eine Gruppe von Kriegern hatte die Halle betreten und marschierte auf sie zu. An der Spitze ging Koraz. Dahinter kamen die Feldherren der einzelnen Klans, Grambak und seine beiden ältesten Söhne, Borshak, Kor-Shach und einige Veteranen, die schon unter ihrem Vater gekämpft hatten. Sie alle hatten ihr Haar zu einem einzelnen kurzen Zopf zusammengebunden, wie es Brauch war bei den Kriegern Marschângs.
    „Ich habe deinen Kriegsrat versammelt“, verkündete Koraz. „Wir sind alle bereit, den Angriff auf Vargôr mit dir zu planen.“
    Temugush erhob sich. „Wir greifen Vargôr nicht an“, sagte er und überraschte damit seinen Kriegsrat und seine Schwester gleichermaßen. Nun ließ er sich doch auf seinem Thron nieder. „Wir ziehen gegen den Sorûck-Stamm.“
    Geändert von Jünger des Xardas (01.09.2014 um 16:45 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    4. Vorgabe:
    Mithilfe von Gegenstand A versucht Person B nun Person A zur Rede zu stellen. Als nun neben Person C auch noch Person D auftaucht spitzt sich die Lage zu.


    Das gedämpfte Trommeln wurde langsam lauter.
    Gut. So werden sie uns nicht kommen hören.
    Temugush warf einen Blick nach links. Folleck und Borshak schlichen dort durchs Unterholz, dunkle Lederpanzer am Leib. Auf seiner anderen Seite gingen Koraz und Imbrok, den alle Kleinimbrok nannten, nicht weil er so klein gewesen wäre, sondern um ihn von Imbrok Trollfäller zu unterscheiden. Gemeinsam schritten sie über den Boden des Waldes, der jenes trockene graubraun angenommen hatte, das gefrorener Erde eigen ist.
    Temugush hätte natürlich mehr Krieger mit sich nehmen können. Er hätte an der Spitze seines gesamten Heeres kommen können. Doch dann wäre er nur ein gemeiner Dieb gewesen. Dann hätten sie ihn einen ehrlosen Feigling gerufen. Und das war genau das Gegenteil dessen, was er zu erreichen gedachte.
    Mit einer Handbewegung gebot er seinen Gefährten, stehenzubleiben, als das vor einer halben Stunde noch leise Trommeln zu einem lauten Donnern angeschwollen war. Die Lichtung vor ihnen war zugeschneit; im Gegensatz zum Waldboden, der trotz der fehlenden Blätter noch immer von den Bäumen beschirmt wurde. Doch die mehreren hundert Orks, die dort feierten, hatten das Weiß in schlammiges Braun verwandelt.
    Geduldig studierte er die Lage. Da war ein großes Feuer, um das herum getanzt wurde und dessen Flammen mehrere Meter in den Himmel schossen. Wollnashörner brieten über kleineren Feuern. Ûng-Girâd und Sorûck hatten sich vermischt. Beide Gruppen waren ineinander aufgegangen, und man hätte sie für einen einzigen Stamm halten mögen, hätten sie sich nicht durch ihre Gewänder und ihre Haartrachten noch immer voneinander abgehoben. Rings um die Lichtung waren Trommeln aufgestellt worden, doch die größte von ihnen, ein massives, mit einer Trollhaut bespanntes Ungetüm, stand vor dem großen Feuer. Ein Schamane trommelte ekstatisch mit bloßen Händen auf ihr herum, während ein anderer Schamane und eine Schamanin nicht minder ekstatisch davor tanzten; das Vorspiel zum Ritual der Vereinigung.
    Sein Blick fand das Brautpaar. Sie saßen gemeinsam auf einem Schattenläuferfell unter einem Mammutbaum am Rande der Lichtung, nackt wie am Tag ihrer Geburt, das Haar offen.
    Temugush blickte Folleck und Koraz an und deutete zur anderen Seite der Lichtung. Die beiden Krieger nickten. Borshak und Kleinimbrock folgten ihm, als er in entgegengesetzter Richtung durch die Bäume schlich. Die Position des Brautpaares war ideal. Der mächtige Stamm des Mammutbaums würde ihnen Deckung geben. Und das Brautpaar saß gleich auf der anderen Seite, keine anderen Orks und vor allem keine Krieger zwischen ihnen. Das machte die Sache einfacher, als wenn sie sich in der Mitte der Lichtung und all der anderen Feiernden befunden hätten.
    Als sie den Mammutbaum erreicht hatten, pressten sie sich gemeinsam an seine Rinde. Das rhythmische, schnelle Trommeln auf der anderen Seite des Stamms dröhnte umso lauter an sein Ohr. Er sammelte sich, und für einige Augenblicke schaute er seinem eigenen Atem zu, der in Wölkchen vor seinem Gesicht aufstieg. Ein kurzer Moment des Verschnaufens, dann würde es losgehen. Es würde schnell gehen müssen. Einen Kampf gegen eine solche Überzahl konnten sie nicht gewinnen. Aber sie konnten die Feiernden überraschen. Sie erwarteten keinen Überfall, sie hatten keine Wachen aufgestellt, viele von ihnen würden bereits betrunken sein. Und glücklicherweise wollten es die Traditionen des Sorûck-Stammes, dass Hochzeiten in dem dem Stamm heiligen Wald gefeiert wurden. Die Waldleute gehörten zu den sesshaften Stämmen, und Bordo aus einem ihrer befestigten Dörfer zu rauben, wäre um vieles komplizierter geworden, als was er jetzt vorhatte. Am Ende hätte er doch seine Armee gegen die hölzernen Palisaden anstürmen lassen müssen. Und das hätte ihm das Gegenteil von dem eingebracht, was er sich erhoffte.
    Temugush löste sich von der Rinde und sprintete um den Baum herum. Seine beiden Begleiter preschten in die andere Richtung. Im nächsten Moment war er auf der Lichtung und spürte den Schnee unter seinen Füßen. Und da war sie. Er packte die Braut am Arm und riss sie in die Höhe. Der Bräutigam wollte aufspringen, doch Imbrok und Borshak hatten sich von der anderen Seite auf ihn gestürzt und hielten ihm ihre Schwerter an die Kehle.
    Plötzlich erklangen laute Rufe vom anderen Ende der Lichtung. Koraz und Folleck mussten aus dem Gestrüpp gebrochen sein. Und wie geplant, lenkten sie die Aufmerksamkeit der meisten Feierenden auf sich. Nur die unmittelbar Umstehenden starrten ihn fassungslos an, während er die Braut von ihrem Bräutigam wegzerrte. Die Trommler hatten aufgehört zu trommeln, die Tänzer hatten aufgehört, zu tanzen, selbst die beiden Schamanen hatten sich voneinander gelöst.
    Für einen kurzen Moment starrte er in die Gesichter des Bräutigams, der drei Schamanen, der Sorûck und Ûng-Girâd um ihn herum, und die ganze Welt schien wie angehalten. Dann hob er seine Stimme und donnerte: „ICH BIN TEMUGUSH AK MARSCHÂNG, UND ICH KOMME, ZU HOLEN, WAS MEIN IST!“. Gleichzeitig riss er noch einmal am Arm der Braut, kräftiger, und das schien sie aus der überraschten Starre zu reißen, in der sie bis eben gesteckt hatte. Und dann geschah, was er vielleicht dunkel erhofft, aber worauf er nicht gesetzt hatte: Sie rannte mit ihm zum Waldrand. Die ersten paar Meter zog er sie noch halb hinter sich her, dann aber überholte sie ihn gar und es war beinahe, als zöge sie ihn.
    Sie hasteten durch die Bäume. Hinter sich hörte Temugush schnelle Schritte. Kleinimbrok und Borshak mussten direkt an seinen Fersen kleben. Zumindest glaubte er das, bis ein Krush Varok ihn knapp verfehlte. Temugush wirbelte so heftig herum, dass Bordo, deren Klaue er noch immer umklammert hielt, strauchelte und fast von den Füßen gerissen worden wäre. Seine freie Klaue, um den Griff seiner Axt geschlossen, schoss in die Höhe. Die beiden Klingen trafen einander. Er spürte die Wucht des gegnerischen Hiebs bis in seinen Arm hinein vibrieren. Doch er blockte. Und als der andere Ork – ob Sorûck oder Ûng-Girâd konnte Temugush in dem kurzen Augenblick, den ihr Kampf dauerte, nicht erkennen – zu einem Schlag nach seiner ungedeckten Seite ausholte, rammte Temugush ihm das Axtblatt in die Hüfte. Der fremde Krieger stürzte zu Boden. Vielleicht war die Wunde tief genug, um ihn zu töten, vielleicht würde er leben. Temugush verschwendete keinen zweiten Blick an ihn. Er hätte den nun schutzlosen Feind umbringen können, aber das hätte ihn wertvolle Sekunden gekostet. Stattdessen riss er Bordo wieder mit sich. Sein Gegner war zu schwer verletzt, um sich noch auf den Beinen zu halten und ihnen zu folgen, nur das zählte.
    Ein weiterer Ork brach auf Bordos Seite aus dem Gebüsch. Diesmal riss Temugush sie tatsächlich von den Füßen, um freie Bahn zu schaffen. Seine Klinge und die seines Feindes trafen sich über ihrem Kopf. Sein Gegner – dieser hier war eindeutig ein Sorûck, wie die in sein Haar geflochtenen Zweige verrieten – holte sofort zu einem weiteren Schlag aus. Und zu einem dritten. Temugush musste seine Beute loslassen und die zweite Klaue zur Hilfe nehmen, um die Attacken seines Gegners zu blocken. Er führte seinerseits einen Hieb aus, doch der Sorûck-Krieger parierte den Schlag – nur um im nächsten Moment Imbroks Schwert in die Seite getrieben zu bekommen. Und da war auch Borshak, der ebenfalls wieder zu ihm aufgeschlossen hatte.
    Temugush wirbelte herum. Bordo lag nicht mehr am Boden. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, sie wäre ihm entkommen. Dann entdeckte er sie einige Meter weiter, wo sie auf ihn wartete. Sie war wieder auf die Beine gesprungen und vorausgerannt und nun winkte sie ihm zu, trieb ihn mit Blick und Gesten zur Eile an. Er setzte sich wieder in Bewegung. Augenblicklich rannte auch sie los. Dieses Mal war er es, der zu ihr aufholte. Doch er griff nicht mehr nach ihr. Es würde nicht nötig sein, ihre Klaue abermals zu packen, da war er sich jetzt sicher.
    Sie hasteten weiter durch den Wald. Zweige peitschten gegen seine Brust und gegen den Arm, den er sich schützend vors Gesicht hielt. Er hielt nicht an, sondern brach einfach durch sie hindurch. Sie rannten einen Hang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab. Und dann sahen sie es weiß zwischen den Stämmen vor ihnen hervorblitzen: Ein Bach, zugefroren und mit einer dicken Schneedecke auf dem Eis. Die erste Etappe war geschafft. Aber Temugush gönnte sich und seinen Gefährten keine Pause. Sofort bogen sie ab und rannten weiter entlang des Ufers.
    Der Bunlar war der größte Fluss diesseits des großen Gletschers. Er teilte das Land in zwei Teile, von der Küste im Osten bis zu den Wäldern im Westen. Temugush hatte auch heute noch das geschäftige Treiben vor Augen, das stets an den Stegen Marschângs geherrscht hatte. Damals waren dort regelmäßig Flößer aus dem Sorûck-Stamm eingetroffen, die Gesichter hinter ihren Holzmasken verborgen, und hatten Baumstämme und Bretter gebracht, die sie gegen Felle, Eisen, Fisch oder Bernstein eingetauscht hatten. Und sie alle waren von den kleineren Strömen gekommen, an denen ihre Dörfer standen und die sich am Rand der Steppe zum Bunlar vereinigten. Jeder Fluss und jeder Bach in diesem Wald mündete irgendwann in diesen einen Strom. Die Jäger des Sorûck-Stammes mochten diese Gegend kennen wie sonst niemand, aber mit diesem Bach als Wegweiser würden auch sie sich nicht verlaufen.
    Unter anderen Umständen wäre es vielleicht klüger gewesen, nicht den offensichtlichsten Weg zu wählen, sondern ein Stück stromaufwärts zu laufen oder den Bach zu passieren und wenigstens bis zum nächsten weiter durch den Wald zu rennen. Aber Temugush hatte die Gefahr wohl kalkuliert. Sie hatten eine Hochzeit überfallen, keinen Kriegszug. Die meisten Anwesenden waren gar nicht oder nur leicht bewaffnet, viele von ihnen waren zu betrunken, um sie länger zu verfolgen und eine echte Gefahr darzustellen, und es waren keine Warge auf der Lichtung gewesen.
    Dort wo der Bach sich mit einem zweiten, von Norden kommenden, vereinigte, warteten Koraz und Folleck. Koraz‘ rechter Arm war blutbedeckt von oberhalb des Ellenbogens bis hinab zu seiner Hand, aber er winkte nur ab, als Temugush ihn fragte, wie es ihm gehe. „Nur ein Kratzer.“ Dann begann er, Folleck in höchsten Tönen zu loben, der zwei Feinde erschlagen und einen dritten verwundet hatte. Dem jungen Krieger gefiel es sichtlich, so gepriesen zu werden. Temugush stellte zufrieden fest, dass er sich in Follecks Fähigkeiten nicht geirrt hatte, nahm sich aber auch vor, ein Auge darauf zu haben, dass ihm der Ruhm nicht zu Kopf stieg.
    Temugush gönnte weder sich noch seinen Gefährten eine Pause. Stattdessen setzten sie ihren Weg entlang des nun breiteren Flusses fort. Immerhin gestattete er ihnen nun ein langsameres Tempo, da sie der unmittelbaren Gefahr entkommen waren. Es war am nächsten Nachmittag, dass sie endlich den Waldrand erreichten und von einige ihrer Späher entdeckt wurden. Von da war es noch eine halbe Meile.
    Temugush hatte den Ort für sein Heerlager sorgfältig gewählt. Der Fluss machte hier eine sanfte Biegung, sodass er nicht nur einer, sondern zwei ihrer Flanken Schutz bot. Die Zelte waren am Nordufer aufgeschlagen worden, was den Fluss zur natürlichen Verteidigungslinie zwischen ihnen und den Sorûck machte, sollten diese nun mit einem Heer von Süden anrücken. Auf den zwei zur Ebene hin offenen Seiten des Lagers hatten sie angespitzte Stämme in den Boden gerammt, und umgestürzte Wagen fungierten als provisorische Palisaden.
    Temugush ergriff Bordos Klaue wieder, als sie sich dem Heerlager näherten. Sie ließ es zu, als seine Beute heimgeführt zu werden, aber nichtsdestotrotz hielt sie ihr Haupt stolz erhoben und gab sich in ihrer Haltung stark und ungebrochen. Überall drehten sich die Blicke nach ihnen um. Die Frauen und Kinder jubelten ihm zu. Die Krieger schlugen sich die Fäuste auf die Brust, streckten sie ihm entgegen und skandierten: „Ehre und Stärke!“ „Ehre und Stärke!“, klang es von allen Seiten, „Ehre und Stärke!“ Und dann: „Temugush!“ „Kriegsherr Temugush!“, rief irgendjemand. Und ein anderer donnerte: „Temugush der Tollkühne!“ Andere nahmen den Ruf auf und wiederholten ihn. „Temugush! Temugush! Temugush der Tollkühne!“ Und bald schien er sich wie eine Welle über das ganze Lager auszubreiten, und immer mehr Stimmen – Krieger, Weiber, Kinder; Marschâng aller Klans, Vasallenstämme – schrien: „Temugush! Temugush! KRIEGSHERR TEMUGUSH DER TOLLKÜHNE!“

    Grogosh saß auf einem Bisonfell im Kriegsherrnzelt. „Der Tollkühne, hm?“, fragte sie, als er eintrat.
    „Der bin ich jetzt wohl. Temugush der Tollkühne...“ Er sprach den Namen aus, wie um sich an seinen Klang zu gewöhnen.
    „Ich hoffe, der Name gefällt dir. Es sind die Tollkühnen, die jung sterben.“ Grogosh erhob sich. „Was bei allen Geistern hast du eigentlich vor? Krieg gegen Vargôr ist Wahnsinn. Selbst wenn wir gewinnen sollten, dann nur unter hohen Verlusten für den gesamten Stamm. Aber ich kann die Motive dahinter zumindest verstehen. Vergeltung. Rückkehr zu unserer alten Stärke. Aber das hier?“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Nun wird uns auch Sorûck den Krieg erklären. Ûng-Girâd vielleicht ebenfalls. Und wozu? Zur Befriedigung deiner persönlichen Ruhmsucht? Weil du unbedingt die Braut wiederhaben musstest, die dir vor Jahren versprochen wurde? Ist dir unser Stamm so wenig wert? Ist dir Frieden so wenig wert?“
    Temugush wurde wütend. Freilich, er hielt seinen Zorn im Zaum. Von Kindesbeinen an lernte ein jeder Ork, dass allzu große Gefühlsausbrüche ein Zeichen von Schwäche waren und sich für einen Krieger nicht geziemten. Doch das bedeutete nicht, dass die Gefühle nicht da waren. Der Zorn war da, und er brannte sich durch sein Innerstes. „Du bist nicht meiner Meinung, was meine Pläne angeht. Du hältst es für töricht, den Frieden zu brechen. Du glaubst, ich sei auf dem falschen Weg und führe Marschâng in den Untergang. Mit all dem kann ich leben. Aber ich werde nicht zulassen, dass du meine Ehre und meine Treue zu unserem Stamm infrage stellst. Unser Stamm ist mir eine Menge wert. Und Frieden noch viel mehr. Genau deshalb tue ich, was ich tue.“ Er durchmaß das Zelt, bis er vor dem hölzernen Waffenständer stand, in dem eine Reihe stumpfer Schwerter hingen. Er ergriff eines von ihnen und zog es hervor. Und er wählte mit Bedacht, nach welchem der Schwerter er griff. „Was bedeutet das hier?“, fragte er, indem er sich herumdrehte.
    „Frieden.“
    „Siehst du? Und das ist, worin du dich irrst.“ Temugush ergriff die Hand seiner Schwester und führte sie über die Klinge des Schwertes. Vielleicht war er dabei ein wenig grob – völlig ließ sich seine Wut nicht unterdrücken –, doch der Stahl durchschnitt nicht Grogoshs Haut, brachte kein Blut hervor. „Ein stumpfes Schwert verletzt nicht. Das ist, weshalb wir einander seit Jahrhunderten stumpfe Schwerter überreichen, wann immer wir des Kämpfens müde sind. Wir schließen damit keinen Frieden, nur Waffenstillstände. Wir reichen einander stumpfe Schwerter als Zeichen, dass wir uns für den Moment nicht bekämpfen wollen. Aber hören wir deshalb auf, einander zu grollen? Sind wir deshalb Verbündete, statt Herren und Sklaven? Du hast viel für diesen Stamm getan, Grogosh. Aber du urteilst zu kurzsichtig. Dein Friede hat den Stamm vor dem Untergang bewahrt, aber es war kein wirklicher Frieden. Und jetzt glaubst du, ich hätte Bordo nur geraubt, weil ich besessen bin von meinem Recht oder weil ich der Tollkühne genannt werden will.“
    Seine Schwester verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann hast du diese Wahnsinnstat also nicht begangen, um dir so einen Namen zu verdienen?“
    „Doch, genau das habe ich. Und genau das meine ich, wenn ich dich kurzsichtig nenne. Ich bin ein Niemand, Grogosh. Ich mag Yurugars Sohn sein, aber ich selbst bin niemand. Ich konnte meine Familie nicht beschützen. Ich wurde versklavt. Sogar von den Menschen. Wer folgt schon einem Sklaven der Menschen?“ Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Die Stämme folgen Ehre und Stärke. Und genau die habe ich nun bewiesen. Bis heute war ich nur Kriegsherr, weil ich Axtbegegnungen gewonnen habe. Die Hälfte des Stammes folgte mir nur widerwillig. Und früher oder später hätten sie meine Führung infrage gestellt. Und die anderen Stämme? Glaubst du, ein Menschensklave könnte sie vereinen? Nein. Aber vielleicht kann es der Tollkühne. Ja, was ich getan habe, war gefährlich. Aber das ist die Natur des Krieges. Und gerade weil es gefährlich war, bewundert man mich nun dafür. Krieger haben schon seit Anbeginn der Zeit Frauen geraubt, nicht wenige aus anderen Stämmen. Aber wer hat je eine Frau von ihrer eigenen Hochzeit geraubt? Und ich musste Bordo einfach rauben und zur Frau nehmen. Sie war mir versprochen. Sie ist mein. Wenn ich zuließe, dass ein anderer sie ehelicht, würde ich auf ewig als schwächlicher Feigling gelten.“
    Grogosh schwieg für einen Moment. Dann nickte sie. „Und nun giltst du als tollkühn, ich verstehe. Dann lass es mich noch einmal sagen: Es sind die Tollkühnen, die jung sterben. Ich verstehe deinen Plan. Aber das alles wird nichts nützen. Die anderen Stämme werden sich selbst Temugush dem Tollkühnen nicht einfach unterwerfen. Und Sorûck wird das nicht auf sich sitzen lassen. Als wäre Vargôr allein nicht schon genug, du hast uns noch einen Feind geschaffen. Vielleicht sogar zwei. Die Geister wissen, was Ûng-Girâd tun wird.“
    „Das werden wir sehen“, gab Temugush lapidar zurück. Er hob das stumpfe Schwert noch einmal in die Höhe, sodass sie einen guten Blick darauf hatte. „Aber wenn die Zeit gekommen ist, dann werde ich Vargôr dieses Schwert zurückgeben. Und nicht um um einen Waffenstillstand zu bitten. Nicht um sie zu unterwerfen und von ihnen Tribut einzufordern, wie sie es mit uns taten. Sondern um einen echten Frieden zu schließen. Und diesen Frieden brauchen wir, oder alle Stämme werden früher oder später im Winter zugrunde gehen.“
    „Das hast du also vor?“ Sie wandten sich um, und dort stand sie im Eingang des Zeltes. „Unser Volk vor dem Winter retten?“ Man hatte Bordo auf seine Anweisung hin ein Kleid gegeben. Ein herrliches rotes Kleid, dessen Ränder mit reichen Stickereien verziert waren, wie es sich für die Braut eines Kriegsherrn geziemte. Erst jetzt, als sie langsam und mit derselben stolzen Haltung, die sie schon draußen vor all den Orks gezeigt hatte, durch den Raum schritt, hatte er Zeit, sie wirklich zu betrachten. Sie war zu einer wirklichen Schönheit geworden. Hochgewachsen, ihr Gesicht breit, ihre Nase platt. Ihm entging nicht, dass sie ihr rotes Haar und ihren Bart auf Marschâng-Art zu je einem Zopf zusammengebunden hatte.
