Für einen großen, dummen Mann!

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Der Duft von heißen Maronen, Glühwein und Gebäck, Stimmgewirr von hunderten oder gar tausenden von Menschen, prachtvoll dekorierte Stände, die von Kleidung über Spielzeug hin zu allen möglichen Spezereien alles anboten, was man sich vorstellen konnte und all dies vor der erhabenen Kulisse des Doms zu Vengard: Sagitta war vom vengarder Weihnachtsmarkt wie jedes Jahr hellauf entzückt!
Nun gut, es gab da einen kleinen Wehrmutstropfen: Dieses Jahr hatte sie nicht mit ihren Freundinnen herkommen können. Andererseits konnte sie froh sein, dass sie es überhaupt geschafft hatte, Meister Merinor zu überreden. Seit zwei Monaten kümmerte sie sich nun schon um den alten Feuermagier, der einst eines der meistgeachteten Mitglieder der Innoskirche gewesen war. Doch nachdem das Alter es mit dem Verstand des einst brillanten Wissenschaftlers und Kirchenmannes nicht gut gemeint hatte, war ihm Sagitta als Gehilfin und vor allem Aufpasserin zur Seite gestellt worden. Als Ordensschwester war es freilich ihre Pflicht, sich den Befehlen der Feuermagier zu fügen. Als junge Frau jedoch konnte sie sich weitaus Angenehmeres vorstellen, als sich um einen senilen alten Mann zu kümmern, der außerdem noch in geradezu granitener Verbohrtheit alles abzulehnen schien, was mit dem Weihnachtsfest zu tun hatte: Eitel und dekadent, so nannte er die Adventszeit, und den vengarder Weihnachtsmarkt, diesen „verdorbenen Tempel frivoler Vergnügungen und gieriger Gewinnsucht“ lehnte er mit aller Bestimmtheit ab.
Da allerdings ausdauernde Sturheit kein ausschließliches Privileg alter Männer ist, hatte Sagitta den alten Meister der Flamme mit beständigem Bitten und Klagen schließlich überreden können – gerade noch rechtzeitig, denn am morgigen Tage war ja schon der heilige Abend, und Sagitta hatte bislang kaum die Gelegenheit gehabt, für ihre Lieben Geschenke einzukaufen. Heute aber würde sie dieses Versäumnis nachholen können!

Arm in Arm bahnten sich der alte Merinor und Sagitta ihren Weg durch das Gewühl. Sagitta wusste, dass es für Außenstehende so wirken musste, als habe der Feuermagier die Führung inne, der in seinem langen und mit Flammenmustern verzierten, pelzgefütterten Mantel noch immer einen würdevollen und ehrfurchtgebietenden Anblick geboten hätte, wären da nicht die Büschel grauen Haares, die nach allen Seiten abstanden und seinem Aussehen etwas Lächerliches verliehen. Auch Sagitta war in ihrer Schwesterntracht als Angehörige der Kirche zu erkennen, wenn auch in weitaus bescheidenerer Weise – was allerdings das anwesende Mannsvolk keineswegs davon abschreckte, ihr die ein oder anderen Blicke hinterher zu werfen. Glücklicherweise war Meister Merinor zu sehr damit beschäftigt, übellaunig vor sich hinzumurmeln, als dass er dies bemerkt hätte, denn andernfalls hätte er sich in seiner Ablehnung dieses „sündigen Treibens“ wohl noch zusätzlich bestätigt gefühlt, und unverzüglich auf eine Rückkehr in seinen Palast bestanden.
„Sagitta, grüß Dich! Schön, Dich auch noch mal zu sehen!“ Sagitta wandte sich der wohl bekannten Stimme zu. „Jonas, hallo! Bist Du gar nicht an Eurem Stand?“
Jonas grinste breit, wie er es meistens tat, und schüttelte den Kopf.
