Ein weißer Schal

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Der weite Dschungel erstreckte sich vor dem kleinen Jungen in all seiner gewaltigen Größe. Lianen, Sträucher und Bäume wohin er auch sah. Mehr gab es nicht. Nur vereinzelt drangen noch Sonnenstrahlen durch die hoch gelegenen Baumkronen, die einen erbitterten Kampf um eben jene zu führen schienen. Der Junge hörte sein eigenes Herz rasen.
Noch vor weniger als einer halben Stunde, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte er den Anblick des majestätischen Tropenwaldes als beeindruckend empfunden. Nie zuvor hatte er so hohe Bäume gesehen, diese ganz einzigartige, feuchte Luft geatmet und diese Geräusche gehört, die einfach von überall zu kommen schienen.
Da war auch Papa noch dabei gewesen.
Jetzt war der Junge allein und ihm blieb nichts weiter als kalte Angst. Der Wald erschien ihm wie Beliars Reich in grünem Anstrich und jedes Zwitschern eines Vogels, jedes Aufquieken eines Äffchens ließen ihn erneut herumfahren.
Er würde sterben, soviel wusste der Junge. Und diese schreckliche Einsamkeit, diese Hetzjagd vor dem Tode, war wohl die Strafe dafür, seinen Vater im Stich gelassen zu haben. Aber was hätte er denn tun sollen? Er war eben in Panik geraten...
Dann hörte er ein Fauchen.

Noch während der Mann seinen Säbel aus dem erschlafften Körper des Jaguars zog, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Er ist weg...
„Bones!“ rief der Mann aus voller Kehle, „Bones! Wo bist du?! BONES!“
Er wollte loslaufen und seinen Sohn suchen. Doch was, wenn er in die falsche Richtung lief? Er würde sich nur noch weiter von dem Jungen entfernen. Dann eben in die andere Richtung? Nein, das wäre genauso aussichtslos gewesen... Der Mann fühlte sich hin- und hergerissen, starrte panisch zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, schließlich noch in die beiden Richtungen dazwischen. Seinen blutverschmierten Säbel hielt er noch immer in der Hand, doch auch damit fühlte er sich hilflos; hilflos, wie ein kleiner Junge allein im riesigen, unerbittlichen Urwald.
„BONES!!!“

Sicherlich hatte das Raubtier seinen Vater getötet, dachte der Junge bei sich, und nun kam es, um auch ihn zu reißen.
Er wandte sich von der Richtung ab, aus der er das Fauchen gehört hatte, und rannte in die genau entgegengesetzte. Trotz der drückenden Hitze spürte er beim Rennen den Schweiß kalt von seiner Stirn hinablaufen. Adrenalin durchflutete seine Adern, brachte die Beine ein ums andere Mal dazu, noch einen weiteren gewaltigen Satz zu springen, obwohl es eh nichts bringen würde. Jaguare sprangen noch gewaltigere Sätze.
Wieder fauchte irgendwo hinter ihm das Tier auf, vor dem der Junge flüchtete. Doch er sah sich nicht um. Er wollte nicht über Ranken, Wurzeln oder bloße Sträucher stolpern. Er wollte nicht in Lianen hängenbleiben oder gegen einen Baum rennen und so auch noch den letzten winzigen Hauch einer Chance verspielen, von dem er eh nicht glaubte, dass er existent war.

„BONES!!!“
Wieder und wieder brüllte der Mann den Namen durch den Urwald. Wieder und wieder blieb die erhoffte Antwort aus. Dann hörte er das leise Fauchen einer weit entfernten Raubkatze und sein Atem stockte. Was wenn dieses Tier Bones gewittert hatte? Grimmige Entschlossenheit ergriff von dem Mann Besitz. Sein Griff um das Heft seiner Machete wurde fester. So schnell ihn seine Beine tragen konnte, ohne einfach einzuknicken, rannte der Mann auf den Jaguar zu.
Er würde eher jedes einzelne Mistvieh in diesem Urwald töten, als dass Bones, seinem Sohn, etwas zustoßen sollte. Der Verlust seiner Frau vor zwei Jahren, als Bones erst neun Jahre alt gewesen war, war genug gewesen. Es durfte einfach nicht sein, dass Beliar ihm diesen nun auch noch nehmen wollte.