    „Ja. Als wären die ewigen Kriegszüge gegeneinander nicht schon genug. Wenn die Stämme sie nicht endlich aufgeben, werden sie noch zugrunde gehen. Das Land kann nicht mehr das ganze Volk versorgen, nicht wenn jeder neue Winter länger und kälter ist als der letzte.“
    „Das Land wird die Stämme auch dann nicht versorgen können, wenn sie aufhören, einander zu bekämpfen. Im Gegenteil.“ Bordo lachte trocken auf. „Wenn keine Männer mehr im Krieg fallen und keine Familien, die sie zurücklassen, mehr verhungern, wird es nur noch mehr Orks geben, die sich das wenige, was uns der Winter lässt, werden teilen müssen.“
    „Richtig. Und deshalb müssen wir nach Süden ziehen.“
    Bordos Augen funkelten. „Ich verstehe“, sagte sie leise.
    „Warum hast du dich nicht gewehrt?“, wechselte er das Thema. „Warum bist du mit mir gekommen?“
    „Ich bin dir versprochen“, sagte sie schlicht. Und als sie sah, dass ihm diese Antwort nicht ausreichte, fügte sie hinzu: „Dich kannte ich. Umshak, meinen Bräutigam, sah ich das erste Mal an dem Tag, als er mich raubte. Und jetzt hast du auch noch zweifelsfrei bewiesen, dass du mehr Ehre und Stärke besitzt als er.“ Bordo lehnte sich gegen seine Brust und schenkte ihm einen verführerischen Augenaufschlag. „Welche Frau könnte nicht einen Mann wollen, der mutig genug ist, sie von ihrer eigenen Hochzeit zu rauben?“ Bevor er sie in die Arme schließen konnte, entwandt sie sich ihm jedoch wieder. „Und sollte ich es mir anders überlegen, kann ich dich immer noch in unserem Bett erdolchen.“
    Bordo war also noch immer Bordo. Ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes war, das würde sich noch zeigen. Aber sie hatte es schon früher verstanden, einen im einen Moment in Sicherheit zu wiegen und einem im nächsten Angst einzuflößen. Es war lange her, dass Temugush das letzte Mal in den Genuss dieser ihrer Eigenschaft gekommen war. Sein Vater war mit ihm zum Stamm der Ûng-Girâd gereist, die damals Freunde Marschângs gewesen waren. Und es war nicht unüblich für befreundete Stämme, ihre Kinder miteinander zu vermählen. Frauen aus einem anderen Stamm brachten dem eigenen frisches Blut – und wenn die Geister einem gewogen waren, sogar die Stärken ihres Herkunftsstammes, hieß es. Sie waren also auf Brautschau gegangen. Und sein Vater hatte Bordo für ihn ausgewählt. Sie war schon damals feurig und stolz gewesen. Sie war mit ihren Brüdern auf die Jagd gezogen, wie es nur wenige Frauen taten. Und nicht zuletzt waren ihr Vater ein starker und ehrenvoller Krieger und ihre Mutter ein gebärfähiges Weib, die diesem viele Söhne geschenkt hatte, gewesen, was hoffen ließ, dass die junge Bordo diese guten Eigenschaften geerbt hatte. Ihr Vater jedenfalls war mit Temugush so zufrieden gewesen wie der seine mit Bordo. Und so waren sie verlobt worden. Freilich waren Verlobungen nur vorläufig. Wer sich eine Frau schenken ließ, anstatt sie zu erobern, war ein Schwächling. Auch wenn ein Paar bereits verlobt war, wurde es erwartet, dass der Bräutigam sich seiner Braut als würdig erwies, indem er sie eines Tages von ihren Eltern raubte, und tat er das nicht, mochte sie noch immer an einen anderen fallen. Dennoch wurden Verlobungen geschlossen und es wurde dem Bräutigam gestattet, für einige Zeit im Stamm seiner Braut zu leben. Während dieser Zeit mochten die beiden jungen Verlobten sich kennen und, im Idealfall, lieben lernen, sie mochten sehen, ob sie tatsächlich gute Eheleute abgaben, und der Bräutigam mochte eventuelle andere Werber vertreiben und sich mit den Brüdern seiner Braut anfreunden und sich als ihrer Schwester würdig erweisen, damit sie ihn nicht erschlagen und sie zurückrauben würden. Temugush aber hatte Ûng-Girâd vor der Zeit wieder verlassen, als die Vargôr seinen Vater erschlagen hatte. Und dann hatte er versucht, seine Familie zu schützen und war schließlich in die Sklaverei geraten, ehe er Bordo hatte rauben können.
    „Kriegsherr!“ Noch jemand betrat das Zelt. Es war Drugosh, einer seiner Krieger. Seine Haltung hatte sich verändert, seit Temugush in den Wald aufgebrochen war. Nicht äußerlich. Aber es schien ihm, als wäre Drugosh eine Spur demütiger. Vielleicht war es in diesem Moment, dass Temugush sich endgültig sicher wurde, dass er mit Bordos Raub erreicht hatte, was er zu erreichen gedacht hatte. „Vargôr hat uns eine Botin gesandt. Mit einem scharfen Schwert.“
    „Sie soll eintreten.“ Temugush wechselte einen Blick mit Grogosh. Sie verbarg ihre Gefühle gut. Aber natürlich wusste auch sie, was dies bedeutete. Er teilte ihre Ablehnung des Krieges nicht. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl. Doch das rührte von etwas anderem...
    Als Morrok das Zelt betrat, fand er sein Gefühl bestätigt. „Kriegsherr.“ Morrok blieb an der Seite Bordos stehen. Tonlos hob sie das scharfe Schwert in ihrer Hand und richtete die Spitze auf seine Brust. „Vargôr erklärt dir den Krieg.“ Temugush nahm es langsam entgegen, den Blick auf sie gerichtet. Die kleine Morrok mit dem schmalen Gesicht, gehüllt in das schlichte Grau einer Schamanin, das Gesicht bemalt und das Haar mit Federn geschmückt, hätte keinen größeren Kontrast zu seiner Braut bilden können. „Warum du?“, fragte er, die Kriegserklärung nur eine vage Randnotiz in seinen Gedanken.
    „Das ist doch offensichtlich“, antwortete Bordo für sie. „Der Krieg hat bereits begonnen. Und das ist der erste Bolzen. Und er soll in dein Herz zielen.“
    Morrok nickte. „Der Große Geist prüft uns alle auf die eine oder andere Weise. Und es hat ihm gefallen, mich zu prüfen, indem er das Los entscheiden ließ, dass ich zu den Vargôr gehe, als ich Schamanin wurde. Und nun diene ich ihnen. Jetzt da sie einen neuen Kriegsherrn gewählt haben, muss ich ihm gehorchen.“
    „Wer ist dieser Kriegsherr?“, fragte Grogosh, und ihre Stimme verriet, dass sie bereits die Antwort fürchtete.
    „Varek der Große.“

    Zwei Tage später traf die Kriegserklärung Sorûcks ein.
    Einen weiteren Tag später das Bündnisangebot Ûng-Girâds.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    5. Vorgabe:
    Rückblende: Person D und Person B treffen bei Ort A aufeinander und kommen sich auf romantische Weise näher. Infolge dessen bekommt Gegenstand B einen Auftritt.



    „Sorûck rückt von Südwesten an. Vargôr wird von Nordosten kommen. Das heißt, wir sitzen genau zwischen ihnen“, erklärte Kor-Shach.
    „Das bedeutet, sie werden uns zwischen sich in die Mangel nehmen.“ Tukash ak Ûng-Girâd wandte sich an Temugush. „Du hast hier eine gute Verteidigungsposition gewählt – gegen einen Feind. Aber der Fluss in unserem Rücken könnte auch schnell zum Nachteil werden.“
    Es war Koraz, der für ihn antwortete: „Richtig. Deshalb müssen wir zuschlagen, bevor sie es tun. Wir dürfen nicht zulassen, uns von zwei Seiten in die Mangel nehmen und dann in den Fluss treiben zu lassen. Aber seht die Chance, die uns durch die verschiedenen Richtungen gegeben ist, aus denen unsere Feinde kommen: Wir sitzen zwischen ihnen. Sie können ihre Heere nicht vereinigen, ohne uns zu überwinden.“
    Harrok, einer von Ûng-Girâds Feldherren, schüttelte den Kopf. „Ich sage, wir warten hier. Sollen sie doch kommen. Ich fürchte Sorûck und Vargôr auch dann nicht, wenn sie sich vereinen. Aber das werden sie nicht. Nicht wenn wir Sorûck mit Bolzen spicken, wenn sie den Fluss zu überqueren versuchen.“
    „Während Vargôr in unseren ungedeckten Rücken fällt? Das wäre Wahnsinn“, widersprach ein anderer Feldherr aus Ûng-Girâd, ein alter Krieger namens Kadosh.
    Und Drumbak, einer von Marschângs Feldherren stimmte zu: „Wir haben dieses Lager gewählt, um gegen Sorûck standhalten zu können, wenn sie den Tollkühnen verfolgen und uns direkt angreifen sollten. Aber jetzt, wo sie ihr gesamtes Heer aufbieten und Vargôr aus der anderen Richtung kommt, sind wir in einer völlig anderen Situation.“
    „Wir müssen von hier weg.“ Zakatz führte den Ûng-Girâd-Klan der Dol an. „Ich bin dafür, dass wir uns gemeinsam zurückziehen, solange unsere Feinde noch nicht hier sind. Suchen wir uns eine bessere Position, um ihrem Ansturm zu begegnen. Im Norden...“
    „... würden uns nur die Kälte und der Schnee zu schaffen machen“, schnitt sein Stammesgenosse Karok ihm das Wort ab.
    Und Arumbush von den Marschâng-Rug fügte hinzu: „Damit würden wir unseren Feinden erlauben, ihre Heere ohne jeden Widerstand unsererseits zu vereinen. Warum ihnen diesen Vorteil verschaffen?“
    „Unser Kriegsherr schlägt einen schnellen Schlag vor, mit dem sie nicht rechnen“, erklärte Koraz ruhig und ignorierte dabei die Streitereien der Feldherren und Elitekrieger. „Wir werden ausbrechen, bevor sie uns eingekreist haben. Wir werden uns den schwächeren unserer Feinde allein vorknöpfen. Marschâng und Ûng-Girâd gemeinsam werden keine Probleme haben, es mit einem einzelnen Stamm aufzunehmen.“
    „Ihr denkt an Sorûck?“, wollte Nemrok wissen, den die Versammlung der Männer von Ûng-Girâd zum Kriegsherrn des Stammes gewählt hatte.
    „Genau. Wir werden ihnen entgegenmarschieren. Sie werden uns nicht südlich des Bunlar erwarten, also werden sie unvorbereitet sein, wenn unser Angriff kommt. Gleichzeitig bringen wir so den Fluss zwischen uns und Vargôr.“
    „Gemeinsam können wir Sorûck besiegen“, stimmte Kadosh zu. „Aber die Schlacht könnte unser beider Stämme so sehr schwächen, dass Vargôr leichtes Spiel haben wird, wenn sie uns in den Rücken fallen.“
    „Deshalb dürfen wir uns nicht allein auf unsere Überzahl verlassen. Wir müssen die Verluste so klein halten wie möglich. Dafür werden wir ausnutzen, dass Sorûck noch nichts von unserem Bündnis weiß und unsere Stärke nicht kennt. Die eine Hälfte unseres Heeres wird frontal über sie herfallen. Die andere wird warten, bis die Schlacht in vollem Gange ist, und dann die Flanke ihres Heeres angreifen.“
    Nemrok kratzte sich den Bart. „Das könnte funktionieren, wenn Sorûck von Umbrak dem Marterer angeführt wird. Ein starker Krieger, aber er neigt zu voreiligen Entscheidungen und setzt oft darauf, seine volle Stärke gegen den Gegner in den Kampf zu werfen. Er könnte auf solch eine Taktik hereinfallen.“
    „Und wenn sie von Baragor Blauzahn geführt werden? Er ist weitsichtiger und könnte die Takik durchschauen“, warf Tukash ein.
    Wenn.“ Kor-Shach zog das Wort beim Aussprechen lang. „Wir wissen nicht, wen die Versammlung der Männer in Sorûck zum Kriegsherrn gewählt hat. Aber nach den Erfolgen Umbraks in ihren vergangenen Feldzügen gegen Dunmârr ist es wahrscheinlich...“
    „Wir wissen es nicht“, wiederholte Tukash die Worte des anderen Orks. „Das ist, worauf es ankommt. Wahrscheinlich hin, wahrscheinlich her, wir wissen es nicht.“
    „Jede Entscheidung im Krieg birgt Risiken“, warf Nemrok ein und ergriff damit für Temugushs Plan Partei. „Aber ich stimme zu. Es ist wahrscheinlich, dass Sorûck Umbrak zum Kriegsherrn gewählt hat. Und selbst wenn sie den Blauzahn gewählt haben sollten, ist es nicht unmöglich, dass die Taktik aufgeht. Sie ist jedenfalls der beste Vorschlag, den ich bisher in diesem Kriegsrat gehört habe.“ Er wandte sich zu Temugush. „Ich stimme diesem Vorschlag zu. Und ich erkläre mich bereit, mit meinem Stamm den Frontalangriff zu führen.“
    Andere Ûng-Girâd stimmte zu, einige durch leises Murmeln, andere durch laute Rufe. „Das wird ein ehrenvoller Platz in der Schlacht sein“, sagte Kadosh und Zakatz rief: „Wir werden die Sorûck das Fürchten lehren!“
    Temugush hatte lange geschwiegen. Er hatte darauf geachtet, sich nicht in die Streitigkeiten der Feldherren einzumischen. Und er hatte seine Untergebenen für ihn sprechen lassen. Nun aber ergriff er das Wort: „Das ehrt dich und die Krieger von Ûng-Girâd. Aber dein Stamm wird nicht die erste Angriffswelle bilden.“
    „Ihr Marschâng wollt wohl allen Ruhm für euch?“, fragte Tukash scharf.
    „Nein. Wenn Nemrok ak Ûng-Girâd die Attacke anführen möchte, überlasse ich ihm diese Ehre gerne. Aber du, Tukash, wirst an meiner Seite kämpfen, wenn ich den Sorûck in die Flanke falle. Ich werde die beiden Heergruppen nicht nach der Stammeszugehörigkeit aufteilen. Es werden Ûng-Girâd und Marschâng in beiden Gruppen kämpfen.“
    Alle früheren Streitigkeiten zwischen den Feldherren und Elitekriegern waren nun vergessen. Entgeistert starrten sie ihn an. Dann rief irgendjemand: „Die Krieger von Ûng-Girâd werden nur einem Ûng-Girâd in die Schlacht folgen!“ Andere stimmten lauthals zu und sogar einige Marschâng fielen in den Protest mit ein. „Du kannst doch wohl nicht erwarten, dass wir uns von einem fremden Kriegsherrn anführen lassen!“, schimpfte Borshak.
    „Ich erwarte, dass du mir gehorchst!“, bellte Temugush zurück. „Und wenn du das nicht tun willst und meine Entscheidungen infrage stellst, kannst du mich gerne noch einmal zu einer Axtbegegnung fordern. Glaube aber nicht, dass ich dir dein Leben ein zweites Mal schenken werde.“
    Borshak schaute wütend drein, senkte aber seinen Blick und verkniff sich eine Antwort. Auch die Stimmen der anderen Marschâng erstarben. Nach seinen Siegen in den Axtbegegnungen, zu denen er gefordert worden war, und vor allem nach dem tollkühnen Raub seiner Braut hatten sie gehörigen Respekt vor ihm. Nicht so die Ûng-Girâd. „Deine Krieger sind dir zu Gehorsam verpflichtet, solange sie sich nicht im Angesicht der Geister in einer Axtbegegnung als stärker erweisen“, stimmte Nemrok zu. „Aber das gilt nicht für mich und die meinen. Ûng-Girâd hat sich Marschâng aus freien Stücken angeschlossen, wir können euch auch jederzeit wieder verlassen.“
    „Das könnt ihr. Ich habe großen Respekt vor der Ehre und der Stärke Ûng-Girâds. Aber glaubt nicht, Marschâng sei so schwächlich, dass wir auf eure Hilfe angewiesen wären.“ Es war ein gefährliches Spiel, das er spielte. Entgegen seiner Worte brauchten sie ihren Verbündeten sehr wohl, auch wenn er sich für den äußersten Notfall eine Ausweichtaktik zurechtgelegt hatte. Aber wollte er von Ûng-Girâd und den anderen Stämmen, ja selbst von seinem eigenen, als Anführer anerkannt werden, musste er Stärke und Entschlossenheit zeigen. Er durfte nicht so schnell den Schwanz einziehen. Und für die Diplomatie hatte er noch jemand anderen an seiner Seite...
    „Vetter.“ Bordo, die bisher schweigend an seiner Seite gesessen hatte, wie es sich für ein Weib im Kriegsrat geziemte, griff beschwichtigend nach Nemroks Arm. „Ich bitte dich, bleib. Und höre auf meinen Gemahl. Was er vorschlägt, mag seltsam klingen, aber ich bin sicher, es ist wohlüberlegt. Ich bin nur ein Weib, ich weiß nichts vom Krieg und ich möchte mich in euren Kriegsrat nicht einmischen. Aber bedenke, dass mein Gemahl ein starker Krieger ist. Er hat Sorûck schon einmal getrotzt, als er mich Umshak vor dessen Nase, auf meiner eigenen Hochzeit raubte.“ Sie nahm ihren Blick vom Gesicht des Kriegsherrn und ließ ihn durch den Raum, über die übrigen Anwesenden schweifen. „Niemand kann an der Stärke und dem Mut meines Gemahls zweifeln! Noch an seiner Ehre! Warum nun an seiner Weisheit zweifeln? Ûng-Girâd und Marschâng werden beide die Ehre wollen, dem Feind erhobenen Hauptes entgegenzustürmen. Warum sollen wir uns jetzt im Streit um diese Ehre entzweien, gerade jetzt, da der Feind anrückt? Folgen wir lieber dem weisen Vorschlag meines Gemahls, der es zulässt, dass unser beider Stämme sich die Ehre brüderlich teilen.“
    Damit war es geschafft. Der Kriegsrat sollte noch für mehrere Stunden debattieren. Schmeicheleien, Drohungen und Beleidigungen sollten noch ausgetauscht werden. Aber hier ging es nur noch um Details und darum, dass jeder sein Gesicht wahren konnte. Der eigentliche Kampf war gewonnen.
    Als auch der letzte seiner Feldherren und Krieger das Zelt verlassen hatte, schloss Temugush Bordo in die Arme und wirbelte sie herum. „Du warst großartig.“
    Sie lachte. „Ich kenne Nemrok, seit wir beide an der Brust hingen. Er ist nicht schwer zu überzeugen, auch wenn er sich mal ein bisschen aufbläht.“
    „Und offenbar hat er seine Feldherren nicht vollständig hinter sich.“ Temugush war nicht entgangen, dass in seinem Kriegsrat jeder Ûng-Girâd nur für sich gesprochen hatte und sie keinen gemeinsamen Plan verfolgten. Die Marschâng dagegen hatten eine Einheit gebildet. Jeder von ihnen hatte den Plan gekannt und war bereits vorher von ihm überzeugt worden, und seine wichtigsten Untergebenen wie Koraz oder Kor-Shach hatten genau die ihnen zugedachten Rollen gespielt. Dafür hatte er gesorgt.
    „Nemrok wird geachtet“, meinte Bordo, „aber er hat seine Braut nicht von ihrer eigenen Hochzeit geraubt.“
    Temugush nickte und füllte sich ein Schattenläuferhorn mit Schnaps aus einem Fass, das an der Zeltwand stand. Er brauchte jetzt etwas zu trinken. Etwas Starkes. „Das hat mir große Achtung eingebracht, aber auch meine Leute werden mir nicht ewig folgen. Vor allem nicht, wenn ich solche Vorschläge mache. Ich brauche einen Sieg.“
    „Den wirst du erringen. Ich habe keinen Zweifel an dir.“ Bordo trat von hinten an ihn heran und ließ ihre Hand über seinen Rücken zu seiner Schulter hinaufgleiten. „Aber du hast Recht, die Stämme zu mischen, ist gewagt, und sie werden das nur hinnehmen, wenn du sie damit zum Sieg führen kannst.“
    „Es ist nötig. Ich werde nicht den Fehler wiederholen, den mein Vater begangen hat. Oder Gratoshk vor ihm.“ Temugush nahm einen weiteren tiefen Zug. Der Schnaps brannte in seiner Kehle. Und Bordos Berührung entfachte noch ein anderes Feuer in ihm. „Selbst wenn ich es schaffe, zum Kriegsfürsten aller Stämme zu werden... Dieser Bund darf nicht nur an mir hängen. Er darf nicht mit mir fallen. Vielleicht gehen sich am Ende alle gegenseitig an die Kehle. Aber wenn nicht, dann gelingt es mir vielleicht, die Stammesgrenzen zu überwinden und unser Volk zu vereinen. Und glaub mir, Bordo, wir müssen einig sein, wenn wir gegen die Menschen des flachen Landes ziehen wollen. Denn sie sind es.“
    „Weißt du viel über die Menschen?“ Ihre Stimme war ruhig, die Frage ehrlich und ohne Hintergedanken. Sie interessierte sich für das, was er zu sagen hatte, sie plante nicht schon jetzt, seine Antwort oder gar ihn selbst infrage zu stellen.