„Von da komme ich gerade, muss neue Ware holen. Äpfel und Mandeln und so Kram. Der Ansturm der Kunden wird auch von Jahr zu Jahr größer. Wenn Du Dich aber beeilst, kannst Du bestimmt noch was bekommen.“
Sagitta bedankte sich, und kurz darauf war Jonas schon wieder in dem Gewimmel verschwunden.
Sie hatte in der Tat Lust auf Süßigkeiten, und Jonas' Familie gehörte zu den Gewürzhändlern der Stadt und führte jedes Jahr einen recht prominenten Stand auf dem Weihnachtsmarkt. Schon in ihrer Kindheit war Sagitta im Geschäft der Süßkinds regelmäßig eingekehrt, da ihre Ordensoberin, Mutter Antonia, eine Schwäche für Süßspeisen hatte, deren Besorgung zu den Aufgaben der Novizinnen gehörte. Sagitta hatte schon seit ein paar Jahren nicht mehr als Laufmädchen zu den Süßkinds gemusst, um eine Bestellung aufzugeben oder abzuholen, doch die kandierten Äpfel von deren Marktstand ließ sie sich niemals entgehen.
„Logische Korrespondenz zwischen diviner Trinität und Transzendentalien“, sagte Meister Merinor, „oder vielleicht doch eher ontologische?“ „Hier entlang!“, antwortete Sagitta, und zog den alten Magier Richtung Süßigkeitenstand.
Tatsächlich war der Andrang enorm, so dass Reto und Ina, Angestellte des Hauses Süßkind, allerhand zu tun hatten. Sagitta bahnte sich mit Merinor ihren Weg durch die Menge.
„Ach, hallo Gitta!“, begrüßte Ina sie, derweil sie die Bezahlung für eine Tüte karamellisierter Mandeln entgegennahm, „wir hatten eigentlich schon vor einer Woche mit Dir gerechnet, als die anderen hier waren. Warst Du krank?“ Sie reichte einen Spieß mit kandierten Früchten an einen Kunden weiter, der ihr von Reto gereicht worden war, der neue Früchte aufspießte und in einen Kübel mit dampfender und süß duftender Flüssigkeit tauchte.
„Nein, ich war beschäftigt“, antwortete sie, und kraulte den alten Hund der Süßkinds, der sich vor der Bude ausgesteckt hatte, hinterm Ohr. „Darf ich Meister Merinor vorstellen? Er ist ein hoher Feuermagier, und ich bin seine neue Gehilfin, darum habe ich weniger Freizeit als früher.“
Ina begrüßte den Magier ehrerbietig, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen starrte Merinor auf einen langen Eiszapfen, der von einem nahegelegenen Baum herunterhing, und faselte irgendetwas über dialektische Ontologie und kontradiktorische Elemente.
Ina warf Sagitta einen unsicheren Blick zu, die aber schüttelte nur den Kopf und verdrehte die Augen.
„Du möchtest sicherlich einen kandierten Apfel?“, fragte Ina. Sagitta nickte. „Ein paar Äpfel haben wir noch, Du bekommst noch einen!“
Glücklich nahm sie das dampfende und vor Glasur triefende Stück Obst entgegen. „Wenn Feuer und Wasser einander entgegenstehen, warum ist dann Beliar die Antithesis zu Innos?“, fragte Merinor, der seine Faszination für den Eiszapfen offenbar noch nicht verloren hatte. Sagitta wusste, dass Merinor gar keine Antwort erwartete, Ina jedoch antwortete: „Weil es geschrieben steht?“ Merinor wandte den Blick von dem Eiszapfen ab und Ina zu. „Geschieden? Jaja, hm... hm, die Elemente sind geschieden, in der Tat. Woran forscht Ihr zur Zeit, Meister... ähm, Meisterin... äh...?“
„Das ist Ina, sie ist Magd und verkauft Spezereien“, versuchte Sagitta zu erklären. Merinor nickte anerkennend: „Gutes Buch, sollte zur Pflichtlektüre gehören. Wird leider viel zu sehr unterschätzt!“
Merinor setzte seine Betrachtung des Eiszapfens fort und Sagitta machte einen entschuldigenden Gesichtsausdruck. An guten Tagen zeigte Merinor nach wie vor Anzeichen des Scharfsinns, der ihm seine beachtliche Karriere innerhalb der Kirche ermöglicht hatte, doch heute wirkte er besonders zerstreut. Nun, das war wohl Sagittas Glück, denn andernfalls hätte sie ihn kaum zum Herkommen bewegen können.
