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    Drachentöter Avatar von Dead Frank
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    Post [Story]Harlequin


    An einer besonders unübersichtlichen Ecke einer der engen Gassen, welche die Unterstadt und das Hafenviertel von Khorinis abseits der Hauptstrasse verbindeten, hatte man jedes Jahr zur selben Zeit die Gelegenheit eine Monstrosität der asbtrakteren Form zu erblicken, wenn man denn seine Augen und seinen Verstand offen hielt und sich gebührend anstrengte.
    An jener Ecke befand sich um diese Zeit meist eine beachtliche Menschenmenge, und eine Vielzahl an Ständen und Schaufenstern, welche ziellos umherstreifende Blicke wie erfahrene Fischer sofort zu sich hinzogen und nicht mehr hergeben wolten. Dadurch verirrte sich nur selten ein rascher Blick nach oben, wodurch einem ein weiteres kurioses Objekt verborgen blieb. Denn an jener Ecke befand sich ein Haus mit Balkon - keinem auf den man stolz sein konnte, da nicht viel mehr als eine in die Fassade eingelassene Nische mit morschem Geländer. Dort oben auf Dachstockhöhe hing etwas, das einmal eine nach all den Regeln der bekannten Anatomie und ästhetischen Konventionen menschenähnliche Puppe gewesen sein musste, bevor die Zeit sie in beständigen Intervallen merhmals verdreht, nach Aussen gestülpt, bis auf die Nähte in Stücke gerissen, und dann zu etwas vollkommen Unkenntlichem wiederzusammengesetzt hatte.
    Es war mitte Dezember als Quinn unvermittelt damit begann sich genau so zu fühlen, und immer jene Puppe vor Augen sah, wenn er über sein Leben nachdachte. Was er natürlich noch nicht wissen konnte, als er mitte November die Gasse betrat, kurz nach einem frühen Kälteeinbruch. Und kurz nachdem man das scheussliche ausgestopfte Ding aus dem Keller genommen, rausgebracht und an einem dünnen Seil an den modrigen Dachstockbalken über dem Balkon gehangen hatte, wo es über den bereits festlich dekorierten Ständen und Hausfassaden hing und damit so seltsam fehl am Platz ins Gesamtbild eindrang wie ein tiefschwarzer Tintenklecks auf frisch gefallenem Schnee.
    Abseits der fantasievollen Welt der bildlichen Sprache und in den scharfen und durchaus realen Augen allerhand Himmelsbewohner, welche das morgendliche Treiben aus der Vogelperspektive betrachteten, war an jenem Morgen jedoch der einzige Tintenklecks, der in das Gesamtbild eindrang Quinn selbst, dessen Mantel zwar nicht wirklich schwarz erschien, sondern mehr die bräunlich-graue Farbe von schlecht gepflegtem Wolfshaar annahm. Auch der Schneeüberzug der Strassen, durch die er stapfte, war nicht unberührt weiss, sondern in all seiner Beschaffenheit und Qualität treffend mit einem einzelnen Wort zu beschreiben: Matsch.

    Quinn gab sich alle Mühe, seine Stiefel an der Aussenwand zu reinigen, bevor er die Schwelle von Ignaz' Haus übertrat, genau so wie er sich den ganzen Weg über alle Mühe gemacht hatte den leichten Brechreiz zu unterdücken, der ihm seit seinem Erwachen die Speiseröhre hochkroch. Dabei saugte er unentwegt an seiner Handfläche herum, die aus ihm unerfindlichen Gründen von leicht blutenden Schürfwunden geziert wurde. „Du machst jetzt, dass du da rein kommst, Kumpel, der Besuch ist höchste Zeit.“, sagte er sich in Gedanken. „Du hast gestern natürlich wieder nicht nach 2 Gläsern aufgehört und jetzt weisst du auch wieder nicht was bei Beliar du gestern angestellt hast. Zeit sich zusammenzureissen!“. Der Gedanke musste bereits Früchte tragen, denn in diesem Moment stellte er all seine momentane körperliche Aktivität ein, da ihm auffiel, dass sowohl die Blutung als auch der Brechreiz schlimmer wurden, solange er an seiner lädierten Handfläche rumnuckelte, und anstelle von Ignaz' Fussboden jetzt seine Hauswand von braunen Flecken überzogen war.
    Er trat ohne weiteres Zögern ein und ging mit dem leicht verschrobenen Herr des Hauses in dessen Sprechzimmer lediglich Minuten später die Begrüssungsfloskeln durch. Quinn wäre viellelicht beleidigt gewesen, dass Ignaz ihm die Hand durch ein kleines weisses Tuch hindurch gechüttelt hatte, wenn er nicht gleich dessen interessiert fixierten Blick auf seine Schürfwunde registriert hätte. „Schön schön! War die Aussicht auf einen Aderlass von mir so furchtbar, dass du lieber gleich selbst Hand anlegen wolltest?“, feixte der selbsternannte Wissenschaftler, Heiler und Alchemist (obwohl sich Quinn nicht sicher war, ob ihm irgendjemand diese Titel einmal offiziell zugesprochen hatte).
    Quinn rang sich ein Lächeln ab, auch wenn es ihn momentan etwas Überwindung kostete.
    „Ach, an irgendetwas hängengeblieben. Oder ausgerutscht und aufgefangen. Muss der matschige Schnee gewesen sein, meinst du nicht?“
    „Was? Hm?“, gluckste der alte Alchemist, ohne sich von den Glasutensilien abzuwenden, mit denen er eine mehr oder weniger sorgsam abgeschätzte Anzahl von Tropfen verschiedener Lösungen auf das rotbefleckte Tuch fallen liess. Nach jedem Tropfen richtete er einen winzigen Blasebalg auf den Stoff, dessen quiekende Geräusche den Raum ebenso wie der allseits präsente neblige Rauch erfüllte, der aus einigen der offenen Behälter drang.
    „Das wird wohl der Schnee gewesen sein, hab ich gemeint.“, wiederholte Quinn geduldig und bemüht freundlich.
    „Na auf irgendetwas musst du ja ausgerutscht sein, wirst wohl kaum vom Himmel gefallen sein.“
    Nun tauchte Ignaz das gesamte Tuch in einem verdächtig nach Essig riechenden Glasball und kicherte in sich hinein, als hätte er soeben den besten Witz seines Lebens über die Lippen gebracht. Schlimmer noch, er drehte sich zu Quinn um und sah ihn irgendwie erwartungsvoll an.
    Grinsend, ohne etwas zu sagen, nur... Erwartungsvoll.
    „Heh.“, presste Quinn hervor, und klang dabei wie das Hupen des kleinen Blasebalgs.
    Diese Bestätigung seiner humorvollen Ader schien Ignaz zu genügen: er verlor kein Wort mehr, bis er das Tuch ausgebreitet und vollständig getrocknet hatte, und als er die Färbung des nun matt gelblichen Flecks darauf eine Weile studiert hatte, schlug er ohne Umschweife einen ernsten Ton an.
    "Das ist der Zeitpunkt wo wir nochmals definieren sollten, wieso genau du überhaupt hier bist, Junge." Das war der Teil, den er befürchtet hatte. Quinn, dem bei diesen Besuchen im Umfeld von Ignaz' Arbeitsplatz, wo es immer nach Essig und bitterer Medizin roch, noch nie richtig wohl war, konnte in seinem Gesicht anscheinend nicht verbergen, dass er hoffte, die predigt sei schnell vorbei.
    Ignaz hielt kurz ein und fuhr dann unbeirrt fort: "Du bist diesen Frühling das erste mal bei mir aufgetaucht um einen für dich persönlich optimierten Trank zu bekommen. "Flüssige Inspiration", oder wie du das halt genannt hast." Er winkte mit einem faltigen Arm ab und grinste humorlos.
    "Na macht ja auch nichts, du könntest dir nicht vorstellen, wie viele mit Wünschen zu mir kommen, die ich nicht erfüllen kann." Mittlerweile sassen sie sich auf 2 einfachen Holzhockern gegenüber und Ignaz tätschelte Quinns Knie. "In den Hauptstätten auf dem Festland, wo man offenere Augen und Ohren für die hohe Kunst des Theaters hat, geben sich ideenlose Stückschreiber vor den Häusern von Medizinern wie mir wahrscheinlich Tag ein, Tag aus die Klinke in die Hand,
    auf der Suche nach der Kreativität im Kelch oder der Poesie im Pulver, oder Innos-weiss-was."
    "Trotzdem hast du mich immer wieder bei dir empfangen.", gab Quinn zurück, etwas säuerlicher als gewollt. "Für die Wissenschaft, Junge. Für die Wissenschaft. Wenn da einer kommt, geduldig auf irgendeine alchemistische Entdeckung wartet und mir in der Zwischenzeit erlaubt sein Blut zu untersuchen, kann ich um meiner Neugierde selbst willen nicht verneinen."
    "Und nicht zu vergessen das Gold, das ich liegen lasse!" Ignaz winkte erneut ab. "Nur nicht übertreiben, Junge. Ich habe seit anfangs Sommer keine Münze mehr von dir gesehen. Und ausserdem" - erneutes fahles Grinsen - "so viel hast du gar nicht, dass ich mehr verlangen könnte, ohne mir einen Kopf dabei zu machen. Die Herrschaften aus dem Oberen Viertel, die mich wegen ihrer Leiden aufsuchen - Das sind ganz andere Kaliber."
    Eine unangenehme Stille breitete sich aus, und beide Männer wussten, dass sie
    vom Tuch ausging, das arglos auf einem Tisch zu ihrer Seite lag.
    Ignaz verschränkte die Arme. "Er kommt also wegen einem Trunk zu mir, den es nicht gibt, dabei sehe ich an seinem Blut aber, dass der Author sehr wohl seine persönliche Inspirationsquelle hat, die anscheinend nie versiegt. Er erfreut sich der Suche der dichterischen Wahrheit im Weinglas." Er lehnte sich leicht vor und kniff die Augen kaum merklich zusammen.
    "Und das ist nur einer der Blutwerte, die jedem verantwortungsbewussten Gelehrten Sorgen bereiten würden. Nein nein nein, deine in Mitleidenschaft gezogene Leber ist nicht das Organ, dem ich persönlich nicht mehr vertrauen würde. Ich bin kein Quacksalber, ich rede jetzt Klartext mit dir: Du bist ende 20, sitzt gebeugt über deinen Pergamenten - Ich mag es jedem gönnen, der die Tage körperlicher Arbeit irgendwann hinter sich lassen kann, aber nichts desto trotz... - konsumierst Unmengen von starkem schwarzem Kaffee, leistest dir auf der einen Seite kein hochwertiges Essen, hängst dafür aber an der Flasche und dem Krautstängel - moderat muss man zwar hinzufügen, da hab ich schon viel hoffnungslosere Fälle gesehen. Aber das häuft sich alles an. Ich weiss, was du denkst: Du siehst eigentlich ganz gut aus, bist nun wirklich nicht zu dünn, aber auch nicht wirklich fettleibig. Fühlst dich wahrscheinlich geschmeidig wie ein Schattenläufer, wenn du nüchtern bist. Aber es ist nun mal so, dass ein bestimmter Lebenswandel tieferliegende Schäden nach sich zieht. Siehst du, dir geht's heute zwar noch einigermassen gut, aber dein Blut zeigt deutliche Abnormalitäten. Deutliche Abnormalitäten. Das was ich an dieser Farbe ablesen kann, ist eine Anfälligkeit für die Art von... Krankheit - als Ersatz für ein besseres Wort - welche stämmiger und gesünder aussehenden Männer als dir im besten Alter das Herz erlahmen oder das das Blut aus den Ohren laufen lässt, kurz bevor sie zusammenklappen."
    Quinn war zugegebenermassen überrascht von Ignaz. Er mochte seine Wortspiele nicht, sein humorloses Grinsen, noch weniger seine erntsgemeinten Witze, wie er immer mit dem faltigen dürren Arm abwinkte und ihn - er war anfangs 30 - immer "Junge" nannte. Aber er hatte Ignaz immer insgeheim als ein wandelndes Cliché angesehen: Als Quacksalber, der aus Steinen Gold machen wollte und den Leuten ab und zu irgendein Fläschen andrehte. Im Grunde genommen eine etwas unangenehmere und zynischere Version von Constantino, dem einzigen anderen Alchemisten, der in Khorinis sesshaft war. Wieso kam er eigentlich immer wieder hier her und nicht ins gemütlichere Geschäft von Constantino? Aber Quinn kannte die Antwort schon: Der hatte ihn ja als erstes abblitzen lassen. Und zweifelhafter Ruf hin oder her: Constantino war trotz alchemistischer Kenntnisse ein Verkäufer, der an einem Tresen stand, Ignaz hingegen schien ein breiteres Fachgebiet zu haben, das man tatsächlich als Medizinheilkunde bezeichnen konnte. Und er war äusserst experimentierfreudig, also wenn Quinn jemand helfen konnte, dann er. Hatte er jedenfalls geglaubt. Mittlerweile schien ihm seine Hoffnung, dass er ihm einen Inspirationstrank herstellen konnte rückblickend wie eine ausgeklügelte Selbsttäuschung. Stattdessen bekam er eine Predigt über seine ungesunden Blutwerte. Aber an diesem Besuch beim Alten Alchemisten, der sein letzter sein sollte, musste er ihm irgendwo recht geben. Quinn fühlte sich meistens zwar ganz gut, aber dass er nicht ewig so weitermachen konnte, musste er sich allein beim Gedanken daran eingestehen, wie seine Lunge brannte wenn er mehr als einige Treppenstufen steigen musste. Und jetzt mal ehrlich - Hatte ihm die Sauferei im letzten halben Jahr auch nur eine einzige brauchbare Idee für ein Theaterstück geliefert? Wohl kaum. Eine blutige Hand hatte er davon, in der Ignaz jetzt wie ein Hexendoktor eine schreckliche Zukunft für ihn ablesen konnte. Dennoch waren da ein- zwei Dinge, die Ignaz' Predigt ein grosses Stück Glaubhaftigkeit nahmen. Und Quinn hatte keine Scheu sie auszusprechen.
    Erstens: "Du selbst scheinst mir aber auch keinen so richtig gesunden Eindruck zu machen, wenn ich das mal so sagen darf."
    Tatsächlich war Ignaz extrem hager, geradezu unterernährt, seine ledrige Haut war so farblos wie einige seiner Gebräue, und wenn der Rauch des Sumpfkrauts Quinns Lunge von innen auffrass, so fragte er sich, was wohl der ständige Nebel in Ignaz' Arbeitszimmer mit seiner Luftpumpe anstellte. Dieser aber lehnte sich nur zurück und verschränkte erneut die dürren Arme vor der Brust.
    "Das muss ich auch nicht, um zu erkennen wie es um die Werte in deinem Blut steht. Die Frage ist doch, was du mit deinem Körper noch machen willst. Ich habe keine Ambitionen mehr, vor grossem Publikum auf der Bühne zu stehen. Ich muss bei keinem jungen Ding mehr grosse Erwartungen schüren - und diesen Erwartungen dann im Schlafzimmer auch gerecht werden.", fügte er hinzu und entblösste durch ein weites Grinsen seine aschgrauen Zähne und ein enorm schlechtes Zahnfleisch. "Ich will nur Forschung betreiben. Und glaub mir - Ich werde nicht plötzlich zusammenbrechen, ich gehe nirgends verfrüht hin, ich verfüge über genügend Aufputscher."
    Gut. Na ja. Jedem das seine.
    Also zweitens:
    "Woher weiss ich denn wie genau deine Interpretation meines Bluts ist?" Quinn verstand nicht viel von dieser Schule der Vernunft-Wissenschaft und ausgeklügelten Experimenten. Und auch wenn Ignaz zweifelsohne der vertrauenswürdigste Heiler auf der ganzen Insel sein musste: Quinn schien dieses ablesen von Farben auf Taschentüchern doch recht ungenau und auch irgendwie willkürlich.
    Ignaz wurde ernster denn je, da es ihm jetzt anscheinend um seine Ehre ging: "Hör mir zu, ich versichere sowas meinen Kunden nur ein mal: Ich kann natürlich nicht genau wissen, was in deinem Körper vor sich geht, solange du ihn noch zum rumlaufen brauchst. Ich bin kein Bakterium. Weisst du, was ein Bakterium ist?"
    Quinn war sich nicht ganz sicher, aber er nickte.
    "Bakterien sind winzig kleines Lebewesen in deinem Körper."
    "Wie ein Parasit.", meinte Quinn, der die Gelegenheit nicht auslassen wollte
    dieses seltene Wort mal zu gebrauchen.
    "Nicht ganz. Wobei das aber ein gutes Stichwort ist: Den ersten Mann der behauptete, in seinem Körper befinde sich ein Wurm, wurde wahrscheinlich für verrückt erklärt. Irgendwann hat man diese Parasiten aber gesehen - und ihre Existenz anerkannt. Wieso auch nicht? Dann aber, als man einen Schritt weiter ging - und es ist noch gar nicht so lange her, seit Gelehrte vom Festland so brillante Lupen konstruierten um das zu beweisen - und jemand behauptete, es würden abertausende winzige Lebewesen mit jedem von uns in Symbiose leben, die wir nicht sehen können... Innos, wurde man dafür ausgelacht! Kleine Fleischwanzenartige Krabbler unter der Haut! Die paranoide Fantasie eines Wahnsinnigen! Heute wissen wir genau, dass es auch sie gibt. Du glaubst dein Körper gehört dir allein? Nein, du teilst ihn mit unzähligen weiteren Wesen. Das ist ein Geben und Nehmen. Ich finde das immer sehr poetisch. Was meint der Author?"
    Ja, vielleicht findest du das poetisch - Ich nicht, dachte Quinn.
    Ignaz erhob den Zeigefinger und setze sein grimmigstes Grinsen auf:
    "Was will ich mit dieser Anekdote also sagen? Erstens kann niemand mit Sicherheit sagen wie es in deinem Körper aussieht, solange er kein Bakterium ist. Aber ich kann sehr exakte Schätzungen aufstellen. Und zweitens: Du siehst, wir Eingeweihten der Medizin machen ständig Fortschritte. Das ist ernsthafte Wissenschaft und wir sind hier keine Sektenspinner."
    Quinn musste sich geschlagen geben. Er war nun mehr oder weniger überzeugt.
    Doch angesichts dieser neuen Erkenntnisse, die er noch nicht ganz verarbeitet hatte, flammte ein Fünkchen Hoffnung in ihm auf: "Gut, aber wenn wir ständig neue Konzepte entdecken, die vorher komplett ungreifbar waren, könnte es in diesem Fall nicht auch sein, das uns verborgene organische Vorgänge rein im Hirn ablaufen, und man diese positiv beeinflussen kann? Dass es theoretisch möglich sein sollte die Psyche wie einen... äh Muskel zu stimulieren? Also wie das, was Alkohol mit einem macht, einfach... Positiver?"
    Ignaz feixte. "Nun mach dich nicht lächerlich."
    Womit er eigentlich sagen wollte: "Jetzt sei nicht kindisch! Ich bin hier der Wissenschaftler!"

