Für den Rhob



Der sonnige Morgen war nur von einigen wenigen Wolken getrübt, die langsam und gemächlich über den Himmel zogen. Weiße, manchmal schon etwas angegraute Schiffe, die über das blaue Himmelsmeer fuhren, auf einer unendlichen Reise in ein fernes Land, welches sie doch nie erreichen würden. Egal, wie sehr sie sich anstrengten, wieviel Tat- und Schaffenskraft sie an den Tat legten: Ihre Bemühungen blieben erfolglos, aber dennoch machten sie immer weiter. Für ein höheres Gut opferten sie sich auf, getreu, loyal, entschlossen. Eigene Befindlichkeiten ordneten sie fügsam unter.

Kalvin mochte dieses Wetter, denn ein Morgen mit einem solchen Wetter versprach immer, ein guter Tag zu werden. Es half ihm auch, seine unwichtigen Sorgen zu vergessen. Schließlich brachte das ganze Grübeln nichts, die Entscheidungen lagen nicht bei ihm. Er hatte abgewartet, Tag für Tag, nun seit schon fast einer Woche. Aber tief im Innern, da wusste er, da teilte ihm sein Herz mit jedem Schlag mit: Er brauchte sich nicht zu fürchten, die bald gefällte Entscheidung – bloß Stunden verblieben noch – würde gut und richtig sein.
Das große Tor hinter ihm stand weit offen, so wie um diese Zeit üblich, damit die Arbeiter es mit ihren Kisten leichter hatten. Der Nachteil war, dass sich auch die umherstreifenden Ratten dieser Erleichterung nur zu gerne bedienten. Kalvin erinnerte sich noch, als sei es gestern gewesen, wie vor einem Jahr gleich mehrere Dutzend dieser langschwänzigen Biester in das Lagerhaus eingedrungen waren. Flink, wie sie waren, hatten sie sich rasch den wütenden Tritten der Arbeiter entzogen und waren in die entlegensten Winkel des Lagers geflitzt. Ein paar mutigere Exemplare hatten sich direkt zwischen den Kisten, Töpfen und Fässern versteckt, um schon einmal nach undichten Stellen, Löchern und dergleichen zu suchen oder sie mit ihren langen Zähnen dort hineinzuschlagen.
Stunden hatte es gedauert, bis der Großteil der Nager vernichtet oder wenigstens vertrieben war, aber auch noch Wochen nach diesem Vorfall waren einzelne Tiere aufgefunden worden, wie sie sich an den königlichen Vorräten zu schaffen machen wollten. Insgesamt waren die Verluste nicht groß gewesen, doch im Taumel des ewigen Krieges gegen die Horden der Orks war jeder noch so kleine Brotlaib ein so kostbares Gut, dass die Rattenplage für einige Nervosität sorgte. Auch bei Kalvins Vorgesetztem, einem direkten Berater des ehrwürdigen König Rhobar II., dessen Aufgabe nur darin bestand, Kalvin bei seiner Arbeit als Oberlagerist Vengards zu überwachen und bei jedem noch so kleinen Vorfall Bericht zu erstatten. Genau dies hatte besagter Vorgesetzter dann penibel getan, was den König dazu bewegt hatte, Kalvin die Verluste im Lager zunächst akribisch berechnen und dann im Anschluss aus eigener Tasche begleichen zu lassen. Die nötige Inventur hatte Kalvin innerhalb eines Tages ganz alleine durchgeführt und der Ersatz des Schadens hatte ein so tiefes Loch in seine Tasche gerissen, dass er fast eine ganze Woche ohne auch nur einen Krümel zu essen hatte auskommen müssen. Doch er hatte es gern getan, denn König Rhobar II. hatte weise Recht gesprochen. In Kriegs- und Krisenzeiten durften derartige Vorfälle einfach nicht geschehen, und wenn sie es doch taten, dann musste der Schaden schnell eingedämmt werden. Daran mitzuwirken war Kalvins oberste Pflicht, der er mit Leib und Seele nachgekommen war. So, wie er schon seit Jahren mit Leib und Seele dem König diente.
Ganz in Gedanken versunken hatte Kalvin gar nicht mitbekommen, wie er – äußerlich hellwach und pflichtgemäß– gerade eben die Flügeltore noch einmal darauf überprüft hatte, dass sie nicht zufielen, und danach zu seinem Schreibtisch gehumpelt war.
Trotz des günstigen Wetters schmerzte sein linkes Bein heute wieder ganz besonders, was er vor allem während er sich auf dem Holzschemel niederließ deutlich zu spüren bekam. Wenn er dann saß, ging es meist, aber eine Freude war dieses Bein durchaus nicht.
Allerdings war er froh, es überhaupt noch zu haben, denn wenn man eine Ladung Schrot in sein Bein gejagt bekam, konnte man sich für gewöhnlich sicher sein, es zum letzten Mal benutzt zu haben. Deshalb hatte Kalvin damals auf dem Oberdeck der königlichen Galeere schon stumm Abschied von seiner verwundeten Gliedmaße genommen, zumal es auf hoher See Sitte war, derart angegriffene Körperteile schnellstens zu amputieren, um Wundbrand und sonstigen Infektionen vorzubeugen. König Rhobar II. aber, an dessen Seite Kalvin mit Eifer gekämpft hatte, hatte sich gütig gezeigt und die mitgereisten Magier angewiesen, das Bein zu erhalten. Was folgte, hatte Kalvin nur noch lückenhaft in Erinnerung. Er wusste noch, wie er auf dem harten Holz des Oberdecks gelegen und sich vor Schmerzen gewunden hatte, sein Bein flammend heiß gewesen war und sich zwei Feuermagier heftig gegenseitig beschimpft hatten. Irgendwann war er unter Deck wieder aufgewacht und hatte panisch gefragt, wo denn die Piraten seien, dann war er irgendwie wieder eingeschlafen. Wie durch Zauberhand. Mehr wusste er von der Seereise kaum noch, obwohl die Rückreise noch mindestens zwei Tage gedauert haben musste, immerhin hatte der König die südlichen Inseln besuchen wollen und die umliegenden Gewässer schon beinahe erreicht, als es zu dem Piratenangriff gekommen war. Jener Piratenangriff, der Kalvin die Funktionalität seines linken Beines hatte einbüßen lassen.