    „Mehr als die meisten. Viel zu wenig.“ Er trank noch einmal. Mit mildem Missfallen stellte er fest, dass nur noch ein kleiner Schluck Schnaps in dem Horn geblieben war. „Ich führte eine kleine Schar heimatloser Krieger an. Wir zogen über die Gletscher, um die Dörfer der Nordmarer zu überfallen. So überlebten wir. Ich hoffte, meine Schar zu vergrößern, Reichtümer und Macht anzuhäufen, mir einen Namen als Krieger und Anführer zu machen, wieder nach Marschâng zurückzukehren... Aber das lag in weiter Ferne. Zunächst einmal hieß es, überleben.“ Er schnaubte. „Ich habe überlebt, wie du siehst. Wie vielleicht die Hälfte meiner Schar. Aber wir gerieten in Gefangenschaft der Menschen und lange musste ich als Sklave in ihrer großen Mine arbeiten. Dort habe ich durch Zuhören ihre Sprache erlernt. Und ich habe ein wenig Wissen über sie aufgeschnappt. Aber es ist zu wenig. Wenn unser Feldzug Erfolg haben soll, müssen wir mehr über die Menschen lernen. Viel mehr. Ich hoffe auf die Hilfe der Schamanen. Aber zuvor muss ich diesen Krieg gewinnen und die Stämme vereinen.“
    „Und das wirst du. Du wirst der größte Kriegsfürst von allen sein. Größer als dein Vater. Größer als Gratoshk.“
    Plötzlich loderte das Verlangen in ihm auf, so stark wie er es nicht mehr gespürt hatte, seit er sie und Ûng-Girâd verlassen hatte, um seiner Familie zu Hilfe zu eilen. Er konnte sich selbst nicht erklären, was seine Lust derart entfacht hatte. Aber er ließ das Horn zu Boden fallen, packte Bordo bei den Hüften und drückte sie auf den nächstbesten Tisch herab. Sie quiekte auf vor Überraschung, aber dieser Laut wurde schnell zu einem lustvollen Stöhnen, als er ihren Rock hochschob und in sie eindrang.
    Vielleicht wird sie mir einen Sohn schenken, schoss es ihm durch den Kopf, als es vorbei war und sie beide keuchend und ineinander verschlungen auf dem Boden des Zeltes lagen. Dann kam sein Blick auf ihrem Gesicht zu ruhen. Schön war es. Noch schöner als es in seiner Erinnerung gewesen war. Es war gut, dass sie bei ihm war, dachte er. Seine Braut zurückzufordern, war nötig gewesen; seine Ehre verlangte es. Sie noch dazu von ihrer Hochzeit zu rauben, hatte ihm die Bewunderung und die Treue vieler Krieger eingebracht. Aber tatsächlich war es gut, sie bei sich zu haben, ging es nicht nur um seine Braut, sondern um sie, Bordo. Er konnte mit ihr reden, war ihm mit einem Mal bewusst geworden. Er konnte offen mit ihr sein und ihr seine Pläne offenbaren. Ja, er brauchte nicht einmal seine Zweifel vor ihr zu verstecken. Vor seinen Kriegern durfte er sich keine Blöße geben. Vor den Männern Ûng-Girâds, ja selbst vor den meisten seiner eigenen, durfte er seine Pläne nicht zu früh offenbaren. Und Grogosh, die ihm früher vielleicht zugehört und mit Rat zur Seite gestanden hätte, hielt ihm heute nur immer wieder vor, dass er ihren Frieden gebrochen hatte. Aber nun hatte er Bordo. Und er hatte nicht vor, sie noch einmal zu verlieren.
    Seine Gedanken schweiften zum ersten Mal, dass sie sich vereinigt hatten. Hier, in diesem Zelt war es gewesen. Damals hatte er zum ersten Mal begonnen, zu erkennen, was er in Bordo hatte. Und damals hatte sie ihm zudem gezeigt, dass Ûng-Girâd ein wertvoller Verbündeter sein konnte – und ihm einen wichtigen Gedanken eingegeben, der ihn heute mehr denn je leitete...

    Temugush schob die Zeltklappe beiseite und trat ein. Einige Kohlen glühten noch in einer Pfanne in der Mitte des Raumes und tauchten das Zelt des Kriegsherrn von Marschâng in dämmriges Licht. Und dort neben der Kohlenpfanne stand eine Gestalt. Im schwachen Zwielicht waren nur ihre Konturen zu erkennen. Die Falten ihres Gewandes, die Unterseite ihrer Brüste, der ordentlich gestutzte Bart an ihrem Kinn wurden von unten her in ein schwaches oranges Licht getaucht.
    Ein Grinsen huschte über Temugushs Gesicht. „Solltest du hier sein?“, stichelte er.
    „Nein.“ Bordo starrte auf ihren Finger, während sie mit ihm den Rand des Kohlebeckens entlangfuhr. „Sollte ich nicht“, säuselte sie. Dann schlug sie die Augen zu ihm auf und fragte: „Und? Wie ist es ausgegangen?“
    „Euer Ältestenrat hat sich dagegen ausgesprochen, die Versammlung der Frauen einzuberufen. Die Schamanen sagen, sie hätten im Vogelflug gesehen, dass Ûng-Girâd zugrunde gehen wird, wenn ihr euch meinem Vater anschließt.“
    Bordo lächelte schief. „Die Ältesten hören auf das Wort der Schamanen. Und der Häuptling hört auf das Wort der Ältesten.“
    „Ja, sie hat meinem Vater gesagt, dass wir uns eurer Freundschaft gewiss sein können, aber nicht eurer Gefolgschaft.“
    Das Lächeln auf Bordos Gesicht wurde breiter, verzog sich zu einem Grinsen. „Wer weiß, vielleicht werde ich ja eines Tages Häuptling. Dann würde ich so manches anders machen.“ Abermals glitt ihr Finger über den Rand des Kohlebeckens. Langsam, beinahe verspielt.
    Auch Temugush grinste nun. „Wie kannst du Häuptling werden, wenn ich dich raube?“ Er machte einen Schritt auf seine Verlobte zu.
    „Wer sagt denn, dass ich Häuptling von Ûng-Girâd werden will?“ Sie spitzte die Lippen und ließ die spitzen Eckzähne blitzen. „Vielleicht werde ich ja Häuptling in Marschâng. Dann herrsche ich über deinen Stamm. Und du darfst mir dann und wann ein Schattenläuferfell von der Jagd bringen und mir nachts das Lager wärmen, wenn mir danach ist. Das heißt...“ Sie warf ihm einen dieser funkelnden Blicke zu, in deren Genuss er in den letzten Tagen schon einige Male gekommen und von denen er sich sicher war, dass sie ganz genau um ihre Wirkung wusste, und unwillkürlich trat er noch einen weiteren Schritt auf sie zu. „...
    wenn du mich raubst.“
    „Ich verstehe mich schon jetzt blendend mit deinen Brüdern und wir waren schon zweimal jagen und werden sicher noch viele weitere Male gemeinsam jagen gehen, jetzt wo ich hierbleibe. Und dein Vater hat unserer Verlobung nicht umsonst zugestimmt. Wer also sollte mich aufhalten?“
    „Vielleicht halte ich dich ja auf“, flötete sie. „Vielleicht lasse ich mich ja nicht von dir rauben.“
    Er lachte auf. „Was für ein Schwächling wäre ich, wenn ich meine Braut fragen würde, ob es ihr recht ist, von mir geraubt zu werden.“
    „Ein großer Schwächling“, stimmte sie zu. Die Kette aus Ripperzähnen, die sie um das Handgelenk trug, klapperte leicht, als sie sich einen ihrer Zöpfe hinters Ohr schob. Sie tat das nicht beiläufig, sondern mit einer verführerischen Grazie, zu der es nur eine Frau bringen konnte, die sich ihrer Schönheit und der Wirkung selbst ihrer kleinsten Bewegung voll bewusst war. Temugush zweifelte keinen Moment, dass Bordo in ihrem Leben schon so manchen jungen Ûng-Girâd verführt hatte. Und er zweifelte nicht daran, dass sie in diesem Augenblick ihn verführte. „Aber ich bin wählerisch, Tem. Mich hier aus meinem Stamm zu rauben, wird dir in der Tat leicht fallen. Aber genau deswegen wird es nicht ausreichen, um mich für dich einzunehmen.“ Ihre Klaue fuhr an ihrem Zopf herab, spielte mit seinem Ende. Etwas an dieser winzigen Bewegung ihrer Finger steigerte seine Erregung ins Unermessliche. Und er wusste, dass sie die Beule in seinem Schurz deutlich sehen konnte. „Vielleicht schlitze ich dir ja im Schlaf die Kehle auf, wenn du mich raubst, und renne zurück nachhause.“
    Er tat einen letzten Schritt und stand nun direkt vor der Kohlenpfanne. Er stützte die Hände auf ihren Rand und lehnte sich leicht vor. „Du hast aber jetzt gerade kein Messer bei dir“, raunte er. „Du bist unbewaffnet. Und hilflos.“
    Er schoss um die Pfanne herum. Bordo hatte auf diesen Moment gelauert und sprang zur anderen Seite davon. Er hielt inne und wechselte die Richtung, doch wieder war sie zu schnell und er bekam sie nicht zu packen. Und dann starrten sie sich wieder über den schwachen Schein der Glut hinweg an. Er täuschte links an, dann rechts, dann wieder links. Jedes Mal zuckte sie, bereit in die andere Richtung davonzulaufen. Doch nie fiel sie auf ihn herein. Dann schoss er abermals los und sie tat es ihm gleich.
    Temugush konnte hinterher nicht sagen, wer von ihnen beiden die Kohlepfanne umgestoßen hatte. Asche und Kohlen ergossen sich über das Trollfell, das den Boden bedeckte. Er machte einen Satz über die umgeworfene Pfanne hinweg und bekam Bordos Kleid zu fassen. Im nächsten Moment stürzten sie gemeinsam zu Boden und er kam auf ihr zu liegen.
    Eine gewöhnliche Orkin hätte wohl nun alle Gegenwehr eingestellt, bereitwillig ihre Schenkel für ihn geöffnet und sich ihm hingegeben. Nicht so Bordo. Sie wand sich unter ihm, schlug um sich, spuckte und kratzte. Ihr Mund biss nach seinem und einer ihrer Eckzähne riss ihm die Lippe auf. Aus irgendeinem Grund steigerten der Schmerz und der metallische Geschmack des Blutes auf seiner Zunge seine Lust nur noch. „Du gehörst mir“, keuchte er, während er an ihrem Kleid herumriss. „Wehr dich, so viel du willst.“ Er nestelte seinen Schurz beiseite. „Ich werde dich mit mir nehmen und zu meinem Weib machen.“ Dann war er in ihr. Und bei allen Geistern, fühlte sie sich gut an!
    Als es vorbei war, blieb sie nur für einen kurzen Moment unter ihm. Sie hatte die Augen geschlossen und keuchte leicht. Ein genießerischer Ausdruck umspielte ihre Lippen. Dann schlug sie die Lider wieder auf und krabbelte unter ihm hervor. Aus dem Augenwinkel sah er ihr zu, wie sie ihr Kleid inspizierte, das einen großen Riss bis hinauf zur Hüfte aufwies. „Dein Vater wird jetzt aufbrechen?“, fragte sie.
    Temugush brummte zur Antwort. Er verharrte noch kurz, dann rollte er sich schwerfällig auf die Seite, um sie besser ansehen zu können, auch wenn ihm in diesem Moment nicht nach Bewegung war. Sein Blick schweifte über das Trollfell, das an einigen Stellen angekokelt und an vielen weiteren rußbedeckt war. Das würde seinem Vater gar nicht gefallen. „Er ist jetzt noch einmal mit deinem Vater und ein paar von den anderen Kriegern auf der Jagd. Aber er hat euren Häuptling lange genug um Hilfe gebeten. Morgen wird er seine Zelte abbrechen und nach Marschâng zurückkehren.“ Temugush stützte sich auf einen Ellbogen auf. „Ihr werdet euren Häuptling und euren Ältestenrat noch verwünschen, wenn ihr erkennt, wie viel Ruhm und Beute euch entgangen sind. Wir brauchen euch nicht für unseren Feldzug. Wir haben schon genug Gefolge. Mein Vater führt das größte Heer seit den Tagen von Gratoshk an.“
    „Komm mit.“ Bordo ließ von ihrem Kleid ab. „Ich will dir etwas zeigen.“
    Er erhob sich, rückte seinen Schurz und seinen Gürtel zurecht und folgte ihr. Am Ausgang des Zeltes holte er sie ein. Er griff nach ihrer Klaue, doch sie schlug die seine beiseite. Spielerisch, aber bestimmt. Sie wollte sich vor den anderen also nicht als sein Besitz präsentieren lassen. Er nahm es für den Moment hin.
    Sein Vater und er waren mit nur einigen wenigen Marschâng-Kriegern angereist. Vor dem Zelt des Kriegsherrn standen noch drei andere, allesamt deutlich kleiner, dienten sie doch nur als Lager für die Nacht, während das Kriegsherrnzelt gleichzeitig sein Thronsaal und der Versammlungsraum für seinen Kriegsrat war. Das rote Banner mit der Wildente hing an einem Pfosten vor dem Zelteingang. Ein mittelstarker Wind fegte schon den ganzen Tag über die Steppe, und so flatterte die Fahne munter hin und her. Das Mammut seines Vaters weidete auf der Rückseite des Zelts. Die Pflöcke, an denen die Warge gewöhnlich angekettet waren, steckten nutzlos im Gras auf der anderen Seite. Man hatte alle Hunde zur Jagd mitgenommen. Auch die meisten Krieger waren seinem Vater auf die Jagd gefolgt. Nur vier von ihnen blieben als Wachen zurück. Sie saßen um die ausgebrannte Feuerstelle von letzter Nacht und tranken vergorene Milch. Prokash fettete sein Schwert ein. Er war es auch, der Temugush als erster zurief: „Gut so, Junge, das haben noch die Ûng-Girâd gehört. Machst deinem Vater Ehre.“ Und Krobork setzte hinzu: „Bloß nicht zu viel Zeit lassen, richtig so. Zeig deiner Braut so früh wie möglich, wie stark du bist, dann hast du dein Leben lang ein gutes, treues Weib an deiner Seite. Denk an meine Worte, Temugush!“
    In diesem Moment wünschte er, er hätte doch darauf bestanden, ihre Hand zu nehmen. Aber nun war es dafür zu spät. Er hätte noch einmal danach greifen können, aber wenn sie seine Klaue wieder weggeschlagen hätte, hier vor den Kriegern – und er war sich sicher, dass sie das getan hätte –, hätten diese ihn zurecht ausgelacht. Es schien sie aber nicht zu kümmern, dass er nicht derart von seiner Braut Besitz ergriff. Noch kannten er und Bordo sich erst kurz, da wurde noch nicht allzu viel von ihm erwartet; schließlich war er nicht als Schwächling bekannt und hatte seinem Vater nie Schande gemacht, was machte es da, dass er es mit seiner Braut langsam anging und ihr etwas Zeit ließ, sich an ihn zu gewöhnen?
    Ûng-Girâd war nicht so groß wie Marschâng, dennoch erstreckten sich die Jurten bis zu den fernen Hängen der Hügel im Nordwesten. Das Frühlingsfest stand kurz bevor und fast alle Ûng-Girâd-Stämme waren zusammengekommen, um es zu begehen. Auch in Marschâng würde man es feiern. Und danach würden sie in den Krieg ziehen. Ohne ihn. Temugush würde es hier nicht schlecht haben. Er verstand sich schon jetzt ganz gut mit Bordos Brüdern und einigen anderen jungen Burschen. Und Bordo selbst würde ihm seine Zeit hier erst recht versüßen. Dennoch wäre er nur allzu gerne an der Seite seines Vaters in die Schlacht gezogen, und der Gedanke, weitab des Krieges in Sicherheit herumzusitzen wie die Kinder und Frauen, schmeckte ihm nicht.
    Rangokk, einer von Bordos Brüdern, lief ihnen über den Weg und grüßte sie. „Heute gehen vielleicht unsere Väter auf die Jagd, aber morgen sind wir dran!“, rief er Temugush zu. „Hinter den Hügeln haben die Kinder beim Kräutersammeln Schattenläuferspuren gesehen. Also halte deine Armbrust bereit!“
    Kurz darauf trafen sie auf eine kleine Schar von Mädchen, ungefähr in ihrem Alter, die Bordo gut zu kennen schienen. „Und, wie ist er so?“, fragte eine von ihnen und schielte dabei anzüglich zu Temugush hinüber.
    Bordo legte den Kopf schief und musterte ihn kritisch. „Gar nicht schlecht.“ Sie grinste neckisch. „Für einen Marschâng.“
    „Du hast Glück, Bordo“, schwärmte eines der Mädchen; es mochte vielleicht zwei oder drei Jahre jünger sein. „Ich hoffe, ich werde mal von so einem stattlichen Krieger geraubt!“
    „Ich weiß noch nicht, ob ich mich von ihm rauben lasse.“ Bordo zuckte die Achseln. „Vielleicht schlitz ich ihm auch die Kehle auf, wenn er‘s versucht, und warte auf einen Besseren.“
    Die Mädchen kicherten und einige begannen ihn zu sticheln und ihm zur Vorsicht zu raten, während andere ihn nicht wenig zweideutig ermunterten, Bordo von seinen Qualitäten zu überzeugen. Temugush und seine Verlobte zogen weiter durch das Ûng-Girâd-Lager.
    Er starrte auf ihren Rücken. Er verstand ganz genau. Eben im Zelt seines Vaters hatte Bordo ihn so sehr gewollt wie er sie. Und vermutlich würde es auch nicht das letzte Mal bleiben. Aber das war vorerst nur bedeutungsloses Vergnügen. Er war nicht der erste junge Ork, dem sie sich hingegeben hatte, und wenn er der letzte sein wollte, musste er sich womöglich noch gehörig anstrengen. Temugush hatte noch keine großen Taten im Krieg vorzuweisen, aber er war groß für sein Alter, kräftig, schon jetzt ein hervorragender Kämpfer und Jäger, der es schon mit so manchem Älteren aufnahm, von bisher unbefleckter Ehre und nicht zuletzt der Sohn des größten Kriegsherrn dieser Tage. Und nun hatte er auch gezeigt, dass er stark und mutig genug war, sich die Frau zu nehmen, die er begehrte. Den meisten jungen Orkinnen hätte das ausgereicht, sie hätten sich bereitwillig von ihm rauben lassen. Aber Bordo ak Ûng-Girâd war kein gewöhnliches Mädchen, soviel hatte er schon erkannt. Sie war ihm offensichtlich nicht völlig abgeneigt, aber sie hatte auch noch nicht beschlossen, sich zu seinem Weib machen zu lassen. Temugush wusste noch nicht, wie er sie für sich einnehmen würde – er war zuversichtlich, dass ihm das schon gelingen würde, nun da er für einige Jahre in einem Zelt mit ihr leben würde –, aber die Herausforderung reizte ihn. Seine Braut war unabhängig, wild und ungebändigt. Und das gefiel ihm. Sein Vater hatte eine gute Wahl für ihn getroffen.
    Zunächst glaubte er, Bordo würde ihn zum Zelt des Häuptlings führen. Es war groß, gefertigt aus zusammengenähter Mammuthaut. Vor dem Eingang lagen zwei Berge aus Schädeln, die einstmals Feinden Ûng-Girâds gehört hatten. Ein Bienenkorb stand schief auf dem einen, ein Schmiedehammer ruhte auf dem anderen.
    Aber ihr Ziel war eine kleine Jurte auf der anderen Seite des zentralen Platzes. Ein Krieger stand vor ihrem Eingang, ein Krush Tarach in seiner Hand. Das hatte Temugush schon vorhin überrascht, als er das Häuptlingszelt mit seinem Vater verlassen hatte. Der Krieger starrte ihnen missbilligend entgegen, als sie sich näherten. „Du weißt, dass nicht jeder Dahergelaufene Ihn betrachten soll, Bordo.“
    „Ich weiß“, gab sie schulterzuckend zurück und wollte schon an dem Wächter vorbeischreiten. Als dieser sie jedoch am Arm packte und zurückhielt, verzog sich ihr Mund zu einem bösartigen Lächeln. „Du weißt, dass ich dieses Jahr eine der Knospentöchter bin.“
    „Aber er nicht.“
    Bordo rollte mit den Augen. „Ach Turrok, du weißt, dass jeder mit uns hineindarf, den wir als Partner für den Tanz der Fruchtbarkeit erwählen..“
    Turrok bohrte ihr seinen Finger in die Brust. „Dieses Gesetz ist nicht dafür da, dass du Ihn deinem neuesten Spielzeug zeigst, nur weil dir gerade danach ist.“
    „Ich weiß, ...“
    „Dann geh.“
    „... aber das Gesetz verbietet es auch nicht.“ Und ehe Turrok antworten konnte, fügte ich hinzu: „Und sollte das hier die Geister erzürnen, dann lass das meine Sorge sein. Sie werden nur auf uns wütend sein und wissen, dass du gewissenhaft deine Aufgabe erfüllt hast.“
    Der Wächter knirschte mit den Zähnen, sagte aber nichts, als Bordo an ihm vorbeischritt. Temugush folgte ihr rasch und war froh, als die Zeltklappe wieder hinter ihm zufiel und er nicht mehr Turroks wütenden Blick in seinem Rücken spürte.