Urplötzlich sah der kleine Junge das Raubtier aus einigen nicht allzu weit entfernten Büschen springen. Es stieß einen Schrei aus, als es dazu ansetzte, zu ihm aufzuholen. Der Junge zückte beim Laufen das kleine, stumpfe Taschenmesser, dass sein Vater ihm im Jahr zuvor zum Schnitzen gegeben hatte. Er wusste dass es absolut zwecklos war, aber wenn das Ende schon unvermeidbar wäre, dann würde er kämpfen wollen. Allein schon weil die Aufregung eines Kampfes dann von den Schmerzen ablenken mochte.
Bones sah sich ein weiteres Mal um. Das Tier holte rasend schnell auf. Bald würde er sich ihm stellen müssen...
Aber dann – als Bones den Blick wieder nach vorne wandte – erschrak er heftig, ob eines geräumigen Höhleneingangs, der da aus dem Boden emporragte und weit ins Erdreich herabführte. Es war unglaublich duster darin und obwohl er einen Jaguar hinter sich wusste, bremste Bones ab. Da wollte er nicht rein. Er wäre darin ja blind und dem Tier noch mehr ausgeliefert, als es ohnehin schon der Fall war. In einer schnellen Drehung wandte er sich um; bereit, dem Tier in seine wilden Katzenaugen zu blicken, während es ihn anfiel.
Aber da war kein Jaguar mehr, der auf ihn zueilte.
Bones war völlig perplex, aber er traute der Situation nicht. Hinter irgendeinem der riesigen, exotischen Büsche müsste er doch hocken. Und wenn nicht der Jaguar, dann irgendeine Riesenschlange, ein Dutzend giftiger Spinnen oder weiß der Beliar was für eine Kreatur. Wie ein gehetztes Reh aus seiner alten Heimat blickte er ängstlich um sich. Das Pochen seines Herzens drängte selbst die Laute des Dschungels in den Hintergrund.
Und tatsächlich, da hockte er. Er hatte seinen Körper an den Boden geschmiegt, nur das Hinterteil etwas erhoben. Bedächtig tat die Raubkatze einige unsichere Schritte – aber rückwärts. Den kleinen Bones behielt das Tier dabei im Auge, als fürchtete es, dass dieser sich plötzlich zu einem Angriff entschließen könnte. Wie absurd. Bones war verblüfft und schöpfte einige neue Hoffnung.
Dann wurde ihm klar, dass es nicht er war, auf den die Augen der verängstigten Raubkatze gerichtet waren. Er blickte sich erneut um und sah wieder in die Finsternis der seltsamen Höhle. Bildete er sich das nur ein, oder hörte Bones da merkwürdige Laute, die von weit unterhalb der Erdoberfläche zu ihm hinaufdrangen? Er erschauderte.
Der Jaguar hatte mittlerweile aufgehört, sich von Bones wegzuschleichen. Vielleicht hielt er seine jetzige Distanz für sicher. Mit seinem schwarzen Fell perfekt getarnt, hockte er zwischen den hohen, dunklen Gräsern und beobachtete den verängstigten Jungen und die Höhle aus seinen gelben Augen.
Die Hand, in der Bones das Messer hielt, zitterte und war verkrampft. Sein eigener Griff ließ sich nicht lösen und es kam dem Jungen vor, als stünde er da eine Ewigkeit regungslos. Allein mit sich und dem gelbäugigen Tod.
Er würde nicht verschwinden. Das Tier würde eher geduldig abwarten, bis irgendetwas passierte, das Bones von dem Höhleneingang wegtrieb. Oder bis es selbst genug Mut und Hunger angestaut hätte, um sich das Kind auch so zu holen.
„Vater!“, brüllte Bones, leider nur in Gedanken. Aus seinem Mund drang kein Wort.
Dann stand der Jaguar sachte wieder auf. Er machte einen mehr als vorsichtigen Tapps nach vorne. Bones schreckte zurück, einen weiteren Schritt in das gefräßige Maul des Höhleneingangs hinein und der Jäger erstarrte in seiner Bewegung. Die gelben Augen durchbohrten Bones bereits, kauten für die Zähne vor.
„Was soll's“, dachte der kleine Reisende vom Östlichen Archipel voll Bitterkeit. Sein Leben schien ihm seit dem Tode seines Vaters eh zerstört. Eine sorgende Mutter, die auf ihn wartete, hatte er ja auch schon nicht mehr. Ganz auf sich allein gestellt irgendwo im riesigen Urwald dieser seltsamen, unbenannten Küste von Arborea, war es nun Zeit, auf eigene Verantwortung Risiken einzugehen. Er wandte sich von dem mit kalter Berechnung starrenden Jaguar ab und trat einen weiteren Schritt in die unheimliche Höhle. Sofort hielt er aber inne, als er ein gelbes Büschel Heu undeutlich im Schatten ausmachen konnte. Aber eigentlich war es auch ein wenig zu gelb, um ganz normales Heu zu sein.
Ein Fauchen des Jaguars, das ihn wohl warnen sollte, nicht weiter in die Dunkelheit hinabzusteigen und stattdessen doch lieber zu ihm zu kommen, rief dem Jungen die Tatsache in den Verstand zurück, dass jetzt nicht die Zeit war, über dieses gelbe Büschel zu sinnieren. Er holte noch einmal tief Luft und stieg hinab in die Dunkelheit.

Gelb Gelb Gelb Gelb Gelb
Die brennende Sonne der Karibik war
Gelb Gelb Gelb Gelb Gelb
Die Augen des Todes waren
Gelb Gelb Gelb Gelb Gelb
Das Heubüschel im Höhleneingang war
Gelb Gelb Gelb Gelb Gelb
Gelb Gelb Gelb
Gelb