Der Oberlagerist von König Rhobars Gnaden seufzte auf, als er an seinem heutzutage steifen Bein entlangfuhr. Er mahnte sich dazu, nicht seinen Gedanken nachzuhängen, sondern an die Arbeit zu gehen. Für den König hatte er damals in den Streitkräften gedient, dann nach seiner Verwundung war er als Lagerist eingesetzt worden und schnell zum Oberlageristen von ganz Vengard aufgestiegen. Und in dieser Funktion würde er König Rhobar II. weiter mit vollem Einsatz dienen. Bis zum Schluss.
Kalvin fasste sich erst ans Herz und dann ein Herz, indem er die auf dem dunklen Schreibtisch liegende Liste zur Hand nahm und ins schwache von außen hereindringende Licht hielt.
An den Fackeln sparte er, jede einzelne würde noch gebraucht werden, wenn die Orks eines Nachts über Vengard herfielen. Und diese Nacht würde kommen. Da war er sich ganz sicher. Sie würde kommen, und dann konnte er froh sein, mehr als genug Fackeln auf Lager zu haben, was nicht weniger als schlachtentscheidend sein würde.
Die Liste war eine Kopie der Bestellung, die er dem königlichen Handelsreisenden mitgegeben hatte. Kalvin hatte ganze Nächte lang daran gesessen, die Anzahl der benötigten Waren so knapp wie möglich, aber eben immer noch ausreichend zu kalkulieren. Schließlich konnte er mit dem Etat des ehrenwerten Königs nicht verschwenderisch umgehen. Ganz im Gegenteil: Es war seine Pflicht, den Warenbestand, aber auch die ihm übertragenen Gelder so pfleglich und sparsam wie möglich zu verwalten. Eine auch nur geringste, ja rein moralische Pflichtverletzung kam für ihn nicht in Frage, selbst wenn das hieß, mal 24 Stunden am Stück ohne Pause zu arbeiten. Als Oberlagerist unterlag ihm ganz alleine – wenn man mal von seinem Vorgesetzten absah – die Verantwortung über das große Zivilwarenlager in Vengard. Die Waffenkammer wurde zwar von jemand anderem betreut und spielte zumindest in der öffentlichen Meinung eine gewichtigere Rolle, doch Kalvin wusste: Einer Armee, die nichts zu essen bekam, brachten die besten Waffen nichts. Und auch die wenigen zivilen Königsdiener, die hier in Vengard noch übrig waren, mussten samt ihrer Familien versorgt werden: Geschirr, Besteck, Körbe, Vasen, Kerzen und Platzdeckchen – all das waren die kleinen, unauffälligen Dinge, die dennoch größter Aufmerksamkeit bedurften und letzten Endes kriegsentscheidend sein konnten. Es war eine schwere Last der Verantwortung, die auf Kalvins Schultern ruhte, doch der ehrenwerte König Rhobar II. hatte ihn wohlüberlegt mit dieser Bürde bedacht. Denn wenn es jemanden gab, der das Amt des Oberlageristen mit Würde ausfüllen konnte, dann war es er, Kalvin. Und genau deshalb hoffte er, dass er dieses Amt auch behalten konnte. Er hoffte es nicht nur, er war sich dessen gewiss, denn König Rhobar II. würde so gerecht entscheiden, wie er es immer getan hatte.
Kalvin ließ seinen Blick ans Mauerwerk gleiten. Dort an der Wand, an der sein Schreibtisch stand, sah ein gemalter König Rhobar II. aus einem mattgoldenen Bilderrahmen auf ihn herab. Kalvin hatte die königlichen Berater einmal danach gefragt und sie hatten ihm tatsächlich ein ausgemustertes Gemälde für seinen Arbeitsplatz besorgen können. Kalvin hatte sich gewundert und wunderte sich heute noch, warum so ein prächtiges Gemälde nicht seinen Platz in den königlichen Sälen fand: Die erhabene Pose, die große Statur, der akkurat gestutzte, angegraute Bart und dann diese stahlblauen, hellwachen Augen, welche die Gerechtigkeit gerade nur so ausstrahlten. Das alles machte das Porträt nach Kalvins Meinung zu einem wirklichen Schatz. Kalvin mochte es, den Blick König Rhobars auf sich zu spüren, wenn er strebsam seinen Dienst für ihn verrichtete. Hoffentlich konnte er das bis an sein Lebensende tun...
Kalvin schreckte ein wenig auf. Hatte er da gerade das Quieken einer Ratte gehört? Nein, beruhigte er sich, vielmehr hatte da sein schlechtes Gewissen gequiekt, dass er seinen Tagträumen nachhing, anstatt seine Arbeit zu erledigen.
Mit äußerster Sorgfalt ging Kalvin die Liste von oben nach unten durch. Wenn der königliche Handelsreisende die Waren brachte, musste Kalvin direkt erfassen können, ob auch alles wie bestellt angekommen war. Insbesondere die zehn Pfund Schuhwichse und die dreiunddreißig Kisten Pfeifenreiniger erachtete Kalvin als existentiell wichtig, weshalb er sie auch verantwortungsbewusst ganz oben auf die Liste gesetzt hatte – die alten Vorräte gingen schließlich bald aus.
Ein wenig eiferte er König Rhobar II. nach. Nicht, dass er sich anmaßen wollte, jemals dessen Qualitäten oder Stellung erreichen zu können – das hätte Kalvin nicht einmal im Traum gewagt, des Königs Glanz mit derlei Fantasien zu beschmutzen. Aber in Sachen Verantwortungsbewusstsein, Organisationstalent und menschlicher Größe war er durchaus ein Vorbild. Ein Vorbild, welches sich zu nehmen wohl so manchem Bürger gut getan hätte.