    Dann hielt er ehrfürchtig inne. Vor ihm stand ein Sockel aus behauenem Stein. Runen zierten ihn und die Fratzen von Geistern und Dämonen. Doch sein Blick galt dem, was darauf lag. Ein Schädel, groß und weiß, so weiß wie Gebeine nach Jahrhunderten und nach Jahrtausenden einfach nicht mehr sein durften. Zwei nach hinten gebogene Hörner ragten aus seiner Stirn. Vorne lief der Schädel zu einem schrecklichen, krummen Schnabel zu. „Ist das...?“, flüsterte er.
    „Ragg-Narr Rohog.“
    „Ich wusste, dass ihr Seinen Schädel besitzt, aber...“
    „Du hast Ihn dir nicht so vorgestellt, oder?“
    „Nein“, hauchte er.
    Auch Bordos Ton war für einen Moment ungewöhnlich ruhig und ernsthaft geworden, nun aber kehrte ihre Stimme wieder zu ihrem gewohnten Klang zurück, als sie sagte: „Tja, Tem, dann schau Ihn dir gut an. Marschâng ist größer als Ûng-Girâd und jetzt habt ihr noch zwei weitere große Stämme hinter euch. Aber wir haben Seinen Segen und Seine Macht an unserer Seite. Also sei nicht so vorschnell, wenn du glaubst, wir hätten euch nichts zu bieten.“
    Er nickte nur. Und für eine Weile starrten sie beide schweigend den großen Schädel an. „Du bist eine der Knospentöchter beim Frühlingsfest?“, fragte er.
    „Ja. Normalerweise halten nur die Schamanen mit Ihm Zwiesprache. Aber zu den großen Festen tragen wir Ihn nach draußen. Und als Knospentochter darf ich schon vorher zu Ihm, um in Seiner Macht zu baden. – Ich, und der, den ich für den Tanz der Fruchtbarkeit auswähle.“
    Er wandte ihr den Blick zu. „Du willst, dass ich...“
    „Vielleicht“, flötete sie. Und dann grinste sie ihn an. „Sagen wir, du bist auf einem guten Weg.“ Plötzlich wurde ihr Gesicht wieder ernster und sie streckte ihm die Hand entgegen. „Komm, beten wir.“
    Er nahm ihre Hand und sank gemeinsam mit ihr auf die Knie. Es war irgendwie beruhigend, dass selbst sie so viel Ehrfurcht vor den Geistern hatte, dass sie es nicht wagte, dieses Zelt ohne ein Gebet wieder zu verlassen, auch wenn sie die guten Sitten scheinbar noch so sehr missachtete.
    Dann wurde sein Blick wieder von dem Schädel angezogen.
    Ragg-Narr Rohog. Temugush schritt tagtäglich über das Gras, das Ragg-Narr Rohogs Pelz gewesen war. Er hatte schwimmen gelernt im Bunlar, dem Blut Ragg-Narr Rohogs. Und er hatte sogar schon Ragg-Narr Rohogs Klauen bestiegen, die eisigen Berggipfel. Doch es war etwas anderes, seinen Schädel vor sich zu sehen. Den einzigen Teil des Untiers, den Or Jarbokk-Ur nicht benutzt hatte, um daraus die Welt zu bauen, nachdem er es erschlagen hatte. Stattdessen hatte er ihn als Zeichen seiner Ehre und seiner Stärke stets bei sich getragen. Und im Moment seines Todes hatte er den Schädel seinen Kindern, den Or-Ak, vermacht. All seinen Kindern, dachte Temugush. Viel, viel später hatten die Vielen ihn geraubt. Sie hatten ihn später an die Vielbefähigten verloren, die einige Zeit mit den Krähen um ihn gestritten hatten. Bis schließlich die Schwertschmiede den Schädel erobert hatten. Vor ewigen Zeiten, noch bevor sie sich mit den Bienenzüchtern verbunden hatten. Doch in Wahrheit gehörte dieser Schädel nicht Ûng-Girâd, ebenso wenig wie er Kalprêk oder Orrôk oder den längst vergangenen Onbûng gehört hatte. Sie alle waren Or-Ak, sie alle kamen von Or, und er hatte dieses Zeichen seiner Ehre und seiner Stärke all seinen Söhnen geschenkt.

    Vier Tage später trat Umbrak der Marterer vor ihn wie ein wahrer Kriegsherr. Man hatte ihm sein Krush Agash genommen, ein Bolzen steckte in seiner Schulter, seine rechte Seite blutete stark und ein Marschâng- und ein Ûng-Girâd-Krieger hatten ihn in ihre Mitte genommen. Aber sofern er Schmerzen verspürte, sah man ihm diese nicht an. Ebenso wenig wie man ihm ansah, dass er geschlagen und gefangen war. Temugush wunderte sich nicht, dass Sorûck gerade diesen Mann zu seinem Kriegsherrn wählte.
    Auch Temugush war blutüberströmt. Doch es war das Blut seiner Feinde, das sein silbernes Kettenhemd und seinen ohnehin schon roten Umhang bedeckte. Um ihn herum standen einige seiner Feldherren aus beiden Stämmen. Koraz war da, ebenso wie Tukash. Und auch Kriegsherr Nemrok, der gleich zu seiner rechten stand. Weitere Krieger aus Marschâng und Ûng-Girâd bildeten einen Halbkreis im Rücken ihrer Anführer oder standen an den Seiten. Alle Augen ruhten auf ihm und auf dem feindlichen Kriegsherrn, den man vor ihn führte. Sie alle erwarteten, dass er seinen geschlagenen Feind nun tötete und seinen Schädel denen der anderen Feinde Marschângs hinzufügte. Temugush gedachte nichts dergleichen zu tun.
    „Ehre und Stärke“, sagte er, schlug sich die Faust auf die Brust und streckte sie Umbrak entgegen.
    Dieser erwiderte die Geste. „Ehre und Stärke.“ Einen Moment musterte er Temugush schweigend durch die schmalen Augenschlitze seiner hölzernen Maske, dann nahm er sie ab. Ein hartes Gesicht lag darunter, gezeichnet von vielen Narben. Dem Kriegsherrn fehlte das linke Ohr. „Du und die deinen habt gut gekämpft. Ich werde meine Niederlage nicht verleugnen, aber ich werde auch nicht um Gnade bitten. Einzig einen ehrenvollen Tod wünsche ich.“
    „Meinst du nicht, es sind schon genug gestorben am heutigen Tag?“, fragte Temugush zum Erstaunen aller Anwesenden. Er nutzte die schockierte Sprachlosigkeit seiner Untergebenen und sprach sofort weiter: „Wir Marschâng haben uns Vargôr widersetzt und den Frieden gebrochen, den wir mit ihnen hatten. Es ist nur verständlich, dass sie uns den Krieg erklärt haben. Aber musste Sorûck ihnen folgen?“
    „Wir haben nichts mit Vargôr zu schaffen“, entgegnete Umbrak. „Aber die Ehre meines Stammes hat verlangt, dass wir gegen dich in den Krieg ziehen. Du hast Umshak seine Braut geraubt.“
    „Das wiederum verlangte meine Ehre. Sie war meine Braut, schon Jahre bevor Umshak sie geraubt hat. Ich habe mir nur zurückgeholt, was mein war.“
    Umbrak nickte. „Und das respektiere ich. Du hast Ehre dabei bewiesen und großen Mut. Ich hörte, dass deine Männer dich jetzt den Tollkühnen nennen. Der Name ist berechtigt. Es ist keine Schande, von einem wie dir geschlagen zu werden.“
    „Es ist auch keine Schande, sich einem wie mir zu unterwerfen.“ Temugush griff an seine Seite. Eine Scheide hing an seinem Gürtel und ein Schwertgriff ragte daraus hervor. Nun zog er die Waffe. Er hielt sie in die Höhe und ließ den Daumen der freien Hand über die Klinge gleiten, sodass jeder Anwesende sehen konnte, dass sie stumpf war. „Meine Ehre verlangte es, dass ich mir meine Braut zurückhole. Aber ich raubte sie Umshak, nicht Sorûck. Und Umshak ist in der Schlacht gefallen. Die Geister bewirkten, dass wir aufeinandertrafen, und gaben ihm die Chance, sich zu rächen. Ich habe ihn erschlagen. Mit Sorûck aber habe ich keinen Streit. Viele tapfere und ehrenhafte Sorûck-Krieger sind heute gestorben und auch manch ein Marschâng und Ûng-Girâd, all das wegen der Fehde zwischen mir und Umshak ak Sorûck, die nun ihr Ende gefunden hat. Lassen wir nun auch das Blutvergießen ein Ende finden.“
    „Was wenn ich es Schwäche nenne, seinen Feind nicht zu vernichten?“, fragte Umbrak, der wohl noch einmal bewiesen musste, dass er ein großer Kriegsherr war und den Tod nicht fürchtete.
    „Ich zog es vor, meinen Stamm gegen die Mörder meines Vaters in den Krieg zu führen, anstatt weiter für sie in Knechtschaft zu leben. Ich erkämpfte mir meinen Rang als Kriegsherr und besiegte danach jeden, der mich zu einer Axtbegegnung forderte. Ich raubte meine Braut aus den Händen dessen, der sie mir gestohlen hatte, von seiner eigenen Hochzeit. Und ich habe dich besiegt. Ich sage, niemand kann mir Schwäche vorwerfen, ohne damit seine eigene Ehre zu beschmutzen! Aber sollte es doch jemand wagen, dann, bei meiner Ehre!, werde ich ihn töten – egal ob Feind“ – er zeigte mit dem stumpfen Schwert auf Umbrak – „oder Freund“ – er beschrieb mit der Waffe einen Bogen und richtete sie nacheinander auf die Umstehenden. Er wusste, dass viele denken würden, was Umbrak ausgesprochen hatte. Deshalb war diese Antwort im Grunde noch viel mehr an all jene gerichtet, die vielleicht in Gedanken schon oder noch immer seine Autorität infrage stellten, als an den besiegten Kriegsherrn. Doch nun wandte er sich diesem wieder zu. „Die Winter werden länger und härter. Für alle von uns. Ich sage, wir können uns unnötige Kämpfe zwischen unseren Stämmen nicht mehr leisten. Es ist an der Zeit, dass unser Volk sich vereint. Denn nur gemeinsam können wir überleben. Und wie ich schon sagte, ich habe keinen Streit mit Sorûck. Mein Streit war mit Umshak und dieser Streit wurde mit der Axt beigelegt. Also, was sagst du?“ Noch einmal hielt er ihm das stumpfe Schwert entgegen.
    Umbrak sah ihn einen Moment schweigend an, dann griff er nach dem Schwert. „Ich sage: Sorûck ist dein, Kriegsfürst.“

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Person A kommt durch Person D ums Leben. Der Grund dafür? Grund A!



    „Du musst mehr essen.“
    „Es gibt schon genug Unruhe im Lager. Was glaubst du, wird passieren, wenn wir nicht dieselben Entbehrungen auf uns nehmen wie alle anderen? Wenn der Rest hungert und wir satt werden, dann wird es wirklich noch zu einem Aufstand gegen dich kommen.“
    „Weshalb ich nicht mehr essen werde als unbedingt nötig. Aber du musst essen. Wenn schon nicht für dich, dann für das Kind.“ Noch während er die Worte aussprach, erkannte Temugush, dass die Mühe vergebens war. Bordo war starrköpfig. Sie würde nicht auf ihn hören.
    Seufzend stellte er die Schale mit Joghurt ab, die er ihr mitgebracht hatte. „Wenn wir bei Anbruch des nächsten Tages nicht zurück sind...“
    „Ihr werdet zurück sein.“ Bordo schloss ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich. „Ich weiß, dass du siegen wirst, Tem.“
    Er nickte nur, löste sich aus ihrer Umarmung und verließ wortlos das Zelt. Eisiger Wind schlug ihm entgegen und Schneeflocken stoben in seine Augen, sodass er die Klaue schützend vors Gesicht heben musste.
    Koraz wartete bereits vor seinem Zelt auf ihn. „Ein Sorûck und einer unserer Leute haben sich geschlagen“, sagte er und schloss sich Temugush an, der den Weg durch das Lager begann.
    „Sie sind alle unsere Leute.“
    Koraz nickte mit leicht gerunzelter Stirn. „Ein Marschâng meine ich.“
    „Gibt es einen Toten?“
    „Nein, keine Waffen glücklicherweise. Also nur ein paar ausgeschlagene Zähne und ein paar Blutergüsse.“
    „Gut.“
    „Der Sorûck hat dich feige genannt, weil du vor Vargôr davonläufst, und schwächlich, weil du deine Feinde nicht zerschlägst. Deshalb hat unser Mann ihn angegriffen.“
    „Der Marschâng.“
    „Hm?“
    „Sie sind beide unsere Männer.“
    „Ja.“ Die Falten auf Koraz‘ Stirn wurden etwas tiefer. „Soll ich sie hinrichten lassen?“
    „Nein, wir brauchen nicht noch mehr Tote.“
    „Aber wenn sie nicht bestraft werden, wird es wieder heißen...“
    Dass ich schwächlich bin. „Sie werden beide hier bleiben und die Frauen und Kinder bewachen.“
    Koraz nickte. Es würde noch immer einige geben, die ihn für schwächlich halten würden. Aber nicht an der Schlacht teilnehmen zu dürfen und stattdessen ehrlos Wache halten zu müssen, war eine angemessene Strafe. Und er würde nicht wegen solcher dummen Streitereien zwei Krieger umbringen. Er brauchte jeden einzelnen Mann, den er hatte. Nicht einmal so sehr wegen der anderen Stämme, sondern wegen des viel größeren Krieges, der noch auf sie wartete. Die Menschen waren ihnen an Zahl weit überlegen – wie weit genau konnten nur die Geister sagen – da war es ratsam, ihr Heer nicht weiter zu dezimieren als nötig.
    Am Rand ihres Lagers war das Heer aufmarschiert. Der Wind aus den Bergen peitschte die Banner – die rote Wildente Marschângs, den Schmiedehammer und den Bienenkorb von Ûng-Girâd auf grau und gelb und Sorûcks kahlen Baum vor grünem Grund, darunter die kleineren Feldzeichen der zahlreichen Vasallenstämme – mit solcher Wucht hin und her, dass die Wappen nicht mehr auszumachen waren. Es war ein großes Heer, das ihm mittlerweile folgte, wenn auch nicht so groß, wie das seines Vaters gewesen war. Doch nun drohte es, auseinanderzubrechen.
    „Wir sind bereit zum Abmarsch. Aber mir wäre lieber, ich würde Krieger anführen, auf die ich mich auch verlassen kann“, begrüßte Umbrak Temugush, als dieser in den Kreis seiner Feldherren trat.
    „Du kannst dich auf jeden einzelnen Marschâng und jeden Ûng-Girâd verlassen.“
    Umbrak schnaubte verhalten. Hinter seiner Holzmaske blitzten nur seine Augen hervor. Aber diese schienen alles und jeden mit einer durch nichts zu zügelnden Wut anzufunkeln.
    „Hör auf, dich zu beschweren“, forderte Tukash. „Wir müssen alle fremde Krieger in die Schlacht führen. Und wenigstens verstecken wir Ûng-Girâd uns nicht hinter Masken vor unseren Feinden.“
    „Willst du die Geister der Bäume beleidigen, durch deren Augen wir blicken?“, zischte Urgock, einer der Sorûck-Feldherren. „Willst du Gorrakka beleidigen, unseren Ahnherrn, der...“
    „Genug! Niemand will irgendjemanden beleidigen. Es sei denn, er möchte dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“ Temugush ließ den Blick über seine Feldherren schweifen und fragte sich insgeheim, auf wie viele von ihnen er sich verlassen konnte, fragte sich, wie viele von denen, die seinen Blick nun erwiderten, sich morgen gegen ihn wenden würden, wenn sie die Schlacht verloren. „Sorûck sollte sich daran erinnern, dass Marschâng und Ûng-Girâd auch an jenem Tag mit gemischten Heeren kämpften, als sie es besiegten.“ Er hätte auch an die Siege über den Falrôg- und den Trankâch-Stamm erinnern können, die ihnen auf ihrem Zug nach Norden begegnet waren und die sie beide unterworfen hatten – in beiden Schlachten hatten Marschâng, Ûng-Girâd, Sorûck und ihre Vasallen ihre Truppen gemischt. Aber Falrôg und Trankâch waren klein und hatten ihnen nicht viel entgegenzusetzen gehabt; diese Siege zählten kaum. Außerdem hätte es seiner Sache wohl eher geschadet, an seine umstrittene Entscheidung zu erinnern, Vargôr auszuweichen und nach Norden zu ziehen. Ihre eigene Niederlage aber war den Waldleuten noch gut im Gedächtnis. Und für den Moment brachte er sie damit zur Ruhe.
    Temugush gab einige letzte Befehle, ging noch einmal sicher, dass Umbrak und Nemrok, die Kriegsherren der kleineren Stämme und all die vielen Feldherren seines Heeres ihre Aufgaben kannten. Dann ließ er die Hörner blasen und die Krieger setzten sich in Bewegung.
    Während sie durch den immer tieferen Schnee stapften, die Köpfe zwischen die Schultern und die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen, kreisten seine Gedanken um seine vergangenen Entscheidungen. Nach Norden marschieren, bis zum Fuß der Berge, das war der Plan gewesen, und dann durch das Kadeshtal nach Osten. Dass dieser Schachzug ihn Wochen, wenn nicht gar Monate kosten würde, war ihm von Anfang an klar gewesen. Aber auf diese Weise hatte er Vargôr in großem Bogen umgehen können. Und hatten sie das Tal von Kadesh erst einmal wieder verlassen, stünden ihnen verschiedene Möglichkeiten offen:
    Wieder nach Süden marschieren, gen Marschâng. Sie hätten dort den Teil ihres Zuges zurücklassen können, der sie nur langsamer und angreifbarer machte: Die vielen hundert, tausend Frauen, Kinder, Greise und das Vieh. Marschâng ließ sich gut verteidigen, es hätte gereicht, eine verhältnismäßig kleine Zahl an Kriegern zum Schutz zurückzulassen, während er mit einem wesentlich mobileren Heer, das weniger Vorräte bedurfte, hätte weiterziehen können.
    In das Land von Kalprêk einfallen, das unweit des Ausgangs aus dem Kadeshtal begann. Kalprêk war groß und ein gefährlicher Gegner. Aber sie würden nicht mit einem Angriff, noch dazu von Norden her, rechnen. Und Temugushs Heer war das größere. Er könnte Kalprêk in kurzer Zeit in die Knie zwingen und seinem stetig wachsenden Gefolge einverleiben.
    Weiter nach Westen marschieren, zum Meer. Die Küstenstämme lagen nur selten im Streit mit den Stämmen der Steppe, aber wollte er sein Volk einen, würde er auch sie unter seine Führung bringen müssen. Und er wusste, dass er auf ihre Schiffe angewiesen war. Die Menschen des Südens beherrschten mit den ihren alle Meere jenseits der Sturmküste.
    Oder gar den Geisterrat auf seinem Berg aufsuchen, in der Hoffnung auf die Unterstützung der Schamanen.
    Doch für all das mussten sie das Kadeshtal erst einmal hinter sich lassen. Und das hatten die Stämme Barrôgg und Ultâng verhindert.
    „Wir sind fast da“, teilte ihm Antak mit, ein Späher aus Gormêk, einem von Marschângs Vasallen. „Hinter den nächsten Biegungen ist ihr Heerlager.“
    Temugush nickte. „Dann schick die Schützen auf die Felsen. Ich will, dass alle Wachposten ausgeschaltet werden, bevor sie die Hörner blasen können.“ Während Antak sich davonmachte, blickte Temugush sich um, das Gesicht mit der Hand gegen den Sturm abschirmend. Schon seit einiger Zeit waren die Felswände zu beiden Seiten immer näher gerückt. Hier nun war das Tal so schmal, dass es im Grunde zur Schlucht wurde. Und genau diesen Umstand hatten ihre Feinde ausgenutzt, um ihnen aufzulauern und sie zurückzudrängen.
    Niemand hatte mit den Bergstämmen gerechnet. Für gewöhnlich hielten sie sich um diese Zeit des Jahres noch in ihren Dörfern weiter oben an den Hängen auf und gruben in ihren Minen nach dem Eisen, das sie bei den Stämmen der Ebenen gegen Nahrung und andere Güter eintauschten und aus dem ihrer aller Waffen geschmiedet waren. Aber für gewöhnlich war es um diese Zeit des Jahres auch nicht so kalt. Barrôgg und Ultâng waren also schon mehr als einen Monat früher als üblich von ihren Bergen zu ihren Wintersiedlungen in den Tälern hinabgestiegen. Und dabei waren sie mitten in Temugushs Heer hineingelaufen. Eine so große Streitmacht fremder Stämme aus den Steppen in ihren Tälern hatten sie als Bedrohung betrachtet und umgehend angegriffen. Dieser erste Schlag hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Der Bergstämme hatten Temugush seine erste Niederlage beigebracht. Und nun blockierten sie den Ausweg aus dem Tal. Einmal schon hatte er versucht, gegen sie anzustürmen. Das war seine zweite Niederlage gewesen. Und täglich wurden die Vorräte knapper und erlagen einige mehr der Kälte.