Seine eigenen Augen stellten sich langsam auf die unsägliche Dunkelheit ein und nutzten jeden noch so kleinen Sonnenstrahl aus, den sein Weg irgendwie in dieses Erdloch verschlug. Bones tastete sich an den nur leicht befeuchteten Höhlenwänden entlang. Er fürchtete dabei, das unablässige, wilde Pochen seines Herzens könnte ihn noch verraten; wem auch immer, der hier hauste.
Bones dachte zurück an das Dorf der Eingeborenen, die ihn und seinen Vater mit einer nie zuvor erlebten Gastfreundschaft bei sich aufgenommen hatten. Sie hatten ihnen solche Mengen an Speisen serviert, wie – so erzählte zumindest Vater – wahrscheinlich jeder einzelne der Dorfbewohner in einem Monat nicht zu Gesicht bekam. Und schon gar nicht in dieser königlichen Auswahl. Einige der Dinge hatte Bones eklig gefunden, aber sein Vater meinte: „Probier' sie zumindest und zolle ihnen Anerkennung dafür. Du könntest diese Menschen sonst beleidigen.“
Das hatte Bones dann getan, auch wenn er nicht ganz verstand, wie er denn ohne etwas zu sagen jemanden beleidigen konnte. Aber das war ja auch egal. Er wollte jedenfalls niemanden beleidigen.
Nach dem Essen war Vater zu einer ausgiebigen Gesellschaft mit dem Häuptling und seiner Frau eingeladen, zu der auch Bones hätte mitkommen können.
„... ich glaube aber, dass es dir sicher mehr Spaß machen würde, etwas Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen. Auf dem Schiff war ja schon kein anderes Kind, mit dem du spielen konntest. Ich habe den Häuptling deshalb schon gefragt und es ist dir erlaubt, dem Besuch fernzubleiben und stattdessen mit den Kindern hier zu spielen.“
Das erfreute Bones. Schon während des Essens hatte er viele Kinder im Dorf gesehen und auch sie hatten bereits ein Auge auf ihn geworfen. Er interessierte sich für ihre Spiele und ihre Lieder, von denen er schon bruchstückhaft etwas mitbekommen hatte.
„Hallo, ich bin Bones“, grüßte er eine Gruppe von sieben Jungen und Mädchen in seinem Alter. Sie konnten seine Sprache nicht verstehen, geschweige denn sprechen. Aber an der Körpersprache mussten sie erkannt haben, dass Bones wohl sein Name war. Eines nach dem anderen stellten die Kinder sich vor. Danach wollten sie Bones alle einmal berühren. Sie hatten wahrscheinlich noch nie zuvor einen Weißen gesehen und fragten sich nun, ob er sich genauso anfühlte, wie sie selbst. Bones war das etwas unangenehm, aber er ließ es über sich ergehen. Die Kinder tauschten einige Worte in ihrer Sprache miteinander aus, lächelten schließlich und bedeuteten Bones mit Handbewegungen, er solle ihnen folgen. Sie zeigten ihm das ganze Dorf und stellten ihm wahrscheinlich jedem seiner Bewohner vor.
Während sie fröhlich durch das Dorf gerannt waren, hatten die Kinder ein Lied gesungen. Später hatten sie Bones den Inhalt mühevoll durch Gestik und Schauspiel übersetzt.

Kakunga, Kakunga,
er macht nen großen Sprung, ja!
Kakunga, Kakunga,
er braucht auch nicht viel Schwung, ja!

Während er ihnen im Laufschritt folgte, hatte Bones den Text ganz schnell gelernt und sang ihn ausgelassen mit.
Stunden später kam Bones an der prächtigen Hütte des Häuptlings vorbei. Er fühlte sich wohl, hatte bereits viele Freunde gefunden – und war zunehmend unachtsam geworden. Fröhlich trällerte er das Lied, das ihm so gefiel „Kakunga, Kakunga...“, als der Häuptling des Dorfes urplötzlich aus seiner Hütte geschritten kam und genau Bones' Bahn kreuzte. Der alte Mann wäre beinahe hingefallen, nachdem Bones gegen ihn gelaufen war, doch Vater fing ihn rechtzeitig auf und bewahrte ihn so vor Schlimmerem.
„Bones, du musst doch aufpassen –“, setzte er mit ungehaltener Miene zum Tadel an, als der Häuptling wieder sicher auf zwei Beinen stand, doch jener alte Mann unterbrach die Rüge, indem er beschwichtigend die Arme hob. „Nicht so schlimm“, erzählte er in einer vereinfachten Grammatik seiner eigenen Sprache, die Vater bereits fragmentarisch verstand, „Aber halte in Zukunft deine Augen mindestens so weit offen, wie die Jaguare es tun würden. Sonst haben sie dir etwas voraus.“
Vater übersetzte die Worte und Bones versprach erleichtert, dass er sich daran halten würde. Der gütige alte Häuptling lächelte.
„Du kennst schon das Lied vom Kakunga, habe ich gehört“, fuhr er dann fort.
„Die Kinder haben es mich gelehrt“, erwiderte Bones schüchtern. Es war ihm ein wenig unangenehm, erst seinem Vater alles sagen zu müssen, was eigentlich für den Häuptling bestimmt war, damit ersterer es nach seinen beschränkten Möglichkeiten übersetzen konnte.
„Es ist das bekannteste Kinderlied in diesem Teil der Küste. Haben sie dir auch erzählt, wer Kakunga ist?“
Bones schüttelte den Kopf – eine Geste, die auch hier in dieser fremden Kultur keiner Übersetzung bedurfte.
„Kakunga, das ist der Herr der großen Höhlen“, setzte der Häuptling zur ausgiebigen Erklärung an und Vater kam mit der Übersetzung kaum nach, „Er sieht aus wie ein großer, gelber Gorilla, der irgendwo dort draußen haust. Der Wald ist reich an Höhlen, aber wir betreten sie niemals. Denn sie sind sein Reich. Solange unser Volk sich zurückerinnert, ist er schon da.“
Bones war fasziniert von dem Gedanken. Er starrte den Häuptling an und fragte, „Ist er böse?“
Der Häuptling schüttelte den Kopf – wieder die Geste, die keiner Übersetzung bedurfte.
„Nein, Kakunga ist nicht böse. Er ist aber auch nicht gut. Er ist Kakunga, nicht mehr und nicht weniger.“
Das verstand Bones nicht, aber vielleicht lag darin für ihn der Reiz. Er wollte schon zur nächsten Frage ansetzen, aber da legte der Häuptling seinem Vater schon grinsend eine Hand auf die Schulter.
„Keine Sorge, ich werde mich bemühen, eure Sprache bald selbst zu verstehen. Aber ich bin nun schon alt und lerne nicht mehr ganz so schnell.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, Euch dabei zu helfen“, erwiderte Vater. Bones hatte davon kein Wort verstanden, aber das war auch nicht wichtig. Er bewunderte den Häuptling und seine Geschichte. Auf dem östlichen Archipel hatten die alten Leute den Kindern meist nur Märchen erzählt, die ihnen vor irgendetwas Angst machen sollten. Dabei hatten sie nicht selten gegrinst, wenn es ihnen gerade besondere Freude bereitete, die angstgeweiteten Augen der Kleineren zu betrachten. Bones erinnerte sich gut an „Hänsel und Gretel“, „Rotkäppchen“ und an „Im Hexentopf, im Hexentopf“; Geschichten, welche die verrückte alte Großmutter seines damals besten Freundes ihm erzählt hatte. Vor Kakunga hatten die Kinder hier auch Respekt, aber irgendwie war das noch etwas anderes, denn auch die Erwachsenen schienen an ihn zu glauben.
Bones stand noch lange da und dachte auch später in seinem Zelt noch darüber nach. Schließlich zwang er sich aber, einzuschlafen. Am nächsten Morgen würde Vater mit ihm eine winzig-kleine Expedition machen, hatte er versprochen.