Denn nicht nur hatte König Rhobar II. sich gütig gezeigt, als er Kalvin auf die königliche Galeere befohlen hatte, damit er an seiner Seite kämpfte; ihm sein Bein gerettet und ihn danach zum Oberlageristen gemacht. Nein, nach dem unsäglich peinlichen Rattenunglück, welches Kalvin beinahe – aber zurecht! – in den finanziellen Ruin getrieben hatte, hatte der ehrwürdige König erst recht gezeigt, zu welcher Güte er imstande war. Er hatte Kalvins Frau als sein persönliches Zimmermädchen eingestellt, eine Position, die sie noch heute innehatte. Nicht nur, dass der anständige, aber nicht maßlose Lohn Kalvins Existenz gesichert hatte, nein: Kalvin empfand auch erfüllenden Stolz darüber, dass seine Frau das Privileg besaß, die königlichen Gemächer zu pflegen und zu säubern.
Als Kalvin die Liste durchgegangen war, sah er auf und schaute zur großen Lagertür, aus der das Licht des nun schon frühen Mittags hereinfiel. Er war allein im Lager. Kalvin hatte kein Problem mit dem Alleinsein, im Gegenteil maß er dem Alleinsein eine hohe und wichtige Bedeutung in seinem Leben zu, und er war sicher, dass König Rhobar II. dies auch tat, konnten bestimmte wichtige Entscheidungen doch nur in aller Stille und Einsamkeit getroffen werden. Doch war dies nicht die rechte Zeit zum Alleinsein. Es war schon um die Mittagszeit, und schon vor einigen Stunden hätten die ersten Arbeiter auftauchen sollen, um ihre Arbeitsaufträge vom Oberlageristen – also Kalvin selbst – zu erhalten und ordnungsgemäß auszuführen. Stattdessen hatte Kalvin den bisherigen Tag verbracht, ohne auch nur einen dieser Arbeiter zu Gesicht zu bekommen – und so leise und klammheimlich arbeiteten sie für gewöhnlich nicht, dass sie sich unbemerkt mit schweren Kisten in den Händen um ihn herumschlichen! Ganz abgesehen davon wollte Kalvin ganz gewiss dafür Sorge tragen, dass sich nie mehr auch nur irgendjemand ins Lager schlich, ob nun bei Tag oder bei Nacht. Letzteres wusste der Oberlagerist dadurch zu verhindern, dass er stündlich aufwachte und zum Lager marschierte oder nächteweise direkt zwischen den Kisten übernachtete.
Einen weiteren Diebstahl würde es nicht geben, so viel war sicher, und Kalvin hoffte, nein wusste, dass der ehrenwerte König Rhobar II. dies in seiner Weisheit berücksichtigen würde, wenn es um diese unangenehme Sache ging, die heute noch anstand. Heute, am Tag der... -
Jetzt fiel es Kalvin wie Schuppen von den Augen: Heute war der Krönungstag König Rhobars II.! Und nicht nur irgendeiner, sondern das zehnjährige Jubiläum seiner Krönung! Zur Feier dieses erhebenden Ereignisses war der Tag grundsätzlich arbeitsfrei. Deshalb standen im Lager alle Kisten still, deshalb rumorten keine Arbeiter um Kalvin herum.
Der Oberlagerist blickte in einsamer Stille noch einmal hoch auf das Porträt seines Königs. Mit einem Mal fand sich Kalvin in einem bedrückenden Spannungsverhältnis wieder: Das Pflichtbewusstsein einerseits, welches ihn unabhängig des Tages und auch der Tageszeit ins Lager trieb; auf der anderen Seite der Gedanke, dass der Tag des zehnjährigen Thronjubiläums König Rhobars II. nicht umsonst ein Tag der Erholung und des Erbauens sein sollte. Beging er einen Frevel, indem er ungeachtet dieses feierlichen Tages im Lager arbeitete? War es nicht schon Frevel genug, diesen Tag der Freude für einige Stunden vergessen und seine Bedeutung verkannt zu haben?
Kalvin suchte und fand die Antwort im Blick der gemalten Augen des Königs: Es hatte heute keinen Sinn und war so nicht gewollt, in einem Lager zu sitzen. Das Nötigste hatte Kalvin heute schon getan, weiterarbeiten würde er in der Nacht, sobald der neue Tag angebrochen und der heutige Feiertag passé war. Ja, das war die Art von Einsatzbereitschaft, die den König erfreute, da war sich Kalvin ganz sicher! Mit schweren Beinen wie schwerem Herzen – der Gedanke, dass er gerade am heutigen Tage dem König höchstselbst unter die Augen treten sollte, ließ seine Gefühle verrückt spielen – erhob er sich vom Schreibtisch.
Es war ein innerer Schock für ihn, dass er den Ehrentag einer Ikone bis vor wenigen Augenblicken nicht als solchen erkannt hatte.
Dennoch fühlte es sich angenehm gut an, gerade am heutigen Tag vom König empfangen zu werden. Selbst, wenn der Anlass angenehmer hätte sein können, den Ausgang der Anhörung und die Entscheidung des hochwürdigen Königs fürchtete Kalvin nicht. Wer sich rechtschaffen verhielt, den brauchte es schließlich niemals zu fürchten, wenn der König Recht sprach.
Und dennoch, dachte Kalvin, als er die großen Lagertüren fest von außen verschloss, eine kleine Aufmerksamkeit zum Ehrentage konnte ja nicht schaden... weder dem König, noch Kalvin selbst.


