Debatte zur Entscheidung und Planung des Holocaust [Bearbeiten]
→ Hauptartikel: NS-Forschung#Deutungskontroverse
In den 1960er und 1970er Jahren überlagerten Konflikte um die Gesamtdeutung der NS-Zeit im Rahmen von Totalitarismus- oder Faschismustheorien besonders in Deutschland die Holocaustforschung. Um 1969 begann ein Grundsatzstreit um die Frage, ob der Holocaust eher programmatisch-ideologische Absichten vollzog (Intentionalisten, Programmologen) oder sich eher aus widersprüchlichen und chaotischen Strukturen entwickelte (Strukturalisten, Funktionalisten). Die empirische Detailforschung zum Holocaust war davon anfangs kaum berührt, wurde aber seit etwa 1975 zunehmend in diesen Streit einbezogen.
Teilaspekt war die Frage nach Zeitpunkt und Rolle konkreter Befehle Hitlers zur Durchführung des Holocaust. Alan Bullock (Hitler, 1952) hatte Hitler als treibende Kraft bei der gesamten NS-Judenpolitik dargestellt; Gerald Reitlinger (Die Endlösung, 1953) hatte einen im Frühjahr 1941 erteilten „Führerbefehl“ zum Holocaust fraglos angenommen. Dieser Sicht folgend verwiesen etwa Eberhard Jäckel (Hitlers Weltanschauung, 1969) und Joachim Fest (Hitler. Eine Biographie, 1973) auf die kontinuierliche Radikalität öffentlicher Drohungen Hitlers gegen die Juden. Lucy Dawidowicz (Der Krieg gegen die Juden, 1975) zufolge soll Hitler die Judenvernichtung schon seit den 1920er Jahren geplant und daran unbeirrbar festgehalten haben.
Im Gefolge Hilbergs betonte Uwe Dietrich Adam (Judenpolitik im Dritten Reich, 1972) auf breiterer Quellenbasis dagegen, dass Hitler den „Prozess der Vernichtung“ zwar abgesegnet, aber nicht langfristig geplant habe. Vielmehr seien die Judendeportationen und Massenerschießungen unter teilweise chaotischen Begleitumständen nach der militärischen Niederlage im Russlandkrieg ausgeweitet und verschärft worden. Dies habe auch Hitler selbst in seinen Entscheidungsspielräumen eingeengt.
Der britische Geschichtsrevisionist und spätere Holocaustleugner David Irving behauptete 1977 (Hitlers Krieg. Die Siege 1939-1942), Hitler habe erst im Oktober 1943 von der organisierten Judenvernichtung erfahren; Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich hätten diese eigenmächtig initiiert. Darauf antwortete zuerst Martin Broszat mit einer differenzierten Analyse der Quellen im Kriegsverlauf. Er kam zu dem Ergebnis, dass Hitlers fanatischer Judenhass und seine Gesamtverantwortung für den Holocaust unbestreitbar seien. Aber der Holocaust sei „nicht nur aus vorgegebenem Vernichtungswillen“ zu erklären, „sondern auch als ‚Ausweg’ aus einer Sackgasse, in die man sich selbst manövriert hatte“. Es sei wahrscheinlich, „dass es überhaupt keinen umfassenden allgemeinen Vernichtungsbefehl gegeben hat, das ‚Programm’ der Judenvernichtung sich vielmehr aus Einzelaktionen heraus bis zum Frühjahr 1942 allmählich und faktisch entwickelte“.[8]
Hans Mommsen wurde 1976 Hauptvertreter dieser „strukturalistischen“ Deutung des Holocaust in Deutschland: Er sieht diesen als Ergebnis einer „kumulativen Radikalisierung“, für die Hitler, die Berliner Machtzentralen des NS-Regimes und die regionale Verwaltungsbürokratie in den eroberten Gebieten gleichermaßen verantwortlich gewesen seien. Er bekräftigte 1979, der ständige Konkurrenzkampf untergebener NS-Stellen um die „Gunst des Führers“, das Eigengewicht „sekundärer bürokratischer Apparaturen“ und die „Segmentierung der Verantwortlichkeiten“ habe eine Eigendynamik bewirkt, so dass es keines „förmlichen, geschweige denn schriftlich fixierten Befehls von seiten Hitlers“ mehr bedurft habe.[9] 1983 betonte er nochmals, die „politisch-psychologische Gesamtstruktur“ des NS-Systems müsse rekonstruiert werden, um den Holocaust angemessen erklären zu können.[10]
Dagegen zeichnete der Brite Gerald Fleming 1982 eine Kontinuitätslinie von Hitlers frühem Antisemitismus zu seinen Äußerungen zur „Judenpolitik“ 1941: Er wies nach, dass Hitler sich von Januar bis Juni 1941 intensiver als zuvor damit befasste. Darum erklärte er etwa seinen Befehl, ihn persönlich regelmäßig über die seit Juni 1941 laufenden Massenerschießungen sowjetischer Juden zu unterrichten, als Vollzug eines lange gehegten Plans.[11] Christopher Browning belegte mit einer genauen Analyse der Aktenbestände des Auswärtigen Amtes die Ausweitung der Massenerschießungen seit Juni 1941 und widerlegte damit Broszats Annahme, der Holocaust habe sich erst 1942 aus einer „Sackgasse“ der militärischen Kriegsplanung, von der die Deportationen abhängig gewesen seien, entwickelt. Er hält es zudem für wahrscheinlich, dass Hitler im Juli 1941 in die konkrete Vorbereitung des Holocaust durch Himmler und Heydrich einwilligte und die dadurch ausgelösten Durchführungspläne im Oktober und November 1941 billigte.[12]
Peter Longerich stellte als Gerichtsgutachter für den Prozess David Irvings gegen Deborah Lipstadt (London 1996-2000) nochmals alle Dokumente zusammen, die Hitlers Wissen vom und Initiative beim Holocaust belegen.[13]
Wegen vieler schriftlich dokumentierter Aussagen höchster NS-Amtsträger gelten mündliche „Führerbefehle“ zur Judenvernichtung heute als erwiesen. Nur mit Hitlers Erlaubnis, Billigung und Anordnung, so der weitgehende historische Konsens, konnten untergebene NS-Tätergruppen die Juden systematisch ausrotten. Christopher Browning stellte ferner Übereinstimmung zwischen Intentionalisten und Strukturalisten in folgenden Punkten heraus:
Der Holocaust wurde nicht an einem einzelnen Datum beschlossen, sondern entwickelte sich in Wechselwirkung mit der Kriegslage.