Und jetzt saß Bones in dieser Höhle, weil ein Jaguar sich nahe genug ans Dorf getraut hatte, um ihre winzig-kleine Expedition in einer Tragödie enden zu lassen.
Schritt um Schritt drang Bones tiefer ins Erdreich ein und Schritt um Schritt wurde es dunkler um ihn. Das letzte, was er mit seinen Augen wahrnehmen konnte, war, dass er sich vor einer Kreuzung befand. Der Weg, dem er bislang gefolgt war, spaltete sich auf. Einer der Wege roch sehr moderig, was in Bones die schrecklichsten Angstfantasien weckte. Mochten dort Kadaver von unzähligen Tieren und vielleicht sogar Menschen aus dem Dorf verrotten, gerissen von einer Bestie, vor der selbst die kräftigen und flinken Jaguare Furcht empfanden? Wohin mochte der andere Weg führen? War dieser nicht vielleicht sogar noch gefährlicher, weil er eben weniger verdächtig war? Rein äußerlich jedenfalls taten sie sich nichts. Sie bildeten beide zusammen eine Grenze zwischen dem letzten Lichtstrahl und der absoluten Dunkelheit.
Bones überlegte, ob er hier nicht eine Weile ausharren und die Höhle dann wieder verlassen sollte. Vielleicht hätte der Jaguar sich verzogen.
Und dann?, fragte eine unangenehme Stimme in ihm. Eine Antwort konnte er jedoch nicht liefern. Denn dann würde er immer noch orientierungslos im Urwald festsitzen und auf den nächsten Jaguar warten. Bones war kurz davor, vor Verzweiflung und Angst einfach loszuweinen und er hätte es bestimmt auch getan, hätte er nicht gewusst, dass das seine Aufmerksamkeit stark einschränken würde. Stattdessen versuchte er, sich wieder ein wenig zu beruhigen. Was taten andere Kinder noch, wenn sie Angst hatten und sich davon ablenken wollten?
Singen fiel ihm als erstes ein. Aber das hätte Bones als glatten Selbstmordversuch empfunden. Dennoch dachte er an die lustigen Lieder der einheimischen Kinder und natürlich fiel ihm zuerst ein ganz bestimmtes ein.
Kakunga, Kakunga...“, drang es im Flüsterton über seine Lippen, „Hoch oben auf sei'm Turm, da! Kakunga, Kakunga, isst er am Tag zehn Gnom', ja!“
Mit einem Mal überkam Bones eine Übelkeit. Die Worte des Häuptlings gingen ihm wieder durch den Kopf, dass sein Stamm die vielen Höhlen der Gegend bewusst mied, da sie Kakungas Reich seien...
Auf einmal wurde es hell.
Die Lichtstrahlen kamen nicht von draußen, wo der Tod mit den gelben Augen lauerte, sondern sie drangen aus einem der beiden Höhlengänge zu Bones. Genauer gesagt aus dem Höhleneingang, der nicht nach Moder und Verwesung roch.
Bones war nicht imstande, sich zu bewegen. Er starrte in den nun strahlend hell erleuchteten Gang, an dessen Wände riesige Wurzeln herausragten und auf dessen Boden bläuliche Pilze mit kleinen Kappen wuchsen. Der helle Schein wurde immer intensiver. Wenn Bones jetzt doch noch vorgehabt hätte, davor zu fliehen, es wäre zu spät gewesen. Eine gleißende Lichtkugel, von der all die strahlende Helligkeit ausging, bog schwebend um eine Ecke des Ganges. In ihr Zentrum konnte Bones nicht sehen, ansonsten hätte sie ihn wahrscheinlich geblendet. Das kugelförmige Etwas kam weiter in seine Richtung.
Eine Welle der Erleichterung und der Faszination durchflutete Bones' Körper. Er hatte ein solches Phänomen eines Nachts auch schon auf der Insel Khorinis beobachten können, als er und seine Familie dort auf der Durchreise gewesen waren. Als seine Mutter noch lebte... Und sein Vater.
Das drückende Gefühl stellte sich wieder ein. Trotz des herrlichen Wesens vor ihm, von dem er sich seit mehreren Jahren wünschte, noch einmal eines seiner Art wiederzusehen. Er wusste zwar, dass Irrlichter auch launisch sein konnten, wenn sie zu weit von der magischen Quelle ihrer Lebenskraft entfernt waren, aber eine ernsthafte Bedrohung stellten sie niemals dar. Das kleine Geschöpf, dass aus reiner Energie bestand, hielt zwei Meter vor Bones an, direkt auf dessen Augenhöhe.
Der Junge verengte seine Augen reflexartig zu Schlitzen und wandte den Kopf zur Seite, so dass er das Irrlicht nur noch aus den Augenwinkeln betrachten konnte. Zusätzlich hielt er noch schützend seine rechte Hand vor das Gesicht.
„Hallo“, flüsterte er, so laut er es eben wagte, „Du... bist mir ein bisschen zu hell, weißt du.“
Bones hatte nicht erwartet, von dem Energiewesen verstanden zu werden; umso größer war schließlich die Verwunderung, als die reine, gleißende Energiekugel innerhalb weniger Sekunden gefühlt die Hälfte ihrer Helligkeit eindämmte. Schließlich nahm sie wieder Fahrt auf und schwebte an Bones vorbei in Richtung des Höhlenausgangs, durch den Bones das unterirdische Tunnelsystem betreten hatte. Einige Sekunden verharrte sie dort in der Luft, dann zuckte sie plötzlich mehrmals. Das Irrlicht zuckte in Richtung des Ausgangs. Dem Jungen stand der Mund offen vor Verwunderung. Es war als wolle dieses kleine Wesen sagen, Folge mir, ich bringe dich hier heraus.
„Aber ich kann da nicht wieder rausgehen. Dort draußen ist ein Jaguar und der will mich fressen. Deshalb verstecke ich mich ja hier drinnen!“, erklärte der Junge verzweifelt und glaubte immer noch nicht wirklich daran, dass das Wesen ihn verstehen konnte. Er vergaß sogar, dabei seine Stimme zu senken. Sie hallte ein wenig in den Gängen nach, was ihn beinahe in Panik versetzte.
Das Irrlicht hörte auf damit, Richtung Ausgang zu zucken. Stattdessen setzte es sich wieder in Bewegung und schwebte dahin zurück, wo es hergekommen war – in den zweiten Gang dieser Gabelung; in denjenigen, der nicht nach Tod roch. Dort blieb es zunächst stehen, bis es wieder anfing, zu zucken.
„Dort hinein soll ich dir folgen?“, fragte Bones voll ängstlicher Zweifel, „Und dort wartet keine Gefahr auf mich?“
Das Irrlicht konnte seine Frage nicht anders beantworten, als durch ein erneutes Zucken.
„Dann habe ich wohl keine andere Wahl“, sprach der Junge mehr zu sich selbst, als zu seinem leuchtenden kleinen Wegbegleiter. Mit schwerem Herzen und mit schweren Beinen folgte er ihm.