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Bedächtig klopfte Kalvin an die Tür zu seinem eigenen Haus, bevor er schließlich eintrat. So hatten er und seine Ehefrau dies abgesprochen, damit man sich nicht erschreckte, wenn der jeweils andere plötzlich im Hause war. Nur wenn Kalvin zur Nachtzeit aus dem Lager zurückkam, gab es eine Ausnahme von dieser Regel, denn dann klopfte er nicht, um den Schlaf seiner Frau nicht zu stören. Da es jetzt aber Tagzeit war, klopfte Kalvin eben, da die von ihnen aufgestellte Regel griff.
Ihre gemeinsame Behausung war überschaubar. Ein einzig großer Raum, in dem Kalvin nun stand, deckte Küche und Wohnzimmer ab, lediglich ihr Ehebett war von ein paar Vorhängen nachlässig vom Rest der Räumlichkeit abgetrennt. Zum Erledigen großer und kleiner Geschäfte gingen sie wie alle anderen Bürger auch ordnungsgemäß zum öffentlichen Plumpsklo. So manches Mal dachte Kalvin dabei daran, wie komfortabel es der König mit seinem privaten Abort haben musste. Doch Neid kam dabei nicht auf: Schließlich hatte es sich der König schlichtweg verdient, solche Annehmlichkeiten zu genießen. Und nicht zuletzt hatte ja Kalvins Ehefrau sogar das Privileg inne, eben jenes Privatabort für den König reinigen zu dürfen.
„Marita?“
Kalvin humpelte durch die karg eingerichtete Hütte und warf noch einen kurzen Blick hinter den Vorhang zum Schlafeck, dann war er sich sicher, dass Marita, seine Ehefrau, nicht da war. Es wunderte ihn, hatte er an einem arbeitsfreien Feiertag doch mit ihrer Anwesenheit gerechnet. Andererseits mochte sie vielleicht gerade in einer der winzigen Kaffeestuben in diesem Viertel Vengards sein. Dort traf sie sich desöfteren mit ein paar Freundinnen, damit sie sich zu Hause nicht zu einsam fühlte, und trank dort mit ihnen Weidenbeersaft oder Blaufliedertee. Kaffee war rar und deshalb zu teuer – Kalvin wusste dies aus eigener Erfahrung als Oberlagerist ziemlich genau und konnte sogar stets die aktuellen Preistabellen herunterbeten, wenn man ihn darum bat. Dass ihn jemand darum bat, geschah allerdings selten: Im Gegensatz zu seiner Frau war Kalvin niemand, der sich in freier Zeit dem Müßiggang verschrieb und zusammen mit ihm bekannten Personen in den Tag hineinlebte. Seiner Frau nahm er ihre Treffen deshalb aber keinesfalls übel, denn sie kam ihren ehelichen Pflichten – darunter fasste Kalvin vor allem das Sauberhalten ihres trauten Heims – ordnungsgemäß und so zufriedenstellend nach, wie man es in einer durchschnittlichen Ehe erwarten konnte.
Beruhigt stellte Kalvin fest, dass seine Ehefrau auch diesmal vor ihrem Ausgang mit der gebotenen Sorgfalt aufgeräumt und geputzt hatte. Alles war so, wie es sein sollte: Die Stühle waren im korrekten Abstand an den Tisch geschoben, das Geschirr in die Schränke geräumt und alle Schubladen geschlossen.
Auf eine dieser Schubladen steuerte Kalvin nun zu – es war die an der wuchtigen, dunklen Kommode, die unweit vom Séparée zum Schlafen stand. Sie besaß ein Schloss, doch wie gewohnt steckte der Schlüssel drin, sodass Kalvin ihn nur umdrehen musste, um die Lade zu öffnen. Sie ließ sich etwas schwerfällig herausziehen, doch mit viel Geduld und Besonnenheit und nach einigen Augenblicken gab sie ihren Inhalt preis. Mehrere akkurat gefaltete Zettel und ein größeres eingerolltes Blatt Pergament lagen in ihr drin. Kalvin griff zuerst nach der Pergamentrolle.
Bedächtig pustete er den Staub von ihr ab – auch, wenn er gar keinen Staub auf ihr gesehen hatte – breitete sie oben auf der Kommode aus und strich sie sorgsam glatt. Ein mildes, zurückgenommenes Lächeln umspielte sein Gesicht, als er die feine Zeichnung betrachtete, die sich ihm offenbarte. Viele Male schon hatte er dieses handgemalte Graphitbild von König Rhobar II. angeschaut. Heute, am Ehrentag des weisen Herrschers, brachte ihm die Zeichnung ganz besondere Freude. Sie zeigte den Monarchen auf seinem Thron sitzend, in einer Denkerpose, die jedoch stramm und kräftig wirkte und so eine gewisse Jugendlichkeit ausstrahlte. Kalvin hatte diese Zeichnung bei einem Kartenzeichner in Vengard erworben, der neben Karten von Stadt, Land und Flüssen auch ebensolche kleinen bis mittelgroßen Zeichnungen herstellte und verkaufte. Von allen Bildern war dies das schönste gewesen, und Kalvin hatte nicht lange gezögert, einen ganzen Monatslohn darin zu investieren. Wäre es allein nach ihm gegangen, hätte er es eingerahmt und an einem gut sichtbaren Platz im Haus aufgehangen, doch seine Ehefrau war dagegen gewesen. Fast schon hatten Kalvins Gefühle beim darauf folgenden Streit Überschwang genommen, doch schließlich hatte Marita in aller Sachlichkeit nachvollziehbar argumentiert, ein solch herrliches Bild könne man nicht inmitten einer so bescheidenen Behausung wie der ihrigen zur Schau stellen. Das hatte Kalvin überzeugt, er hatte die Klugheit seiner Frau gelobt und verstaute die Zeichnung fortan in eben jener Kommodenschublade, aus der er es heute wieder – er tat dies fast jede Woche einmal – hervorgezogen hatte.
Einen kurzen Gedanken verschwendete er daran, diese Zeichnung dem König als Krönungsgeschenk darzubringen, aber Kalvin kam schnell wieder davon ab: Es war zwar eine schöne Zeichnung und er hätte auch nicht lange gezögert, sie an den hochwohlgeborenen König Rhobar II. abzugeben, doch war sie eben eine fremde Zeichnung. Kalvin wollte, dass der König etwas ganz Besonderes von ihm bekam, etwas, das er eigens für seinen obersten Dienstherren angefertigt hatte.