    Als Quinn aufbrechen wollte, begab sich Ignaz zu einem verstaubten Regal und drückte ihm halb im Scherz eine einfache Flasche mit einem grünlichen Gebräu in die Hand.
    "Da du immer so geduldig warst, schenk ich dir das hier. Vielleicht hilft das ja gegen deine Schreibblockade."
    Quinn seufzte.
    "Die grüne Fee? Jetzt komm schon, das hab ich gleich als erstes ausprobiert und einen gewaltigen Brummschädel davon bekommen. Künstlerambrosia am A-..."
    "Nein nein, nichts so plumpes. Schmeckt nicht mal nach Alkohol. Das hab ich von einem alten Seefahrer, alter - heh - Quacksalber. Er meinte es wäre beliebt bei allen Studenten von Gelehrten und würde den Geist öffnen oder - heh - irgendsowas lächerliches. Ich habe es natürlich mehrmals getestet, aber es wirkt sich überhaupt nicht erkennbar auf den Körper aus. Alles nur Humbug, heh..."
    Als er sah, dass sich Quinns Miene kein Stück aufhellte, fügte er rasch hinzu:
    "Aber der Glaube wird's ausmachen. Denn weisst du, Junge, du lagst vorhin gar nicht so falsch: Es gibt tatsächlich einen messbaren Effekt im Kopf, wenn leichtgläubige Leute Zuckerwasser trinken und glauben es würde ihnen die Pestbeulen vom Hintern treiben."
    Ignaz gluckste lauthals und Quinn war bereits mit dem Stiefel auf der Schwelle nach draussen. Er drehte sich nochmal um und nahm die Flasche mit, einfach zum Trotz. Zum Abschied klopfte Ignaz ihm auf die Schulter und sagte halbherzig aufmunternd:"Ist doch gut für dich ausgegangen! Du gehst zwar mit mehr schlechten
    Nachrichten von mir als du gekommen bist, aber was wäre wenn dir niemand gesagt hätte, wie es um dich steht?“
    „Schon gut, aber kannst du mir denn nicht was geben, das mein Blut wieder... gesund macht?“
    Quinn setzte einen drauf, um wirklich eine aufrichtige Antwort aus dem Alten rauszubekommen: „Ich wette Constantino-...“
    „Constantino! Ja, der hätte dir wahrscheinlich irgendein Gebräu angedreht, wenn er denn überhaupt irgendetwas vom menschlichen Körper verstehen würde! Nein, ich bin wenigstens ehrlich. Da gibt es keinen Trank, der die Arbeit für dich macht. Das liegt jetzt an dir. Streng dich etwas an und du kriegst nochmal die Kurve. Diese Werte in deinem Blut mögen garstig aussehen, doch es braucht gar nicht so viel um sie wieder zu stabilisieren: Zügle deine Laster, ertüchtige deinen Körper, und all die anderen Dinge, welche dir schon als Kind von den Innospredigern eingebläut wurden.Weisst du, vielen geht's schlimmer. Und ich meine nicht der abgerissene alte Jäger oder Hafenarbeiter der mit seinen abgenutzten Gelenken zu mir kommt und sich stoisch irgendeinen Trank zur Beschleunigung von Wundheilung holt und dabei weiss, dass es das in ein paar Jahren gewesen ist. Ich meine den fast schon obszön dicken Lord aus dem oberen Viertel, der mit seinen Prachtgewänden mit Taschen voller Gold kommt dessen Blut mir noch vor dem Essigbad sagt, dass sein Herz kein Jahr mehr schlägt. Was soll ich denen sagen? Was willst du da tun? Dann kann ich ihnen eigentlich nur noch Parfumflaschen verkaufen. Dann riechen sie im Grab wenigstens noch gut."
    Während sich Ignaz hinter ihm kaum mehr einkriegen konnte, rollte Quinn mit den Augen und zog den Mantel enger an seinen Körper.
    Er hatte zwar etwas mehr Respekt für Ignaz' Zunft gewonnen als zuvor, aber irgendwo hatte alles seine Grenzen.

    Als Quinn wieder durch die enge Gasse mit der festlichen Dekoration zum Sonnenwendefest vorbeikam, war er nicht soeben über Ignaz' Türschwelle gekommen - Es war Abend und verlassen hatte er gerade Cardiff's Kneipe. Bestellt hatte er nur ein paar Bier. Doch Quinn wäre es nicht in den Sinn gekommen eine Taverne zu betreten, ohne ein paar kleine Flaschen seines eigenen billigen Fusels bei sich zu tragen, mit dem er seinen Becher von Zeit zu Zeit mehr oder weniger unauffällig auffüllte. Interessierte dich sowieso keinen. Doch, mich interessiert es, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf zu Wort. Im selben Moment fielen ihm die Umrisse einer geflügelten Kreatur auf, die auf ihn herabsah. Sie gab leise klirrende Geräusche von sich, die sich nahezu nahtlos in die dezente Tonkulisse des Novemberabends einfügte und im Reiskorn-Rascheln des pulvrigen Schnees untertauchte, den der Wind von Dach zu Dach fegte.
    Da war sie also. Alle Jahre wieder. Die grässliche Puppe, die in der Balkonnische über ihm hing. Das hatte er davon beim nachdenken stets nach oben in den Himmel zu starren. Die Wolken waren in ein blasses Rot getaucht, dass von Minute zu Minute dunkler wurde und bald in grau und dann schwarz übergehen würde, direkt, ohne das blau vorher miteinzubeziehen. Die Puppe wippte im eisigen Wind, welcher staubkorngrosse Schneeflocken wie ein rauchiger Wirbelsturm um Quinn tanzen liess. Die Flocken trafen sein Gesicht, welches sie als kurze Kaskade trocken stechender Nadeln registrierte. Er hielt inne und verweilte an dieser seltsamen Ecke in der menschenleeren Gasse und sein Blick blieb zähflüssig an dem ausgestopften geflügelten Ding hängen. Er wusste, dass die Bewohner des Hauses mit dem Balkon sie jedes Jahr zur Adventszeit herausbrachten. Er mochte sich ums Verrecken nicht erinnern, wer die Bewohner waren, aber er wusste, dass er erst abwechselnd einen alten Mann und in den letzten Jahren nur noch eine noch ältere Frau gesehen hatte, welche es stoisch und mehr routiniert als liebevoll aufhängte. Sein Reim darauf war, dass diese alte Witwe das Ding einfach aus Traditionsbewusstsein rausbrachte, um eines kläglichen Versuchs willen das modrige Geländer einen Hauch von Festlichkeit zu verleihen, oder als Belustigung für Kinder, die schon lange aufgewachsen oder weggezogen oder tot waren.
    Während er merkte, dass seine Spekulationen jedes jahr wilder und deprimierender wurden, betrachtete er das, was dieses Jahr anders war.
    Irgendetwas war immer anders.
    Es musste zweifelslos einmal die aus Stoff gemachte Version eines lachenden menschenartigen Wesens in einem Weihnachtskostüm gewesen sein. Viel mehr konnte man über die Puppe aber nicht sagen: ob sie ursprünglich Kind oder Erwachsener, Mann oder Frau darstellte, welche Farbe die festlichen Roben hatten und ob die Flügel schon zu Beginn da gewesen waren. Es war aber offensichtlich, dass dieser ursprüngliche fröhliche Festtagsengel oder -Elf nicht lange überdauerte. In welchem Kellerloch er auch immer den Grossteil des Jahres verbringen mochte, mussten die Motten gehörig scharf auf seine Stoffhaut sein, im Winter spielte die Witterung ihm übel mit, und Quinn hatte mehrmals gesehen wie Kinder das Ding bewarfen oder hin und wieder - Mach schon, Timmy, kletter da rauf und greif dir das Scheissding, oder traust du dich etwa nicht? - hinunterrissen, anmalten und durch die matschige Strasse schleiften. Doch irgendwie landete es immer in irgendeiner Form wieder oben im Balkon. Das Ding wollte einfach nicht sterben. Beziehungsweise die alte Witwe wollte es nicht lassen. Quinn fragte sich, ob sie nahe an der Blindheit war, oder sich einfach nicht um Äusserlichkeiten kümmerte, angesichts der mehr als fragwürdigen Art die Puppe aus ihren eigenen Einzelteilen und den von anderen Puppen wieder zusammenzuflicken. Dort wo sie nicht komplett eingefallen war und das modrige flauschige Zeug nicht raushing, das ihre Füllung darstellte, mussten tausende von wieder und wieder übereinandergestickten Nähte prangen. Die zerfetze Kleidung der Puppe schien fast komplett mit ihrem körper vernäht zu sein. Sie schien aus mindestens 10 verschiedenen Stoffen zu bestehen und manchmal wurde anstelle eines angerissenen Beins ein Arm angesteckt und umgekehrt. Manche Stummel wurden sowieso dran gelassen und die neuen Glieder ganz wo anders angebracht. Der Kopf schien der Form nach durch den eines Stoffhasen ersetzt worden zu sein, dessen Augen mal Knöpfe, mal Stickereien, Ausbeulungen oder Einbuchtungen waren. Manchmal hing dünnes fahriges Wolfsaar – Jedenfalls hoffte Quinn, dass es Wolfshaar war - überall am Körper herunter wie Auswüchse. Allfällige Nadeln und Holzspäne die einmal in ihr drinsteckten, wurden auch dort gelassen.Wieviel davon tatsächlich auf die Witwe zurückging und nicht auf weitere vorbeikommende Kinder oder Spassvögel war nicht ersichtlich. Quinn jedenfalls bezweifelte es, dass sie es war, welche auf Brusthöhe und am Genitalbereich Schabernack mit ihr getrieben hatte.
    Letztes Jahr waren die Engelsflügel aufgetaucht und die ganzen Augen, welche an das Antlitz eines Spinnenkopfs erinnerten, grob mit zwei grossen Farbkringelb übermalt. Elegant, dachte Quinn.
    Ebenso wurden die zahlreichen gestickten Münder mit einem gezielten Schnitt zu einem einzigen ausgefransten Grinsen gemacht, aus dem die Füllung rausdrang.
    Sozusagen ein Neuanstrich.
    Jedes Jahr konnte man etwas Neues entdecken. Und an jenem Tag war das Neue das vielleicht Lächerlichste von allem: In einem Versuch dem Kopf eine weihnachtliche Mütze aufzusetzen hatte irgendwer einfach die Spitzen von Narrenmützen mit kleinen Glöckchen an den Enden angenäht. Und es waren so viele, dass sie den Kopf wie eine Krone und den Rumpf wie ein Schuppenkleid bedeckten. Auffalend grotesk war die Stoffspitze mit dem Glöckchen, das direkt aus dem ausgefransten Mund hing. Als der Wind ein weiteres mal aufkam, gab die Puppe ein leises Klingeln von sich.
    Ich weiss wirklich nicht, worüber du lachst, dachte Quinn. Deine Organe werden in ein paar Jahren wahrscheinlich auch auseinanderfallen, Kumpel.