Der Mann war wieder ins Dorf gerannt. Nachdem er mehrmals aus voller Kehle nach seinem Sohn gebrüllt hatte, war sicher ausnahmslos jeder aus seiner Behausung gekommen, um zu sehen, was vorgefallen war. Die Menschen scharten sich um den Verzweifelten, der sie aber alle ignorierte. Stattdessen lief er geradewegs zu der Hütte, die der Stamm ihm und seinem Sohn in voller Auslebung seiner Gastfreundschaft zur Verfügung gestellt hatte, und kramte in seinen Habseligkeiten. Er suchte sich zwei der Fackeln heraus, die er für den Notfall mitgenommen hatte. Er plante, sie anzuzünden und dann solange durch das tödliche Grün zu streifen, bis er seinen Sohn gefunden hatte oder bei dem Versuch gestorben war. Die Tiere – zumindest die meisten Arten – würden die Flammen meiden und ihm aus dem Wege gehen. Bones hingegen könnte das Licht bemerken und als Anhaltspunkt nehmen. Sofern er noch lebte.
Bei dem letzten Gedanken wurde dem Mann ganz schwindlig, aber er gönnte sich nicht die Zeit, sich kurz irgendwo aufzustützen. In seiner Panik bemerkte er auch gar nicht, wie der Häuptling und sein ältester Schamane sich ihm näherten.
„Dein Verhalten zeigt, dass Schreckliches geschehen ist“, sprach der Häuptling, als er genau hinter dem Mann stand. Dieser fuhr herum und das absolute Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ich habe Bones verloren!“, krächzte er ohne Beherrschung und suchte vergeblich in den Mienen des Häuptlings und des Ältesten nach Antworten. Sie hatten den Jungen auch nicht gesehen, er hatte das Dorf gar nicht erst wieder erreicht.
„Wir werden dir bei deiner Suche helfen, Obruni. Wir alle hier im Dorf“, entschied der Häuptling kurzentschlossen. Er drehte sich zu all den Dorfbewohnern, Jägern und Stammeskriegern um und verkündete ihnen, was zu tun sei. Als er geendet hatte, bildeten sich kleine Gruppen, denen jeweils mindestens ein Krieger oder zwei Jäger zum Schutze angehörten. Innerhalb einer Minute waren sie alle ausgeschwärmt.
Der Mann atmete heftig und zu schnell. Ihm drohte ein Schwächeanfall und so stützte er sich doch für einige Augenblicke auf die Kiste mit seinen Habseligkeiten. Als er die Augen wieder öffnete, sah er zuerst den schimmernd weißen Seidenschal, der bedächtig gefaltet in einem besonders sauber gehaltenen Fächlein der Kiste steckte, das eigentlich für wichtige Dokumente angefertigt worden war. Derlei Papierkram hatte er aber nie besessen.
Er wusste nicht, warum er es tat, aber er nahm den Schal seiner verstorbenen Frau aus dem Fächlein und entfaltete ihn. Er hatte dabei das Gefühl, dieses einstige Lieblingskleidungsstück Marias, welches sie zu ihrer Hochzeit von einer wohlhabenderen Freundin des Hauses geschenkt bekommen hatte, würde immer noch ihre Duftnote tragen. Außerdem glänzte er noch genau wie früher. Voller irrationaler Entschlossenheit, als würde er den Verstand verlieren, warf er die Fackeln zurück in die Kiste und wandte sich dem Häuptling zu.
„Zeige mir den Baum, dessen Wipfel dem Himmel am nächsten liegt.“
Einen kurzen Moment lang war der Häuptling sprachlos, dann wandte er sich seinem Ältesten zu. Dieser wusste offenbar, wo jener Baum stand und nickte ohne ein Wort in die Richtung. Der verzweifelte Vater stürmte voran, der Häuptling und der Älteste folgten ihm.