Sagitta schwatzte noch ein wenig mit Ina, derweil sie von ihrem kandierten Apfel abbiss, als plötzlich ein hellroter Lichtblitz aufflackerte. Ein Fauchen ertönte, und eine Flammenkugel traf auf den Eiszapfen, der darob umgehend verdampfte. Kurzzeitig flammte so etwas wie verhaltener Applaus auf, bevor die umstehenden Leute erkannten, dass es sich nicht etwa um die anstehende Darbietung eines Feuerspuckers handelte, sondern dass sie es mit einem ehrwürdigen Feuermagier zu tun hatten.
„Meister!“, rief Sagitta wütend. Merinor winkte gelassen ab: „Dank ist nicht nötig, dazu sind wir Feuermagier doch da. Aber nicht auszudenken, was hätte passieren können!“
„Alles in Ordnung, hier gibt es nichts zu sehen!“, rief Sagitta den umstehenden Marktbesuchern zu, die ihre früheren Tätigkeiten langsam wieder aufnahmen.
„Entschuldige bitte, Ina. Wir sollten weiter“, verabschiedete sie sich von der Verkäuferin und zog ihren Meister mit sich.

Sagitta war wütend. Merinor war anstrengend, seit sie ihren Dienst bei ihm angetreten hatte. Manchmal war es kaum möglich, sich vernünftig mit ihm zu verständigen. Allzu oft klagte er über irgendetwas, über Nichtigkeiten, und hatte ständig etwas an ihr auszusetzen: Das Bettlaken weise zu vielen Falten auf, die Position des Eierbechers auf dem Frühstückstisch sei falsch, ihr Tischgebet entspreche nicht dem Katechismus, die Pfeife sei nachlässig gestopft und im Übrigen solle sie aufhören, zu nuscheln, da könne man ja kein Wort verstehen! Überdies quoll Merinors wirrer Verstand vor sonderbaren Ideen über: Mal wollte er ihr ein neues Buch diktieren, „welches die Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern“ werde, verlor jedoch bei jedem Satz den Faden. Mal wollte er eine Schiffsreise zu den südlichen Inseln unternehmen „um dieses faszinierende Knallpulver zu erforschen, das sie dort benutzen“, um kurz darauf auf die Idee zu kommen, dass man in den hauseigenen Alchemielaboren doch selbst nach dieser Substanz suchen könne, dafür brauche man die südlichen Inseln gar nicht. Er hatte sie bereits zu stundenlangem Memory-Spiel genötigt (worin er sich erstaunlich gut angestellt hatte), zum Schach (das er weder vernünftig hatte erklären können, noch wirklich beherrschte, wie sie später, nachdem sie es sich von anderer Stelle hatte beibringen lassen, festgestellt hatte), zu Vortragsbesuchen in Schulen und Gildenhallen (weder angekündigt, noch erwünscht oder auch nur wenigstens vorbereitet), unangekündigte Audienzen beim König (der sie tatsächlich empfangen, vor allem aber Augen für Sagitta gehabt hatte) und allerlei weitere Verrücktheiten.
Sagitta hatte sich an die Schrullen des alten Magiers gewöhnt, sich mit ihrem Dienst arrangiert und fand in den guten und milden Momenten Merinors sogar etwas Gefallen daran.
Aber davon, dass er gefährlich werden könne, hatte man sie nicht unterrichtet – und das unvermittelte Abfeuern von Feuergeschossen war ganz eindeutig eine Gefahr!