Er rollte die Zeichnung mit äußerster Vorsicht wieder zusammen und legte sie in die Schublade zurück, welcher er sodann den obersten der gefalteten Zettel entnahm, um ihn seinerseits auf dem soliden Holz der Kommode auszubreiten.
Kalvin überflog die paar Zeilen, die er schon vor einiger Zeit dort mit billiger Tinte niedergeschrieben hatte. Er war froh, dass sie noch lesbar waren. Kaum hatte er sie erfasst, machte sich ein wohliges Gefühl der Aufgeregtheit in seinem Bauch breit. Er griff an die Schublade, in der er Tintenfass und Schreibfeder aufzubewahren pflegte.
Heute war der Tag gekommen, diese schon lange angefangene Arbeit endlich abzuschließen!


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„Ach, der Herr Oberlagerist! Zu viel der Ehre!“
Die einzelne Wache verbeugte sich so tief wie es ihr in ihrer leichten Rüstung möglich war und setzte dann mit weiteren Worten nach: „Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, an einem Tag wie diesen Euch zu empfangen! Ich nehme mal an, Ihr habt einen Termin beim König?“
Kalvin fühlte sich geschmeichelt. Es kam leider nicht oft vor, dass seine Stellung als Oberlagerist Vengards ausreichend gewürdigt wurde, doch dieser Wachmann hier verstand etwas von Hierarchie und Loyalität. Kalvin dankte es ihm mit einem anerkennenden Nicken. Der Wachmann trat zur Seite und verbeugte sich noch einmal, wobei Kalvin das breite Grinsen im Gesicht des Mannes nicht entging. Offenbar hatte er sogar große Freude daran, seinen Pflichten nachzukommen und Kalvin einen kleinen Empfang bereitet zu haben. Am Hofe des Königs wurden Tugenden eben noch gepflegt. Kalvin fühlte sich in seinem Vorhaben bestärkt; mit seinem vorbildlichen Verhalten und dem säuberlich gefalteten Papier in seiner Hosentasche würde er dem ehrenwerten König Rhobar II. standesgemäß unter die Augen treten können.
Den Weg zum Arbeitszimmer des Königs kannte Kalvin, schon damals bei seiner feierlichen Ernennung zum Oberlageristen, die im kleinen Kreise nur zwischen ihm und dem König in der gebotenen Kürze abgehalten worden war, hatte er den Raum betreten dürfen. Er erinnerte sich gut an die verschiedenen Treppenaufstiege und Flure, die zu ihm führten. Mit ernster, demütiger Miene humpelte er sie entlang und schleppte sich hinauf, warf ab und an einen geziemlich kurzen Blick auf die Wandgemälde und Wandteppiche und ließ sich von dem ein oder anderen goldenen Kronleuchter verzaubern. An den Wänden und Decken blieben aber immer noch genug Lücken, sie waren nicht zugehangen und damit in angemessener Bescheidenheit dekoriert. In Belagerungs- und Krisenzeiten stand einem König eine solche Zurückhaltung besonders gut, und Kalvin überraschte es in keinster Weise, dass sich gerade König Rhobar II. vorzüglich darauf verstand.
Neben der Bescheidenheit des Königs kamen auch seine Güte und sein Vertrauen zum Ausdruck, wie Kalvin beim Erreichen des Hauptflurs bemerkte: Nur sehr wenig Gardisten bewachten die Gänge und Zimmer, heute am Krönungstage König Rhobars II. durften auch einige von ihnen sich der Muße eines freien Tages hingeben. Kalvin war sich allerdings sicher, dass so mancher Gardist seinem König trotz des freien Tags seine Dienste angeboten hatte, denn für einen derartigen Herrscher arbeitete man gerne.
Nur noch wenige teppichgedämpfte Schritte trennten Kalvin vom königlichen Arbeitszimmer, und jetzt war ihm nicht nur wegen der Anstrengung beim Besteigen der vielen Treppen heiß. Eine gewisse Nervosität schlich sich in ihn, die er so kaum kannte. Langsam wurde ihm bewusst, dass er sich an einem sehr wichtigen Punkt seiner Karriere befand. Wer weiß – vielleicht würde König Rhobar II. in seiner Güte ihn am Ende der Anhörung sogar befördern!
Kalvin berührte noch einmal das Geschenk – das Gefühl des Papiers beruhigte ihn ein wenig – und nachdem er sich vergewissert hatte, dass es vor der Tür niemanden gab, bei dem er sich ordnungsgemäß anmelden sollte, klopfte er zurückhaltend an das dunkle Holz.
Keine Antwort. Noch einmal. Wieder keine Antwort.
Kalvin pausierte kurz und überlegte, wusste aber nicht, was er überlegen sollte – eigentlich sollte der König doch in seinem Arbeitszimmer weilen!
Der Oberlagerist erhob gerade sachte die Faust, um erneut an die Tür zu klopfen, da stoppte ihn von hinten eine Stimme.
„Da kannst du lange klopfen.“
Kalvin wandte sich um und erblickte auf der Treppe einen kleinen, aufrecht gehenden Mann in einem feinen Hemd, welches am Hofe des Königs nur die Verwalter trugen.
„An einem Tag wie diesem ist der König ganz bestimmt nicht in seinem Arbeitszimmer. Was willst du denn?“
Kalvin zuckte beinahe zusammen ob der doch reichlich rüden Ansprache seines Kollegen – denn als solchen sah er den Verwalter, als Kollegen, wenn auch mit dem Privileg noch näher am König dienen zu können. Erkannte er in ihm nicht den Oberlageristen, der im größten Zivilwarenlager Vengards das Hab und Gut der Bevölkerung beisammen hielt?