Wie lange folgte er diesem lebenden Licht nun schon? Bones konnte es nicht sagen. Den Weg hatte er sich auf jeden Fall nicht einprägen können, denn dafür hatte es irgendwann zu viele Gabelungen und Kreuzungen in dem unterirdischen System gegeben, die doch alle irgendwie gleich aussahen. Das verwunderliche an der ganzen Sache war jedoch, dass der Weg sie mittlerweile nach oben führte. Die ganze Zeit über hoffte der Junge, jeden Moment einen winzigen Flecken Tageslicht ausmachen zu können, wenn sie die Oberfläche erreichten. Doch das blieb leider aus.
Das Licht, in das das magische Lebewesen vor ihm den Gang tauchte, war nicht so warm wie echtes Sonnenlicht, sondern wirkte fast ein wenig bläulich. Es erzeugte schauerliche Schatten überall, wo es auf Steine, Wurzeln oder Äste traf. Dann machte Bones vor sich etwas Seltsames aus. Dort lag etwas auf dem Boden, das wie ein kleines Gebüsch aussah. Als der Lichtkegel seines Begleiters dieses Gebüsch offen sichtbar machte, erschrak Bones und blieb auf der Stelle stehen.
Dort auf dem Boden lag ein weiteres jener gelben Büschel, das er schon am Höhleneingang gesehen hatte. Als er den Schrecken überwunden hatte, näherte der Knabe sich dem Objekt vorsichtig, um es sich genauer anzusehen. Kein Zweifel, es war absolut gelb. Zwar ziemlich dreckig, aber dennoch gelb. Bones erkannte, dass es kein Heu war, sondern Haare aus einem dichten Fell. Er ließ jäh davon ab.
Kakunga, das ist der Herr der großen Höhlen, riefen sich die Worte des Häuptlings wie von allein zurück in sein Gedächtnis, Er sieht aus wie ein großer, gelber Gorilla, der irgendwo dort draußen haust. Der Wald ist reich an Höhlen, aber wir betreten sie niemals. Denn sie sind sein Reich. Solange unser Volk sich zurückerinnert, ist er schon da.
„Meintest du nicht, dieser Gang wäre sicher?“, fragte er das Irrlicht vorwurfsvoll, wusste aber direkt, dass diese Frage dumm gewesen war. Natürlich hatte das sprachlose Wesen überhaupt nichts behauptet. Es schwebte einfach dort in der Luft und es war sehr leicht sich einzubilden, dass es interessiert dreinblickte. Bones stellte sich vor, wie es wohl aussehen mochte, wenn er mit einem Stück Kohle Augen, Nase und Mund auf die helle Lichtkugel aufmalen würde. Natürlich ging das nicht, da das Wesen aus reiner Energie bestand; aber wenn es möglich gewesen wäre, dann wäre der Blick des Mondgesichts ein interessierter gewesen. Aber auch ein gütiger. Das Irrlicht zog weiter seiner Wege und Bones folgte ihm zunächst voller Vertrauen.
In einem kurzen Moment des Misstrauens hingegen kam ihm nun erstmal der schreckliche Gedanke, dass das Energiewesen ihm gar nicht wohlgesonnen sein könnte. Was, wenn es sich einen Spaß daraus machte, ihn in eine tödliche Falle zu locken? Es könnte gleich einfach so erlöschen und dann säße Bones allein in einer Dunkelheit, aus der er nie wieder herausfinden mochte.
Es könnte ihn auch direkt zu einem Ungeheuer führen.
Oder zu Kakunga.
Plötzlich erschienen Bones die lustigen Lieder der Dorfkinder wie schreckliche Horrorszenarien. Er wollte nicht über sie nachdenken. Stattdessen stellte er sich die Frage, ob ein Irrlicht wohl wirklich böse sein konnte. Eigentlich glaubte er das nicht. Wirklich nicht. Trotzdem vergiftete nun Argwohn seinen Geist.
KAKUNG GRAAAHHH!
Der Schrei erfüllte all die endlos verzweigten Gänge und Schächte, die Bones in den letzten Stunden mit dem Irrlicht durchwandert hatte. Es war jedoch eher der Nachhall, den Bones noch hören konnte. Mit aufgerissenen Augen machte der Junge eine halbe Drehung und blickte angsterfüllt zurück. Natürlich sah er nichts, der Schrei war viel zu weit entfernt erklungen. Dennoch wusste er instinktiv, dass das rein gar nichts zu bedeuten hatte.
„Er weiß, dass wir hier sind, oder?“, fragte er das Irrlicht flehend. Dieses war nun nicht mehr gleißend hell bis bläulich, sondern enthielt nun auch einen eindringlichen roten Schimmer. Seine Warnfarbe. Es bedeutete Gefahr. Das Energiewesen zappelte nun wieder, diesmal in großer Hektik, um Bones zu bedeuten, dass er sich beeilen müsse.
Der Junge rannte dem Irrlicht hinterher, rannte um sein Leben.