    Wenn wir unsere Feinde heute nicht schlagen und es uns nicht gelingt, durchzubrechen, dann gehen wir alle in diesem Tal zugrunde. Oder sie mussten umkehren. Nein, das kommt nicht infrage. Selbst im Sommer hätten sie bei der Größe ihres Zuges eine Woche gebraucht, um wieder ans andere Ende des Tals zu gelangen. Wenn sie jetzt zurückmarschierten, würden sie eine Spur von Leichen hinter sich lassen. Und wenn ihre Feinde gar entschieden, ihnen zu folgen und ihnen immer wieder in den Rücken zu fallen... Nein, umkehren war keine Option. Ganz davon abgesehen, dass er dann endgültig jegliche Autorität eingebüßt hätte. Wir müssen kämpfen. Und siegen.
    Wir haben lange genug gewartet
    , befand er mit einem Mal. Die Späher würden die feindlichen Wachposten mittlerweile ausgeschaltet haben. Er riss seine Axt in die Höhe und brüllte: „ZUM ANGRIFF!“ Dann stürmte er los, seine Krieger hinter sich. Er hatte auf den Einsatz der Mammuts verzichtet. Die Bergstämme besaßen keine und angesichts der Enge dieser Schlucht konnte er verstehen, warum. Zwei oder drei der Tiere hätten hindurchgepasst, nicht mehr. Aber sie hätten nur leichte Ziele abgegeben und den Weg für die Krieger versperrt. Zumindest bläst der Wind von hinten. Das ist gut, dachte er, während sie um die Biegung der Schlucht rannten. Der Schnee würde ihren Feinden in die Gesichter peitschen, nicht ihnen. Einige seiner Späher schlossen sich ihnen an. Weitere konnte er aus den Augenwinkeln auf den Felsen links und rechts erkennen. Doch nirgends waren Leichen auszumachen. Haben diese Narren etwa keine Wachposten aufgestellt?
    Sie stürmten um eine weitere Biegung. Und da war das Lager ihrer Feinde. Angespitzte Baumstämme hatten es wohl bis vor kurzem vollständig abgeschirmt, doch einige Orks waren gerade damit beschäftigt, sie wieder aus dem Boden zu ziehen, und hatten bereits eine große Lücke in dem Verteidigungsring geschaffen.
    Temugush hatte keine Zeit, sich zu wundern. Er raste durch die Lücke, mitten in ein Gewirr von Zelten, die gerade abgebaut wurden. Ein Ork, der dabei war, Zeltstangen auf einem Schlitten zu stapeln, war sein erstes Opfer. Er rammte ihm die Axt in den Rücken, noch ehe dieser wusste, wie ihm geschah. Dann hastete er weiter. Ein anderer Ork unterbrach seine Arbeit und blickte von der Zeltplane auf, die er gerade zusammenrollte, doch zu mehr kam er nicht, bevor Temugushs Axt seine Stirn spaltete.
    Etwas stimmte hier nicht.
    Temugush warf den Kopf nach links. Krieger in rot, grün und grau und gelb fielen über die unvorbereiteten Feinde her. Er riss den Kopf nach rechts herum. Karoks Axt war blutbeschmiert und um ihn her wüteten seine Krieger unter den völlig verwirrten Feinden.
    Erst nach einigen Momenten überwanden einige der Bergkrieger die Überraschung und fanden irgendwie zu ihren Waffen. Sie wurden sofort niedergemäht. Weitere Orks strömten nun von allen Seiten zwischen den Zelten hervor. Aber es waren einzelne oder kleine Grüppchen, hilflos gegen die feindliche Übermacht.
    So metzelten sich Temugush und sein Gefolge weiter aufs Zentrum des Lagers zu. Bolzen wurden in ihren Rücken abgeschossen, flogen über ihre Köpfe hinweg und prasselten auf die Zelte vor ihnen nieder, doch es kamen kaum Bolzen zurück. Zelte wurden niedergerissen. Schreie erklangen, wurden aber vom Heulen des Windes verschluckt. Irgendwo in der Ferne wurde ein Kriegshorn geblasen, immer und immer wieder, wie ein verzweifelter Hilferuf.
    Nach einer Weile stürmte ihnen eine größere Gruppe entgegen. Irgendwie war es ihren Feinden wohl doch noch gelungen, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen und einige Dutzend ihrer Krieger zu einem gemeinsamen Gegenschlag zusammenzuziehen. Es war eine reine Verzweiflungstat. Gegen die tausende von Kriegern in Temugushs Rücken hatten sie keine Chance.
    Er kreuzte für einen Moment die Klingen mit einem Feind. Dann tauchte von der Seite ein Sorûck-Krieger auf und trieb seinem Gegner das Schwert in die Brust. Den nächsten Ork, der sich ihm entgegenstellte, tötete Temugush jedoch selbst. Ebenso den übernächsten. „Ehrlose Verräter!“, schrie ihm ein Elitekrieger entgegen, der sich auf ihn stürzte. Das Krush Varok seines Feindes traf Temugushs Schulterplatte, nur um daran abzugleiten. Er schlug mit der Axt zu und trennte den ungeschützten Unterarm seines Gegners von dessen Leib. Sein nächster Hieb tötete den Feind.
    Was war hier bloß los? Er verstand nicht.
    Weitere Feinde stürmten auf sie ein. Für einen Moment wurde er von zweien gleichzeitig bedrängt. Dann attackierte Koraz, der direkt an seiner Seite kämpfte, einen von ihnen, und Temugush konnte den anderen niederstrecken. Er stürzte sich brüllend auf den nächsten Gegner, als er eine Stimme verzweifelt seinen Namen schreien hörte. Doch er konnte ihre übrigen Worte über dem Kampfeslärm und dem durch die Schlucht pfeifenden Wind nicht verstehen. Und seine Aufmerksamkeit galt dem Ultâng-Krieger, dessen Axt bedrohlich dicht an seinem Ohr vorbeisauste. Temugush trieb ihm die eigene Klinge in die Seite, riss sie sogleich wieder hervor und wirbelte herum, um sich dem nächsten Angreifer zu stellen. „Temugush! Temugush!“, hörte er es wieder schreien. Und: „Aufhören! Ihr müsst aufhören!“ Er ließ eine Reihe schneller Hiebe auf seinen Widersacher herabprasseln, der langsam nach hinten strauchelte und immer größere Schwierigkeiten hatte, noch rechtzeitig zu blocken. Dann traf er ihn an der Schulter und trieb seine Axt tief in ihn hinein.
    „TEMUGUSH!“
    Er fuhr herum. Und vor Erstaunen war er für einen Moment so gelähmt, dass es seinen Tod bedeutet hätte, hätte nicht ein Ûng-Girâd-Krieger den Feind erschlagen, der gerade nach Temugush ausholte. Dort neben einem niedergerissenen Zelt stand seine Schwester und ruderte verzweifelt mit den Armen.
    „Verräter!“ Wieder schwang ein Feind das Schwert nach ihm. Temugush blockte. Dann sah er, dass sein neuer Gegner einen langen weißen Umhang und einen mit Runen verzierten Helm trug, wie sie nur einem Kriegsherrn gehören konnten.
    „Hört auf! So hört doch auf!“, flehte Grogosh. „Ihr müsst sofort aufhören! Es ist Frieden! TEMUGUSH! FRIEDE!“
    Zweimal noch trafen ihre Klingen klirrend zusammen, dann brüllte Temugush: „HALT!“
    Die meisten seiner Krieger in unmittelbarer Umgebung hielten verwirrt inne. Und als sie dies sahen, senkten auch ihre Feinde die Waffen. Nur hie und da wurde noch gekämpft, doch auch das endete schnell.
    „Ihr dürft nicht weiterkämpfen!“, schrie Grogosh, die nun auf ihn zugerannt kam. „Es ist Frieden! Ich habe Frieden ausgehandelt!“
    „Du hast uns hintergangen!“ Der Barrôgg-Kriegsherr wirbelte herum und streckte Grogosh so plötzlich sein Schwert entgegen, dass sie beinahe hineingerannt wäre. Instinktiv schlug Temugush die Waffe des anderen beiseite. Sofort nahmen einige der Umstehenden das Kämpfen wieder auf, doch Temugush schrie abermals: „HALT!“ Dann brüllte er laut und deutlich: „Wir haben niemanden hintergangen!“
    „Uns ein stumpfes Schwert senden und uns dann überfallen, als wir gerade unser Lager abreißen?“ Der fremde Kriegsherr spuckte ihm vor die Füße. „Das ist eure Ehre wert!“
    „Wag es nicht, unsere Ehre infrage zu stellen!“, fauchte Borshak und wollte sich schon auf den nächststehenden Feind stürzen, doch Temugush hielt ihn zurück: „Halte ein! Ihr alle! Keiner erhebt das Schwert!“ Er wandte sich Grogosh zu. „Was hat das alles zu bedeuten?“
    „Ich habe ein stumpfes Schwert zu unseren Feinden getragen. Sie haben dem Frieden zugestimmt.“
    „Und ihr habt ihn gebrochen!“, schrie irgendeiner der Ultâng-Krieger.
    „Wir wussten nichts von irgendeinem Frieden!“, versicherte Temugush. „Meine Schwester war ohne mein Wissen hier.“
    „Sie sagte, sie käme in deinem Namen“, sagte der fremde Kriegsherr. „Willst du behaupten, sie hätte gelogen?“
    „Das habe ich.“ Grogosh senkte das Haupt und blickte betreten zu Boden. „Ich wusste nicht, dass...“
    „Dass was?“, fauchte Temugush. Er konnte nicht fassen, dass er hintergangen worden war. Ausgerechnet von ihr.
    „Dass du gerade jetzt angreifen würdest. Ich wollte einen Frieden aushandeln. Dann zurückkehren. Es dir sagen. Ich...“
    „Was für ein Kriegsfürst lässt sich von einem Weib auf der Nase herumtanzen?“, fragte irgendjemand halblaut. Und zustimmendes Gemurmel kam nicht nur von seinen Feinden, sondern, sehr zu seinem Schrecken, auch von seinen eigenen Männern.
    „Ich sage, sie lügen beide!“, rief irgendein Ultâng. „Das ist alles eine List, weil ihm die Ehre und die Stärke fehlen, uns in einer ehrlichen Schlacht zu bezwingen!“ Einige seiner Stammesgenossen und aus seinem Bruderstamm fielen zustimmend und Schmähungen rufend ein. Das erregte wiederum den Zorn einiger von Temugushs Männern. Aber andere unter seinen Kriegern schienen weniger entschlossen, seine Ehre gegen die Beschimpfungen zu verteidigen.
    Diesmal war es der andere Kriegsherr, der „RUHE!“ rief und damit wieder für Ordnung sorgte. „Du schwörst, dass du nichts mit dem Friedensangebot deiner Schwester zu tun hattest?“, fragte er.
    „Bei meiner Ehre.“
    „Welche Ehre?“, höhnte irgendjemand in den hinteren Reihen der feindlichen Krieger.
    „Bei der Ehre meiner Stämme. Bei der Ehre meines Vaters, Kriegsfürst Yarugars ak Marschâng. Bei der Ehre von Bor Mar-Shang, dem Wildentenjäger. Und beim Großen Geist. Ich schwöre, meine Schwester hat eigenmächtig und ohne mein Wissen gehandelt.“
    Das sorgte für Ruhe. Ein solcher Schwur bei der Ehre seines Ahnherrn und beim Großen Geist selbst erweckte Eindruck bei den meisten. Nur hie und da wurde noch verhalten gemurmelt.
    „Dann hat sich deine Schwester eines großen Verbrechens schuldig gemacht, als sie sich ihrem Kriegsherrn widersetzte, uns betrog und deine Ehre beschmutzte. Ein Verbrechen, das nicht ungestraft bleiben darf.“ Temugush zögerte. Aber die Ultâng und Barrôgg pflichteten ihrem Kriegsherrn lautstark bei. Und auch viele seiner Krieger stimmten mit ein.
    Temugushs Blick zuckte zu seiner Schwester und sie erwiderte ihn. „Ich werde über sie zu Gericht sitzen“, entschied er, um Zeit zu gewinnen. Und als ringsum wütende Rufe laut wurden, weil er sie nicht umgehend verurteilte, hob er die Stimme und sagte: „Ich werde mir anhören, welche Anklage gegen sie vorgebracht wird, aber auch was sie zu sagen hat. Und dann werde ich gerecht urteilen. Als ihr Kriegsherr, nicht als ihr Bruder.“ Er wandte sich dem anderen Kriegsherrn zu. „Wo ist das stumpfe Schwert, das meine Schwester gebracht hat?“
    „In meinem Zelt. Grobock, das stumpfe Schwert.“ Einer der Krieger nickte und rannte davon.
    „Du sollst es noch einmal empfangen, diesmal aus meiner eigenen Hand. Ich bitte um Frieden. Und wenn schon nicht um Frieden, dann um einen Waffenstillstand. Niemand wird Ultâng und Barrôgg verübeln können, wenn ihr Vertrauen in mein Wort erschüttert ist oder wenn es sie nach Rache dürstet“, fuhr er mit erhobener Stimme fort, jetzt zu allen Umstehenden sprechend. „Aber ich bitte um die Gelegenheit, meine Ehre wieder reinzuwaschen. Wir werden meine Schwester in Gewahrsam nehmen. Und morgen bei Sonnenaufgang werde ich in der Mitte zwischen unser beider Lager über sie Gericht halten. Barrôgg und Ultâng sind willkommen, dort gegen sie zu sprechen!“
    Der Krieger namens Grobock war glücklicherweise schnell zurück. Er überreichte das stumpfe Schwert Temugush, der es wiederum dem anderen Kriegsherrn gab. Dieser nickte wortlos. Dann wies er seine Krieger an, die Feinde vorerst ziehen zu lassen. Temugush befahl Kor-Shach, seine Schwester abzuführen. Er gab den Befehl in brüskem Ton, teils, damit ihm niemand vorwerfen würde, er sei weichlich und schone Grogosh, weil sie seine Schwester war, teils aus echter Wut auf sie. Dann rief er zum Aufbruch. Die grimmigen Blicke der Ultâng und Barrôgg begleiten sie, während sie der Schlucht wieder in Richtung ihres eigenen Lagers folgten.
    „War das die Wahrheit, Kriegsfürst?“, fragte Tukash leise. „Wusstest du wirklich nichts hiervon?“
    „Hältst du mich für einen ehrlosen Feigling, dass ich meine Feinde durch Listen zu besiegen versuche?“, brauste er wütend auf. Laut genug, dass es auch die Umstehenden hörten. Tukash behielt für sich, was immer er denken mochte. Und die anderen würden ihm hoffentlich glauben. Aber er spürte die Blicke auf sich. Hörte das Getuschel der Männer, das jedoch immer verstummte, wenn sein Blick sie traf. Und als sie ihr eigenes Lager erreicht hatten, berichtete ihm Koraz, der vom anderen Ende des Zuges kam, wie zwei Feldherren und einige Elitekrieger aus Sorûck gemeinsam über ihn geschimpft hatten, weil er Schande über ihren Stamm gebracht habe.
    Temugush suchte Ruhe in den Armen seines Weibes. Bordo lauschte ihm, während er ihr berichtete, was sich zugetragen hatte. Still und aufmerksam. „Du musst sie zum Tode verurteilen“, sagte sie, als er geendet hatte. Ihre Stimme war sanft, mitfühlend, aber die Worte verloren deshalb nicht an Wirkung.
    Temugush zuckte zusammen. „Nein!“, sagte er, ohne zu zögern.
    „Tem, ich weiß, wie schwer das für dich sein muss, aber dir bleibt keine Wahl.“
    „Ich bin der Kriegsfürst. Ich HABE die Wahl.“
    „Oh Tem...“ Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte. „Du weißt, so ist es nicht.“
    Er seufzte. „Nein. Trotzdem. Sie ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist.“
    Bordo nahm seine Klaue und führte sie sanft zu ihrem Bauch. Noch war dort nichts zu spüren. Aber die Botschaft war klar. „Du hast jetzt eine neue Familie“, flüsterte sie.
    Temugush streichelte über ihren noch flachen Bauch. „Bordo, ich kann nicht. Das kannst du von mir nicht erwarten. Sie ist meine Schwester.“
    „Dann werden sie dir alle den Rücken kehren.“ Sie löste sich von ihm und erhob sich von ihrem Lager. „Und Ultâng und Barrôgg werden uns abermals angreifen.“
    Sie hatte Recht. Das wusste er. Zunächst hatte es nur verhaltene Kritik gegeben, als er Vargôr ausgewichen und nach Norden gezogen war. Die Siege über Trankâch und Falrôg, die sich seinem Heer angeschlossen hatten, hatten seine Position weiter gestärkt. Doch je weiter sie nach Norden gezogen waren, desto entbehrungsreicher war der Marsch geworden. Und mit jedem Greis, der den Strapazen erlag, jedem Tier, das verendete, waren die Stimmen lauter geworden, die seine Entscheidung infrage stellten. Und nun steckten sie hier in diesem Tal fest. Er hatte seine beiden ersten Schlachten verloren. Und ihre Vorräte schrumpften stetig weiter zusammen. Warum folgten sie dem Feind, der ihren Stamm gedemütigt hatte, fragten einige Sorûck hinter vorgehaltener Hand und nannten ihn zu schwächlich, um einen am Boden liegenden Gegner auch zu töten. Warum eigentlich hatten sie sich mit einem fremden Stamm verbündet, dessen Kriegszügige sie nichts angingen, auch wenn sein Kriegsherr eine der ihren geraubt haben mochte, fragten manche Ûng-Girâd und warfen ihm vor, Vargôr zu fürchten und feige vor seinen Feinden davonzulaufen. Und sogar einige Marschâng wetterten im Stillen gegen ihn, der ihrem Stamm die Rückkehr zu alter Größe versprochen hatte, aber offenbar nicht wusste, was er tat, und sie nun in den Untergang führte. Es gab immer mehr Spannungen zwischen denen, die zu ihm hielten, und jenen, die ihn kritisierten. Und noch mehr Spannungen zwischen den verschiedenen Stämmen. Die Schlägerei an diesem Morgen war nur eine von vielen gewesen. Gestern schließlich war es gar so weit gekommen, dass Baragor ak Sorûck ihn zu einer Axtbegegnung gefordert hatte – das allerdings war eine willkommene Herausforderung gewesen: Er hatte seinen Gegner besiegt und dabei seine Stärke demonstriert; und er hatte ihn getötet und den Männern gezeigt, dass er durchaus imstande war, Feinde, die sich nicht zu Freunden machen lassen wollten, zu vernichten. Ja, mehr noch, diese Axtbegegnung war vielleicht ein wichtiger Präzedenzfall gewesen. Er hätte ohne Ehrverlust ablehnen können, mit der Begründung, dass Baragor Blauzahn kein Mitglied seines Stammes war und kein Recht hatte, ihn zum Zweikampf zu fordern. Stattdessen hatte er sich darauf eingelassen, und vielleicht würde das dazu beitragen, dass all seine Gefolgsleute ihr Stammesdenken überwanden und sich eines Tages als ein Volk begriffen.
    Bordo riss ihn aus seinen Gedanken, indem sie sich wieder zu ihm hockte und ihm ein Trinkhorn reichte. Er nahm einen tiefen Zug. Vergorene Mammutmilch mit einem ordentlichen Schuss Met. Eine Mischung, wie sie nur die Ûng-Girâd tranken. Aber sie schmeckte. „Ruh dich aus“, riet ihm sein Weib. „Schlaf über all das. Aber denke gut nach, bevor du morgen urteilst.“
    „Und wenn sie meine Ehre infrage stellen. Ich werde noch mehr Siege erringen, in Axtbegegnungen und in Schlachten. Ich werde jeden töten, der sich meiner Herrschaft widersetzt. War ich nicht noch letztes Jahr ein Niemand? Ein Vergessener? Ein geflohener Sklave im Exil? Einer aus einem unterworfenen und gedemütigten Stamm? Sieh, wie weit ich es gebracht habe! Egal wie groß der Rückschlag ist, ich kann sie noch einmal alle von mir überzeugen.“ Er nahm einen tiefen Schluck. Vor allem um die eigenen Zweifel wegzuwaschen.
    Bordo aber schnaubte nur. „Wie viele Verlobte hast du noch da draußen, die du noch von ihren Hochzeiten rauben kannst?“
    Temugush wusste darauf nichts zu sagen und trank noch einen Schluck.