    Als das Kaminfeuer entfacht, seine Finger weit genug aufgetaut waren und sein alter Mantel mitsamt den Flaschen, die er mit sich rumtrug in der Ecke lag, setzte sich Quinn vor seinen Schreibtisch und zündete eine Kerze an, welche seinen Stapel leerer Pergamente in flackerndes Licht tauchte. Wie schon so oft zuvor war sein erster Impuls, nicht nach seiner Schreibfeder zu greifen, sondern nach einem Sumpfkrautstängel, dessen Glut er an der Kerze entfachte. Er hatte zwar schon ein- zwei auf dem Weg geraucht, doch irgendwie fühlte er sich noch nicht auf genügend kreative Weise angeregt. Moment, dachte er, besonders anregend konnte es sowieso nicht werden, schliesslich rauchte er nur das schwache Kraut, ohne Alkohol-ähnliche Betäubungswirkung. Ja, die stärkeren - Marke eheamliger Schläfersekte - waren zu teuer geworden um mit seinem Konsum Schritt zu halten. Doch irgendwo musste er noch ein Päkchen rumliegen haben, doch er fand es nicht. Hatte er die Päkchen vertauscht? Er wusste es nicht. Jedenfalls wollte er auch nicht mehr aufstehen und raus ins Schneegestöber um zu rauchen, er blieb hier an seinem Arbeitstisch, egal wie sehr sich der Geruch im Raum festsetzen würde. Als er mit all diesen Gedankengängen fertig war, war aber auch der Stängel bereits niedergebrannt. Quinn seufzte. Wie schon so oft zuvor liess er seine tiefschwarze, buschige Feder minutenlang zwischen seinen Fingern kreisen. Wie schon so oft zuvor gab er sich einen Ruck, tauchte sie in ein Fässchen mit eben so schwarzer Tinte und liess sie erneut kreisen, was winzige Tröpfchen seiner zweitliebsten kostbaren Flüssigkeit auf die Tischkante fliegen liess, die jeden Tag etwas dichter gesprenkelt war. Er würde später nicht mehr sagen können, wieso genau er plötzlich eine leere Seite zu sich hinzog und die Feder hart aufsetzte. Ob es ein Akt der Langeweile oder eine flüchtige, in Sekundenbruchteilen auftauchende und sofort wieder vergessene Idee war, wer weiss. Jedenfalls fiel es ihm ausserordentlich schwer, angesichts des sich nach Aussen hin ausbreitenden dunklen Flecks unter dem gespitzten Federkeilende, der stickigen Wärme des Kaminfeuers und dem roten Licht der schwachen Kerzenflamme nicht an das Blut auf dem weissen Tuch zu denken, und nicht an dasselbe Blut, dass in eben jenem Moment durch seine Adern floss und ausserdem auch nicht an irgendwelche ominöse Werte der chemischen Beschaffenheit dieses Blutes, welche der alten Pumpe, dem alten Luftsack, und dem alte Denkorgan allesamt gleichzeitig in ein paar Jahren den Garaus machen würde, während ebendieses Blut mit den schlechten Werten ihm aus dem Ohr floss und hinunter auf den Teppich auf den er gestürzt war und auf Sinny's Schuhe, die herbeigeeilt war als sie sein Röcheln und Keuchen und den Aufprall im Nebenzimmer gehört hatte.
    Er hielt inne.
    Nein, dieser Gedankengang war völlig abwegig.
    Natürlich würde Sinny gar nicht in der Nähe sein, und er konnte auch nicht auf den Teppich fallen, da sowas doch während einem Akt der Anstrengung geschah, was sowieso auch immer bedeutete, dass es im denkbar unangenehmsten Moment passieren würde! Also während er sich die Stufen zum hochgelegenen Wohnzimmer irgendeines wohlhabenden Arbeitgebers aus dem Oberen Viertel hochquälte, oder während er durch die Strassen zum Marktplatz rannte um noch schnell irgendeine Besorgung zu machen, bevor die Händler alle heimgingen, oder während er nach einem echt miesen Essen in der Latrine sass, oder mitten im Geschlechtsakt, in welchem Falle Sinny möglicherweise doch anwesend sein könnte – man weiss ja nie was sich in ein paar Jahren noch entwickeln kann – oder eben vielleicht nicht physisch anwesend aber wenigstens in Gedanken, oder-...
    Innos! Das war ja furchtbar, dass Betrunkene, die ungehemmt schwafelten nicht nur andere sondern anscheinend auch sich selbst annerven konnten!
    Als er sich wieder zu einer gedanklichen Quinn-reiss-dich-zusammen-Intervention durchsetzte, musste Quinn feststellen, dass er die benetzte Feder solange auf dem dünnen Pergament gehalten haben muss, dass der schwarze Fleck gut einen Drittel der gesamten Seite bedeckte. Da wurde die soeben krampfhaft herbeigeführte Ruhe in seinem Kopf gleich wieder von verärgerten Stimmen zerrissen: Was für eine Verschwendung! Na toll, was für eine Qualität hatte das Zeug eigentlich? Und wieso zur Hölle hatte er die Feder so stark ins Tintenfass reingetunkt? Und dann die Stimme eines gackernden Narren mit Mütze und weitem Grinsen: Und was macht das jetzt aus, hättest ja sowieso nichts Gutes geschrieben! Nichts Gutes geschrieben. Nichts Gutes geschrieben. Nichts Gutes geschrieben.Quinn wartete bis der schwarze Fleck die Ränder des schon lange vollkommen nutzlosen Pergaments erreicht hatte, riss die Feder mit einem Schlenker zur Seite auf ein weiteres Papier, dass er zu sich gezogen hatte und begann ohne zu Zögern drauflos zu kritzeln. Ihm war soeben bewusst geworden, was ihn den ganzen Tag durch so beschäftigt hatte. Unter der Oberfläche war er sowieso die ganze Zeit mit sich selbst am hadern, mit seinem Beruf, den er leider auch als seine Berufung verstand, mit vergangenen, momentanen und künftigen persönlichen Entschlüssen, und so weiter und so fort. Um zu diesem Schluss zu kommen, brauchte er niemand der ihm sagte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Aber was nun wirklich neu dazugekommen war, was ihn wirklich so völlig unerwartet heimsuchte und anschiss wie eine Seemöwe auf dem überdachten Marktplatz, war die Erkenntniss, das er die ganze Zeit über, die er nun auf der Insel Khorinis verbracht hatte, nicht nur sich selbst im Stich gelassen hatte, oder schlimmer noch seine Theatertruppe... Schlimmer, nein viel schlimmer: Er hatte die Bakterien im Stich gelassen. Seine Bakterien, seine in-Symbiose-mit-ihm-lebenden Untermieter, seine persönliche Theatertruppe im Innern, die Jungs die den Laden am laufen hielten. Innos, Adanos und Beliar, wenn er sich nur im Zimmer umsah musste ihm doch aufgehen, das er es nicht schlecht hatte, wirklich wirklich nicht schlecht, geradezu gut sogar. Und das alles so selbstverständlich hinzunehmen während andere schuften und ihren Körper ruinieren mussten, rumzusaufen und gelegentlich den Verfall seines kreativen Schaffens zu lamentieren war eine Sache. Aber dass das am Ende dann doch auch noch dazu führte, das sein Körper trotz besten Voraussetzungen mitsamt seinen Bakterien bereits im besten Alter wie ein Wrack unterging, war nicht hinnehmbar.
    Während er so immer weiter kritzelte, beruhigten sich Quinns Gedanken, sie wurden geradezu meditativ.
    Er war sich im Klaren darüber, das er sich im Grunde genommen gerade von Ignaz' saublöder Anekdote über kleine fleischwanzenartige Krabbler anstacheln liess, aber wie ging das noch mal? Das ist ein Geben und Nehmen? Jawoll, m'Lord! Seine Truppe konnte ab jetzt auf ihn zählen.
    Quinn schrieb also das, was bereits unzählige vor ihm zur Weihnachtszeit und mit der Aussicht auf ein neues Jahr geschrieben hatten, aber er tat es mit einem Lächeln auf den Lippen und einem neu gefundenen Eifer, der seinesgleichen suchte.
    Er schrieb eine Liste mit Guten Vorsätzen.
    Geändert von MiMo (30.03.2017 um 15:55 Uhr)

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    Dead Frank ist offline
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    II. Schwarz auf Weiss

    „Sinéad. Versuch für mich bei Gelegenheit ein Exemplar von „Die wandelbare Stofflichkeit des Blutes III“ in die Finger zu kriegen. Der Autor ist derselbe wie bei den ersten beiden. Ich vertraue dir ausserdem beim Überfliegen der Verse-Sammlung „Magie des reinen Willens“ die inspirierendtsen paar Zeilen rauszusuchen. Und ich brauche ein weiteres Kochbuch. Ich bin mir immer noch nicht sicher, alle gewöhnlichen Zutaten zu kennen, die mich heimtückisch vergiften. Was die dieswöchigen Memoiren irgendeines verstorbenen Dramatikers betrifft: Überrasch mich.“
    Natürlich hatte er alles auf einen kleinen Fetzen geschrieben, den er auf dem Tisch liegen liess, jedoch hatte er auch laut mitgesprochen. Denn es war ausser ihm niemand da, der sich daran gestört hätte. Die gesamte letzte Woche im November hatte Quinn buchstäblich in stillen Kammern verbacht. Den Grossteil jedes morgens opferte er mit nicht geahntem Vergnügen in der Bibliothek im Oberen Viertel. Besser gesagt der einzigen, zu der er Zugang hatte. Er war sich nämlich sicher, dass hinter den auf den ersten Blick unscheinbaren Hauswänden des Viertels die eine oder andere Privatsammlung lag, doch im Grunde genommen war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich einige der Belesenen der ortsansässigen Wohlhabenden zusammengerauft, all ihre geerbten Folianten und erstandenen Almanache der gegenseitigen Begutachtung freigegeben, und als entsprechendes Bücherregal ein umfangreicheres Gewölbe gestiftet hatten. Welches man aufgrund der Lage nahe des Rathauses zwar nicht wirklich als öffentlich bezeichnen konnte, aber Quinn musste das nicht stören, da er seinem letzten Gönner und Arbeitgeber erklärt hatte, dass er recherchieren musste.
    Und recherchieren tat er wahrlich. Nachdem er seine Liste geschrieben hatte, hatte er sich so schnell wie möglich zu den Regalen der Bibliothek begeben. Und so schnell wie möglich hätte Tags darauf heissen können, wenn die Liste denn zu einem definitiven Zeitpunkt und nicht irgendwann zwischen Mitternacht und 4 Uhr morgens entstanden wäre, und er denn geschlafen hätte. In den ersten Tagen hatte er damit angefangen, mehr oder weniger willkürlich die dicksten Bände mit den längsten Titeln auszuwählen, die auf irgendwelche Experimente der Alchemie schliessen liessen. Er hatte grossen Gefallen an ihrem verstaubten Geruch und dem Geräusch , dass sie machten, wenn er sie aus den Regalen zog und an einem kleinen Tisch in der Ecke aufschlug. Leider war das auch schon das einzige, das sie ihm brachten, da er die meisten entweder überhaupt nicht verstand, oder ihr Inhalt komplett veraltet war – Quinns Augenbraue schnellte ob der anatomsichen Skizzen des menschlichen Innenlebens in die Höhe, welche mehreren Organe äusserst seltsame magische Fähigkeiten zusprach und andere Teile komplett unterschlug - besonders mit dem Konzept von kleineren Knochen schien der Author Mühe zu haben - obwohl Quinn sich sicher war ein paar davon schon in seiner Jugend bei ärgeren Missgeschicken der lokalen Landarbeiter und Zimmermänner mit eigenen Augen gesehen zu haben. Also begann er den Begriff Alchemie skeptischer zu werten und mehr nach anderen Schlüsselwörtern zu suchen, hauptsächlich Dinge die Ignaz' immer sagte um seine Zunft zu verteidigen: Vernunft-Wissenschaft, Spezifische Medizin, Blutwerte, „Wir sind hier KEINE Quacksalber!“.
    Da die Bibliothek nicht chronologisch geordnet war, musste er ebenfalls auf das Erscheinungsbild der Bücher achten. Nachdem er einen ganzen Stapel herausgepickt hatte, der anscheinend die neuesten Erkenntnisse enthielt, schrieb er sich beim Überfliegen derer Seiten ebenfalls die Namen all jener Gelehrten auf, auf den die sich der Autor bezog, und ging dann systematisch deren Werke durch, sofern sie sich irgendwo zwischen den anderen befanden. Nach einer Woche war ihm aufgegangen, dass er eigentlich nur nach einigen verständlich geschriebenen, klar erklärten und logisch dargelegten Passagen Ausschau hielt und den ganzen Rest gar nicht brauchte. Er bleib zwar dabei, jeden Morgen nach Lust und Laune quer durch die Bibliothek zu pirschen und sich in Büchern zu vergraben, jedoch war ihm die brillante Idee gekommen, einfach die ganze Aussortiererei auf Sinny abzuschieben und ihr Instruktionen auf einen Zettel zu schreiben, wie er es soeben getan hatte.
    Bald würden diese Instruktionen aber nur noch nach Werken über das Theater und das Schreiben verlangen, und mit der Medizin würde er durch sein. Schliesslich war alles , was er wollte, herauszufinden wie er seine Blutwerte in Ordnung bekam. Das war der erste Punkt auf der Liste. 1. Blutwerte in Ordnung bekommen (nicht frühzeitig sterben). Gut, vielleicht nicht alles, was er wollte. Denn das hatte er bereits herausgefunden. Vielleicht wollte er sich nebenbei auch einfach mal wieder weiterbilden, denn irgendwo unten auf der Liste stand ja auch was von... Genau, 12. Universal gebildeter Mensch sein (sich von Ignaz nicht verarschen lassen). Es war kurz vor Mittag als Quinn erst die Bibliothek, dann das Obere Viertel und schliesslich die Stadtmauern von Khorinis hinter sich liess. Es war ein eiskalter Morgen - so kalt, dass der bereits vor Wochen gefallene erste Schneeüberzug hart geworden war. Die Kälte konnte Quinns Lauen jedoch nicht trüben, da immerhin kein Wind blies, der Himmel blassblau und wolkenlos war, und er abseits des Weges laufen konnte, ohne dabei in einem Meer aus weissem Pulver einzusinken. Er war in seinem alten, mit Wolfshaar ausgekleideten Wintermantel ausserdem recht warm eingepackt. Und so setzte er sich denn in Bewegung.
    4. Körper aufbauen.
    Wenn Quinn gedanklich durch die Landschaft im Innern seines Kopfs wanderte und sich in eine matt farblose Ecke zurückzog, war dort die lange zurückliegende Erinnerung einer Zeit, in der er einen ganzen Tag holzhacken musste um Abends nicht frieren zu müssen. Und nun hatte sich seine gut ausgeräucherte Lunge daran gewöhnt, sich bei der kleinsten körperlichen Anstrengung scheinbar spontan selbst zu entzünden und mit einer weissglühende Flammenzunge mal die rechte, mal die linke Seite seines Rumpfes von Innen zu lecken. Das hiess, bis noch vor kurzem.
    Quinn trottete vor sich her und begann langsam mehr Motivation in seine Schritte zu legen. Nach Vorne, redete er sich ein, einfach nur nach Vorne. Er hatte sich zugegebenermassen nicht nur von den realen Jägern inspirieren lassen, die er kannte, sondern auch ein ganzes Stück weit von den ganzen Waldläuferfiguren, die als Archetypus so beliebt in seiner Zunft waren – Er selbst konnte sich an den einen oder anderen flinken Jäger mit schier übermenschlichen Sinnen erinnern, dem er erst auf dem Papier, und dann zusammen mit einem Schauspiler Leben eineghaucht hatte. Oder den zwielichtigen, jedoch im Grunde genommen herzensguten Dieb, der von der engstirnigen Miliz gejagt über die Dächer der Stadt floh (das Stück war natürlich zu kontrovers und ein finanzielles Desaster geworden). Etwas schienen diese, sich auf der Höhe ihrer Leistunsgfähigkeit befindlichen Jäger, Lauscher, Trickser und Degenschwinger – deren Blutwerte Ignaz bestimmt die Freudentränen in die Augen treiben würde - alle gemeinsam zu haben: Sie konnten rennen. Etwas, das Quinn noch nie von sich selbst behaupten konnte. Schon zu Kindszeiten, so glaubte er sich schwach zu erinnern, fand er sich bei den Wettrennen und Spielen mit anderen Kindern immer irgendwann abgehängt und alleine wieder. Und genau das war der Moment, in dem er anhalten wollte. Er sog die eisige Luft nun nicht mehr gierig durch seine Nasenlöcher ein, er hechelte mit seinem Mund in immer kürzer werdenden Abständen, nahm die Luft auf und presste sie gleich wieder heraus, etwas dass die ganzen medizinsichen Bücher nicht empfahlen und in seinem Hals den Eisen-Geschmack von Blut aufstiegen liess. Aber sollten diese lahmen Gelehrten doch selbst an einem frühen Wintermorgen über weisse Wege und Felder rennen, und sowieso, der Geschmack im Hals konnte ihn nur immer wieder erinnern und motivieren: Das Blut, das Blut. Man konnte das, was Quinn machte natürlich nicht die ganze Zeit über als Rennen bezeichnen, mehr ein schnelles laufen, wie es sonst nur Leute taten, die über Weite Strecken schnell von Punkt A zu Punkt B kommen wollten, ohne dabei schlapp zu machen. Aber er presste die Zähne zusammen und hielt diesen Morgen durch, wie alle vorherigen. Die Stadt Khorinis war mehr oder weniger kreisförmig aufgebaut und wenn der den Stadtmauern vom Südtor her folgte, konnte er einen grossen Halbkreis ablaufen, ohne vom Meer eingeschränkt zu werden. Das hatte er zu Beginn auch gemacht, doch wirklich lange dauerte es nicht, bis er über diese seine erste Strecke hinausgewachsen war. Er hatte nun damit begonnen vom Südtor zu starten und den ein- oder anderen Bogen um den nahegelegenen Hof zu machen. Er erdreistete sich sogar desöfteren mitten über die Felder zu rennen, schliesslich musste es den alten Lobart im Winter ja nicht kümmern, und er empfand die weite Fläche aus purem Weiss auf allen Seiten um ihn herum als äusserst interessant: Er konnte seine Gedanken abschweifen und weg von der Erschöpfung und dem Schmerz in seiner Seite treiben lassen, während er sich vorstellte mühelos durch diese verstreuten Seen aus weissem Nichts zu treiben. Er glaubte sogar, immer etwas schneller zu rennen, wenn er so wenig visuelle Anhaltspunkte wie möglich hatte, die an seinem Blickfeld vorbeirauschten. Er gleitete, und in diesen Momenten tat ihm die auf den ersten Blick bestimmt merkwürdig anumtende grundlose Rennerei Spass. Vielleicht lag es daran, dass ihm das anfänglich so suspekte Rennen in diesen Momenten an ein paar genial echt wirkende Träume übers Fliegen erinnerte, die er mal gehabt hatte. Manchmal hielt er fast inne, wenn er daran dachte wie tatsächliche Jäger, welche nur dann rannten, wenn sie mussten, weil ihnen sonst die schwer verdiente Beute und damit oftmals die Einnahmequelle oder gar das eigene Abendessen durch die Lappen ging, darauf reagieren mussten ihn so ganz ohne ersichtlichen Grund herumhetzen zu sehen. Sie würden den Kopf schütteln ob dem exzentrischen Typen, der die Möglichkeit hatte im oberen Viertel zu hausen und sich jeden Tag kurz vor Mittag absichtlich verausgabte. Aber diese Jäger gab es gar nicht, zumindest nicht in der kalten Jahreszeit zwischen den Stadmauern und den Feldern und zumindest nicht an jenem Tag. Sie waren kurz aufblitzende Phantome an den Ecken der beruhigenden Leere der weissen Flächen, welche die eingeschneiten Felder waren. Quinn hatte diese jedoch mittlerweile hinter sich gelassen, war den Stadmauern gefolgt und am Osttor angekommen. Irgendwann, so dachte er, während er schwer atmend verlangsamte, würde er hier nicht haltmachen und weiter die Bergsteigung hinauftrotten - Hinauftrotten? Nein, rennen! - bis zum Leuchtturm, von wo er die Stadt und die Wassermassen des Meeres von Oben sehen würde. Für heute reichte es ihm aber, dachte er zugegebenermassen auch ein wenig erleichtert und trat an den Torwachen vorbei, die ihn verwundert begutachteten, als er sich in der Kälte dicke Schweissperlen von der Stirn wischte.