Dieser Prozess radikalisierte sich stufenweise von unorganisierten Massakern im Polenfeldzug über umfassende Deportationspläne bis zu Massenerschießungen und dem Bau und Betrieb von Vernichtungslagern.
Die wichtigsten Entscheidungen zum Holocaust fielen in der zweiten Jahreshälfte 1941.[14]
Im Rahmen dieses Konsenses setzen einige Historiker eigene Akzente, deuten und gewichten bestimmte Dokumente und Faktoren verschieden. Nach Longerich schlug die Vertreibung der Juden schon im Herbst 1939 zum Massenmord um. Alle seit dem Polenfeldzug geplanten und durchgeführten Judendeportationen hätten mittelfristig ihre Vernichtung angestrebt und einkalkuliert. Diese sei dann nur noch zunehmend ausgeweitet und beschleunigt worden. Dabei habe es vier Eskalationsstufen gegeben. Seit Juli 1942 seien die Deportierten sofort nach Ankunft am Zielort ermordet worden; damit sei der Entschluss zur „Endlösung“ unumkehrbar geworden.[15]
Ähnlich deutete Magnus Brechtken den Madagaskarplan als Todesurteil für das europäische Judentum: Er habe sich nur in Ort und Methode von der Vergasung in Auschwitz unterschieden.[16] Richard Breitman zufolge kalkulierten die Planer des Russlandfeldzugs Anfang 1941 bereits die Vernichtung großer Bevölkerungsteile der zu erobernden Gebiete ein. Dieser Grundsatzentscheidung seien Ende August/Anfang September 1941 die Entscheidungen zur praktischen Durchführung der Judenmorde gefolgt.[17]
Dem widersprach Philippe Burrin: Die sowjetischen Juden seien erst infolge des gescheiterten Blitzkrieges zur unterschiedslosen Ermordung freigegeben worden. Seit Oktober 1941 habe Hitler seinen am 30. Januar 1939 artikulierten bedingten Vorsatz zur Judenvernichtung in die Tat umgesetzt.[18]
Dagegen betonte Browning im Anschluss an frühere Thesen von Christian Streit[19] und Alfred Streim,[20] die Befehle zur Ermordung auch der jüdischen Frauen und Kinder in den sowjetischen Gebieten seien nicht aus Enttäuschung über den ausgebliebenen Blitzsieg, sondern noch während der Siegesgewissheit ergangen. Anfang Oktober sei der Mordbeschluss dann auf alle europäischen Juden ausgedehnt worden; dabei habe Himmlers Drängen auf mehr Kompetenzen für die SS eine wichtige Rolle gespielt.[21] Auch Dieter Pohl[22], Götz Aly[23] und Peter Witte[24] sehen im Oktober 1941 den kritischen Wendepunkt der NS-Judenpolitik.
Dem widersprachen Hans Safrian, L.J. Hartog und Christian Gerlach: Sie sehen den Dezember 1941 als Schlüsselzeitraum und den Kriegseintritt der USA als auslösenden Faktor. Safrian zufolge wurde die Vertreibung der sowjetischen Juden Anfang Dezember unmöglich, so dass die Wannseekonferenz verschoben wurde, um andere Optionen auszuarbeiten.[25] Für Hartog setzte der japanische Angriff auf Pearl Harbor Hitlers eigentliches Streben nach Judenvernichtung frei: Es sei obsolet geworden für ihn, die deutschen Juden als Geiseln zum Erpressen der USA zu benutzen, um deren Kriegseintritt zu verzögern. Er habe die Juden unter allen Umständen ausrotten wollen und dazu auch den Weltkrieg geführt.[26]
Gerlach datiert Hitlers Entscheidung exakt auf den 12. Dezember 1941: An jenem Tag habe Hitler seinen engsten Vertrauten mitgeteilt, dass er die Judenfrage endgültig durch Ermordung aller europäischen Juden lösen wolle. Dies bestätigten Tagebucheinträge von Goebbels am 16. Dezember und andere, bislang unbeachtete Dokumente.[27]
Saul Friedländer datiert den Übergang zum Holocaust auf den Spätherbst 1941 und erklärt ihn mit Burrin und Gerlach als Reaktion auf das Scheitern des Blitzkrieges und den Kriegseintritt der USA. Zugleich betont er die ideologische Konstante in Hitlers Denken: Er habe daran geglaubt, die Welt von „dem Juden“ als dem absolut Bösen befreien zu müssen. Die „Endlösung“ sei somit als Versuch einer „Erlösung“ zu deuten.[28]
Für mich persönlich, macht aufgrund dessen, was Ich mir im Laufe der Zeit eben so zusammengelesen habe, der Standpunkt, dass der Holocaust nicht seit 1933 geplant war, deutlich mehr Sinn.