„Ihr dürft doch nicht einfach so Flammengeschosse herbeizaubern!“, zischte sie in sein Ohr, „dabei könnte jemand verletzt werden!“
„Keine Bange, ich zaudere nicht“, entgegnete Merinor, der offenbar nicht verstanden hatte, „können wir jetzt die relative Dichte des Schnees messen?“ „Was ist relative Dichte?“, fragte sie. Merinor schaute sie an, als habe sie etwas sehr dummes gesagt: „Wer spricht denn von relativer Dichte? SPEZIFISCHE MASSE, schreib Dir das hinter die Ohren! Oh, darf ich was abhaben?“
Sie schaute auf den halb aufgegessenen, kandierten Apfel. Nach all dem hatte sie ohnehin keine Lust mehr darauf. „Hier, nehmt den Rest!“, sagte sie und reichte ihm den Spieß. Merinor griff nach der Leckerei, doch als er seine behandschuhte Hand sah, zog er sie zurück. „So kann man doch nicht Essen, ähm essen!“, sagte er leicht pikiert, und zog sich den rechten Handschuh aus. „Wir machen einen Tausch, ja?“ Mit einem Gesichtsausdruck als handle es sich um eine heilige Reliquie, nahm er das begehrte Gut entgegen und begann würdevoll, an dem Apfel herumzuknabbern.

Langsam wurde es Zeit, dass sie sich um die Geschenke kümmerte. Morgen schon wäre der Vierundzwanzigste, und sie war bislang kaum dazu gekommen, sich um Geschenke zu kümmern. Statt auf die Fressbuden konzentrierte sie sich nun auf die Auslagen der Handwerksstände mit den Spielzeugen, Kleidungsstücken, Dekorationen, Schmiedearbeiten und was das vengarder Handwerk eben sonst noch zu bieten hatte.
Schließlich blieb sie vor einem Stand stehen, an dem aller mögliche Kram verkauft wurde. „Guten Tag, Meister Borgus, schön Euch zu sehen!“, begrüßte sie den alten Krämer. Borgus hatte nach Sagittas Meinung immer schon den interessantesten Stand auf dem Weihnachtsmarkt gehabt. Er bot exotische Waren an, die aus allen Teilen der bekannten oder möglicherweise auch unbekannten Welt stammen mochten: Von eher profanen Dingen, wie Kleidung und Schmuck bis hin zu sonderbar geformten Kristallen, mit geheimnisvollen Flüssigkeiten gefüllten Flakons und sogar Zauberspruchrollen besaß Krämer Borgus alles, was man sich nur vorstellen konnte. Schon als Kind hatte sie es geliebt, Borgus' Waren zu betrachten und sich ihre Herkunft oder ihren Zweck erklären zu lassen.
„Hallo Sagitta, wie geht es Dir, Liebes?“, fragte der schnauzbärtige Händler und zog an seiner Pfeife, was bei Meister Merinor offenbar begehrliches Interesse weckte.
„Gut, danke. Ich bin jetzt die Assistentin von Meister Merinor hier“, antwortete sie und stellte die beiden älteren Männer einander vor.
Ihr Blick wanderte über Borgus' Angebot: Ein Figürchen von etwas, das wie ein Goblin aussah, allerdings eine prächtige Rüstung trug, ein Stein mit bläulichen Adern darin, Halsschmuck aus Knochen, selbst einige Handschriften... „Was ist das für ein Stein?“, fragte sie und bewunderte das Schimmern, das von ihm ausging. Ob es sich um einen ungeschliffenen Edelstein handelte?
„Das ist ein Gesteinsbrocken von der Insel Khorinis. Er enthält magisches Erz, aus dem man die herrlichsten Waffen der Welt schmieden kann! Oder die Zauberrunen der Magier, nicht wahr, Hochwürden?“
Der angesprochene Merinor nickte gewichtig: „Die Herstellung eines Stunenreins, ähm Runensteins erfolgt über die magische Abscheidung magisch angereicherter Mineralien vom restlichen Gestein und stellt ein äußerst diffiziles Verfahren dar.“
Borgus nickte, dankbar für die Erklärung.