    Quinn war sich sicher, dass Punkt 4. auf seiner Liste nicht nur sinnloses Rumgerenne war, sondern irgendwann Früchte tragen würde. Er würde Gewicht verlieren, sich gesünder fühlen, keine wichtigen Termine mehr verpassen und Treppen erklimmen können, ohne zu Keuchen wie ein Molerat in den letzten Zügen. Vielelicht war er irgendwann in der Verfassung Schwertkampfunterricht zu nehmen, bestimmt wären die Kampfszenen, die er mit seiner Truppe einstudierte dann authentischer oder so. Er durfte aber nicht Punkt 2 und Punkt 3 aus den Augen verlieren, die genau so wichtig waren, dass er Punkt 1 auf die Reihe bekam. Keinen Alkohol mehr und Kein Krauttabak mehr. Natürlich war das nicht von heute auf morgen gegangen wie bei einigen der anderen Punkte, mit denen er sich gleich nach Schreiben der Liste und noch in halb angetrunkenem Zustand befasst hatte. Doch irgendwann war es Zeit gewesen. 5. Nichts mehr aufschieben. Was sollte man also machen. Es hatte einige Überwindung, halbe Massnahmen und gescheiterte Anfänge gebraucht, bis er sich eines Abends dazu durchgerungen hatte alle Flaschen im Haus auszuleeren. Alle. Sicher, theoretisch hielt das ihn nicht davon ab jeden Moment die nächste Taverne aufzusuchen und sich mit Bier vollaufen zu lassen, doch irgendwo musste man ja anfangen. Und es war ausserdem keine Entschuldigung für die Nachsichtigkeit die es bedeutete, all das starke Zeug gerade unter seine Nase liegen zu lassen, wo er nur seine verdammte Hand ausstrecken musste, wenn ihm der Sinn nach etwas improvisierter Flüssiger Inspiration stand. Er nahm also so viele Flaschen wie er tragen konnte, und leerte sie irgendwo in einer Ecke einer Gasse aus. Ein paar schenkte er ein paar Obdachlosen im Hafenviertel, jedoch blieb es bei dieser sehr noblen Geste nur bei ein paar wenigen Flaschen: Schliesslich war es bereits Abend, während seiner Freizeit, und mehrmals wollte er den Weg vom Oberen Viertel zum Hafen nicht antreten, nur um jemandem einen guten Rausch zu schenken, brüderliche Weihnachtszeit und Punkte 4 und 10 hin oder her. Er war trotz, oder wahrscheinlich gerade wegen seiner Nüchternheit ziemlich müde und wollte sich auch schon schlafen legen, als Quinn ein paar letzte Flaschen auffielen, die verstreut in seinem eigenen Bücherregal neben dem Schreibtisch standen. Die meisten hatten gar kein Ettikett darauf und mussten schon älter sein. Es tat ihm einen Moment lang leid, wahrscheinlich alten, gereiften Fusel wegzukippen, aber er gab sich einen Ruck und begab sich schnell zum Wandschrank im geräumigen Wohnzimmer, wo er so lange rumwühlte, bis er auf einen sauberen Kessel stiess. Diesen stellte er in seinem Arbeits- und Schlafzimmer auf einem Tischchen gleich neben dem Bett ab. Ihm war soeben eine Idee gekommen. Er leerte den Inhalt der Flaschen alle zusammen in den Kessel, die ganzen farblosen und dunklen und süffig karamellfarbenen und gelben und grünen Flüssigkeiten, deren Existenz er ganz vergessen hatte. Es war ein wirklich grosser Kessel, die vermengte Brühe mochte zusammen vielleicht drei Fingerbreit hochkommen. Es ging kein besonderer Geruch davon aus, also liess er sie dort neben dem Bett stehen. Morgen, dachte er, würde das Zeug wegkommen und der Kessel würde etwas anderes enthalten, was viel besser für ihn war. Wieder war er fast im Bett, als ein weiterer Gedanke hartnäckig um seine Aufmerksamkeit buhlte: Punkt 5! Er hielt kurz inne. Dann setzte sich Quinn nochmals an den Arbeitstisch, nahm einen kleinen Pergamentfetzen und kritztelte schnell ein paar Zeilen:
    „Sinéad. Füll diesen Kessel neben dem Bett bitte bis oben mit frischem Wasser. Das wird das erste sein, das ich von jetzt an jeden morgen trinken werde, und auch den ganzen Tag über. Sorg also bitte auch dafür, dass er immer wieder nachgefüllt wird.“
    Hmm. Irgendetwas fehlte. Ihm gefiel das, was er gerade geschrieben hatte nicht. Ah.
    „PS: Ich will lediglich immer bei Kräften bleiben, ich hoffe du hältst mich jetzt nicht für einen wassertrinkenden Neurotiker oder Langweiler.“
    Souverän gerettet. Jetzt wäre das auch schon erledigt, dachte Quinn und legte sich hin.
    Auf Sinny konnte er sich verlassen, sie würde seine Anweisungen so gewissenhaft und präzise erledigen, wie immer.

    Quinn wurde nicht enttäuscht. Morgens, als er den Kopf zur Seite neigte, war der Zettel weg und der Kessel voll. Er trank, zog sich an, rasierte sich, betrachtete die Liste. Es war noch viel zu früh dazu, von draussen Geräusche von geschäftigem Treiben zu hören, doch nachdem er sein Rasiermesser in der abschliessbaren Schublade verstaut, sich getrocknet hatte, und die Schwelle nach draussen übertreten hatte, war er sich sicher, das etwas im Gange war. Es war ein nebliger Morgen, einer derjenigen, an denen die frühe Luft selbst aus milchigen Schwaden zu bestehen schien und das Licht der Strassenlaternen wie riesige matte Kugeln zu beiden Seiten der noch menschenleeren Strasse auf magische Weise ein- zwei Meter in der Luft suspendiert hingen. Quinn vernahm das Knarren von Holzrädern und leise Stimmen, die vom südlichen Stadtor, gleich unter der Treppe zum Oberen Viertel zu ihm getragen wurden. Aufkommende Neugier vertrieb die Müdigkeit aus seinem Schädel, die frühmorgens meist an ihm haftete wie der dicke Nebel um ihn herum. Er verfiel in einen Laufschritt – Jaah, dachte er grinsend, das kann ich jetzt – bis er in Sichtweite der Treppe kam. Noch bevor er er den offenbar mit allerhand Kisten und Festzelten beladenen Karren sah, wurde ihm bewusst, dass es der erste Tag im Dezember war. Plötzlich stieg dieses Wissen in ihm auf, als wäre es besonders wichtig wie seine medizinsichen Studien, oder besonders tiefsinnig (von dem er, wie er gerne glaubte, zumindest etwas Ahnung haben musste). Nein, das stimmte alles nicht, tatsächlich konnte er es spüren, in der Luft, in seinem eigenen Körper. Wach auf, wach auf, unsere Saison ist da. Zeit sie auszubreiten!, dachte er, ohne zu denken. Das heisst, er hatte im Grunde keine Ahnung wieso er das gerade gedacht hatte. Es interessierte ihn auch nicht so sehr wie dieses seltsame und anregende, dieses vibrierende Gefühl, das etwas vor ihm in der Leere der nebligen grauen Schwaden lag. Es war fast schon greifbar. Quinn schüttelte den Kopf ob seiner eigenen Kauzigkeit, verweilte aber noch ein bisschen. Normalerweise hätte er in solchen Momenten eine geraucht, doch das war nur so ein Nebengedanke. Als er den Weg zurück über die Strasse zu seinem morgendlichen Bibliotheksbesuch antrat, fielen ihm wieder die grossen schwebenden Lichtkugeln zu seiner Seite auf.
    Hm. Ach so!
    Es war schon immer wieder seltsam, wie sehr äussere Reize, in einem flüchtigen Moment aufgegriffen und wieder vergessen, das eigene Innenleben durcheinanderwühlen konnten, ohne das man es bemerkte. 'Chemische Prozesse oder so, wie es die Vernunftwissenschaftler sagen würden. Quinn war anscheinend keine Ausnahme. Kein Wunder war ihm das Wissen um den ersten Dezember so plötzlich in den Sinn gekommen. Er konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, während er weiterlief. Weihnachtskugeln.