KAKUNG AAARGHHH!
Wieder dieses lähmende Brüllen, diesmal war es schon näher. Zumindest wusste Bones jetzt, woher Kakunga seinen Namen bekommen hatte. Aber das brachte ihn gerade auch nicht weiter.
Kakunga, Kakunga, er macht nen großen Sprung, ja!
„Ich... kann nicht mehr“, keuchte er dem Irrlicht zu, „es geht... einfach nicht mehr.“ Das strahlende Wesen kannte darauf nur eine einzige Antwort: Es ließ wieder seine rote Warnfarbe aufleuchten.
Die Besorgnis des Irrlichts war beinahe rührend und obwohl Bones wusste, dass es nicht der richtige Augenblick dazu war, verspürte er doch ein schlechtes Gewissen, weil er seinem Helfer in Gedanken schon Boshaftigkeit unterstellt hatte. Er wurde immer langsamer, die Gänge immer steiler. Der Junge fragte sich, wie es sein konnte, dass sie schon so lange immer weiter nach oben kamen, aber dennoch kein Ausgang in Sichtweite kam. Befanden sie sich mittlerweile in einem verdammten Berg?
KAKANG GRUUUHHH!
Es war markerschütternd und vor allem war es nah. Kakunga holte auf, immer weiter und immer schneller.
Kakunga, Kakunga, er braucht auch nicht viel Schwung, ja!
Bones' Lungen wollten kaum noch arbeiten. Ebenso wenig sein Herz. Zuerst fand Bones den Gedanken skurril, als hilfloser Elfjähriger in einem Dschungel ausgerechnet am Versagen innerer Organe sterben zu können. Im nächsten Augenblick stellte er sich die Frage, wie viele Beutetiere tatsächlich nicht durch direkte Gewalteinwirkung der Jäger starben, sondern zu Tode gehetzt wurde. Auf dem Östlichen Archipel war es eine schickliche Freizeitbeschäftigung des Adels gewesen, Füchse bis zu deren Zusammenbruch durch Hunde jagen und dann zerfleischen zu lassen.
Aber noch während Bones darüber nachdachte, sah er es plötzlich. Das Licht am Ende des Tunnels. Er nahm sich ein letztes Mal, ein allerletztes Mal zusammen und stolperte weiter; das führende Irrlicht schon weit voraus.
Als Bones schließlich draußen endgültig zusammenbrach, hatte er schon keine Erinnerung mehr daran, wie er die letzten Hunderte von Metern durch die Höhlen überhaupt geschafft hatte. Er wusste nur noch, dass er gleich ohnmächtig werden und von Kakunga, dem Herrn der großen Höhlen persönlich, in Fetzen gerissen werden würde.
Der Ort, an dem Bones sich nun befand, war eine von Gräsern bewachsene Hochebene auf einem kleinen Berg, der schon einigen der Bäume das Wasser reichen konnte. Nach unten hin fiel die Erhöhung sehr steil ab, so dass der einzige Zugang aus Kakungas Höhlen bestand, wenn man kein Meister der Kletterei war. Bones spürte die erfrischende Brise kaum noch, die er in dieser Höhe genießen konnte. Das Irrlicht war verschwunden. Es hatte seine Aufgabe so gut erfüllt, wie es nur konnte. Darauf, wie es weiterging, hatte es keinen Einfluss mehr üben können. Bones bildete sich ein, aus den Augenwinkeln erkennen zu können, wie sich im Höhlenausgang langsam und bedächtig etwas Gelbes regte.
Hoch oben auf sei'm Turm da isst er am Tag zehn Gnom'. Na? Kommst du, um mich nun auch zu fressen?, fragte der Junge in Gedanken, ohne dass er es jemals laut ausgesprochen hätte.
Ich weiß noch nicht so recht, muss ich gestehen, lautete die überraschende und ehrlich klingende Antwort, Ich habe schon lange drüber nachgedacht, bin aber noch zu keinem Entschluss gekommen.
Bones war sich sicher, dass er die Stimme nur in seinem Kopf, seinem armen, gequälten Köpflein hörte, und dass sich ein gelber Gorilla gleich doch entgegen der Ankündigung einfach auf ihn werfen würde.
Wieso hast du mich verfolgt, wenn du dir unsicher bist?, stellte er dennoch erneut eine Frage.
Oh, das war unerlässlich. Ich musste dich verfolgen, entweder um dich zu retten, oder dich zu fressen. Ich könnte wirklich mal wieder frisches Fleisch vertragen...
Dem Jungen jagte das ganze einen Schauer über den zu Boden gepressten Rücken. Seine Fantasie ging mit ihm durch; in den letzten Minuten seines Lebens verlor er den Verstand.
Warum bist du zwiegespalten, Kakunga?
Ich weiß es nicht.
Und wann wirst du dich entscheiden?
Meistens entscheide ich aus dem Bauch heraus. Und der knurrt ein bisschen.
Bones seufzte tief, schloss die Augen und nahm Abschied von der Welt, Dann bring es nun endlich hinter uns. Ich habe einfach keine Lust mehr.
Nichts geschah. Eine gefühlte Ewigkeit lang rein gar nichts. Ein Martyrium der Ungewissheit.
Such' den höchsten Baum, der von hier oben aus zu sehen ist. Halte nach etwas Bekanntem Ausschau, das dort eigentlich nicht hingehört. Es war interessant, dich gejagt zu haben.
Ebenso, ebenso... Dann konnte Bones der Ohnmacht nicht länger widerstehen.