„Und das Buch da?“, fragte Sagitta weiter. Die Mutter Oberin interessierte sich sehr für Poesie und würde sich über eine entsprechende Handschrift gewiss sehr freuen. Natürlich waren Bücher ungemein teuer, doch in dieser Hinsicht mochte es Sagitta tatsächlich einmal von Nutzen sein, einen hohen Magier des Feuers an ihrer Seite zu haben, der es zwar mit der Positionierung von Eierbechern sehr genau nahm, sich dafür aber um derlei profane Dinge wie Geld nicht zu bekümmern pflegte.
Beim Durchblättern stellte es sich als eine südmyrtanischen Liederhandschrift heraus. „Das wäre gewiss ein gutes Geschenk für die Mutter Oberin“, sagte Sagitta zu Merinor, „ich finde, wir sollten es ihr schenken, was sagt Ihr?“ Als sie keinerlei Antwort erhielt nahm sie dies als Bestätigung und Erlaubnis, Merinors Gold für diese Anschaffung auszugeben, handelte mit Borgus einen annehmbaren Preis aus, und freute sich über das gelungene Geschäft.
„Na, eines hätten wir also schonmal“, sagte sie vergnügt und wandte sich zu Meister Merinor um...
worauf ihr Herz einen Schlag aussetzte. „Meister Merinor?“, rief sie. „Meister?“
Der Meister war nicht mehr da. Passanten wandten ihr auf ihr Rufen für kurze Zeit den Blick zu, bevor sie weiter hasteten, wohin auch immer es sie gerade trieb, doch von Merinor war keine Spur zu sehen.
„Wo ist Meister Merinor hin?“, fragte sie Borgus, „habt Ihr gesehen, wohin er gegangen ist?“
Borgus zuckte bloß mit den Schultern und paffte an seiner Pfeife. „Nein, Kind, tut mir Leid. Darauf habe ich nicht geachtet.“
Was für eine Katastrophe! Sie hatte doch tatsächlich ihren Meister Merinor verloren! Wie nur sollte sie ihn nun wiederfinden? Der Markt war groß, erstreckte sich nicht bloß über den gesamten Domplatz, sondern auch tief in die angrenzenden Straßen hinein. Die Stände standen dicht aneinander, bildeten verwinkelte Gässchen, und alles war voller Menschen, die Vergnügungen oder Geschäften nachgingen.
Sie musste eine erhöhte Position finden! Vielleicht könnte sie von einem erhöhten Blickwinkel aus Merinors roten Mantel erkennen.

Sagitta drängte sich durch eine Traube aus Menschen, die sich glühweintrinkend laut und fröhlich unterhielten. Angesichts ihrer Sorgen, begann das ausgelassene Treiben auf dem Markt ihr auf die Nerven zu gehen. Sie kam an einem Krämer vorbei, der ihr lauthals Krimskrams anpreiste, interessierte sich allerdings eher für das schneebedeckte Reiterstandbild dahinter, welches König Wenzloch II darstellte, der einst einen Angriff aus Nordmar aufgehalten hatte, und seither in Überlebensgröße den Domplatz zierte. Man hatte Wenzloch und sein treues Ross mit Tannenzweigen weihnachtlich geschmückt, was zwar hübsch war, der würdevollen Strenge des Kriegerkönigs jedoch ein wenig Abbruch tat.
Sagitta tastete mit ihren Fingern nach Halt, um sich auf den Sockel zu ziehen, was ihr die missbilligenden Blicke einer älteren Bürgerin bescherte. Nun, sollte die alte blöd gucken, Sagitta hatte andere Sorgen!
Vom Sockel aus hatte sie tatsächlich weitere Sicht die Budengasse entlang und konnte in der direkten Umgebung nach Merinor Ausschau halten. Doch für eine weitergehende Übersicht musste die noch höher, und so gesellte sie sich zu dem König auf das Pferd. Nun konnte sie über die Buden hinwegschauen und weithin nach ihrem verlorenen Meister Ausschau halten.