    Nach 3 Seiten geballter positiver Energie in Form der wirklich bemerkenswert erlesenen Auswahl an Sprüchen aus dem Band „Magie des reinen Willens“, die seine Assistentin getroffen hatte, trank Quinn einen grossen Schluk Wasser – das er nun immer bei sich zu haben pflegte – atmete durch, und knackte und bog und streckte seine Gliedmassen noch während er sich von seinem Stuhl in seiner Ecke „seiner“ Bibliothek erhob in verschiedenen muskelfaserauflockernden und gelenkölenden Posen. Heute war er zum ersten mal nicht alleine da. Ein untersetzter Herr, der vage nach Frischkäse roch, begutachtete ihn misstrauisch aus den Augenwinkeln. Am Marktplatz unterhield Quinn sich mit Baltram. Sie sprachen über den Aufschwung dessen Lebensmittelstandes, das er sich bald selbst absetzen und jemanden einstellen würde um für ihn den Verkauf zu übernehmen, besonders jetzt zur Sonnenwendezeit, wo er eigentlich wichtigeres zutun hatte, aber man will ja auch unter die Leute kommen und sowieso, wenn man was gebacken kriegen will muss man selbst mal kräftig Hand anlegen, also in ein- zwei Jahren wird er es schon mal ruhiger angehen und es sich gutgehen lassen, da soll er nur aufpassen, aber bis dann kann er es ja eben doch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und bis so ein Grünschnabel mal weiss, wie man sein Zeug richtig anpreist und ein gutes Schwätzchen mit Stammkunden hält und überhaupt ein Verkaufstalent wie er hat, was ja nicht jedem in die Wiege gelegt ist und der sich mal bloss nicht zu schade sein soll sich ab und zu auf ein freundliches Feilschen einzulassen...
    Quinns Anteil an der geselligen Konversation war gelinde ausgedrückt nicht überragend. Aber doch doch, er fand das Schwätzchen durchaus sehr nett, auch wenn er selbst eigentlich die ganze Zeit mit einer von Baltrams saisonbedingten Zimtstangen herumgespielt hatte, während Baltram ebenfalls die ganze Zeit über mehr an einem quasi-Monolog mit einer prächtigen Kartoffel interessiert schien als direktem Augenkontakt mit Quinn. Zu seiner Verteidigung: Es war aber auch wirklich eine absurd grosse Kartoffel. Quinn brauchte lange Zeit sich zu entscheiden, welches Gemüse er brauchte um heute aktiv durch den Tag zu kommen. Der Winter machte es einem nicht leicht. Dafür war es auf den Strassen lange nicht mehr matschig gewesen. Ein Umstand der Quinn wieder klar wurde, als ein Kind ihm zwischen Markt und Kaserne von den erhöhten Zinnen am Strassenrand vor die Füsse sprang, triumphal aufschrie, dann aber etwas missmutig das Weite suchte als ihm ein enttäuschter Blick klar machte, dass Quinns Kleider gar nicht nass und schmuddelig wurden – und somit auch das Ausmass seines Scheiterns. Die Göre blickte so enttäuscht drein, das Quinn schon afst mit dem Gedanken spielte sich absichtlich mit dreckigem Schnee vollzureiben. Denn auf die Kleider, die er am Leibe trug, würde er bald nicht mehr äusserste Acht geben müssen: Den Rest des Vormittags verbrachte er auf der Suche nach einem Schneider, der ihm richtig gut sitzende Sachen aus neustem, winterfestem Leder anfertigen konnte. Den fand er schliesslich auch, und als er die Vorzeigestücke sah, die ihm der gestresste, aber äusserst lebhaft – der konnte wahrscheinlich auch gut rennen - aussehende, Schneider begeistert bis unter die Nase hielt, da tat es ihm schon deutlich weniger Leid dafür einen erheblichen Teil der verbliebenen Einnahmen seiner letzten Theateraufführung aufzugeben. Doch heute war er in Stimmung und konnte sich auch aus finanzieleln Gründen rechtfertigen: Schliesslich hatte ein grosszügiger Lebemann aus dem Oberen Viertel Interesse an Quinns' neu aufgenommener Arbeit bekundet. Nachdem der Schneider Quinns Rumpfumfang abgemessen hatte – er war tatsächlich schon merklich zurückgegangen, wie Quinn auf einmal strahlend aufging – entschuldigte sich Quinn aber und beteuerte am nächsten Tag wiederzukommen. Sehr zur Verwunderung des Schneiders, aber es war Zeit für Quinn zu rennen. Er war schon fast über seinen Zeitplan hinaus. Schliesslich musste er erst noch wieder rauf ins Haus und kochen und essen und dann noch ein wenig warten, um nicht gleich mit vollem Magen loszurennen, das Quinn, wie er bereits herausgefunden hatte, gar nicht gut tat. Plötzlich erklangen Glocken und nun war Quinn sich sicher, das er sich in seinem Zeitplan verschätzt hatte: Er hatte zu lange mit dem Schneider geredet oder mit Baltram und jetzt würde das Ganze eng werden. Plötzlich befand sich Quinn im Zwiespalt: Er wollte wirklich rennen, aber er hatte schon den ganzen Tag voller Termine und den Grossteil würde sein neues Stück in Anspruch nehmen. Er kam zum Schluss, das er nun einerseits wirklich gehen musste – er schüttelte dem Schneider mehrmals die Hand und flüchtete unter Entschuldigungen aus dessen Atelier – andererseits sollte er vielleicht darüber Nachdenken, einen weiteren Puntk auf die Liste zu nehmen. 14. Bessere Zeitplanung von Terminen. Und hinterher in Klammern etwas aus der „Magie des reinen Willens“, Realismus und Pragmatismus anstatt Optimismus und Idealismus! oder so. Nun rannte er zurück an der Kaserne vorbei, Quinn wusste nicht wie er es geschafft hatte, aber irgendwie war er wie im Flug bei sich zuhause angekommen, hatte in Windeseile gekocht und gegessen und glitt auf Schwingen wieder herunter bis zum Südtor, wo er wie jeden Tag kurz vor der Mittagsstunde (an jenem Tag war es wahrlich nur sehr kurz zuvor) seine persönliche kleine Beschäftigung begann. Ich bin anscheineend wirklich schnell geworden, dachte er grinsend, und schon war er erneut in Bewegung. Bald war das Stadttor ein gutes Stück hinter ihm, und er konnte damit beginnen den Weg zu verlassen. Natürlich nicht in Ruichtung der Wälder um Khorinis, die er auch im scheinbar leblosen und bestienfreien Winter mied, wie es jeder vernünftige Bürger – unbewaffnete Bürger, Quinn, unbewaffnete Bürger - tun würde. Er begann seine spiralförmige Runde um die Felder und die Umgebung von Lobarts Hof zu drehen. Danach machte er den grossen Bogen um die Stadmauern von Khorinis und dann die Anhöhe zum Leuchtturm hinauf, die letzet Etappe, die mit jedem Tag länger wurde, da er es immer länger aushielt den steilen weg hinaufzurennen ohne zu leiden wie ein abgestochenes Schwein, mit Verlaub. Dazwischen lag sein Lieblingsteil: Das Überqueren der Felder durch die Mitte, den grossen weissen See aus Nichts, der von seinen treibenden Gedanken bevölkert wurde. Seine Meditation, die ihn von den gedämpften, aber hartnäckigen Schmerzen in seiner Seite ablenkte. Es schien zwar mit jedem Tag kälter zu werden, aber Quinns Hals schien sich daran gewöhnt zu haben, in rhytmischen Abständen gasförmiges Eis einzusaugen, denn er wurde auch an diesem Tag nicht krank, als er schweissüberströmt an den Torwachen des Osttors vorbeikam und bald leicht zitternd weiter durch Khorinis irrte. Vielleicht hatten seine Bakterien ihm als Dankeschön ja ein gutes Abwehrsystem gegen Erkältungen geschenkt. Plötzlich musste Quinn loslachen, und sich mit der Hand an einer Hauswand auffangen. Eine vorbeikommende Frau mittleren Alters sah ihn schockiert an, während ein Strassenmusiker, der an derselben Wand lehnend Pause machte grundlos miteinstimmte. Natürlich fand Quinn seinen eigenen Witz nicht mal ansatzweise gut, höchstens auf Ignaz' Niveau, aber der Gedanke kam ihm auf ein mal wie ein geistiger Abschluss vor. Natürlich hatte er mittlerweile damit aufgehört medizinsiche Bücher zu lesen, und natürlich wusste er mittlerweile, dass es sich bei den ominösen Blutwerten, die bei ihm schlecht gewesen waren um Zucker (ein Konzept mit dem er anfangs Mühe hatte: Dass so elementare, alltägliche Dinge wie Salz und Zucker und sogar Eisen durch seine Adern flossen!) und sogenanntes Cholesterol handeln musste, ein Ausdruck, den der alte Ignaz ihm wohl nicht hatte zumuten wollen. Und er wusste auch, dass er seit mehreren Wochen seine Laster aufgegeben, seine Ernährung umgestellt hatte und jeden einzelnen Tag eine Stunde intensive Bewegung bekam – Zeitdauer steigend! Er war somit auf dem richtigen Weg. Und der Gedanke, dass ihm seine Bakterien dankten, stimmte ihn fröhlich und auch ein wenig rührselig. Er und sie waren sozusagen quit, er konnte dieses Kapitel abschliessen. Das Problem war gelöst, er würde nicht frühzeitig sterben und konnte mit seinem Leben machen, was er wollte. Solange er an seinen neuen Ritualen festhielt wurde alles gut. Zum ersten mal seit einer langen, in seiner Erinnerung von nebligen Schleiern durchzogenen Zeit, welche sich nur ab und zu lichteten um Platz zu machen für ein kurzes Aufblitzen von zufriedenem Stolz (die letzte Aufführung – Autor, Autor! Hatten sie am Ende gerufen – Wie lange musste das schon her sein?) und ganz einfacher Freude (die Berührung einer Frau, die ungefilterten, rohen, noch nicht von seiner eigenen Erinnerung verfälschten, jedoch plötzlichen momentanen Eindrücke von einem paar Augen, einem paar Lippen, einem... - wie lange musste das schon her sein?), ebenso wie ein kurzes Aufblitzen niederschmetternder, lähmender Hilflosigkeit und Verwirrung...
    Quinn hatte den Faden verloren. Und mittlerweile klapperte er auch nicht mehr mit den Zähnen. Sein Schweiss war getrocknet und er lief gerade durch irgendeine Gasse zwischen Handwerks- und Hafenviertel. Eingangs der Gasse zu seiner rechten waren drei lebensgrosse, äusserst gut geschnitze Engelsfiguren aus Holz aufgestellt. Auf der anderen pickte ein kleiner Vogel nach noch kleineren Krumen von süssem Gebäck, die im Schnee lagen. Ab und zu zuckte sein kleiner Kopf in Richtung der geflügelten Holzengel, geradezu misstrauisch, wenn man etwas Fantasie an den Tag legte.
    Heh, Angst vor den grossen, hässlichen Vögeln, was?, dachte Quinn, bevor er seine Gedanken wieder ordnete. Also, wo war er stehen geblieben? Ah, genau. Jedenfalls, so hatte er sich zu Beginn sagen wollen: Zum ersten mal seit einer langen, langen Zeit, hatte er das Gefühl, das für ihn unmittelbar im Hier und Jetzt alles gut werden würde.
    Und während er weiter durch die Gasse schritt, die sich bald mit einer anderen kreuzen würde, an einer Ecke, wo unter einem modrigen Balkon eine verstümmelte Puppe hing... traf sein Blick auf den des hüpfenden kleinen Vogels, dessen Augen sich unvermittelt weiteten, bevor er aufgeschreckt hoch in die Lüfte stiess und das Weite suchte... Und er wusste nicht, wie falsch er liegen sollte.

    Die folgenden Tage vergingen wie im Flug. Zeitraffer. Quinn hatte schon immer den Verdacht gehegt einer jener merkwürdigen Seelen zu sein, deren Zeitgefühl unmittelbar mit der eigenen Stimmungslage zusammenhängt, aber das ein Ziel vor Augen so einen Unterschied machen konnte...
    Quinn stand pünkltich zum Krähen des Hahns auf, jedenfalls wollte er das, nein, er wusste es war jetzt Zeit, aber andererseits konnte er sich auch noch ein Weilchen zur Seite legen, aber Punkt 6, nein Moment, oder war es Punkt 5? Ja, der verdammte Punkt 5, doch hier war es warm und draussen eisig, und jetzt krähte das Federvieh wieder drauflos und Scheisse, dann halt eben doch. Und so stieg Quinn jeden Morgen doch noch pünktlich aus dem Bett. Der ganze Prozess spielte sich jeden Morgen etwa gleich ab, und obwohl er rigoros an seinen neuen alltäglichen Ritualen festhielt wurde Quinn bald bewusst, dass es nie leichter wurde unter dem Laken hervorzukriechen und auf die Beine zu kommen. Nein, es wurde nie leichter, aber mit der Zeit lernte er die nervigen inneren Stimmen beiseite zu schieben, so wie man sich einen lästigen Kiesel aus dem Stiefel schüttelt, mit den Schultern zuckt und dann weitergeht, als wäre nichts gewesen. Dann trank er einen grossen Schluck aus dem Wasserkessel (bald begann er dafür einen kleineren Holzkrug auch gleich neben sein Bett zu stellen, da die Alternative mit der Zeit doch wohl irgendwie unhygienisch sein musste) und ging gleich darauf seine Liste durch. Mittlerweile hatte er für jeden Punkt täglich Termine geplant, denen er dann den ganzen Tag hinterherhetzte. Zuerst kamen die morgendlichen Bibliotheksbesuche. Dann sein neuer Lieblingsteil des Tages: Das Erkunden der Schneelandschaft ausserhalb der Stadt im Laufschritt (er wurde langsam richtig gut!). Dann die Suche nach gesunden, frischen Lebensmitteln am Markt und das Zubereiten derjenigen. Diesen Teil musste er gelegentlich natürlich erledigen, bevor er länger als eine Stunde lang rannte. Das gab eben sein Hunger und – viel wichtiger – sein Zeitplan vor. Und dann war da natürlich noch Der Narr von Khorinis: Den grössten Teil des Tages verbrachte er damit, sein neues Stück zu schreiben. Nachdem es das Gedankenspiel mit den Bakterien und das Überwinden anfänglicher Willensschwäche gebraucht hatte, war Quinn nämlich endlich zum Schluss gekommen, das er einen Inspirationstrank gar nicht mehr nötig hatte. Er setzte sich einfach hin und schrieb drauflos, daran feilen konnte er später immernoch, und was die Rechtschreibfehler anging, dafür war ja Sinny da. Ja, das war sein eigentliches Ziel gewesen. Gesünder und damit länger zu Leben, nütze ihm schliesslich am Ende doch nichts, wenn er diese gewonnene Zeit nicht mit irgendeinem wichtigeren Inhalt füllte. Ausserdem war es schliesslich auch auf der Liste: 6. Neues Stück Schreiben. Es war jeden Tag viel Arbeit, klar, aber Quinn fühlte sich von der Herausforderung nur noch weiter angespornt. 10 Stunden am Tag widmete er seiner Mission, all seine Vorsätze zu verinnerlichen und zu erfüllen. Und dabei hatte das neue Kalenderjahr noch gar nicht begonnen. Quinn trank zur Sicherheit noch einen Schluck und dachte grinsend, dass er – wenn es so weitergehen würde – zur Sonnenwende ein komplett neuer Mensch sein würde.

    Ende der ersten Dezemberwoche hatte es wieder zu schneien begonnen. Quinn verliess sein Haus in aller Frühe und machte sich auf den Weg zur Bibliothek. Der Zettel von gestern war verschwunden. Also nicht der, welcher „Sinéad. Mein ergebenster Dank für die ausgesuchten Verse. Nun brauch ich von dir aber immer noch die Memoiren von diesem Lord von R, dessen Namen ich mir nie merken kann.“ lautete, nein, der war von vorgestern. Aber der, der sich „Sinéad. Kennst du eigentlich gute Spannungsnovellen?“ las.
    Denn Quinn stand der Sinn zur Abwechslung mal nach keinem Roman oder der Lyrik, egal wie inspirierend sie sein mochte, sondern nach einer kurzen Form, die ihn einigermassen fesselte, so dass er sie in einem Rutsch verschlingen konnte. Der Sinn stand ihm nach etwas Schnellem, mit Momentum. Harte Schnitte.
    Die Sonne war aufgegangen und versuchte sich ihren Weg durch den mattgrauen Wolkendom über der Stadt zu kämpfen und Quinn verliess gerade den Marktplatz. Er hatte einige dünne, nicht zu sehr durchzogene Schinkenstreifen gekauft. Sein Gemüse und seine Beilagen aber hatte dieses Mal nicht bei Baltram geholt, da dieser in letzter Zeit für seinen Geschmack etwas zu sehr auf deftige Stärke und fettieg Milchprodukte setzte. Im Vorbeigehen nickte er Baltram aber trotzdem freundlich zu. Dieser winkte zurück. Quinn hätte schwören können, das sich in Baltrams anderer Hand immer noch die grosse Kartoffel befand. Vor der Kaserne lieferten sich einige Kinder eine erbitterte Schneeballschlacht mit ebenso grossen, ebenso unförmigen Geschossen. Quinn war schon unterwegs zum letzten Termin beim Schneider (er hatte die anderen meistens wieder mittendrin unterbrochen um dem unwiderstehlichen Drang zu gehrochen, loszurennen), doch vorher entschloss er sich, nach einer kurzen inneren Schlacht, wohlgemerkt, ein mal in grossem Bogen durch die Stadt zu spazieren. Er bewegte sich also im Kreis. Vielleicht würde er irgendetwas Aussergewöhnliches sehen oder ein paar Wortfetzen aufschnappen, die er in sein Stück einfliessen lassen konnte. Als das nicht eintrat, setzte sich Quinn in eine Gemeinschaftskutsche, die gerade vorbeifuhr. Die waren neu. Oder besser gesagt gab es sie seit zwei Wintern. Er fand das trotz seinem ständig wachsenden Drang sich zu bewegen doch recht praktisch, zumindest solange es beständig Neuschnee auf den Strassen gab. Ausserdem mochte er das Ambiente in der Viererkutsche, wo mit ihm eingerechnet sechs Leute zusammengepfercht sassen. Einer hielt eine Torte zärtlich wie ein Kind im Arm und erzählte Quinn spontan, wie sehr er sich darüber freuen würde, die nachher mit seinen Genossen zu teilen – Er deutete auf zwei Männer in staubiger Arbeitskleidung. Die Zwei Hafenarbeiter erzählten sich auf Quinn's Seite schmutzige Witze, während ihm gegenüber neben dem liebevollen Kuchenhüter eine Mutter ihre Tochter ein ganzes Stück liebloser auf dem Schoss hielt, ihr die Hände auf die Ohren presste und sie nur kurz wegnahm um ihr in äusserst genervtem Tonfall zu erklären, was es mit der ganzen Dekoration von Elfen mit Weihnachtsmützen und Engelsfiguren auf sich hatte. Es war kein Wunder, dass die Kleine ein „Das sind Völker die näher bei Innos wohnen, im Himmel, weisst du.“ nicht zufriedenstellte und Anlass zu einem unschuldigen „Und warum beten wir die dann an, und nicht gleich Innos selbst, Ma?“ gab.
    „Na vielleicht weil die nichts von unseren Problemen kennen! Engel sind strahlende Wesen, die sich nicht mit den Fragen und Sorgen frecher kleiner Mädchen rumschlagen müssen!“
    Ma gab der Kleinen einen Klaps auf den Hinterkopf und Quinn war geneigt, Ma's Kopf mit einem kleinen Klaps in die Torte des Typen neben ihr zu befördern. Doch er wollte ihm und den beiden Hafenarbeitern nicht die Freude vermasseln – Dafür waren ihre Witze einfach zu gut. Nachdem er sein eigenes Essen hinuntergeschlungen hatte, ging Quinn rennen. Ausserhalb der Stadt schneite es dicke Flocken vom Himmel, die Quinn die Sicht deutlich verschlechterten. Tatsächlich war die Stadt bald gänzlich hinter ihn im Gestöber verschwunden, und Lobarts Felder schienen weisser und weiter als je zuvor. Bis auf das Flimmern des Schneefalls. Dieser gab der Leere etwas geradezu vibrierendes. Quinn gefiel die beruhigende Stille der Felder an einem Morgen mit kaltem, aber klarem Himmel besser, doch es hielt ihn genau so wenig davon ab, seine Route zu laufen wie die schlechte Sicht. Mittlerweile könnte er seine Runde mit verbundenen Augen laufen. Er drehte erst um, als er den Leuchtturm schon fast erreicht hatte. Morgen, ja, morgen, dann komm ich dort an!, sagte er sich und wäre am liebsten gleich das letzte Stück den Hügel hochgerannt, wenn er nicht wirklich mit den Kräften am Ende gewesen wäre. Na ja, vielleicht war es sowieso besser sich erst morgen um eine Erweiterung der Route Gedanken machen zu müssen, schliesslich hatte er an jenem Tag noch genug zu tun. Nachmittags liess er sich die restlichen Masse beim Schneider nehmen. Dann besuchte er seine Theatertruppe, die lange nichts mehr von ihm gehört oder gesehen hatte. Sie gaben sich alle die Hände und verbrachten sicher Stunden damit, sich Geschichten zu erzählen. Quinn mochte ihre Gesellschaft sehr, aber sein innerer Tumult angesichts seiner ganzen Termine wurde unerträglich. Als die ersten zu rauchen anfingen und jemand die erste Flasche Glühwein hereinbrachte, gab es ihm fast den Rest. Doch er hielt stand. Schliesslich stimmte er eine flammende Rede an um seiner Truppe klarzumachen, das er wahrlich zurückgekehrt sei und sie in Bälde mit den Proben für ein neues Stück beginnen konnten. Der Autor seiner Motivationslektüre „Magie des reinen Willens“ wäre stolz auf ihn gewesen. Quinn mochte es, unter Leuten zu sein, und klar, die ganzen Komplimente, die er bekam schmeichelten ihm. Anscheinend hatte er es sich nicht nur eingebildet, dünner und gesünder zu wirken. Doch wenn seine ganze Motivation darauf basiert hätte, alte Freunde zu überraschen und den ein oder anderen interessierten Blick des schönen Geschlechts geschenkt zu bekommen, hätte er bestimmt nicht so lange durchgehalten, sich jeden morgen aus dem Bett zu quälen und Mittags durch den Schnee zu rennen. Er verabschiedete sich bald und schrieb bis spät in die Nacht an seinem Stück. Der Narr von Khorinis.