Als er erwachte, erschien ihm alles wie ein wirrer Traum. Dennoch war er kaum überrascht, dass als er sich aufrichtete, er im höchsten Wipfel des Waldes er einen glänzend weißen Stoff flattern sah. Mutters Schal, erkannte er den Gegenstand und lächelte.
Das Bild, wie der weiße Schal seiner Mutter über den grünen Wipfeln des Dschungels von Arborea flatterte und sich nur leicht vom hellen Blau des Himmels abhob, würde er niemals vergessen.
Und hieß das nicht, dass sein Vater noch lebte?
„PAAAPAAA!“, brüllte er in die Richtung des weißen Schals. Einen Moment lang hatte er Bedenken, ob des lauten Schreis. Aber Kakunga hatte ihn verschont und er wusste, dass er ihm nicht wieder begegnen würde. Mehrmals wiederholte er diesen Ruf und fürchtete schon, er würde langsam den Abstieg wagen müssen, bevor es zu spät und zu dunkel würde. Dann sah er, wie sich Menschen dem Fuße des Berges näherten. Es waren fünf Jäger des Dorfes.

Der Abstieg mit Hilfe und unter Anleitung eines der Männer war nochmal eine weitere Strapaze, die Bones aber wie all die anderen ertrug. Er erfuhr, dass es sein Vater persönlich gewesen war, der fast wie im Wahn mit speziellen Beinschnallen der Eingeborenen zum Klettern den riesigen Baum bezwungen, das teure Textilstück platziert und in der Höhe noch stundenlang ausgeharrt hatte, um Ausschau zu halten.
Auf dem Rückweg hatten Bones und die Jäger sich so lange an dem weißen Schal orientiert, wie die anderen Baumkronen die Sicht auf ihn zuließen. Natürlich hätten die Jäger den Heimweg auch ohne diesen Orientierungspunkt gefunden, aber sie machten sich ein Vergnügen daraus, Bones dies nicht wissen zu lassen, da sie schnell sahen, wie begeistert der Junge von der Idee war, ein altes Kleidungsstück seiner Mutter würde sie heimführen. Man könnte an dieser Stelle noch ein freudiges Wiedersehen erwarten, doch das musste bis zum nächsten Tag warten, da Vater bei dem ältesten Schamanen des Dorfes nach einem Zusammenbruch in Behandlung lag und in einen hypnotischen Schlaf versetzt worden war.
Bones selbst suchte nach einem ausgedehnten Schlaf den Häuptling auf und erzählte ihm von diesen letzten, seltsamen Minuten vor seiner Ohnmacht. Er kam sich dabei lächerlich vor, da er mittlerweile kaum noch daran glaubte, es könnte sich bei dem Gespräch mit Kakunga um die Realität gehandelt haben. Dennoch lauschte der alte Mann aufmerksam, bis Bones geendet hatte. Auch danach schwieg er noch für einige Momente und dachte nach.
„Und verstehst du jetzt, was ich dir zu erklären versuchte?“, fragte er schließlich, „Dass er weder gut, noch böse sei?“
Nun war es Bones, der einige Momente des Nachdenkens brauchte und er dachte ernsthaft darüber nach.
„Ich glaube schon“, laute schließlich seine zögerliche Antwort.
„Und weißt du jetzt auch, wer Kakunga wirklich ist?“, lautete die nächste Frage und wieder dachte Bones angestrengt nach. Letztendlich musste er die Geste, die jeder verstand, ausführen – er schüttelte den Kopf, was dem Häuptling ein Lächeln entlockte.
„Wir, mein Sohn. Wir alle sind Kakunga.“
Dann stand der Häuptling auf, um Bones mit dieser Antwort allein zu lassen und einmal nach dem Vater des Jungen zu sehen.
Bones dachte lange nach und träumte von dem Irrlicht in der Dunkelheit. Er träumte von Kakunga, der sich ihm nicht hatte zeigen wollen.
Und immer wieder träumte er von dem weißen Schal in der Baumkrone.