Was für ein Gewühl und Gewimmel, was für Menschenmengen! Verzweiflung versuchte, sich Sagittas zu bemächtigen, drang als lähmende Schwere von ihrem Magen herauf, ihr das Atmen zu erschweren, die Kehle zu verschnüren und Tränen in die Augen zu treiben. Was, wenn sie Merinor nicht wiederfände? Wie sollte sie den Kirchenoberen erklären, dass sie einen hohen Magier des Feuers verloren hatte?
Kurz schloss sie die Augen um sich zu sammeln. Dann öffnete sie sie wieder, und suchte mit dem Blick von Borgus' Stand her, wo sie ihren Meister verloren hatte, systematisch die Wege ab, die der Feuermagier genommen haben konnte. Rote Kleidung, sie musste nach roter Kleidung Ausschau halten!
Da! War er das? Eine rote Gestalt, die an einem Stand verweilte, dessen Waren Sagitta aus der Entfernung nicht bestimmen konnte. Sie rief Merinors Namen, und kümmerte sich dabei nicht um neugierige Blicke, doch reagierte die Gestalt nicht. Falls es Merinor war, wäre er bei dem Lärm auf dem Platz wohl ohnehin zu weit entfernt, um sie zu hören. Die Gestalt setzte sich wieder in Bewegung und schlenderte auf eine der Straßen zu, die auf den Domplatz mündeten. Sagitta meinte, weißes Haar ausmachen zu können, und einen dichten Bart. Das musste einfach Meister Merinor sein!
Hastig kletterte sie von dem Denkmal herunter, wobei sie beinahe den Halt verloren und auf einen fetten, wohlhabenden Kaufmann gestürzt wäre, und hastete in die Richtung in der sie ihren Meister vermutete. „Pass doch auf“, zischte jemand, an dem sie sich unter Aufbietung ihrer Ellenbogen vorbeidrängte. „Verzeihung!“, rief sie. Immer wieder: „Verzeihung! Entschuldigung! Darf ich bitte durch! Verzeihung!“
Da war die Gestalt! Roter Mantel, Pelzkragen, Ornamente, die ein Flammenmuster sein mussten. Hoffentlich! „MEISTER MERINOR! Verzeihung, ich muss hier durch, MERINOR!“
Keine Reaktion. Merinor hörte sie nicht, oder wollte nicht hören. Eine Gruppe Halbstarker, die vielleicht ein paar Jahre jünger waren als Sagitta, drängte sich kurzzeitig in ihr Sichtfeld. Gerade noch konnte sie Merinor hinter einer Reihe von Buden verschwinden sehen und machte sich flugs an die Verfolgung. Sie musste doch wohl schneller sein, als irgendsoein Greis von Feuermagier, der nichtmal mehr die eigenen Hemden in seinem Schrank fand!
Wären da nur nicht all diese anderen Menschen gewesen, die sich offenbar dazu verschworen hatten, sie aufzuhalten!

Erneut hatte sie Merinor aus den Augen verloren. Wo war sie hier überhaupt? Sie hatte sich so sehr darauf konzentriert, ihren Meister zu verfolgen, dass sie ihre Orientierung verloren hatte. Sie war nicht mehr auf dem Domplatz, sondern war in eine der Straßen eingebogen, die auf den Platz mündeten. Erneut drängte sich dieses widerwärtige Gefühl nach oben, diesmal in Begleitung eines Schluchzens. Sie drehte sich in die eine Richtung, in die andere, auf der Suche nach rotem Stoff oder zumindest irgendeinem Anhaltspunkt. „Verzeihung!“, rief sie, bevor ihr klar wurde, dass nicht sie jemand anderen, sondern umgekehrt jemand anderes sie angerempelt hatte. „Entschuldigung“, sagte die Person und dann: „Was ist denn, hast Du Dir weh getan?“
Sagitta konnte das Schluchzen kaum mehr zurückhalten. Was für ein schrecklicher Tag! Was für eine idiotische Idee, mit Meister Merinor hier her zu kommen!