    Plötzlich griff Bordo energisch nach seinen Schultern. Ihre Krallen gruben sich in die Lederplatten. Sie schüttelte ihn leicht. „Tem, bitte wach auf! Ich kenne dich als einen der klügsten und weitsichtigsten Orks, die ich je getroffen habe. Du hast es bis jetzt immer verstanden, genau das Richtige zu tun, um deine Macht und deinen Rückhalt unter den Männern noch zu vergrößern. Jeder halbwegs passable Krieger hätte die Vargôr-Krieger aus Marschâng werfen können. Aber du hättest es nicht so weit gebracht, wenn du der hitzköpfige Idiot wärst, wie der du dich gerade aufführst. Lass dir in dieser Sache nicht den Verstand vernebeln, auch wenn es dir schwerfallen mag.“
    Er schaute sie lange an. Und sie schaute zurück. Sie wich seinem Blick nicht aus, im Gegenteil, sie hielt ihm stand, entschlossen, flehend, fordernd, bis er es war, der die Augen senkte. „Du hast Recht. Aber es ist schwer. Ich liebe sie.“
    „Natürlich tust du das, sie ist deine Schwester. Aber mach dir nichts vor, Tem: Selbst wenn du es schaffen würdest, sie zu begnadigen, ohne hinterher von deinen eigenen Männern ermordet zu werden: Sie wird deine Position immer weiter untergraben.“
    „Grogosh stimmt nicht mit meinen Plänen überein und sie glaubt nicht an meine Vision. Aber sie will nichts Böses. Und sie ist eine starke und fähige Anführerin. Ich hatte daran gedacht, sie mit den Frauen und den Greisen in Marschâng zu lassen, damit sie die Stadt verwaltet, während ich die anderen Stämme eine. Ich hatte sogar überlegt, ob es gelingen könnte, sie zur Herrscherin aller Stämme zu machen, wenn wir Krieger über den großen Gletscher ziehen. Das kann ich nun nicht mehr.“
    „Nein, das kannst du jetzt nicht mehr.“ Plötzlich lachte Bordo leise auf. „Aber du weißt doch, ich hatte dir einst gedroht, dass ich eines Tages Häuptling werde. Häuptling aller Orks, also Friedensfürstin...“ – ein hungriges Grinsen umspielte ihre Lippen – „das könnte mir gefallen.“ Doch Bordo schien sofort zu merken, dass Temugush heute nicht in der Stimmung für ihre übliche Art war, und wurde augenblicklich wieder ernster. „Nein, Tem, mit diesen Aufgaben kannst du sie jetzt nicht mehr betrauen. Aber glaube mir, du konntest es auch schon vorher nicht. Nein, sie will dir vielleicht nichts Böses, sie mag nur für das kämpfen, woran sie glaubt, aber nichtsdestotrotz: Sie wird dein Untergang sein, wenn du sie weiter gewähren lässt. Denk darüber nach: Sie hat von Anfang an mit allen Mitteln versucht, deine Pläne zunichte zu machen. Und sie hat nicht aufgegeben, als sie verloren hatte und der Stamm den Krieg gewählt hat. Sie hat weiterhin jeder deiner Entscheidungen widersprochen. Und das offen, vor all deinen Gefolgsleuten. Sie untergräbt deine Autorität. Und sie versucht noch immer, die Männer zu bewegen, den Krieg wieder zu beenden.“
    Diesen Vorwürfen konnte Temugush schlecht widersprechen. Grogosh hatte zähneknirschend seinen Sieg über Sorûck anerkannt. Aber dann hatte sie ihm vorgeworfen, sich nicht auf Vargôr gestürzt zu haben, sondern nach Norden gezogen zu sein.
    „Du hast das alles losgetreten, um uns von Vargôr zu befreien“, hatte sie gesagt. „Du weißt, ich hielt deinen Weg immer für den falschen. In meinen Augen hast du mit dem Feuer gespielt und unser aller Schicksal aufs Spiel gesetzt. Aber ich gebe es zu, du hattest mit allem Erfolg. Aber reicht das nicht, Temugush? Dein Heer ist jetzt viel größer als das von Vargôr. Warum ziehst du nicht gegen sie und schlägst sie und setzt dem allen ein Ende und bringst uns den Frieden wieder? Das war es doch, weshalb du diesen Krieg überhaupt losgetreten hast: Um uns von Vargôr zu befreien und uns unsere alte Größe zurückzugeben. Jetzt hast du die Chance!“ Er hatte es ihr zu erklären versucht. Hatte ihr wiederholt, was er ihr schon einmal gesagt hatte: Dass sie zugrunde gehen würden, selbst wenn sie Vargôr besiegten, weil ihr wahrer Feind der Winter war. Aber Grogosh hatte einen anderen Grund gewittert: „Vielleicht willst du gar kein Ende des Krieges. Weil du dann deine Macht nämlich abgeben müsstest. Weil sich die Stämme dann wieder trennen und die Frauen von Marschâng wieder einen Häuptling wählen würden.“ Ein Vorwurf, der geschmerzt hatte. Vielleicht auch, weil er ein Fünkchen Wahrheit enthielt.
    Grogosh jedenfalls hatte sich nicht damit begnügt, mit ihm zu streiten. Sie ging im Lager umher, sprach mit Leuten aller Stämme, unterhielt sich besonders mit den Frauen, mit den Ältesten. Und in den letzten Tagen waren ihre Worte bei manchen auf fruchtbaren Boden gefallen. Er habe genug erreicht, befanden einige, es sei Zeit für Frieden – spätestens nachdem man Vargôr den Todesstoß gegeben hätte – und vor allem Zeit, vor dem Winter nach Süden zu fliehen, anstatt ihm entgegenzulaufen, und Vorräte anzulegen.
    „Sie wird nicht eher ruhen, als bis sie genug Leute auf ihre Seite gebracht hat und einen Frieden erzwingen kann. Ja, Tem, sie tut das nicht, um dir zu schaden. Aber sie schadet dir doch. Sie schadet uns. Und sie schadet unserem Volk. Du weißt das. Du weißt, dass du sie verurteilen musst. Und du darfst nicht zulassen, dass deine Gefühle dich davon abhalten, das Richtige zu tun.“

    Der Feldherren von Ultâng und Barrôgg waren bereits da, als Temugush mit seinen eigenen Feldherren den Platz zwischen den beiden Lagern erreichte, an dem er das Urteil über seine Schwester fällen sollte. Ihre Feinde hatten zwei große Zelte nebeneinander aufgebaut, über denen ihre Banner hingen. Der starke Schneefall vom gestrigen Tag war vorüber. Der Wind hatte sich vollständig gelegt und nur dann und wann segelte eine einzelne Flocke vom Himmel herab. Einige von Temugushs Kriegern bauten sein Zelt gegenüber denen ihrer Feinde auf und hissten seine eigene Fahne. Bordo, die ihn bis hierhin begleitet hatte, blieb dort zurück. Er selbst schritt seinen Feinden entgegen, sein Gefolge hinter sich. Dann blieben sie in zwei Halbkreisen stehen. Er ließ sich auf seinem Thron nieder, den seine Krieger hier raus getragen hatten. Der Thron war wie stets mit den Schädeln einiger Feinde Marschângs verziert. Er hatte dafür gesorgt, dass die Schädel von Urtash ak Vargôr und Umshack ak Sorûck darunter waren, und hoffte, dass ihr Anblick einige der seinen an seine Siege erinnern würde. Schließlich erschien einer von seinen Elitekriegern und führte Grogosh in die Mitte des Kreises. Und dort stand sie dann. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Oder aber auf ihn.
    Jarrok ak Ultâng, der Kriegsherr seines Stammes, trat als erster vor. Um seine Schultern hing ein brauner Umhang und er trug einen gehörnten und aufwändig verzierten Helm auf dem Kopf. Olrag, der Kriegsherr Barrôggs, mit dem er gestern gekämpft hatte, trug wieder seinen weißen Umhang. Er stand im Kreis seiner Feldherren, die Arme verschränkt. Temugush sah mit einem Blick in Jarrosk Gesicht, dass dieser hier weniger verständig war als der andere Kriegsherr und nicht so leicht mit sich reden lassen würde. Und tatsächlich verlangte der Ultâng ohne Umschweife Grogoshs Kopf. Seine Männer unterstrichen seine Forderung mit lauten Rufen.
    Die Ultâng stehen alle zusammen, dachte er. Und die Barrôgg links davon in ihrer eigenen Gruppe. Sie kämpfen zusammen, aber sie bleiben beide unter sich. Die Feldherren aus Marschâng, Ûng-Girâd, Sorûck und den übrigen kleineren Stämmen hatten sich in seinem Rücken bunt gemischt. Ging seine Strategie vielleicht langsam auf? Hatte sein Plan mehr Erfolg gehabt, als es den Anschein hatte?
    Beinahe hätte er verstört aufgelacht. Warum kamen ihm gerade jetzt solche Gedanken? Es ging um Grogoshs Leben.
    Aber er konnte ebenso gut diesen Gedanken nachhängen, denn es folgte nur Anschuldigung auf Anschuldigung. Einer nach dem anderen traten die Ultâng und die Barrôgg vor, um Grogoshs Tod zu fordern. Und als sie fertig waren, folgten seine eigenen Männer, die mit einstimmten und durcheinanderriefen, dass er ihrer aller Ehre wieder herstellen müsse, indem er sie hinrichtete.
    Während all der Zeit verharrte seine Schwester stumm in der Mitte. Das Haar wuchs ihr langsam wieder nach. Ihren Bart hatte sie bereits wieder zu einem kurzen Zopf gebunden. Ihre Kleidung war einfach, schmucklos. Reglos stand sie im Schnee. Den Blick auf ihn geheftet.
    „Leugnest du deine Tat?“, fragte er schließlich, als sie alle geendet hatten.
    „Nein.“
    Sofort brandeten neuerliche Rufe auf beiden Seiten auf. „Tötet sie! Tötet sie!“, schrie es aus allen Richtungen.
    „Und hast du irgendetwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“
    „Nur dass ich nicht wusste, dass du angreifen würdest. Es war nicht mein Wunsch, Ultâng und Barrôgg eine Falle zu stellen.“
    „Aber genau das hast du getan“, entgegnete er, und spürte den ersten Anflug von Wut in sich hochkochen. „Du hast ihnen Frieden versprochen. Du hast es geschafft, dass sie auf deinen Vorschlag eingingen. Und dann, als sie ihre Wachposten abgezogen hatten und ihr Lager gerade abbrachen, kamen wir. Ich wollte meine Feinde in einer ehrlichen Schlacht zerschmettern oder aber beim Versuch zugrunde gehen. Stattdessen hast du mich zu einem ehrlosen Betrüger gemacht.“
    „Du hattest mir nicht gesagt, dass du so schnell wieder angreifen würdest“, antwortete Grogosh und klang dabei fast vorwurfsvoll.
    „Erwartest du etwa, dass ich dich in meinen Kriegsrat lade oder die Details meiner Schlachtpläne mit dir bespreche?!“, bellte er. „Das ist nicht dein Platz!“
    „Ich wusste es nicht besser“, erwiderte sie mit einer Ruhe, als hätte sie ihn nicht gehört. „Du hattest gerade erst eine Niederlage erlitten. Ich dachte nicht, dass du es so schnell noch einmal versuchen würdest. Du hattest dich mit deinem Kriegsrat zurückgezogen. Ich hatte erwartet, ihr besprecht andere Möglichkeiten. Oder überlegt, wieder zurück zu ziehen.“
    „Den Weg zurück zu ziehen, den wir gekommen sind, hätte uns die Leben von vielen Alten und vielen Kindern gekostet. Und wir hätten uns unseren Feinden zu einem leichten Ziel gemacht.“
    „Eben darum wollte ich ja verhindern, dass es so weit kommen muss, und erreichen, dass man uns passieren lässt.“ In Grogoshs Stimme lag etwas, das fast wie Trotz klang. Wieder wurden einzelne Rufe laut, die ihren Hochmut und ihre Anmaßung verurteilten und ihre Verurteilung forderten. Und irgendjemand verhöhnte Temugush, der sich so etwas von einem Weib gefallen ließ.
    Seine Wut wurde stärker. „Das ist alles gleichgültig! Egal was du dachtest, du hattest kein Recht, ohne mein Wissen einen Frieden auszuhandeln! Nur der Kriegsherr kann einen Frieden beschließen und ein stumpfes Schwert senden.“
    „Wir wollten sie erst nicht anhören!“, rief einer der Barrôgg-Feldherrn wie zu seiner Verteidigung. „Aber sie schwor, sie käme von dir! Und sie war deine Schwester. Also glaubten wir ihr.“
    Grogosh sprach fast gleichzeitig los: „Der Kriegsherr war aber nicht willens, zu tun, was nötig war“, sagte sie schneidend.
    „Das zu entscheiden, obliegt nicht dir!“, brüllte Nemrok in Temugushs Rücken. Er warf ihm über die Schulter einen wütenden Blick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen.
    Dann wandte er sich wieder an seine Schwester: „Du hattest kein Recht, einen Frieden zu schließen. Du bist nicht der Kriegsherr. Du bist nicht einmal eine Älteste. Du hast genauso wenig Recht wie jedes andere Stammesmitglied, unser Geschick zu lenken.“
    „Das hatte ich damals auch nicht, als ich schon einmal einen Frieden mit Feinden Marschângs schloss. Dafür wählten sie mich zu ihrem Häuptling und nannten mich die Bewahrerin. Und jetzt soll ich für dieselbe Tat verurteilt werden?“ Grogosh hatte von Anfang an nicht demütig gewirkt, aber doch wenigstens erschüttert, ob der Folgen ihrer Tat. Nun wirkte sie stolz und ihre Stimme klang, als klage nicht er sie, sondern sie ihn an.
    „Es war nicht dasselbe.“
    „Was war anders?“, fauchte sie herausfordernd. „Hätte ich damals nicht gehandelt, wäre Marschâng untergegangen. Alle anderen befolgten damals die Gesetze, wonach nur der Kriegsherr Frieden schließen kann. Und alle anderen haben deshalb nicht den Stamm bewahrt. Was ist heute anders? Du hast uns einen neuen Krieg gebracht, aber das Ziel hast du längst aus den Augen verloren. Und nun steigt dir dieser Krieg immer mehr über den Kopf. Wenn es nach dir geht, wird er nie mehr enden! Nicht bevor du nicht alle Stämme unterworfen und dann auch noch die ganze Welt erobert hast! Aber das wird nicht geschehen. Du wirst scheitern und uns alle in den Untergang führen! Wenn nicht hier, dann, wenn es gegen den nächsten Gegner geht. Oder den übernächsten. Jemand musste handeln und einen Frieden schließen, oder du wärst entweder bis zum bitteren Ende gegen Ultâng und Barrôgg angerannt oder hättest uns auf dem Marsch zurück alle entkräftet verenden lassen!“
    Temugush funkelte seine Schwester wütend an, die genauso wütend zurückfunkelte. „Ist das alles, was du zu deiner Verteidigung sagen wirst?“, fragte er.
    „Alles. Ich habe getan, was irgendjemand tun musste. Was danach passiert ist, war nicht meine Schuld. Verurteile mich, wenn du deine Hände mit dem Blut deiner eigenen Schwester beschmutzen willst. Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, das getan zu haben, wofür man mich einst gefeiert hat.“
    Temugush wandte den Blick von Grogosh ab. Er hatte ihr nichts mehr zu sagen. „Ich werde mich zurückziehen und die Geister um Rat fragen“, verkündete er den versammelten Orks. Sofort erhob sich Protest auf beiden Seiten. Er hob seine Hand, um für Ruhe zu sorgen, und versprach: „In einer Stunde verkünde ich mein Urteil.“ Dann stand er auf und marschierte in sein Zelt.
    Es war Bordo, die dort auf ihn wartete, nicht die Geister. Sie stand direkt hinter der Zeltklappe, und etwas an ihrer Haltung gab ihm das Gefühl, dass sie die ganze Zeit über genau hier gestanden und auf ihn gewartet hatte. Hatte sie auch gelauscht? Er konnte nicht abschätzen, wie viel sie von hier aus hatte hören können. „Du hattest Recht“, sagte er und fühlte sich plötzlich unsagbar müde. „Sie wird mein Untergang sein. Wenn nicht heute, dann ein andermal.“
    „Es sei denn, du bist ihr Untergang.“
    Er schüttelte den Kopf. „Ich kann sie nicht töten.“
    „Tem...“
    „Ich weiß“, unterbrach er Bordo. „Aber sie ist und bleibt meine Schwester. Ich kann sie nicht töten.“
    Ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. „Dann werden sie uns töten. Mach dir nichts vor, Tem. Du opferst deine Ehre. Und nicht nur die, du gibst die Ehre aller Stämme preis, die dir folgen. Sie werden sich gegen dich auflehnen. Sie werden dich erschlagen. Mich werden sie ebenfalls töten.“ Sie griff nach seinem Handgelenk und führte seine Klaue zu ihrem Bauch. „Und unser Kind wird auch sterben. Du weißt, dass ich Recht habe.“ Als er schweigend auf seine Hand auf ihrem Bauch starrte, wurde ihre Stimme wieder sanfter, aber gleichzeitig eindringlicher: „Es gibt noch einen anderen Weg, Tem. Du musst sie verurteilen. Aber nicht unbedingt zum Tode. Wenn du sie schon nicht töten kannst, dann schicke sie ins Exil.“
    Er hob seinen Blick und starrte sie an. Ja, ein Kriegsherr oder ein Häuptling oder der Ältestenrat konnte ein Stammesmitglied in die Verbannung schicken, solange es nur einen triftigen Grund gab. Der Verbannte durfte nie wieder in den Stamm zurückkehren oder man würde ihn erschlagen. Aber solange er nur fern blieb, geschah ihm nichts. Grogosh wäre auf sich allein gestellt. Aber sie war stark. Sie hatte schon einmal ohne ihren Stamm überlebt. Und so es die Geister gut mit ihr meinten, würde sie irgendeinen anderen Stamm finden, der sie aufnahm, irgendeinen fremden Krieger, der sie zur Frau nahm...
    Er verließ das Zelt gemeinsam mit Bordo und ließ sich von ihr zum Richtplatz begleiten. Grogosh stand noch immer in der Mitte zwischen den Feld- und Kriegsherren, die ihn sichtlich ungeduldig erwarteten.
    „Ich habe mein Urteil gefällt“, verkündete er, als er in den Kreis getreten war. Dann richtete er seinen Blick auf seine Schwester. „Grogosh ak Marschâng, Tochter des Yurugar ak Marschâng, du hast dich deinem Kriegsherrn widersetzt, die Gesetze gebrochen, gelogen und Schande über deinen Stamm und seine Verbündeten gebracht. Deshalb verstoße ich dich hiermit aus Marschâng. Du bist nicht länger eine Tochter Bor Mar-Shangs, du sollst von nun an ohne Stamm und ohne Klan sein.“
    Ringsum brach lautes Geschrei los. Koraz, Kor-Shach, Nemrok und Tukash redeten auf ihn ein, er müsse ein härteres Urteil fällen. Andere beschimpften ihn lautstark als feige und parteiisch. Ehrlos, nannten ihn die Ultâng und die Barrôgg und griffen zu ihren Schwertern und Äxten.
    „Mein Gemahl hatte noch nicht ausgeredet!“, brüllte Bordo und fragte ihn: „Ist es nicht so?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, verkündete sie laut: „Grogosh ak Yok ist nicht länger eine Marschâng, deshalb soll sie auch keinen Besitz des Stammes Marschâng mit in ihr Exil nehmen. Sie wird uns umgehend verlassen, mit nichts an ihrem Leib als ihrer Haut. Und es ist ihr nicht gestattet, von unseren Vorräten zu nehmen.“
    Temugush hätte widersprechen, hätte ihnen allen sagen können, dass er das nie beschlossen hatte. Aber das hätte bedeutet, dass er sein Weib ebenso wenig im Griff hatte wie seine Schwester. Es hätte bedeutet, dass er endgültig jegliche Autorität eingebüßt hätte.
    Temugush schwieg. Ob wirklich aus diesem Grund, wusste er nicht.
    Für einen Moment trafen Grogoshs Blick und der seine sich noch einmal. Unter normalen Umständen hätte Bordos Ergänzung seines Urteils eine zusätzliche Demütigung Grogoshs bedeutet, nicht mehr. Unter normalen Umständen hätte sie um diese Zeit des Jahres selbst nackt und ohne Vorräte dort draußen überleben können. Doch die Winter waren seit einigen Jahren nicht mehr normal.
    Temugush wich Grogoshs Augen aus. Feigling, schalt er sich selbst. Wenn du sie schon zum Tode verurteilst, dann habe wenigstens den Mut, es auch auszusprechen.
    Temugush schwieg.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Wegen Gegenstand B treffen unsere Kontrahenten zusammen. Der Ort des Konflikts ist kein geringerer als Ort A! Die Situation artet aus und entläd sich zu einem atemberaubenden Szenario, von dem die Barden noch Jahre später in den Tavernen singen werden...


    Es war das erste Mal, dass er den Mörder seines Vaters mit eigenen Augen sah. Er hatte ein strenges Gesicht, eine hohe Stirn, das angegraute Haar war nach Vargôr-Art zu zahllosen Zöpfen geflochten und er überragte Temugush, der selbst keineswegs klein war, um fast einen Kopf.
    Aber am Ende war Varek ak Vargôr nur ein Ork. Kein Ungeheuer, kein schrecklicher Dämon, noch nicht einmal ein besonders böse oder blutrünstig aussehender Mann. Nur ein Ork.
    Als er in das Zelt trat, wandte er sich augenblicklich dem Altar zu und verneigte sich vor dem darauf liegenden Schädel. Erst dann schenkte er Temugush seine Aufmerksamkeit. „Du bist also der, den sie den Tollkühnen nennen.“
    „Du bist also der, den sie den Großen nennen.“
    „Ich komme, weil ich im Namen Ragg-Narr Rohogs gerufen wurde, nicht deinetwegen.“
    Temugush antwortete darauf nicht. Wenn er sich auf Provokationen einlassen wollte, konnte er gleich auf dieses Treffen verzichten und den Kampf wieder aufnehmen. Aber natürlich hatte Varek Recht. Er kam Ragg-Narr Rohogs wegen, nicht Temugushs wegen. Sie alle kamen Ragg-Narr Rohogs wegen.
    Es war nicht einfach gewesen, den Schädel von Ûng-Girâd zu erhalten. Sie mochten sich ihm als ihrem Kriegsfürsten unterworfen haben, doch sie betrachteten sich noch immer als unabhängigen Stamm. Einem Fremden wollten sie keine Gewalt über ihren größten Schatz geben. Er hatte auf ihre Feldherren im Kriegsrat eingeredet, hatte argumentiert, gefleht und ehrenvolle Kommandos oder Positionen in den künftigen Schlachten versprochen. Aber so wichtig das alles gewesen war, dass der Schädel nun hier in seinem Zelt thronte, war vor allem Bordos Verdienst. Sie hatte ihren Vetter Nemrok überzeugt. Sie hatte den Ältestenrat von Ûng-Girâd überzeugt, in dem ihre Mutter und zwei ihrer Tanten saßen und der daraufhin Druck auf die Feldherren ausgeübt hatte, sie hatte mit Bekannten, Freunden und Verwandten gesprochen und all jene überzeugt, deren Wort in dieser Sache Einfluss besaß. Und sie hatte erreicht, dass der Schädel Ragg-Narr Rohogs nun hinter Temugush aufragte, groß wie der eines Mammuts, als er sich auf seinem Thron niederließ.