„Mein Name ist Kalvin“, begann er seine förmliche Vorstellung, „Oberlagerist Vengards und damit Hüter des größten Zivilwarenlagers der Hauptstadt von König Rhobars II. Gnaden. Ich habe einen Termin beim ehrenwerten König Rhobar II., wegen meiner...“
„Wegen diesen Diebstählen im Lager, ich weiß, ich weiß“, fiel ihm der andere unhöflicherweise ins Wort, „Na dann genieß noch deine Zeit als Oberlagerist...“
Kalvin konnte sich nicht vorstellen, dass dieser ungehobelte Kerl von einem Verwalter dies im Sinne einer bevorstehenden Beförderung Kalvins meinte, doch ganz ausschließen wollte er es nicht. Möglicherweise hatte der König schon das ein oder andere gute Wort über ihn verloren, und so etwas sprach sich natürlich selbst unter den zur äußersten Verschwiegenheit verpflichteten Verwaltern herum.
„Wo finde ich unseren gütigen König Rhobar II. denn?“, fragte Kalvin.
„Man munkelt, unser gütiger König Rhobar II. habe gerade... zu tun“, sinnierte der Verwalter. Kalvin kam dies ungehörig hochnäsig vor.
„Aber wenn du einen Termin hast... Rhobar II. ist zurzeit in seinen Privatgemächern, schätze ich. Sofern er sich nicht wieder in der Küche... herumtreibt. Er wird beschäftigt sein, deshalb hört er dein Klopfen womöglich nicht. In diesem Falle kannst du dann einfach so in seine Gemächer eintreten.“
Kalvin sah sich von kindlichem Staunen befallen.
„Einfach so? Das geht?“
„Das geht“, bestätigte der Verwalter und nickte bekräftigend.
„Also klar, diese Empfehlung würde ich nicht jedem geben... aber weil du es bist!“
Der Verwalter zwinkerte Kalvin verschwörerisch, allerdings in einem angemessenen Rahmen verschwörerisch und nicht etwa ungebührlich verschwörerisch, zu. Entgegen seinem ersten Eindruck begann Kalvin, diesen Verwalter zu mögen, trotz dessen etwas eigenwilliger Art. Doch dafür hatte er Verständnis, der Feinschliff im Benehmen war schließlich nicht Jedermann in die Wiege gelegt. Worauf es ankam, war der persönliche Fleiß, und Kalvin war sich sicher, dass dieser Verwalter zu den fleißigsten seiner Zunft gehörte. Denn sonst hätte er gegenüber Kalvin sicherlich nicht derartig viel Engagement gezeigt.
Kalvin setzte an, sich bei seinem Helfer zu bedanken, doch dieser winkte nur ab, zwinkerte noch einmal kurz und bedeutete ihm dann mit einer flinken Handbewegung, um die Biegung des Ganges zu gehen, wo sich König Rhobars II. Privatgemächer befanden. Dann ging er die Treppe wieder hinunter und war so schnell weg, wie er gekommen war. Wahrscheinlich rief die Arbeit, so vermutete Kalvin es und sah sich abermals in seinem korrigierten Eindruck von diesem exzellenten Verwalter bestätigt.
Die Privatgemächer des Monarchen waren nicht weit von seinem Dienstzimmer entfernt. Lediglich eine Biegung weiter entdeckte er das massive Portal zu den königlichen Räumlichkeiten. Sein Herz begann nun wieder schneller zu schlagen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so aufgeregt und angetan war.
Ehe ihm sein Herz im Halse stecken blieb, fasste er noch einmal in seine Hosentasche mit dem Zettel und daraufhin den Mut, an das schwere, dunkle Holz zu klopfen.
Er wartete etwas ab, so, wie es die Regeln der Höflichkeit geboten. Doch nachdem auch nach einigen mehreren Sekunden keine Reaktion auf das Klopfen folgte, wiederholte er es. Diesmal etwas fester, jedoch ohne den Eindruck zu großer Dringlichkeit zu erwecken. Vielleicht hatte der ehrenwerte König Rhobar II. gerade wichtige Dinge zu tun, die möglicherweise die Sicherheit Myrtanas betrafen. Kalvin wollte den König dabei auf keinen Fall stören.
Als wie fast schon prognostiziert wieder keine Antwort auf das Klopfen kam, drangen in Kalvin die Worte des Verwalters erneut hervor. Er lehnte es ab, nach einem unbeantworteten Klopfen dennoch einzutreten. Andererseits, so schien es, war dies hier eine Art Gepflogenheit, zumal Kalvin ja nicht gänzlich unangemeldet, sondern sozusagen mit Termin erschien. Nach einer kurzen Phase des Zauderns beschloss Kalvin, dem sicherlich wohlüberlegten Ratschlag des besonnenen Verwalters Folge zu leisten. Mit leicht bebenden Händen drückte er die Tür auf.
Das Bild, was sich dem Oberlageristen Vengards nun bot, war gleichsam unerwartet wie atemberaubend. Am anderen Ende des Raumes, an die Wand geschoben, stand ein riesiges, hohes Himmelbett, welches von Decken, Kissen und Polstern nur so überquoll. Und auf diesem Bett lag König Rhobar II. - breitbeinig und entkleidet, seinen athletischen, starken Körper jedem zur Schau stellend, der – wie nun Kalvin – einen Blick erhaschen konnte. Und auf König Rhobar II. wiederum hockte eine weitere Person, welche sich das stramme Glied des Adelsmannes bereitwillig wieder und wieder hineinstoßen ließ. Und diese Person, die war niemand anderes als Kalvins Ehefrau.
Kalvin wollte ein überraschtes „Marita“ herauslassen, doch der Ruf verebbte in einem schwachen Hauchen. Zu eingenommen war Kalvin von der Szene, die sich ihm gerade bot. Alle seine Sinne waren geradezu fixiert auf das, was dort auf dem königlichen Bett geschah.