„Nein“, schniefte sie, „es geht schon.“
Der Fremde war ein junger Mann in ihrem Alter, der sie mit freundlicher Sorge anlächelte. Aus irgendeinem Grunde wirkte der Mann hier deplaziert, doch wusste Sagitta nicht genau zu benennen, warum. Ob es daran lag, dass er ruhiger wirkte, als die Menschen um sie herum, weder hektisch, noch ausgelassen?
„Du siehst traurig aus“, sagte er, „hast Du Dir wirklich nichts getan?“
Sagitta schüttelte den Kopf: „Nein. Ich muss jetzt weiter. Wiedersehen!“
Sagitta ging einige Schritte in irgendeine Richtung. Ihr Atem bildete Wölkchen in der kälter werden Luft. Der Nachmittag war in den frühen Abend übergegangen, und der strahlend blaue Himmel hatte sich in diffuses Grau verwandelt. Womöglich würde es diesen Abend noch schneien.
Wohin nur?
„Entschuldigt bitte, aber habt Ihr einen älteren Feuermagier hier vorbeikommen sehen?“, fragte sie schließlich einen der umstehenden Händler. Der hingegen schaute sie nur aus blassen Augen stumpf an, und pries mechanisch seine Waren.
„Irgendjemand muss ihn doch gesehen haben?“
„Ein Feuermagier?“, hörte sie jemanden fragen. Sie wandte sich der Person, einem Mann in mittleren Jahren, zu und nickte: „Ja. Er hat graue Haare und einen Vollbart und trägt einen roten Mantel.“ „Mit Flammenmuster?“ Sie nickte. Ich glaube, so jemanden habe ich gesehen“, sagte der Mann, „ich glaube, er ist da hinein gebogen.“ Sagitta blickte in die Gasse, auf die der Mann gezeigt hatte, und einen kurzen Augenblick flackerte Ärger in ihr hoch. Dieser verfluchte Magier! Warum nur musste er wie ein Tölpel durch die Stadt stolpern und ihr das Leben schwer machen?
„Danke!“, sagte sie und setzte sich in Bewegung.

Diese Gasse war keine der großen Hauptstraßen, die sternförmig auf den Domplatz zuliefen, sondern eine Nebengasse. Die Häuser ragten links und rechts in die Höhe, und die oberen Stockwerke weiter in die Straße hinein, so dass sie beinahe ein Dach bildeten, und nur einen schmalen Streifen dunkler werdenden Himmels übrig ließen.
Hier war nicht so viel los, die wenigen Stände verloren sich nach einigen Schritten, und das lustige Treiben blieb hinter Sagitta zurück. Sie war es ohnehin Leid, all diese fröhlichen Menschen um sich zu haben. Die Straße machte einen Knick, und... endete in einer Sackgasse. Eine kahle Steinmauer, einige Häuflein Unrat, sonst nichts, kein Merinor.
„Haha, Du bist wirklich schön blöd, oder?“
Sagitta drehte sich um. Der Mann, der ihr die Richtung gewiesen hatte, in Begleitung von etwa einem halben Dutzend anderer Gestalten, die angesichts der Situation keineswegs Vertrauen erweckten.
„Ihr habt mich angelogen“, sagte Sagitta müde. „Ja. Und Du Doof bist darauf reingefallen.“
„Warum habt Ihr das getan?“
„Du bist echt einfach nur dumm, oder?“ Die Begleiter lachten, und der Mann zeigte ein unverschämtes Grinsen.
„Ich bin eine heilige Schwester Innos'! Ihr wollt doch keinen Ärger mit der Kirche?“, rief Sagitta den Männern entgegen. Sie war überrascht, wie fest ihre Stimme klang.
„He, v-vielleicht sollten w-wir die l-l-lieber in R-r-ruhe l-lassen!“, stotterte einer der Gruppe, ein stämmiger und muskulöser Kerl, zu dem die fistelige Stotterstimme nicht recht passen wollte.