    Auf dem mit Fellen ausgelegten Boden zu seinen Seiten saßen seine wichtigsten Berater. Da waren Nemrok und Umbrak. Da war Olrag, dessen Barrôgg sich Temugush angeschlossen hatten. Da war Vak, der Kriegsherr des unterworfenen Kalprêk. Da waren die Kriegsherren von Falrôg und Trankâch und von weiteren Stämmen, die sich ihm mittlerweile angeschlossen hatten: Gormâk, Jektepâl, Akâsh, Orrorrôg. Da waren die Kriegsherren der Vasallenstämme und die Feldherren der wichtigsten Klans. Da war seine rechte Hand Koraz. Und da waren sechs Schamanen.
    Auch Varek war nicht allein gekommen. Bei ihm waren Tamkosch, der Kriegsherr Dunmârrs, Uruk von den Irgorôg, der Ragôg-Kriegsherr Potros, die Anführer ihrer Vasallen und bedeutendsten Klans und vier Schamanen. Morrok war eine von ihnen. Gewiss hatte Varek sie ebenso bewusst mitgebracht, wie er sie damit beauftragt gehabt hatte, Marschâng das scharfe Schwert zu bringen. Temugush versuchte sie zu ignorieren. Er durfte sich keine Schwäche anmerken lassen. Nicht hier.
    Sklaven gingen umher und füllten die Trinkhörner der Anwesenden mit vergorener Mammutmilch. Dazu wurden Platten mit geräuchertem Ripperfleisch herumgereicht. Temugush beobachtete mit Genugtuung, dass Varek sich ein großes Stück Fleisch nahm. Vielleicht war das ein Anfang. Er lehnte seine Gastfreundschaft nicht ab, möglicherweise war er bereit, zuzuhören.
    „Ich danke euch für euer Kommen“, begann er, als die Sklaven einmal reihum gegangen waren.
    „Du hast uns im Namen Ragg-Narr Rohogs gerufen“, erwiderte Varek, der die Stimme eines wahren Kriegsherrn hatte: Ein tiefes Knurren, das auch dann, wenn er ruhig sprach, wütend und laut klang. „Du hast uns versprochen, wir könnten in Seinem Angesicht speisen...“
    „Und ich habe Wort gehalten.“
    „... und du hast Wort gehalten. Aber warum?“
    „Weil ich wusste, dass ihr nicht kommen würdet, wenn ich um Friedensverhandlungen bitte.“
    Varek fiel ihm ins Wort, ehe er fortfahren konnte. „Friedensverhandlungen? Hoffst du etwa darauf, dass wir die Waffen niederlegen werden?“
    „In der Tat, ich hoffe darauf, dass es nicht zu einer weiteren Schlacht zwischen unseren Heeren kommen muss. Zu viele sind schon gefallen.“
    „Dem Tollkühnen wird beim Anblick von Blut schlecht wie einem Weib“, höhnte ein Feldherr mit der Kriegsbemalung der Irgorôg und erntete dafür Gelächter von seinen Kameraden.
    „Wir Weiber sehen in unserem Leben mehr Blut als selbst der tüchtigste Krieger“, antwortete ihm Bordo ruhig. Sie saß zu Temugushs Füßen, wie es sich für eine Frau in einem Kriegsrat geziemte. „Söhne und Töchter des Großen Geistes“, richtete sie ihr Wort an die anwesenden Schamanen. „Sagt uns, was ist die Aufgabe eines Stammesführers?“
    Es war Morrok, die ihr antwortete, und Temugush war ihr für diese Antwort unendlich dankbar: „Sie sind Mutter und Vater ihres Stammes. Sie werden nur aus dem einen Grund gewählt, ihn zu leiten und zu beschützen, so wie Eltern ihre Kinder, der Häuptling in Zeiten des Friedens, der Kriegsherr im Krieg.“
    „Wie Eltern ihre Kinder.“ Bordo legte die Hände auf ihren mittlerweile großen und runden Bauch. Es konnte nicht mehr lange dauern bis zu ihrer Niederkunft. „Ich würde für mein Kind kämpfen. Ich würde für mein Kind töten – und selber sterben. Aber was für eine Mutter wäre ich, wenn ich mein Kind leichtfertig in den Tod schickte?“
    „Jede Mutter sollte stolz sein, wenn ihr Sohn in der Schlacht fällt, und jeder Vater umso mehr!“, brüllte Tamkosch.
    „Und sollte mein Sohn ehrenhaft im Kampf fallen, werde ich die stolzeste Mutter unter dem Himmel sein. Aber nur wenn es ein guter Kampf ist, nicht wenn er sich sinnlos abschlachten lässt. Ein wahrer Kriegsherr scheut keine Schlacht, aber er ist auch nicht so geblendet von Ruhmsucht, dass er die Leben seiner Krieger riskiert, wo er sie bewahren könnte.“
    „Genug, Weib.“ Temugush war dankbar für Bordos Hilfe und das wusste sie. Aber er durfte ihr nicht das Sprechen überlassen, sonst würde es nachher noch heißen, er verstecke sich hinter seinem Weib. Außerdem führte diese Diskussion zu nichts und die Gemüter mussten nicht jetzt schon erhitzt werden. „Ja, ich ließ euch zu Friedensverhandlungen kommen“, sagte er ruhig. „Ich scheue den Kampf nicht, aber ich werde ihn auch nicht erzwingen, wo er vermeidbar ist.“
    „Das hättest du überlegen sollen, bevor du Urtash getötet hast!“, rief Denpok, ein Feldherr der Vargôr.
    „Ich tötete ihn, um meinen Stamm von der Knechtschaft zu befreien. Es war nicht mein Wunsch, Vargôr zu zerstören.“ Er wandte sich an die übrigen fremden Krieger im Raum. „Und erst recht habe ich keinen Streit mit euch.“
    „Du scheinst einen Streit mit allen Orks zu haben“, stellte Potros nüchtern fest. „Jeder Stamm, der dir und deinem Heer begegnet, wurde von dir unterworfen. Vergib uns, wenn wir kein Interesse daran haben, Vasallen Marschângs zu werden.“
    „Wir sind nicht unterworfen“, widersprach Nemrok. „Wir sind gleichberechtigt.“
    „Ihr Ûng-Girâd habt leicht reden, ihr habt euch Marschâng freiwillig angeschlossen“, meinte Tamkosch.
    „Wir wurden von ihnen besiegt“, erklang Umbraks Stimme hinter seiner Maske. „Und auch wir sind keine Vasallen. Niemand hier folgt Marschâng. Wir folgen dem Einen.“
    Der Eine, das war ein neuer Name, den ihm sein Gefolge gegeben hatte und den er nun ebenso führte wie den des Tollkühnen. Und ihm gefiel dieser Name. Denn er drückte mehr aus als nur Achtung vor einer einzelnen tollkühnen Tat. Er drückte aus, dass seine Stämme langsam endlich zusammenwuchsen und dass sie ihn als ihren gemeinsamen Anführer verehrten.
    Das Blatt hatte sich für ihn wieder zum Guten gewendet. Ja, in den letzten Monaten stand es um seine Sache besser denn je: Nach zähen Verhandlungen mit den Bergstämmen hatte sich Barrôgg seinem Heer angeschlossen. Die Winter wurden so hart, dass selbst ihre Siedlungen in den Tälern das Überleben schwer machte. Alleine hätten sie einen Einfall in die Steppen nicht gewagt, doch mit einem so großen Heer an ihrer Seite wähnten sie sich siegessicher. Zudem hatten ihre Schamanen vorhergesagt, dass große Eroberungen auf Temugush warteten. Ultâng hingegen war zurückgeblieben. Kriegsherr Jarrosk hatte sein Urteil für zu milde empfunden und viele Ultâng glaubten noch immer, in eine ehrlose Falle gelockt worden zu sein. Immerhin aber hatte der Einfluss ihres Bruderstammes und die Größe seines Heeres sie dazu bewogen, Temugush ziehen zu lassen. Er hoffte, dass sie sich ihm noch anschließen würden, und gedachte sie andernfalls noch zur Gefolgschaft zu zwingen. Vorerst aber war ein Kampf gegen Ultâng nicht möglich gewesen. Barrôgg hätte sich sofort wieder von ihm losgesagt und es bestand die Gefahr, dass auch andere unter seinen Stämmen rebelliert hätten. Also hatten sie das Kadeschtal verlassen und waren ins Land Kalprêks eingefallen. Sie hatten die ahnungslosen Klans einzeln überfallen, und als die übrigen Klans sich endlich vereinigt hatten, war die Hälfte von Kalprêks Macht bereits dahin. Die verbliebene Hälfte der Klans hatte sich kampflos ergeben. Daraufhin war Temugush nach Südosten über die Steppen gezogen. Immer mehr Stämme hatten sich ihm freiwillig angeschlossen oder kampflos ergeben. Kam es doch zu Schlachten, gewann sein immer größeres Heer diese ohne Mühe.
    „Zeigt keine Gnade mit denen, die sich uns widersetzen“, hatte er seinen Feldherren eingeschärft, aber auch hinzugefügt: „Aber helft jedem wieder auf die Füße, der vor uns auf die Knie fällt.“ Nur die Stämme Zorûg und Hangôr hatten ihm bis zuletzt getrotzt. Er hatte sie aufgelöst und ihre Habe unter seinen Stämmen aufgeteilt, hatte ihre Anführer und Elitekrieger niederschlachten, ihre Krieger versklaven lassen, seine Männer hatten ihre Weiber geraubt und zu Frauen genommen. Doch jeden Stamm, der sich freiwillig unterwarf oder ihm anschloss, behandelte er als einen Verbündeten. Alte Streitigkeiten und Beleidigungen galten von da an als vergessen. Jeder Stamm in seinem Gefolge wurde als gleichberechtigt behandelt, selbst Marschâng. Alle Kriegs- und Feldherren wurden im Kriegsrat gehört. Die Krieger aller Stämme wurden durchmischt und von Anführern aus allen Stämmen und Klans in die Schlacht geführt. Dabei wurde jedes Mal ein anderer Kriegsherr mit der Front, den Flanken oder der Reserve betraut, sodass jeder einmal Ruhm in der Schlacht gewinnen konnte.
    Freilich gab es auch Streit zwischen den Kriegern verschiedener Stämme. Die Fehde zwischen Kalprêk und Akâsh währte schon Generationen, die Stämme der Ebenen sahen auf die Bergbewohner herab und viele misstrauten den Waldleuten. Doch er ließ nicht zu, dass Streitereien und alte Feindschaften sein Heer zerrissen. Er saß häufig Gericht und er bemühte sich, harte aber gerechte Urteile zu fällen. Und er ging umher und redete selbst mit den einfachen Kriegern. Jeden Abend schlug er sein Zelt an einem anderen Punkt des Lagers auf und speiste an einem anderen Feuer. Mit jeder Schlacht, in der sie Seite an Seite kämpften, wuchsen seine Orks enger zusammen. Akâsh hatten sich mit Kalprêk angefreundet, Steppenstämme lobten die Kampfkraft der Bergkrieger und wem in der Schlacht das Leben von einem Sorûck gerettet worden war, der forderte nun jeden zum Kampf, der es wagte, zu behaupten, sie trügen ihre Masken aus Feigheit.
    Und stetig stieg sein Ansehen. So mancher, der noch vor einiger Zeit gegen ihn und seine Entscheidungen gesprochen hatte, wäre ihm jetzt in den Tod gefolgt. Manche verehrten ihn gar, als sei er von den Geistern selbst gesandt.
    „Dunmârr kämpfte schon einmal an der Seite Marschângs“, sagte Temugush an Tamkosch und dessen Feldherren gewandt. „Damals folgtet ihr meinem Vater. Heute könnt ihr mir folgen wie zuvor ihm.“
    Tamkosch grunzte. „Deinem Vater folgten wir aus freien Stücken. Damals schlossen wir ein Bündnis gegen unseren gemeinsamen Feind Gormâk. Wir wurden nicht unterworfen.“
    Was als Feldzug Marschângs mit der Hilfe von Ûng-Girâd begonnen hatte, war nun zu etwas geworden, das alle Stämme der Orks anging. Und einige von ihnen, die erkannt hatten, dass Temugush ihnen früher oder später den Krieg erklären würde und dass sie allein keine Chance gegen sein stetig wachsendes Heer hätten, hatten sich mit Vargôr verbündet, um ihn gemeinsam aufzuhalten. Und so sah er sich nun einem Feind gegenüber, dessen Truppenstärke zwar nicht an die eigene heranreichte, der aber doch nicht zu unterschätzen war. Er hatte befürchtet, dass etwas Derartiges passieren und sich eine Stammeskoalition gegen ihn bilden würde. Andererseits lag hierin auch eine Chance: Wenn er diesen letzten Feind überwandt, würden sein Ruhm und seine Stärke viele der übrigen Stämme in seine Arme treiben. Und wer ihm dann noch trotzen würde, der hätte keine Chance gegen sein gewaltiges Heer.
    „Ich biete euch ein Bündnis gegen einen neuen und noch viel größeren gemeinsamen Feind an.“ Temugush machte eine ausladende Geste. „Euch allen!“
    Ein Glucksen erklang von Varek. „Und welcher Feind sollte das sein?“
    „Der Winter.“ Temugush erhob sich. „Ich rief euch im Namen Ragg-Narr Rohogs, weil ich wusste, dass ihr sonst nicht kommen würdet, das stimmt. Aber ich rief euch auch im Namen Ragg-Narr Rohogs, um euch an eine alte Wahrheit zu erinnern, die unser Volk vergessen zu haben scheint.“ Er wies auf den Schädel. „Die ganze Welt ist aus dem Körper Ragg-Narr Rohogs geformt. Es ist gleich, ob wir Stämme der Steppe sind oder Bergstämme, Waldleute oder Küstenbewohner: Wir alle leben auf dem Leib Ragg-Narr Rohogs. Und wir alle sind die Kinder Or Jarbokk-Urs, der Ragg-Narr Rohog erschlagen und aus Seinem Körper die Welt geformt und der mit Ragg-Narr Rohogs Tochter die dreizehn Stämme gezeugt hat. Wir alle stammen von ihm ab. Wir alle sind Or-Ak. Und es ist schon lange an der Zeit, dass wir uns unserer gemeinsamen Herkunft erinnern und unsere Streitigkeiten beilegen.“
    „Du versteckst dich hinter dem heiligen Schädel, der nicht einmal dir gehört, sondern den Ûng-Girâd“, stellte Uruk verächtlich fest. „Du benutzt schöne Worte wie ein Weib. Aber ich sage, du willst uns nur bezirzen. Du willst unsere Ehrfurcht vor den Ahnen und den Geistern nutzen, damit wir uns dir unterwerfen.“
    „Es geht nicht um Unterwerfung!“, stieß Koraz aus. „Es geht um Einigkeit. Seht ihr das denn nicht? Wir sind ein Volk, wir sollten einander nicht bekriegen, sondern in Frieden leben.“
    „Pah, was hindert uns, euch zu zerschmettern und Ihn an uns zu nehmen?“
    „Eure Ehre“, zischte Morrok. „Er ist keine Kriegsbeute. Er ist unser aller Erbe, ein Geschenk unseres Ahnen. Durch Ihn sprechen die Geister zu uns.“
    „Hat Ûng-Girâd Ihn nicht auch erobert?“, fragte ein Vargôr-Feldherr laut.
    „Nein, sie hat Recht“, sagte einer der anderen Schamanen. Ein kleiner alter Mann mit rotem Bart, der bisher geschwiegen hatte. Grompel war sein Name. „Ein Unrecht rechtfertigt nicht ein zweites. Er ist kein Besitz. Kein Stamm, nicht Ûng-Girâd und nicht Irgorôg, nicht Marschâng oder Vargôr sollte über Ihn verfügen. Es erzürnt die Geister, dass Er schon so lange nicht auf der Spitze der Weltachse liegt.“
    „Nun gut“, lenkte Uruk ein, „was wenn wir Ihn dann befreien und zur Weltachse zurückbringen? Die Geister würden auf ewig auf uns herablächeln!“
    Varek warf sein leeres Trinkhorn achtlos zu Boden und wischte sich durch den Bart. „Also gut“, sagte er und ignorierte den anderen Kriegsherrn und die Diskussion um den Schädels dabei völlig. „Angenommen, wir stimmen dir zu und wählen den Frieden: Dann wirst du unsere stumpfen Schwerter entgegennehmen und uns ziehen lassen?“
    „Wir werden gemeinsam ziehen. Vereint zu einem Heer.“
    „Das dachte ich mir.“ Varek wandte sich an seine Mitstreiter links und rechts von ihm: „Seht ihr, wie er seine eigenen Worte Lügen straft? Er redet von Frieden und Brüderlichkeit, aber er meint Unterwerfung. Er mag in seinen Reden Zuflucht zu den Ahnen suchen, aber in Wahrheit strebt er nur nach Herrschaft über alle Stämme der Orks.“ Und den Blick wieder auf Temugush gerichtet, verkündete er: „Dein Weib hat Recht: Ein Kriegsherr ist ein Vater, der seine Kinder beschützt. Ich habe meinen Stamm davor beschützt, zum Vasallen deines Vaters zu werden, ich werde ihn auch davor beschützen, zu deinem Vasallen zu werden.“
    Temugushs Hände ballten sich zu Fäusten. Nur mühsam konnte er seinen Zorn unterdrücken. Er hätte nichts lieber getan, als Varek hier und jetzt niederzustrecken. Und all seine Kameraden mit ihm, wenn es sein musste! Aber damit hätte er das Gastrecht verletzt und seine Ehre beschmutzt. Stattdessen zwang er sich zur Ruhe und erklärte: „Ich sagte doch schon, ich will euch nicht unterwerfen, sondern gegen unseren gemeinsamen Feind einen. Wir sind ein Volk. Und dieses Volk leidet. Vielleicht wird es gar sterben, wenn die langen Winter anhalten. Aber die Geister haben uns einen Weg gewiesen, dem Tod zu entgehen. Und dieser Weg führt über den großen Gletscher. Wir können ihn nur gemeinsam beschreiten. Andernfalls werden die Menschen uns bis auf den letzten Mann töten.“
    „Er hat Recht, was den Winter angeht“, räumte einer von Dunmârrs Feldherren zögernd ein. „Unsere Vorräte gehen mehr und mehr zur Neige.“
    Varek spuckte aus. „Er hat auch Recht, was Ihn angeht. Er versteckt sich hinter wahren Worten, um uns besser einlullen zu können. Aber am Ende höre ich doch nur eines: Dass er Macht über uns will. Wisst ihr, was ich glaube, weshalb wir wirklich hier sind? Weil er Angst hat. Er hat Angst, dass die anderen Stämme dort draußen sich auf unsere Seite schlagen. Dass sie auch keine Lust haben, sich ihm zu unterwerfen. Und dass er gegen unsere vereinten Kräfte unterliegen wird.“
    Die Worte Vareks trafen ganz besonders deshalb, weil sie wahr waren.
    Temugushs Heer und das Heer seiner Feinde waren vor vier Tagen schon einmal zusammengeprallt. Nach einer verlustreichen Schlacht hatten beide Seiten den Rückzug angetreten, um ihre Wunden zu lecken. Obwohl Varek ein hervorragender Kriegsherr war und Temugushs erstem Angriff trotz seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit standgehalten hatte, hatte Temugush keinen Moment gezweifelt, dass er seine Feinde in der nächsten Schlacht zerschmettern würde.
    Doch dann waren die anderen Stämme aufgetaucht. Ein drittes Heerlager war über Nacht im Osten erschienen. Dort wehten die Banner von Ulrôg, Orrôk und Kadôsh. Und es war schwer zu sagen, ob nicht noch mehr Stämme sich diesem Bund angeschlossen hatten. Ihr Ziel kannte niemand. Einige hatten befürchtet, sie seien gekommen, um sich Vargôrs Koalition anzuschließen, andere hatten gejubelt, weil sie glaubten, die neuen Stämme wollten sich ebenfalls Temugush unterwerfen. Als weder das eine noch das andere eingetreten war, waren Temugush und sein Kriegsrat zu dem Schluss gekommen, dass sie abwarteten. Möglicherweise gedachten sie, sich in der Schlacht auf die Seite desjenigen zu schlagen, der die Oberhand gewann. Vielleicht glaubten sie auch, den geschwächten Sieger überfallen zu können. Niemand vermochte es zu sagen. Aber Temugush war damit über Nacht in eine schwierige Situation geraten. War der Sieg zuvor sicher gewesen, hätte jeder Angriff nun ein großes Risiko bedeutet. Mit Vargôr und seinen Verbündeten konnten sie es aufnehmen. Aber wenn die anderen Stämme ihnen mitten in der Schlacht in die Seite fielen...
    Varek erhob sich nun ebenfalls und funkelte Temugush an. „Du siehst dich als den Vater deiner Männer. In dieser einen Sache sind wir uns einig. Du willst das Leben deiner Kinder schonen. Gut, ich schone gerne auch das der meinen. Dein Weib sagt, sie sei bereit, für ihr Kind zu kämpfen und zu sterben. Wie steht es mit dir, Tollkühner?“
    Temugush wusste, was das bedeutete. „Ich bin zum Zweikampf bereit“, sagte er, ohne zu zögern. Innerlich war ihm dabei alles andere als wohl zumute. Varek galt als großer Krieger und Temugush wusste nicht, ob er ihn besiegen konnte. Aber er durfte keine Angst zeigen. Er konnte solch eine Herausforderung nicht einfach vor all seinen Feinden und wichtigsten Gefolgsleuten ablehnen.