König Rhobar II. hatte Marita mit seinen großen Händen fest an der Hüfte gepackt und trieb sich selbst unablässig in sie hinein, während sie ihr langes Haar geöffnet umherschwingen ließ und sich lustvoll wand. Weniger Maritas Rücken, als vielmehr des Königs Körperbau ließen Kalvin dabei den Mund offen stehen: Die stämmigen Beine, die männliche Brust und nicht zuletzt sein langes, dickes und vor königlicher Lust pulsierendes Glied kamen ihm wie ein riesiges Wunder vor, dem er gerade beiwohnen durfte. Auch die fordernde Art, mit der König Rhobar II. sich an Marita gütlich tat, ließ in Kalvin Gefühle hochkommen, wie er sie noch nie an sich erlebt hatte. Marita, seine Ehefrau, durfte sich von keinen geringeren als den königlichen Lenden von Innos' Gnaden beglücken lassen und jauchzte, seufzte und stöhnte geradezu für zwei ob dieser kaum zu fassenden Ehre. Unter diese hohen Töne mischten sich, einer genial komponierten Sinfonie gleich, die tiefen Ächzer, Keucher und Grunzer des Königs, die Kalvin richtiggehend in seinem eigenen Unterleib widerhallen und vibrieren spürte.
Es war die Lichtgestalt des Königs selbst, der – ohne seine kraftvollen Stöße in Maritas Leib zu unterbrechen – Kalvin aus seiner Trance riss.
„Wer da?“, fragte er knapp und hängte ein ungewolltes Grunzen hintenan.
Kalvin hörte sich vielmehr selbst sprechen, als dass er tatsächlich sprach.
„Majestät, Königliche Hoheit, Hochwohlgeborenheit und Exzellenz...“, begann er, wurde aber sogleich unterbrochen.
„Das kann nicht sein“, schnaufte König Rhobar II. lakonisch, „Das bin doch schon ich.“
Marita hatte sich während ihres Ritts auf dem königlichen Herrscherstab kurz umgedreht, Kalvin erblickt und für einige Sekunden innegehalten, doch ein Raunen des Königs sowie ein verstärkter Druck auf ihre Hüften hatten sie dazu bewegt, ihren Leib weiter auf und ab schnellen zu lassen.
„Ich... Ich bin Kalvin, Oberlagerist von Vengard. Verzeiht die Störung, doch ich bin hier wegen...“
Es beeindruckte Kalvin, wie König Rhobar II. ohne die Geschwindigkeit seiner Stöße verringern zu müssen, prompt und kraftvoll antwortete.
„Achja, richtig“, begann er, rückte Marita noch einmal kurz zurecht und stieß weiter in sie hinein, „Der Oberlagerist. Nach reiflicher Überlegung im Angesichte meiner Verantwortung – blablabla, dieses und jenes – bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich deine Dienste nicht mehr gebrauchen kann. Du bist entlassen. Ein Nachfolger ist bereits bestellt, er wird morgen seine Arbeit aufnehmen. Ich danke dir. Deine Frau ist übrigens der Hammer, die fickt wie eine Hure. Geiles Drecksstück.“
Wie zur Bekräftigung des Gesagten erhöhte der edle König Rhobar II. nochmals die Frequenz und Intensität seiner Stöße in Maritas Unterleib, was Marita zu einer Mischung aus lustvollem und schmerzhaftem Stöhnen antrieb und sie noch wilder ihre Hüften kreisen ließ. Ein Anblick, welcher Kalvin fast vergessen ließ, was eigentlich gerade geschehen war.
„Du darfst jetzt gehen“, stöhnte König Rhobar II. mit befehlerischem Unterton, „Wenn ich der kleinen Nutte hier gleich meine Ladung ins Gesicht spritze, möchte ich nämlich gerne alleine mit ihr sein.“
Kalvin war es heiß und kalt, als ihn seine Beine aus den königlichen Gemächern heraustrugen, seine Hände von außen die Türe schlossen und sein Brustkorb einmal tief Luft einsog und sie wieder entweichen ließ. Er blieb noch ein wenig stehen, dann ertönte von innen ein lautes, urwüchsiges Brüllen, gefolgt von einem bejahenden Schreien. Als die Laute langsam versiegten, setzten sich ebenso langsam Kalvins Füße in Bewegung und traten für ihn den Heimweg an.


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Als Kalvins Gedanken wieder aufklarten, fand er sich nicht etwa zu Hause wieder. Stattdessen erwachte er an seinem Schreibtisch im Lagerhaus und wusste nicht so recht, wie er sich nun fühlen sollte. Sein lädiertes Bein schmerzte ob der heutigen Anstrengung, seine Stirn war heiß und seine Schläfen pochten.
Die geordneten Bahnen, in denen sein Leben im Dienste des Königs bisher verlaufen war, waren zerbrochen und nutzlos geworden. Er fand sich nun auf einem Abstellgleis wieder, welches ihm fremd und einsam vorkam. Sicherlich, der edle und ehrenwerte König Rhobar II. hatte in seiner geborenen Weisheit eine wohldurchdachte und gerechte Entscheidung getroffen, welche sich Kalvin in höchstem Pflichtbewusstsein fügen wollte. Doch die innere Leere, welche diese Entscheidung in ihm hinterlassen hatte, konnte noch nicht einmal durch die wundersamen Eindrücke gefüllt werden, welche er vor wenigen Stunden noch gesammelt hatte, als der edle König in ikonenhafter Gestalt seine Marita geradezu gesegnet hatte.
Dennoch: Der schwache Trost, den dieser letzte Abend an seinem Platze des Werkens und Wirkens spendete, war besser als gar keiner. Wirklich etwas zu arbeiten hatte er jedoch nicht mehr – stets war er in vorauseilendem Gehorsam allen Geschäften nachgegangen, um einem eventuellen Nachfolger sozusagen binnen einer Minute ein bestelltes Haus hinterlassen zu können. Doch hätte er sich nie zu träumen gewagt, dass dies tatsächlich so schnell geschehen konnte. Er hatte sich immer bis zur letzten Sekunde seines Lebens in diesem Lagerhaus als Oberlagerist Vengards gesehen. Treu, fügsam und ausdauernd. Doch nun...