    Die Kalendertage kamen und zogen ins verschneite Land von dannen, und Quinn's Determination nahm Züge an, die ihm selbst unheimlich wurden. Das Krähen des Hahns kündete ihm immer pünktlich den Beginn eines produktiven Tages an.
    Wenn er aufstand, erinnerte er sich meistens daran davon geträumt zu haben nackt zu fliegen.
    Seine neuen Kleider hatte er vor einiger Zeit vom Schneider abgeholt. Bis auf wichtige Besprechungen trug er unter seiner Jacke immer noch die alten Stoffklamotten, doch den alten graubraunen Wolfshaarmantel nahm er nur noch aus dem Schrank um Rennen zu gehen. Stattdessen trug er nun massgeschneidertes Leder. Keine der gehärteten Rüstungen , welche die Jäger trugen. Aber was seine neuen Kleider an Schutz einbüssten machten sie mit kuscheliger Wärme und gutem alten Stil wett. Sie passten wie angegossen und die Jacke war in einem Muster aus schwarz und rotbraun gehalten. Sehr ungewöhnlich, sicher, aber schliesslich leitete er eine Schauspielgilde und war sich Kostüme in ausgefallenen Färbungen gewöhnt.
    Ein mal hatte er geträumt über Lobarts Felder zu fliegen, so weiss und leer wie eine unbeschriebene Buchseite.
    Die Bibliotheksbesuche machte er noch immer, doch er verkürzte sie zugunsten des Rennens. Ausserdem hatte Sinny noch immer nicht die Memoiren von Lord R gefunden. Und Quinn wollte sich immer noch nicht daran erinnern, wofür das R stand. Dafür hatte sie ihm einige kurze, aber teuflisch spannende Novellen besorgt. Darunter richtige Feuerwerke an schweisstreibender, düsterer Symbolik, die er mit Genuss verschlang.
    Im Traum hatte er seinen Schatten am Boden gesehen, mit seinen gespreizten schwarzen Federschwingen.
    „Der Narr von Khorinis“ schrieb sich praktisch von selbst. Meistens nahm er seine buschige schwarze Schreibfeder bereits morgens in die Bibliothek mit, um ab und zu etwas aufzuschreiben, wenn ihm eine spontane Idee kam.
    Träume waren schon eine sehr seltsame Form der Poesie.
    Letztens hatte er Ignaz' in einer der Gassen nahe dessen Haus getroffen. Er hatte Ignaz' geradezu gezwungen, auf der Stelle das Tuch hervorzunehmen und ihn mit einer Nadel zu pieksen. Darüber hinaus hatter er ihn mit seinem Fachwissen üebrrascht und verlangt, dass Ignaz dieses mal lediglich seine Zucker- und Cholesterolwerte unter die Lupe nahm und nichts anderes. Quinn wusste zwar, das er bereits „die Kurve gekriegt“ hatte, wie es Ignaz dereinst ausgedrückt hatte, und das nur in einem knappen Monat. Doch Ignaz wusste das noch nicht. Quinn hatte nicht vor dessen Haus nochmal zu betreten, er konnte warten. Das nächste mal, als er Ignaz zufällig über den Weg lief, musterte dieser ihn von Kopf bis Fuss, verschränkte die Arme und sagte: „Meine Güte, Junge. Du hast dir das ja wirklich ganz schön zu Herzen genommen, heh? Ich hab mir wie du wolltest nur das Cholesterol angeschaut, und muss eingestehen, dass deine Werte fast so gut wie meine sind.“
    Damit gab sich Quinn zufrieden, denn etwas in Ignaz' leicht säuerlichem Unterton verriet ihm, dass er mit „fast so gut“ irgendetwas zwischen „genau so gut“ und „deutlich besser“ meinte.
    Was Quinn an diesem Tag aber wirklich Freude bereitete war nicht dieser kleine Triumph, sondern sein unerwartet verfrühtes, aber ganz und gar nicht unwillkommenes Treffen mit Basil.
    „Quinn? Bist du das? Quinn? Oder wie du momentan sonst genannt werden willst...“
    Basil betrachtete interessiert Quinns neue Kleidung.
    „Du meinst, ob ich unter die Adligen gegangen bin? Lord Quinius vielleicht?“
    „Jep, sowas in der Art.“, gab Basil zu verstehen.
    Die beiden sehr alten Freuden lachten und gaben sich feierlich die Hand.
    „Nein, ich wohne zwar noch im Oberen Viertel, bin aber nicht abgehoben.“
    „Ach, ab und zu abzuheben könnte dir nur gut tun.“
    „Ich meine ich bin nicht übergelaufen zu der „besseren Gesellschaft“. Aber erzähl, wann zur Hölle bist du hier angekommen?“
    „Gerade erst gelandet.“
    Ach so, mit dem Schiff also. Sie begannen ein Stück miteinander zu gehen und sich gegenseitig Neuigkeiten zu erzählen. Basil erzählte von seinen Reisen auf dem Festland. Quinn erzählte von seinen Reisen über Lobarts Felder. Basil hörte eine Weile interessiert zu, dann konnte er nicht mehr an sich halten und prustete los.
    „Halt, hör bitte einen Moment auf, bitte stop. Lass mich das verarbeiten... Du trinkst den ganzen Tag nur Wasser, isst fettarmes Fleisch und Gemüse und rennst stundenlang mir-nichts-dir-nichts durch die Gegend. Rennst, Quinn, rennst. Wieso sollte jemand rennen wollen? Vor allem im Winter. Und du willst mir sagen, dass du nicht übergelaufen bist?“
    Bei einem anderen hätte das Quinn vielleicht beleidigt. Doch er und Baisl kannte sich bereits... was-weiss-ich-wie-lang und waren sich gewöhnt vom jeweils anderen auch mal Mist serviert zu bekommen. Basil zügelte sein Lachen und fuhr fort:
    „Und sonst, was gib'ts so? Du wirst ja hoffentlich nicht den ganzen Tag dieser... dieser Liste mit Vorsätzen nachrennen.“
    „Doch, eigentlich schon. Aber ich will mit dir über was anderes reden, hör zu-...“
    „Aber dir ist bewusst, dass du die Liste geschrieben hast und nicht sie dich?“
    „Scheisse, vergiss doch mal die Liste.“
    „Genau! Darauf will ich ja hinaus!“
    „Nein, ich meine: Ich schreibe gerade auch an was anderem. Ich hab einfach mal drauflosgeschrieben um zu sehen wie es sich entwickelt.“
    „Oh. Ich meine: Glückwunsch! Gut für dich! Es ist nur, ich kann's immer noch nicht recht glauben. Sicher, man muss es mit dem Kraut nicht übertreiben, aber du und Wasser. Du. Ich meine mich zu erinnern, dass du schon immer einen gesunden Durst hattest.“
    Nicht so gesund, wie erhofft. dachte Quinn. Er wartete nur darauf, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, denn ganz ehrlich begann sein wahrscheinlich bester Freund gerade damit ihm auf die Nerven zu gehen. Und er legte es noch darauf an:
    „Was würdest du tun, wenn ich dir hier und jetzt einen spendieren würde?“
    „Dann würde ich schlicht sagen: Na und, ich halte mich nun strikt an meine Vorsätze. Die erste Ausnahme ist die erste Stufe in den Keller.“
    Der Abstand zwischen Basils Mundwinkeln vergrösserte sich wieder.
    „Ist das aus einem Buch mit Motivatiosnversen?“
    Quinn fühlte sich ertappt.
    „Nein.“
    Basil zuckte mit den Schultern und sagte „Wie auch immer. Entsage den weltlichen Versuchungen, wenn du willst. Ich verurteile nicht.“
    Danke, danke, danke!, dachte Quinn.
    „Also, erzähl jetzt! Um was geht es in deinem neuen Werk?“
    Und so begann Quinn Basil vom Narr von Khorinis zu erzählen.
    Denn auf seine Meinung hatte er in solchen Sachen immer schon vertraut. Jedes Jahr zu Weihnachten trafen er und Basil sich in der Taverne zur Toten Harpye und tauschten Geschichten aus. Und jedes Mal kam Quinn darüber ins Staunen, was für ein guter Geschichtenerzähler Basil war. Er würde bestimmt nie einen Inspirationstrank brauchen, seine Reisen gaben Stoff her um damit ganze Bände zu füllen. Und doch war Basil weder Dichter, noch Stückschreiber, noch auf sonstige Weise ein Schriftsteller. Was für ihre Freundschaft wahrscheinlich in Tat und Wahrheit nur gut war. Denn das Einzige, was Quinn letzten Endes von purem Neid abhielt, war Basils ständige Beteuerung, dass er einfach nicht fürs Schreiben geschaffen war. Er war nie in der Lage gewesen, so beteuerte er, seine ganzen Erlebnisse niederzuschreiben oder auch nur in eine sinnvolle Form zu pressen. Desöfteren hatte er steif und fest behauptet Quinn hätte zwar „eine Menge Macken, aber du bist der Einzige von uns allen, der diese Art von Schaffenslust und einen Draht zu den Menschen hat! Das ist doch aussergewöhnlich!“, wobei er das dann meistens laut ausrief und sich eine Menge merkwürdige Blicke der Tavernengäste zu zog, da sie beide auch schon ziemlich betrunken waren.
    Auch dieses Jahr würde Quinn wie jedes Jahr auf jeden Fall zu ihrem Treffen erscheinen, auch er dabei nichts trinken würde, und das verfrühte Aufeinanderstossen in der Stadt dem Ganzen ein Minimum an Wiedersehensfreude nahm. Doch Basil stellte trotz seines kurzen Aufenthalts in der Stadt bereits wieder unter Beweis, was für eine Informationsquelle er war:
    „Hast du eigentlich von der Spielmannsverantstalung gehört, die morgen Abend auf dem Marktplatz läuft? Nein, hm? Ja, stimmt, das ist schliesslich nicht die Art von Theateraufführung die du und deine Truppe euch gewöhnt seid. Es handelt sich mehr um ein paar freiwillige Laiendarsteller, die sich wie lebende Weihnachtsmythen anziehen und Geschichten und Sagen vortragen. Sehr volkstümlich. Nicht wirklich mein Ding, irgendwie zu... ja, volkstümlich, wie gesagt. Aber wer weiss, vielleicht kannst du dir die eine oder andere Idee angeln. Und wenn nicht, angle dir eben ein Stück Lebkuchen. Hm, ich meine natürlich Sesambrot, entschuldige.“
    Basil ermutigte Quinn darauf, weiter an seinem Stück zu schreiben und bald darauf, als es bereits begann einzudunkeln, verabschiedeten sie sich auch schon.
    Basil drehte sich aber nochmals um und blickte Quinn eindringlich in die Augen:
    „Nochmal wegen dieser Liste... Wenn du den ganzen Tag nichts anderes machst und dich nicht ausruhst-...“
    „Brauch ich nicht. Mann, wir sollten mal ein Wettrennen machen!“
    Quinn hielt inne als er sah, dass Basil ihn mit einer Mine musterte, die „Wir sind doch keine Kinder mehr“ ausdrückte.
    „Sieh mich nicht so an, ich mein ja nur. Du solltest sehen wie gut in Form ich bin. Ich denke ich fang beizeiten wirklich damit an Schwertkampfunterricht zu nehmen oder so.“
    Basil rang sich einGgrinsen ab.
    „Eigentlich wollte ich dir nur raten, dich ab und zu auszuruhen. Entfaltungsmöglichkeiten, wenn der Autor es so will. Wir alle brauchen das mal. Denn was auch immer du da alles gelesen hast, es ist nicht gesund für dich, keine Zeit mehr zur Entfaltung zu haben. Was würden die Wesen im Innern sagen?“
    Quinn war überrascht. Er hatte Basil doch gar nichts von der Anekdote mit den Bakterien erzählt – Mit recht wie er fand, da sie ihm mittlerweile doch recht banal und fast schon peinlich vorkam.
    Doch wie das eben so war, hatte Basil anscheinend einfach so einen guten Draht zu ihm, dass er auch das irgendwie herausbekommen hatte, während Quinn so über seine medizinischen Bücher daherschgeschwafelt hatte.
    „Meinen Bakterien geht's blendend, wenn du das meinst. Die Scheisserchen lassen mich nie krank werden. Ich glaube nicht, dass die wirklich mehr Ruhe brauchen. Ich meine gut, ich renne ein bisschen herum, aber ich bin letzten Endes doch ein Stadtmensch und jemand, der sich von Berufs wegen den ganzen Tag über Pergamente kauert.“
    Basil seufzte.
    „Wie soll ich dir das sagen. Konstanter Stress ist für jedermann schlecht. Für dich besonders. Fordere es einfach nicht heraus, dass die da unten, deine... äh... deine Bakterien durch das ganze durchdrehen und dir die Hölle heiss machen.“
    Quinn zuckte mit den Schultern. Na ja, er meinet es ja gut mit ihm.
    „Ich werd' sie bei Laune halten.“
    Basil schaute ihn noch einen Moment lang an, sagte dann aber nichts mehr. Sie wussten genau, wann und wo sie sich wiedersehen würden. Falls sie sich wiedersehen würden.
    Basil schüttelte ihm die Hand, zwinkerte ihm zu und war in Sekunden hinter der nächsten Ecke verschwunden, in Luft aufgelöst.