    Der Kampf fand noch am selben Abend statt. Ein Ring aus Fackeln wurde zwischen den beiden Heeren in den Schnee gerammt. Kriegsherren, Feldherren und Krieger beider Seiten stellten sich rings um den Ring auf. Freilich nur die bedeutendsten von ihnen. Für die vielen hunderttausend Orks beider Armeen wäre kein Platz gewesen. Temugush war ganz froh um diesen Umstand, denn er fürchtete, dass jeder zusätzliche Anwesende beim Kampf nur die Möglichkeit einer Eskalation erhöhte. Aber glücklicherweise gab es ja noch die Schamanen, von denen nun noch einige mehr aus beiden Lagern gekommen waren, und die für Ruhe sorgten. Sie erinnerten die Krieger auf beiden Seiten an ihre Ehre, die es ihnen verbat, in den Kampf einzugreifen. Ein alter Schamane namens Ur-Gosh leitete ihren Chor, als sie sich an den Fackeln aufstellten, bei den Händen nahmen und zum großen Geist sangen, auf dass er über den Kampf dieser zwei Krieger wachen möge.
    Sie fochten ihren Zweikampf nach den alten Sitten aus. Beide waren sie nackt wie am Tag ihrer Geburt, abgesehen von einem Gürtel, an dem ein Messer und ein Krush Varok hingen. Als dritte Waffe trugen sie in ihren Händen beide ein Krush Tarach. So traten sie einander gegenüber und blieben beide an entgegengesetzten Rändern des Fackelkreises stehen. Temugush spürte die Kälte auf seiner nackten Haut. Der Schnee, in den seine Füße einige Millimeter eingesunken waren, brannte förmlich und schmolz zwischen seinen Zehen zu eisigem Wasser. Er ignorierte es, so gut er konnte. In wenigen Momenten, das wusste er, würde die Kälte vergessen sein. Der Kampf würde ihn schwitzen lassen, selbst bei diesen Temperaturen. Und er würde in jenen Rausch verfallen, der einen Krieger befiel, wenn die Geister des Kampfes in ihn fuhren, und der einen alles vergessen ließ: Schmerz, Kälte, Hitze, Erschöpfung, ja sogar sich selbst, nur eines nicht: nicht den Gegner.
    Grompel als der älteste der anwesenden Schamanen läutete den Kampf ein, mit einer lauten und vollen Stimme, die man einem Mann, so alt und klein wie er kaum zutraute. Temugush ak Marschâng und Varek ak Vargôr setzten sich gleichzeitig in Bewegung und betraten den Kreis.
    Varek zeigte keine Eile. Fast gemächlich schritt er auf ihn zu. Unwillkürlich verlangsamte Temugush seinen eigenen Schritt. Er würde nicht einfach auf seinen Gegner zurasen wie ein ungestümer Halbwüchsiger. Der Angriff war stets gefährlicher als die Verteidigung und es war eine alte Weisheit, dass derjenige, der den ersten Streich führte, meistens nicht derjenige war, der den letzten führte.
    Varek kannte diese Weisheit gewiss ebenso. Als sie in der Mitte des Fackelrings aufeinandertreffen, stürzte er sich nicht etwa auf Temugush, sondern schritt langsam um ihn herum. Temugush machte es ihm nach, und für einige Momente umkreisten sie sich beide, sich dabei stets im Blick behaltend. Dann glaubte Temugush den richtigen Moment gekommen. Er machte einen schnellen Schritt nach vorn und ließ das Krush Tarach herabsausen. Varek schien nur darauf gewartet zu haben, wich einen Schritt zurück und führte seine eigene Waffe in einem fast parallelen Schlag herab. Temugush konnte sein Tarach nur im letzten Augenblick herumreißen und den Hieb so von sich weglenken. Dann machte auch er einen Satz nach hinten, um Varek zu entgehen.
    Temugush war ein guter Krieger. Besser als die meisten, das hatte er in zahlreichen Axtbegegnungen bewiesen. Aber Varek der Große gehörte ganz gewiss nicht zu den meisten. Er war stark, entschlossen, furchteinflößend. Und sein Ruf als Kämpfer eilte ihm voraus. Ein einziger Fehltritt, das verstand Temugush spätestens jetzt, konnte seinen Tod bedeuten.
    Vareks Krush Tarach sauste wieder auf ihn nieder. Temugush entging dem Schlag knapp und hieb seinerseits nach seinem Gegner. Der jedoch war zu weit entfernt, um ihn zu treffen, und hätte Temugush fast das eigene Axtblatt in die Seite gerammt, als er dieserart seine Deckung aufgab. Nur knapp entging er mit einem Ausfallschritt nach hinten dem Schlag.
    Er ist viel größer als ich. Dazu die Stange des Tarach. Seine Reichweite ist enorm. Und wenn Varek es nicht wollte, würde Temugush nicht einmal an ihn herankommen. Das bekam er nun mit jedem neuen Schlag zu spüren, von denen jeder ein wenig heftiger war als der vorherige. Er wurde in die Defensive gedrängt und es blieb ihm nur, diese Attacken mit der eigenen Waffe abzuwehren.
    Über die Schulter seines Gegners sah er die Schamanen, die alle beieinanderstanden und reglos mit ihren Augen das Kampfgeschehen verfolgten. Auch Morrok war unter ihnen. Und auch ihre Miene war ausdruckslos. Wenn sie um ihn fürchtete, verbarg sie es, wie es die Geister von ihr als einer ihrer Töchter verlangt hätten.
    Er hat vielleicht die größere Reichweite und Kraft, aber er ist auch älter, sagte er sich. Ich bin schneller als er.
    Als Varek wieder angriff, wich Temugush ihm aus und schlug abermals zu. Er versuchte nicht einmal, seinen Gegner zu treffen, sondern hieb stattdessen nach dem langen Griff seiner Waffe. Doch er hatte sich in seinem Kontrahenten getäuscht. Mit einer für einen Ork seiner Größe und seines Alters beachtlichen Geschwindigkeit riss Varek die eigene Waffe zurück und parierte Temugushs Schlag mit der Klinge.
    Dann war es wieder Varek, der angriff. Und Temugush, der nicht wusste, wie er ihm beikommen sollte, blockte abermals seine Schläge, während er langsam zurückgedrängt wurde.
    Er blickte in die Gesichter der Orks aus Vargôr, Irgorôg, Ragôg und Dunmârr, die ganz an den Rand der Fackeln gerückt waren und den Kampf aufmerksam verfolgten. Viele von ihnen, besonders diejenigen aus Vargôr, feuerten Varek lautstark an. Andere starrten ruhig, geradezu emotionslos auf die Kämpfenden und schienen schlichtweg auf die Entscheidung zu warten. Tamkosch hatte die Stirn gerunzelt.
    Er erinnerte sich an etwas, was sein Vater ihm und seinem Bruder einmal beigebracht hatte, als er noch ein Kind gewesen war: „Findet das Loch in der Deckung eures Gegners. Das ist alles, was zählt. Lasst euch niemals von seinen vermeintlichen Stärken ablenken. Solange ihr nur darauf schaut, was euer Gegner euch voraus hat, könnt ihr nur verlieren.“
    Temugush ließ sein Krush Tarach einfach fallen. Das schien Varek für einen kurzen Moment aus dem Konzept zu bringen. Lang genug, um sein Krush Varok zu ziehen und mit beiden Klauen über den Kopf zu heben. Varek hob die eigene Waffe ebenfalls, aber damit kam er Temugush nur entgegen. Dieser stürzte sich mitten in die Abwehr seines Gegners. Varek war ihm an Reichweite überlegen, also musste er es durch seine Deckung schaffen und ihn in den Nahkampf zwingen. Zunächst jedoch gelang es dem anderen Kriegsherrn noch, seinen Schlag mit der langen hölzernen Stange seines Krush Tarach abzuwehren. Temugush drückte seine Klinge herab, als wollte er die Stange spalten, und zwang Vareks Waffe damit beinahe nach unten, bis das Axtblatt an ihrer Spitze fast den Boden berührte. Mehr brauchte er nicht. So kräftig er konnte, trat er auf die Axt. Ein unschönes Knacken ertönte, im nächsten Moment fiel das Krush Tarach aus Vareks gebrochener Hand.
    Man musste Temugushs Gegner zugutehalten, dass er nicht aufschrie wie ein Weib, sondern geistesgegenwärtig und ohne jedes Zeichen des Schmerzes mit der linken Hand seinerseits das Schwert zog, um Temugushs Schlag im letzten Augenblick abzublocken. Für einen Moment starrten sie sich über ihre Klingen hinweg an, dann schlug Varek zu. Schattenläufer waren dafür bekannt und berüchtigt, dass sie nicht etwa zusammenbrachen oder aufgaben, wenn man sie verwundete, sondern im Gegenteil in eine regelrechte Raserei verfielen und nur noch tödlicher wurden. Varek, so zeigte sich an jenem Abend, war ein Schattenläufer. Und er kämpfte mit der Linken noch immer besser als viele mit der Rechten.
    Klinge sauste nun auf Klinge herab und der Kampfplatz war erfüllt vom metallischen Klang der zusammenprallenden Schwerter. Sie drehten sich in ihrem Kampf, und nun sah Temugush seine eigenen Leute in Vareks Rücken. Koraz hatte die Klaue um eine der Fackeln gelegt und packte so kräftig zu, dass es ein Wunder war, dass das Holz noch nicht gebrochen war.
    Einer von Vareks Hieben traf ihn an der Schulter. Aber er spürte es kaum. Er sah nur das Blut an der Klinge seines Gegners. Varek tänzelte an Temugushs Schlägen vorbei und brach in seine Deckung ein, ganz ähnlich wie er selbst es zuvor getan hatte. Sein nächster Hieb streifte Temugush am Bauch. Dafür brachte nun er Varek eine Wunde am Arm bei, bevor dieser zurückweichen konnte.
    Der Schmerz stachelte ihn nur weiter an. Er verwandelte sich in Wut, die sich in Kraft in seinen Armen verwandelte. Hieb auf Hieb ließ er auf seinen Gegner niederprasseln, der ihm ebenso viele Schläge zurückgab. Wie Temugush vorausgesehen hatte, spürte er schon lange keine Kälte mehr. Nicht auf seinem Leib und nicht einmal an seinen Füßen, die durch den Schnee trampelten. Blut rann seine Brust hinunter aus einer neuen Wunde, die Varek ihm schlug, und verklebte sein Haar. Er streifte Varek mit der Schwertspitze an der Schläfe, sodass seinem Gegner das Blut ins Auge lief. Die Fackeln verschwammen vor seinen Augen zu einem einzigen Ring aus Feuer, der sie beide umgab. Die Zuschauenden waren nicht mehr als dunkle Schemen dahinter. Und bald schon bestand die ganze Welt nur noch aus drei Farben: Dem Weiß des Schnees, dem Schwarz des Himmels und dem Rot des Feuers, das sie beide voneinander schied. Und dem Rot des Blutes. Das Blut, das seinen Gegner überströmte, und das Blut, das ihn selbst bedeckte. Der Geist des Kampfes war über ihm.
    Als Vareks Schwert sich in seine noch unverletzte Schulter grub, stieß er es beiseite. Das riss den Schnitt in seiner Schulter noch weiter auf, aber es riss auch Varek, der einen Moment zu spät reagierte, die Waffe aus der Hand. Temugush war sofort über ihm. Mit der freien Hand packte er Vareks Arm, der schon zum Messer an seinem Gürtel griff, dann stieß er ihn zu Boden.
    Genau hinter Varek stand Bordo. Aus irgendeinem Grund schien sie allein von all jenen, die jenseits des Flammenrings standen, kein Schemen. Ihr Gesicht stand klar und deutlich vor ihm und die Schatten des Feuers tanzten darauf. Sie lächelte siegessicher. Bordo war mit zu seinem Zweikampf gekommen. Und als sie ihr ein Fell gebracht hatten, um sich darauf niederzulassen, hatte sie mit stolz erhobenem Haupt gesagt: „Ich bin schwanger, keine Greisin. Ich kann stehen.“ Und da stand sie. Und lächelte.
    „Angriff! Angriff! Wir werden angegriffen!“
    Temugush fuhr herum. Orks brachen aus der Richtung seiner Leute zwischen den Fackeln hindurch und rannten auf ihn zu. Er konnte sie kaum erkennen. Sein Kopf fühlte sich benommen und kehrte langsamer aus jener Welt zurück, in der es nur Varek gegeben hatte und Bordo und das Feuer, als sein Körper.
    „Die anderen Stämme! Ulrôg! Und Kadôsh! Und...“
    Temugush wirbelte wieder herum und richtete sein Schwert auf den am Boden liegenden Varek, der ebenso verwirrt dreinblickte wie er selbst. „Hast du geglaubt, uns besiegen zu können, wenn du mich mit diesem Zweikampf ablenkst und deine Verbündeten uns dann in den Rücken fallen?“, donnerte er.
    „Nein!“, stieß Varek aus. „Bei meiner Ehre, ich habe nichts mit diesem Angriff zu tun. Die anderen Stämme müssen...“
    „Du hast keine Ehre“, schnitt Temugush ihm das Wort ab.
    Zum ersten Mal trat eine Emotion auf Vareks Gesicht, die nicht Zorn war: Bestürzung. „Nein! Ich schwöre es, bei allen Geistern, ich hatte nichts mit diesem Angriff zu tun! Töte mich. Es ist dein Recht als Sieger. Du hast gut gekämpft. Aber stelle nicht meine Ehre infrage.“
    „Du selbst hast deine Ehre infrage gestellt.“
    Temugushs Leute redeten auf ihn ein, zerrten an ihm, trieben ihn an, es endlich zu Ende zu bringen. Auf der anderen Seite des Kampfplatzes redeten ihre Feinde wild durcheinander. Einige hatten die Waffen gezogen. Von fern ertönte Kampfeslärm. „Ich schwöre, ich wäre lieber gestorben, als den Sieg auf solch feige Weise zu erringen! Lass es mich beweisen, wenn du mir nicht glaubst! Aber lass mich nicht ehrlos sterben.“
    „Beweisen? Wie?“
    „Lass mich mein Heer zur Hilfe rufen. Wir werden diesen ehrlosen Angriff zurückschlagen.“
    „Und hinterher über uns herfallen?“
    „Hinterher werde ich ihnen befehlen, sich zurückzuziehen. Und ich werde mich in deine Gewalt begeben. Du hast mich besiegt, mein Leben gehört dir. Und ich schwöre, dass ich meine Ehre nicht beschmutzen werde, indem ich vor dir davonlaufe oder dich hintergehe.“
    Temugush zögerte für einige Momente und schaute seinem am Boden liegenden Feind in die Augen, dann nickte er und nahm sein Schwert von Vareks Hals. „Ich nehme dich beim Wort.“
    Geändert von Jünger des Xardas (01.09.2014 um 16:46 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Als er von der Weltachse herabstieg, sah er sein ganzes gewaltiges Heer unter sich. Der Berg, der als einziges auf der Welt nicht von Ragg-Narr Rohog stammte, der schon vor Anbeginn der Zeit da gewesen war, der Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verband, ragte stolz und einsam inmitten der Ebenen auf. Er war riesig, doch nun schien er völlig umschlossen von den Zelten und Jurten seiner Gefolgsleute. Der Geisterrat begleitete ihn. Es war selten, dass die vier hohen Schamanen von ihrem Berg stiegen. Doch für ihn taten sie es.
    Dreizehn Tage hatten sie ihn dort oben auf der Spitze gehalten. Dreizehn, wie die Zahl der dreizehn Hauptstämme. Morrok hatte für ihn gesprochen. Er hatte ihnen Seinen heiligen Schädel zurückgebracht und ihnen seine Vision vorgetragen. Sie hatten ihn geprüft. Sie hatten die Geister befragt. Sie hatten sich beratschlagt. Sie hatten ihm die heilige Milch des weißen Mammuts zu trinken gegeben. Sie hatten sich in Trance versetzt. Sie hatten den Geist von Or Jarbokk-Ur angerufen.
    Und nun kamen sie mit ihm herab.
    Am Fuße des Berges warteten seine Kriegsherren. Nemrok und Umbrak waren dort. Auch Olrag. Tamkosch, Uruk und Potros. Und Varek.
    „Du kannst mich hassen“, hatte er gesagt, als er den Kriegsherrn von Ulrôg nach der Schlacht in Fesseln vor ihn geführt hatte – die Kriegsherren Orrôks und Kadôshs waren bereits in der Schlacht gefallen – „aber du kannst meine Ehre nicht infrage stellen. Ich bringe dir Koleck ak Ulrôg – und mich selbst. Unsere Leben gehören dir.“
    Temugush hatte Koleck für seinen feigen Angriff hingerichtet, der bis zuletzt nicht glauben konnte, dass Vargôr und seine Verbündeten sich ihm nicht angeschlossen hatten, als er über Temugushs Heer hergefallen war, sondern sich gegen ihn gestellt hatten. Und er hatte Varek am Leben gelassen.
    „Aber ich habe deinen Vater getötet“, hatte dieser verwirrt eingewandt.
    „Und ich habe dir gesagt, dass es mir nicht um die Zerstörung Vargôrs geht, sondern ich Frieden unter den Orks will. Wir alle sind ein Volk. Und in der Welt, die ich zu errichten gedenke, ist kein Platz für alte Fehden. Du magst meinen Vater getötet haben, aber du tatest es, um deinen Stamm zu beschützen. Du bist ein großer Kriegsherr, ein starker Krieger, ein würdiger Gegner und ein noch viel wertvollerer Verbündeter. Und du hast heute allen Orks bewiesen, dass es an deiner Ehre keinen Zweifel geben kann. Und ich selbst werde fortan jeden töten, der es wagt, sie infrage zu stellen.“
    Viele Marschâng waren zornig gewesen, als er Varek am Leben gelassen und Vargôr seinem Heer einverleibt hatte. Manche hatten sich aufgelehnt, einer hatte ihn sogar zu einer Axtbegegnung gefordert. Aber es waren weniger, als er zu Anfang befürchtet hatte. Und was ihn noch viel mehr überraschte: All die anderen Stämme unter seiner Führung stellten sich hinter ihn und verteidigten ihn gegen den Zorn seiner eigenen Stammesgenossen. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er sein Ziel erreicht hatte.
    Auch Bordo war da, die kleine Grogosh auf dem Arm, in ein Wargfell gewickelt. Sie lächelte ihm entgegen, als er in der Mitte der hohen Schamanen von der Weltachse herabkam. Sie hatte ihn gedrängt, sich nun ihren Segen zu holen, und Morrok hatte mit eingestimmt und sich angeboten, vor dem Geisterrat für ihn zu sprechen.
    Grok, der als Sohn des Kriegsgeistes sein Begleiter und Berater auf dem Feldzug gegen die Menschen sein würde, war es, der ihn vor dem versammelten Heer zum Kriegsfürsten aller Orks ausrief. „DENN SO IST DER WILLE DES GROSSEN GEISTES!“
    Dann trat er selbst vor. „BRÜDER!“, rief er aus, „VOR NICHT LANGER ZEIT WÄHLTE DER MARSCHÂNG-STAMM TEMUGUSH AK MARSCHÂNG ZU SEINEM KRIEGSHERRN. HEUTE IST DER TAG GEKOMMEN, DASS MARSCHÂNG EINEN NEUEN KRIEGSHERRN WÄHLEN MUSS.“ Er zog ein Messer aus seinem Gürtel. Mit der freien Hand umschloss er den Zopf an seinem Hinterkopf, der die traditionelle Haartracht der Krieger von Marschâng war. „DENN TEMUGUSH AK MARSCHÂNG IST TOT.“ Ein kurzer Ruck des Messers, und sein Zopf fiel zu Boden.
    Die Schamanen, die sie vorgeschickt hatten, traten aus der Menge hervor. Zu dritt trugen sie eine Rolle schwarzen Stoffs. „ICH WERDE UNSER VOLK VOR DEM WINTER RETTEN UND IN EINE NEUE ZEIT DES WOHLSTANDS UND ÜBERFLUSSES FÜHREN. ABER IHR WERDET NICHT DER WILDENTE FOLGEN. EBENSO WIE IHR NICHT DEM BIENENKORB UND DEM SCHMIEDEHAMMER FOLGEN WERDET, ODER DEM BAUM, DEM WOLF ODER DER AXT.“ Er gab ein Zeichen und die Schamanen entrollten sein Banner. Ein weißer Kreis war auf den Stoff gemalt. Und darin prangte, in ebenso weißer Farbe, ein dämonisches Haupt mit dem Schnabel eines Vogels und zwei gebogenen Hörnern. „IHR WERDET RAGG-NARR ROHOG SELBST IN DIE SCHLACHT FOLGEN, WENN WIR DEN GROSSEN GLETSCHER ÜBERQUEREN UND DAS LAND DER MENSCHEN MIT FEUER UND AXT ÜBERZIEHEN!“
    Obwohl sich fast alle Stämme der Steppen am Fuße der Weltachse versammelt hatten, blieben einige Bergstämme und die Stämme der Küste noch immer unabhängig. Aber wer wollte einem Heer von dieser Größe trotzen? Und vor allem: Wer würde es wagen, sich gegen ein Heer zu stellen, das Ragg-Narr Rohog selbst im Banner führte? Die Geister waren mit ihm, ihre Söhne und Töchter hatten ihm gewährt, als Zeichen seiner Führerschaft über alle Stämme der Orks die Weltbestie auf seiner Fahne zu tragen. Und unter diesem Zeichen würde er sein Volk nun in den Süden führen.
    Die Krieger jubelten und skandierten seinen Namen. Aber es war nicht sein Geburtsname, den sie schrien. Auch nicht der Name, den er sich durch den tollkühnen Raub Bordos erworben hatte. Den Einen, riefen sie ihn. Immer und immer wieder: Der Eine. Kan.

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