Kalvin seufzte, als er erneut den Stapel an Listen durchwälzte, deren Inhalt er ohnehin schon längst auswendig kannte. So korrekt er sie an der rechten oberen Ecke seines Schreibtisches in perfekter Ordnung platziert hatte, so unordentlich und aufgewühlt sah es in seinem Inneren aus. Noch nie in seinem Leben hatte er so seine Fassung verloren. Allerdings hatte er sich in seinem bisherigen Leben auch noch nie außerhalb des königlichen Dienstes gesehen.
Der flüchtige Blick nach oben an die Wand auf das Porträt des edlen Monarchen ließ in Kalvin wieder die Bilder aufblitzen, die er vor einigen Stunden im Gemache des Königs in sich aufgesogen hatte. Angesichts der königlichen Bestückung, des verlangenden, festen Griffes um seine Marita und dem fordernd-stechenden Blick während des Aktes wog der Verlust für Kalvin nur noch schwerer.
Warum nur musste er, jetzt gerade, wo er die ganze Pracht seines edlen Herrschers in voller Entfaltung erfahren hatte, aus diesem geliebten Dienste ausscheiden?
Ein stechender Schmerz fuhr ihm durchs Bein, als wollte sein Körper ihn davor warnen, Entscheidungen des ehrenwerten und weisen König Rhobar II. zu bedauern oder gar anzuzweifeln. Kalvin nahm diesen Impuls ernst und mahnte sich zur Disziplin. Gleichzeitig wurde er aber müde, sehr müde; es schien, als war es mehr als nur die bloße Last dieses einen Tages, die jetzt seine Schultern hinunter auf den Schreibtisch drückte und langsam seine Augenlider vor dem flackernden Kerzenschein schloss...

Als er erwachte, war ihm schwarz vor seinen feuchten Augen. Die Kerze auf seinem Schreibtisch war längst heruntergebrannt. Wie es die Sicherheitsvorschriften vorsahen, hatte er die ehemals brennende Kerze in einen Messingständer gepackt, sodass eine Brandgefahr ausgeschlossen war. So war die Kerze ordnungsgemäß und gefahrlos erloschen.
Kalvin zuckte so heftig zusammen, dass sein Bein schmerzte, als er ein Poltern von draußen hörte, welches ihn, so schloss er, auch bereits aufgeweckt hatte. Dann folgte ein Brüllen. Ein Brüllen, welches mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht menschlichen Ursprungs war.
Kalvin spürte Gefahr. Gefahr für die Zivilwaren des Königs. Er stemmte sich vom Schreibtisch hoch und bewegte sich zielstrebig zwischen den herumstehenden Kistentürmen hindurch – so gut wie er das Lagerhaus kannte, brauchte er kein Licht. Doch sie, die Recken und Streiter draußen auf den Straßen, die sich nun wehren und verteidigen mussten, sie brauchten Licht. Und darauf hatte Kalvin sein Leben lang hingearbeitet und hingespart. Der Augenblick der orkischen Invasion war gekommen; nun würden es die Fackeln sein, die über Leben und Tod entschieden.
Unter Wahrung sämtlicher Sorgfaltspflichten hatte er nun eine der Kisten geöffnet und somit die ersten 30 Fackeln freigelegt.
Mit wenigen Handgriffen hatte er sich im Zunderlager bedient, und mithilfe zweier tadelloser Feuersteine hatte er – vom Gepolter und Gerüttel vor den Lagerhaustoren gänzlich unbeeindruckt – die erste Fackel entzünden können.
Dann splitterte Holz.
Sie kamen wie ein Sturm, flinker als man es diesen grobschlächtigen Gestalten zugetraut hätte. Kisten flogen, fielen und krachten, ein höllisches Gebrüll erfüllte das Lager. Die rostigen, orkischen Schwerter mähten binnen Sekunden durch die Waren. Kalvin hatte kaum Zeit, dies alles überhaupt wahrzunehmen, da fiel schon seine Fackel zu Boden und erlosch. Dann, nach vielen, vielen Jahren, ließ der Schmerz in seinem Bein endlich nach.


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Als die ersten Strahlen des Morgens durch die offenen Lagerhaustore hindurch den staubigen Boden zaghaft beleuchteten, war alles schon einige Stunden vorbei. Trümmer und unordentliche Halden von Kisten und durcheinandergewirbelten Tiegeln, Töpfen und jeder Menge Tand sowie zerdrückter und zermatscher Lebensmittel zeugten vom Sturm der vergangenen Nacht.
Direkt vor dem Eingang lag ein großes Wandgemälde, welches in der Mitte grob durchstoßen und schließlich – wohl absichtlich – von einer Ladung fauliger Tomaten beschmiert und somit unkenntlich gemacht worden war.
Im hinteren Teil des Lagers, begraben von mehr als zwei Dutzend alter Pfeifenreiniger, lag die verstümmelte Leiche eines Mannes, deren Kleiderfetzen sich mit den Fetzen seiner Haut durchmischt und zu einem blutigen Gewebe verklebt hatten. Die aufgerissene Bauchdecke war nur unzureichend von einem auseinandergefalteten Blatt Papier bedeckt, welches so unberührt auf dem Leichnam thronte, als habe man es erst vor wenigen Augenblicken dort sachte hingelegt. Nur ganz unscheinbar wiegte es sich im leichten, verpesteten Wind, der von draußen als Nachwehe in das Warenlager eindrang. Inmitten des Chaos' war es ein ruhiger Fremdkörper. Das einfallende Licht reichte gerade so aus, um den mit blasser Tinte, aber in akkurater Handschrift geschriebenen Text zu entziffern.
Doch nie kam jemand, um ihn zu lesen.