    Das Wiedersehen mit Basil blieb Quinn in Gedanken haften, bis zur nächsten Mittagsstunde. Er hatte gar nicht daran gedacht zu versuchen sich an seinen letzten Traum zu erinnern, und während er sich schon am Vormittag, gleich nach dem Krähen des Hahns an seinen Schreibtisch gehockt und angestachelt von der Vorstellung, seinem Freund an ihrem alljährlichen Weihnachtstreffen ein fertiges Werk präsentieren zu können, drauflos schrieb, hatte er ganz und gar die Zeit vergessen. Es kam also, dass er so spät wie noch nie in seiner alten Kleidung am Osttor stand und zum Übergehen in den Laufschritt ansetzte. Wenige Minuten vor der Mittagsstunde, um genau zu sein. Es war ein äusserst nebliger Tag. Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber die ganze Zeit während er rhytmisch einen Fuss nach dem anderen in die Luft hob, wieder ansetzte, hob, ansetzte, hob, mal nach Halt suchend auf Glatteis ansetzte, mal Kniehohe Schneemassen mit seinem herunterfallenden Fuss verdrängte, bevor er mit dem auf dumpfe Art quietschenden Geräusch zerdückten Schnees festen Boden fand... Die ganze Zeit über hatte er das Gefühl, das er schneller den je lief und mehr Puste denn je übrig hatte. Er hörte von Weitem die Glocken schlagen, aber er bekam kein Seitenstechen und als er endlich mit seiner Spirale um die Höfe fertig war und die sehnsüchtig erwarteten Felder überquerte, war die weite, weisse Leere vollkommen und zu einer abstrakten zwischenwelt geworden: Als er den ersten Fuss auf das Plateau setzte, das von so einem festen, eisigen Schnee überzogen war, dass er nicht ein mal seine eigenen Fussabdrücke sehen konnte, hatte der Nebel einen perfekten Punkt erreicht, an dem er scheinbar genau die Dichte und die Farbe der flachen Schneelandschaft am Boden annahm und die Linie des Horizonts einfach... verschwand.
    Quinn konnte tatsächlich nicht mehr genau sagen, wo der Grund aufhörte und der Himmel begann. Die ganze Welt war weiss geworden. Und Quinn gleitete, schwebte unter Anstrengung, aber friedlich hindurch. Es war an diesem Punkt, an dem alles so schön hätte sein können, hätte sein müssen, als der Fleck auftauchte. Es war ein kleiner Punkt in weiter Ferne, dunkel, sehr dunkel, und damit der höchste Kontrast zu... na ja, zu allem, das sich momentan um Quinn herum befand. Der kleine Fleck in der Ferne, Schwarz auf Weiss, begann Quinn mit einem Mal unruhig zu machen. So weit er es beurteilen konnte, musste es ein statisches Objekt in weiter Ferne sein, da es sich nicht zu Bewegen schien. Aber vor allem der Umstand, dass der Horizont fehlte, machte Quinn Mühe einzuordnen wie nahe und wo bei Beliar genau das Ding war. Am Boden? Dann musste es entweder sehr nahe sein, oder weit entfernt und riesig, die Berge überragend. Oder am Himmel. Diese Option gefiel Quinn noch weniger, denn dann konnte es unmöglich statisch sein. Denn wie konnte ein Objekt am Himmel hängen? Aber was doch wirklich am merkwürdigsten war – neben der Tatsache, dass der kleine schwarze Fleck ihn überhaupt so mulmig schlucken liess – war die Tatsache, dass der Fleck nicht vom Nebel betroffen war. Er war so schwarz wie schwarz sein konnte. Quinn wandte den Blick ab und rannte weiter. Er wusste nicht recht wohin. Ein mal wäre er fast in den Wald hineingerannt, doch er erkannte früh genug die Umrisse von Bäumen im Nebel und drehte sich um. Und nun rannte er wirklich schneller als je zuvor, denn er konnte schwören, dass der Punkt in der Ferne näher gekommen war. Schliesslich waren die Stadtmauern so nah, dass er gar keinen Horizont mehr brauchte um sich orientieren zu können. Er spielte mit dem Gedanken, gleich am Osttor halt zu machen, aber... Ja, wieso denn eigentlich? Wegen einem schwarzen Punkt in der Ferne? Der würde ihm, einem 30-jährigen Mann doch keine Angst einjagen, geschweige denn seinen Willen brechen, Tag für Tag dafür zu sorgen, dass Punkt 4 eingehalten wird. Nein, heute würde er es bis zum Leuchtturm schaffen! Dort Vorne den Weg hinauf und dann kleinere Schritte, dafür beständig! Und immer atmen, das war das wichtigste. Atmen und dranbleiben, und verdammt noch mal nicht abrutschen – denn der schwarze Fleck war hinter ihm, er hatte ihm den Rücken zugekehrt – Nein, Unsinn, er wollte sich einfach nicht verletzen. Die letzten paar Meter, es war bestimmt eine Viertelstunde vergangen, seit er am Osttor vorbeigekommen war, aber nur noch ein paar Meter, bei Innos' strahlender Fussohle! Und er machte sie, die paar Meter über die Anhöhe hinweg und er stand auf dem kleinen Plateau, auf dem der Leuchtturm mit ihm stand. Die Aussicht war ein wenig antiklimaktisch, da der Nebel immernoch jegliche Sicht auf Berge, geschweige denn aufs Meer unmöglich machte. Doch er wollte trotzdem bereits zu einem kleinen Freudentanz ansetzen, als ihm plötzlich auffiel, das noch etwas anders war. Das etwas nicht stimmte. Die ganze Zeit über hatte er keine Vögel gesehen oder gehört. Keinen einzigen. Er musste sich zwar eingestehen, dass er das Bücherregal mit der Vogel-Sachliteratur, wenn es denn ein solches gäbe, in der Bibliothek übersprungen hatte, aber dennoch war er sich sicher gewesen, dass es auch im Winter und vor allem hier oben von Vögeln am Himmel wimmeln sollte. Doch die Stille war absolut und ihn liess dieses ekelhafte, abnormale Gefühl nicht los, irgendetwas war ganz, ganz falsch. Quinn wurde heiss, obwohl es klirrend kalt war, und er litt, als er sich trotz einem spontanen Schweissausbruch wieder in Bewegung setzte, da er nicht mehr hier draussen vor der Stadt sein wollte. Er vergass den weissen, kaum sichtbaren Horizont nach dem schwarzen Punkt abzusuchen, und als er ihm nach einem minutenlangem Sprint hinunter zum Stadttor – wahrscheinlich eine persönliche Bestzeit – wieder auffiel und er sich gebückt und keuchend nach ihm umwand, war dieser verschwunden. Quinn wurde schlecht und er befürchtete, sich gleich vor den Stadttorwachen übergeben zu müssen. Doch er konnte es verhindern, er bekam noch mal die Kurve, heh, und lief in normalem Gehtempo zurück in die Stadt. Was immer das soeben auch gewesen sein sollte, eines war ihm klar: Morgen würde er einen gehörigen Muskelkater haben.

    Quinn brauchte einen grossen Teil des Nachmittages um sich zu erholen. Von der körperlichen Anstrengung so wie vom Schock. Er konnte sich einfach keinen reim darauf machen, was da mit ihm los gewesen war. „Das war eine absolut ausgeprägte Panikattacke“, sagte er sich in Gedanken. Aber zu relativieren, was es war, machte ihn auch nicht unbedingt schlauer. Er versuchte ein wenig zu schreiben, aber er brachte nichts richtiges zustande. Nach dem Abendessen probierte er es noch mal, doch die Musen flüsterten nicht mehr in sein Ohr, sie starrten ihn unverwandt und auch etwas vorwurfsvoll an, und er hatte keinen Schimmer wieso. Er verstand, dass es hoffnungslos war, doch der neue Quinn wäre nicht der neue Quinn, wenn er sich einfach schlafen gelegt hätte und nicht alles tun würde um freie Zeit in genutzte Zeit umzuwandeln. Und das tat er. Basil sagte, er solle sich das Spielmannsfest am Markt ansehen, also ging Quinn hin.
    Es war wirklich nicht das, was er unter Theater verstand. Was aber nicht hiess, das es ihm nicht gefallen würde. Es gab allerhand Weihnachtswesen, die unter grossem Beifall in der Menge auftauchten und Quinn nahm an, das ein Grossteil der Faszination davon ausging, zu erkennen, wer von den stadtweit bekannten Persönlichkeiten sich hinter den Kostümen verbarg. Quinn selbst erkannte zweifelsohne den Lehrling des Schmieds Harad, Brian, der als der Blaue Khoriner gekommen war, eine strikt lokal angesiedelte Sagengestalt von der er zugegebenermassen erst zur letzten Sonnenwendezeit gehört hatte, obwohl er doch schon ein paar Jahre länger in Khorinis lebte.
    Ebenfalls anwesend, jedoch mit deutlich weniger Wohlwollen empfangen, war sein auf dem Festland viel weiter verbreiteter Gegenpart, Sankt Nikho, der heiliggesprochene Feuermagier aus alten Zeiten, der bärtige Mann in feuerroten Roben. Dieser wurde von einem weiteren Lehrling aus dem Handwerksviertel verkörpert, Meister Throben's neuster Mann, den Quinn jedoch nicht persönlich kannte. Das Publikum ergab sich erst wieder in begeistertes Klatschen und brüllendes Gelächter, als er und Brian damit begannen, sich finster anzustarren und einander wütend mit eingepackten Geschenken zu bewerfen. Es gab allerhand kleinwüchsige Elfen, bis auf einen einzigen tatsächlichen Kleinwüchsigen von Kindern gespielt, und überraschend wenige Engel: Anscheinend waren diese strahlenden hohen Geschöpfe Innos' den meisten Gläubigen doch zu Ehrfurcht gebietend oder sowas in der Art. Denn die Engel, mit ihrem menschenähnlichen Äusseren (bis auf die grossen gefiederten Flügel) waren vor allem durch Statuen vertreten, manche aus Holz (wie jene, die Quinn schon gesehen hatte), die beeindruckendsten aber grösser als ein ausgewachsener Mann und aus hellem Stein. Dann gab es natürlich noch eine Auswahl weiterer Heiliger aus dem Bekanntenkreis des guten alten Nikho und eine Reihe weniger bekannter Hausgeister und Tiererscheinungen, die meist von einzelnen Familien mit dem entsprechenden Siegel für sich beansprucht wurden. Es wurden auch einige verjagt, die darauf bestanden hatten als Dämonen, die ja auch nur die Heiligenfiguren Beliars waren aufzutauchen, oder als grosse Kürbisse, wobei das Dämonenfest und das Erntefest doch beide schon vorbei waren. Ein alter Geschichtenerzähler, der vor einem bestimmt zu Unterhaltungszwecken überdimensionierten Folianten sass, unterbrach seine Fabel, die er ein paar hellhörigen Kindern vorgelesen hatte, nur um Quinn zu verstehen zu geben, wie sehr er diese Leute hasste, welche die Feiertage nicht respektieren konnten und zu blöd seien sie auseinanderzuhalten.
    Quinn hob beschwichtigend die Hände und meinte „Ach, für die ist wahrscheinlich ein Festtag wie der andere“.
    Der Alte verzog sein Gesicht. „Das sollte es aber nicht! Geweihte Tage sind nicht umsonst geweiht..."
    Er grummelte und räusperte sich und wandte sich wieder an die Kinder, denn anscheinend hatte Quinn seine Gunst verloren.
    „Nicht umsonst über Generationen überliefert! Ihr alle, ja ihr da vorne, ihr erlebt während der kalten Jahreszeit Dinge, die ihr sonst nicht erleben könnt. Kräfte, die zur Sonnenwende erwachen! Also merkt euch, schreibt es euch hinter die Ohren: nicht alle Festtage sind gleich. Hört mir ja nicht auf den da, mit dem ist's hoffnungslos.“
    Er deutete auf Quinn. Der sich nun ebenfalls an die Kinder wandte und sein Kinn gegen seinen Hals presste, und ihn damit in etwa so dick machte wie der des Grossväterchens mit dem Buch, der die Meute Minderjähriger aus seiner Sicht grundlos gegen ihn aufhetzte. Das schien nicht so gut geklappt zu haben, denn als sie Quinns Aktion sahen, brachen sie in schallendes Gelächter aus.
    Quinn verzog sich darauf wieder in die Menge, während er den Alten noch keifen hörte „Ach, soll ihn doch der Kuckuck holen! Dann wird er's schon seh'n.“
    Der Kuckuck? Diesen Fluch hatte er noch nie gehört, was für eine Drohung sollte das denn bitteschön sein. Quinn verbrachte darauf einige Zeit an Ständen, wo er sich mit Leuten unterhielt, die er kannte und gegen sich kämpfen musste die Finger vom Glühwein zu lassen. Dann lauschte er einigen der Sagen, welche die Verkleideten, erhöht auf Holzpodien zum Besten gaben. Er hörte aber nur mit halbem Ohr zu, vielmehr interessierte er sich schlicht für das seltsame Bild, das sich ihm darbot: Die Anwesenheit all dieser wandelnden Mythengestalten mitten unter den Bürgern der Stadt. Er sah mit eigenen Augen, wie eine in geisterhaftes Weiss gehüllte Frau mit einer übergrossen Laterne um den Hals (eine der zahlreichen Sonnenwende-Priesterinnen, welche den Weg durch die dunkle, kalte Nacht wiesen) zusammen mit einem von Sankt Nikho's heiligen Helfern Glühwein nippte und Händchen hielt. Und er musste sich nur ein mal umdrehen um die drei Weisenkönige genannten ehemaligen Monarchen von Myrtana, Varant und Nordmar (die ersten, die ein Bündniss schlossen und der Legende nach zusammen auf Reisen durch die Wüste gingen) mit menschenförmigen Rentieren (einer seltenen geisterhaften Erscheinung im hohen Norden) zusammen an einem Tisch zu sehen, wie sie Armdrücken machten. Ihm kam eine Idee für seine namensgebende Figur im „Narr von Khorinis“. Sicher, den dicken Mann mit weissem Bart in roten Roben gab es schon, den kannte jeder, aber wäre es nicht reizvoll den alten Narren in seinem Stück zu einer modernen Sagengestalt zu machen? Die unter den ganzen Menschen lebte, ohne das es jemand vermutete? Für einen Moment sah er ein Bild vor seinem geistigen Auge, dann war es weg. Er wusste auch was es vertieben hatte: Den wohl freizügigsten Engel, den er je gesehen hatte. Sie hatte aufgeklebte bauschige Flügel, lange Samtene Handschuhe und feste Winterstiefel, sonst aber bis auf ein dünnes Kleid nichts wirklich wärmespendendes an. Wie hielt sie das aus? Wobei er selbst natürlich auch nichts sagen konnte, schliesslich war er es gewöhnt in der bittersten Kälte zu schwitzen wie eine angezündete Kerze.
    Er wollte sie ansprechen, doch ein anderer nahm sie bereits bei der Hand und zerrte sie aus seinem Blickfeld. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen und sofort waren sie beide in der Menschenmenge verschwunden. Ach Mist, dachte er sich. Er blieb aber nicht zu lange verstimmt, da das nicht so leicht war, wenn einem irgendjemand von hinten unvermutet eine rote Weihnachtsmützte aufsetzte. Ausserdem kam ihm auch ganz unvermutet in den Sinn, das er Sinny so ein knappes Engelskostüm zu Weihnachten schenken sollte, und wie sie darin wohl aussehen würde. Das war ein selbstloser Gedanke, verstand sich doch von selbst. Wo er bei selbstlos war... Er hatte Punkt 13 auf seiner Liste noch nicht abgehakt. Daran musste er in den nächsten Tagen arbeiten. Dieser Gedanke schien ihm ein treffender Abschluss für diesen Abend, dieses kleine weitere Kapitel des grossen Buchs des Quinn. Er trank noch einen heissen Apfelsaft und bekam doch tatsächlich noch einen von Baltrams Zimtstängeln in die Finger, den er sich in den Mundwinkel schob. Punkt 3, die grosse Krauttabak-Abstinenz war anscheinend doch nicht ganz ohne Spuren an ihm vorbeigegangen. Er entfernte sich langsam von der grösseren Menschenmenge und stellte mit Freuden fest, dass er im Schein der Strassenlaternen sanft fallende Schneeflocken erkannte. Mit jeder Abbiegung durch eine weitere Gasse wurde es ruhiger um ihn herum, bis es nur noch seine Schritte, das Kauen auf dem Zimtstängel und den leisen Schneefall gab. Er war fast schon an der Treppe zum oberen Viertel angelangt, als er an einer überdachten Ecke des Handwerksviertel einen anscheinend Obdachlosen sitzen sah, etwa in Quinn's Alter, jedoch seineszeichens vom Leben deutlich stärker gezeichnet als man es Quinn ansehen würde. „He, kommst du vom Markt?“ rief er ihm zu.
    Quinn trat näher.
    „Was vom guten alten Glühwein dabei?“
    Da erkannte Quinn den zerlumpten Mann als einer der Obdachlosen, dem er damals einen Teil seiner Flaschen geschenkt hatte. Dieser war damals ganz besonders überrascht von der Geste gewesen und schien ihn auch jetzt noch zu erkennen.
    „Oh, das bist du mein Herr! Ende November, mit dem ganzen Fusel! Das war so verdammt anständig von dir, das will ich gesagt haben!“
    Quinn freute sich ebenfalls irgendwie ein bekanntes Gesicht zu sehen. Wiedersehensfreude war etwas, gegen das er nie immun wurde.
    „Ja, ich bin's. Guten Abend. Was äh... Wie geht's denn so?“
    Der Obdachlose zuckte mit den Schultern.
    „Och, mir geht's ganz gut. Ich glaube dieser Handwerksmeister, Thorben, hat sich langsam daran gewöhnt dass ich an seinem Stand rumhänge.“ Er deutete auf die Überdachung, unter der er sitze. Anscheinend war er wenigstens nicht buchstäblich obdachlos.
    „Um zu übernachten versteht sich. Hab meine Decken und meine Stifte.“
    „Stifte?“
    Der sitzende Mann zeigte wortlos auf einige abgebrochene Kohlestängel, die vor ihm auf einer Decke lagen.
    „Du zeichnest?“
    „Jawoll. An die Wand dort drüben. Das allerdings hat Thorben nicht so gerne. Sagt, er würde hier tagsüber Spielwaren und so'n Kram ausstellen, und meine Kritzeleien würden die Leute verschrecken. Aber erstens sollte er mir dann einfach was anderes zum Zeichnen bringen, und zweitens mach ich auch nichts anderes als die Pfeifen am Marktplatz.“
    Er zeigte Quinn seine russigen Kohlezeichnungen an einer nahegelegenen Wand. Und er hatte recht. Er machte tatsächlich nichts anderes als die Pfeifen am Marktplatz: Er zeichnete den Blauen Khoriner, den Roten Nikho, Elfen, die drei Weisenkönige... Einiges davon sah richtig gut aus. Oder zumindest so gut, dass Quinn all die Figuren ohne Farbe erkennen konnte.
    „Wo sind denn die Engel?“, fragte er interessiert.
    „Engel gibt's nicht. Oder hab ich jedenfalls noch keinen gesehen.“
    „Doch, am Marktplatz war einer! Es war eine sie und sie sah himmlisch aus!“
    Der Obdachlose lachte.
    „Nein, ich meine die wirklichen. Die Antiken. Die echten Figuren aus den Legenden.“
    „Du meinst du hast einen echten Engel gesehen?“
    „Nein, eben nicht. Deswegen glaub ich auch nicht, dass's sie gibt. Glaub nur was ich sehe.“
    Ein kleines perfides Grinsen schlich sich über Quinns Mund.
    „Du willst mir also sagen du hast den Blauen Khoriner und Sankt Nikho und die ganze Familie gesehen.“
    Der Obdachlsoe musterte ihn.
    „Bin dir noch immer dankbar für die Flaschen, aber der Hellste bist du nicht oder? Wie kann ich den Blauen Khoriner sehen, wenn der schon seit mehreren hundert Jahren tot ist? Ich weiss, dass die Figur auf 'nem echten Wohltäter basiert, der mal hier gelebt hat. Hab den angeblichen Grabstein mal an einer Stelle im Wald gefunden.“
    Quinn musste stutzen. Er hatte den Typen unterschätzt, dumm war er nicht.
    Dieser fuhr fort:
    „Aber Engel... ich weiss ja nicht. Die sollen ja majestätisch sein, und den Leuten erscheinen und ihnen helfen, aber ich kann da nicht viel von bestätigen. Die einzige geflügelte Sagengestalt,von der ich weiss, dass's sie gibt, ist der Kuckuck.“
    Quinn hob die Augenbraue an.
    „Der... Kuckuck? Aha.“
    Es hatte aufgehört zu schneien.
    „Ich meine nicht den Vogel im Wald, sondern eben die Legende. Für die gibt's natürlich viele Namen, aber ich find den Kuckuck am einprägsamst'n.“
    Dann deutete der Mann auf eine grosse Zeichnung etwas abseits der anderen. Tatsächlich war dort eine geflügelte Gestalt zu sehen, aber es war definitiv kein Engel.
    Die Zeichnung zeigte eine sich windende Gestalt mit langem Schwanz, menschenähnlichem Oberkörper, Klauen und einem grotesk langen, dünnen Schnabel, der vorne zu einer Nadel oder dem Stachel einer Mücke auslief.
    „Rede natürlich vom Wintergreifen, vom Basilisken, oder wie du ihn nennen willst.“
    Quinn wurde hellhörig. Von denen hatte er tatsächlich schon was gehört.
    „Das ist alles dieselbe Legende? Erzähl.“
    Nun war es an dem Obdachlosen zu grinsen.
    „Dann pass mal auf, die Geschichte kenn ich von kleinauf, und wer die kennt, dem kannst du am Markt nichts Interessantes mehr erzählen. 'S gibt natürlich verschiedene Versionen und verschiedene Berichte und Beschreibungen. Früher sagten sie oft, der Basilisk wäre eine grosse Schlange mit scharfem Schnabel und Flügeln von 'nem Federvieh. Kann sein, dass die ihn einfach nicht recht gesehen haben. Meine Theorie ist, dass er sich im Laufe der Zeit verändert hat. Denn das ist ja der Sinn der ganzen Legende, oder nicht? Denn später sagen andere das Ding wäre mehr Vogel als Schlange und – am fürchterlichsten von allem – irgendwie ähnlich wie ein Mensch, aber mit Flügeln. Er erwacht im Winter, zur Zeit der Sonnenwende, die hat er gerne.“
    „Und was genau tut er, wenn er auftaucht?“
    „Ah, hier kommen wir zum Kern der Legende. Das ist eine unbegreifliche, schreckliche Lebensform, die ständig seine Form verändert, geradezu schillert. Und die im Prinzip unsterblich ist, solange sie neue Seelen in sich aufnimmt. Man sagt sich er kommt im Winter dorthin wo Menschen leben, zum Jagen, und wenn er sein Opfer gefunden hat, dann saugt er es mit dem Schnabel aus und schlüpft in die ausgesaugte Hülle. Dort bleibt er dann das ganze Jahr, nistet sich ein und lebt unter der Bevölkerung, so wie ein Kuckuck die Eier ins fremde Nest legt. Nur um sich dann im nächsten Winter zu häuten: Aus der Hülle hervorzubrechen und die Nächste zu suchen.“
    Quinn nickte anerkennend.
    „Hm. Das ist tatsächlich effektiv. Spielt gekonnt mit allen möglichen Ängsten der Leute. Schlangen, grosse Raubvögel, Mückenstichen. Hat sogar was von Vampyren, nicht? Aber im Grossen und Ganzen: Ja doch, ziemlich unheimlich.“
    „Ziemlich unheimlich! Hab mir, als mir meine Grossmutter das erzählt hat, jeden Winter fast in die Hose geschissen! Aber so ist's eben, noch heute erzählen das ein paar den Kleinen, damit sie im Winter nicht zu lange draussen bleiben und in einem Sturm verloren gehen. Das hab ich jedenfalls geglaubt.“
    „Und?“
    Der Mann blickte auf. Nun erkannte Quinn, dass er für einen Moment lang regelrecht besessen aussah.
    „Und dann hab ich ihn selbst gesehen. Den Kuckuck. War an einem Wintermorgen unterwegs und sah den Schatten am Himmel. Die fliegende Vogelmenschenmissgeburt. Innos, zum Glück war ich gleich vor dem Stadttor, sonst hätte es böse enden können.“
    Plötzlich musste Quinn schlucken.
    „Wieso?“
    „Weisst du denn nicht? So sucht sich der Kuckuck jeden Winter seine neue Hülle: Wenn die Unvorsichtigen alleine durch den Schnee wandern, wo er sie von oben erspähen kann. Sie müssen alleine sein, denn früher da hat man es fast geschafft alle davon auszurotten. Deswegen gibt's heute nicht mehr viele davon. Aber wenn er sein Opfer dann mal gefunden hat, lässt er's nicht mehr gehen.“
    Quinn dachte eine Weile nach. Obwohl ihm ein plötzlicher Schauer über den Rücken gelaufen war, erinnerte ihn das rote, flackernde Licht der Strassenlaterne, welches sich über das vernarbte, faltige Gesicht des Mannes vor ihm am Boden zog, auf ein mal wieder an Körperwelten, das Innere seiner Adern, an Blut. Er atmete durch und verlagerte das Gewicht unruhig von einem Bein aufs andere.
    „Das also ist die Sage. Der Kuckuck infziziert seine Hülle und zieht weiter. Und er bringt nichts anderes als Leid? Klingt ja nicht wirklich weihnachtlich.“
    Der Obdachlose zuckte erneut mit den Schultern.
    „Muss auch nicht alles Eierpunsch und Lebkuchen sein, was zur Weihnachtszeit stattfindet. Die Sonnenwende findet statt, und die Welt dreht sich weiter. Nur glaub ich, dass sie das auch für andere Wesen als uns tut. Monströse Wesen. Ich weiss nur eins: Hier in der Nähe gibt es einen Kuckuck, und Khorinis ist sein Nest.“
    Die Beiden schauten sich noch eine Weile lang an. Das hiess, der Mann schaute Quinn an, welcher den Blick auf seine Schuhe geheftet hielt.
    „Hast du 'n Stängel?“, frage der Obdachlose mit Obdach.
    Quinn schüttelte den Kopf.
    „Zimtstange?“, fragte er, sich auf ein mal bewusst werdend, dass er immernoch mit Zipfelmütze und Gewürzstange durch die Gegend zog.
    Der Mann verzog ein Grinsen und hob ablehnend die Hände.
    Sie verabschiedeten sich im Stillen.
    Als Quinn die Treppe zum Oberen Viertel hochrannte, kam er sich auf ein mal ziemlich dämlich vor und schmiss die Mütze in den nächsten Busch. Am Zimtstängel saugte er jedoch noch eine Weile herum, er tat es auch noch als er zuhause vor dem Kaminfeuer stand. Er begann nachdenklich am aufgeweichten Ende zu kauen. Warum hatte ihn diese Geschichte so verstört? Das konnte doch nicht normal sein. Und ganz sicher konnte es nichts mit ihm und seinen Ausflügen ausserhalb der Stadtmauern zutun haben. Genau, sagte er sich in Gedanken, und die Stimme die zu ihm sprach war die bekannte, aber bisher noch nie so beruhigend erchienene Quinn-reiss-dich-zusammen-Stimme.
    Vielleicht war er wirklich nur erschöpft. Er hatte es ja heute auch – abgesehen von dem anderen seltsamen Zwischenfall, über den er gar nicht gross nachdenken wollte – darauf angelegt und sich total verausgabt. Dafür war er bis zum Leuchtturm, gekommen, rasend schnell, das war doch was! Wohlwahr, da musste er sich doch wirklich ein mal selbst auf die Schulter klopfen. Und morgen – Was war morgen? - Da würde er noch weitergehen – Moment, er würde einfach so wieder aus den Osttor treten und über die weissen Felder rennen? - Aber sicher, über jeden Zweifel erhaben! Punkt 4, verdammt nochmal! Er hatte seine Liste und die Felder, und ausserdem liebte er die weissen Felder, das würde er sich von niemandem nehmen lassen, bestimmt nicht von irgendienem-...
    Kuck-Kuck.
    ... Was?
    Kuck-Kuck.
    Er lauschte dem Geräusch. Es wiederholte sich noch mehrere Male. Quinn verliess sein Arbeits- und Schlafzimmer und folgte dem Geräusch ins grosse Wohnzimmer. Dort, an der hinteren Wand, zwischen einer Holzkommode und einem übermalten Abschnitt in der Wand ruhte eine lange Standuhr. Sicherlich tat sie das, schliesslich war sie bereits da gewesen, als Quinn eingezogen war.
    Doch er konnte sich nicht daran erinnern, dass sich um Mitternacht jemals eine kleine Klappe unterhalb des Ziffernblatts geöffnet hatte, um mithilfe eines filigranen Mechanismus eine winzige geschnitze Vogelfigur an dessen Ende herausspringenzu lassen. Dabei erklang der leicht metallische Laut, der dem eines Vogels sonst jedoch äusserst nahe kam. Jedenfalls nahm Quinn das an, denn er konnte sich nicht daran erinnern jemals den Laut eines lebendigen Kuckucks gehört zu haben. Er hatte nur mal eine ähnliche Uhr gesehen, wo war das gewesen, in seiner letzten Behausung auf dem Festland? Zur Hölle, wahrscheinlich war das Ding hier das wertvollste im ganzen Haus. Quinns Gönner war zwar sehr grosszügig gewesen und hatte die Einrichtung zum Grossteil unverändert beibehalten, als er Quinn einziehen liess, doch er konnte sich nicht vorstellen, das er ihm so ein kleines Wunderwerk der Technik mir-nichts-dir-nichts überlassen hätte. Mittlerweile hatte sich der kleine Vogel wieder in seine Behausung im Inneren des Uhrwerks zurückgezogen, und die Klappe schloss sich wie von Geisterhand gelenkt, nach dem zwölften
    Kuck-Kuck.
    Wie war das möglich? War Quinn der kleine Trick, den die Uhr ihm gerade vorgeführt hatte bisher einfach nicht aufgefallen, weil er normalerweise um diese Zeit schlafen ging, völlig in seiner Arbeit versunken war, oder zumindest die Türe zum Arbeitszimmer abgeschlossen hatte? Hatte es bisher nie funktioniert? Hatte Sinny das Ding etwa repariert? Ohne dass er es auf einen Zettel geschrieben hätte? Vielleicht um ihm ein Weihnachtsgeschenk zu machen? Oh, wie reizend das gewesen wäre, wenn es denn stimmte. Doch eine andere Vorahnung kam in ihm auf. Geradezu greifbar. Er erwacht im Winter, zur Zeit der Sonnenwende, die hat er gerne. Moment. Einhalt! Durchatmen. Gut? Das war doch lächerlich. Dachte er denn tatsächlich auch nur für einen Moment ernsthaft daran, dass der olle Basilisk aus der kleinen Kinderschauermär eines Obdachlosen hinter ihm her war? Antwort: Nein, das tat er nicht. Gut gemacht, Quinn. Er würde jetzt schlafen gehen und das Rätsel der Uhr schon noch gelöst kriegen. Er würde moren aufstehen und weiterschreiben und dann würde er wieder über die Felder rennen, ein Tag wie jeder andere, der damit beginnen würde, das er aufstehen würde, wie immer, geweckt vom Krähen des Hahns.
    Die Zimtstange entglitt Quinns Mundwinkel und schlug gedämpft und kaum hörbar auf dem Wohnzimmerteppich auf.
    Er hatte während seinem ganzen Aufenthalt in Khorinis nicht ein einziges Mal einen Hahn gesehen.
    Geändert von Dead Frank (16.02.2013 um 19:31 Uhr)

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