„Ach, drauf geschissen!“, knurrte ein anderer, ein wahrhaft großer Mann mit Zahnlücke und schiefer Nase, „die Kirche kümmert mich einen Scheißdreck und dieser Innos kann mich am Arsch lecken! Hat mir mein Leben lang nichts gutes getan, hatter, und meiner Mama auch. Die hat den lieben langen Tag immer nur gebetet, immer gebetet hat die, 'Innos hier' und 'Innos da' und 'Innos hilf', aber ihr Mann, der Scheißkerl, hat trotzdem nich aufgehört sie zu prügeln und früher gestorben isser auch nich, der Dreckskerl.“
Die Eloquenz des großen Mannes schien eine überzeugende Wirkung zu entfalten und erntete allseitige Zustimmung.
„Na, wolln mal sehen, was unsere heilige Schwester so dabei hat!“, höhnte der, der Sagitta hereingelegt hatte, und wollte sich in Bewegung setzen. Doch eine Hand legte sich von hinten auf dessen Schulter und hielt ihn auf.
„Das wäre nun wirklich nicht gerade sehr freundlich, oder? Im Übrigen wäre ich in Bezug auf die Götter doch etwas vorsichtiger.“ Das war der junge Mann, der Sagitta angerempelt hatte! Ruhig stand er vor dem Anführer der Bande, ein nachsichtiges Lächeln auf den Lippen.
„Was w-w-willst D-du d-d-denn?“, rief der Stotterer, wohl in dem Versuch, bedrohlich zu klingen.
„Euch daran hindern, einen bedauerlichen Fehler zu begehen. Ich empfehle Euch wirklich dringend, jetzt hier zu verschwinden.“
„Hahaha! Der Typ ist echt witzig. So witzig, dass ich ihm glatt eine reinhauen würde!“, warf der Große mit untrüglichem Gespür für intelligenten Humor und Wortwitz ein, und erntete denn auch promt Gelächter.
„Verzieh Dich“, stieß der Anführer hervor, und holte zu einem Faustschlag gegen den jungen Mann aus. Der wich lächelnd zur Seite und ließ den Schlag ins Leere gehen.
„Na w-warte, Du Arsch!“, brüllte der Stotterer und stürmte los. Sagitta fürchtete, dass es ihrem unverhofften Beschützer nun an den Kragen ginge, doch der wich auch diesem Angriff nicht nur mühelos aus, sondern stellte seinem stämmigen Angreifer ein Bein, so dass dieser schwer auf das kalte Pflaster aufschlug. Der Beschützter sprang vor, packte Sagittas Hand, und zog sie mit sich.
„Bleib stehn, Du Lump!“, vernahm Sagitta zornige Stimmen, derweil sie versuchte, mit dem beachtlichen Tempo ihres Retters Schritt zu halten. Laufend passierten sie die Straßenbiegung, so dass sie wieder die Ausläufer des Marktes vor sich hatten. Noch lagen einige hundert Schritt zwischen ihnen und den ersten, einsamen Ständen, und das Getrappel der Verfolger hallte durch die Gasse.
Der Besitzer des ersten Standes lugte zwischen seinen Waren hervor, als er die Heraneilenden hörte. „Alles klaaaar?“, fragte er gedehnt, doch schon waren Sagitta und ihr Retter an ihm vorbei.
So froh sie gewesen war, das bunte Treiben des Marktes hinter sich zu lassen, so froh war sie, den Schutz der Menschenmenge nun wieder zu erreichen. Sie drehte sich zu den Verfolgern um, die ihre Jagd allerdings eingestellt hatten. Aus sicherer Entfernung schauten sie böse zu ihr herüber.

Sagitta keuchte kleine Atemwölkchen in die Luft, und ihr Herz pochte schnell und heftig. Der Sprint hatte sie erschöpft, und trotz der kalten Luft war ihr der Schweiß ausgebrochen.
„Ist alles in Ordnung mit Dir?“, fragte der junge Mann. Sie nickte. „Danke. Vielen Dank! Wie bist Du nur so plötzlich hergekommen?“
Sie erhielt ein Lächeln zur Antwort, und diesmal wirkte es nicht ruhig, sondern war ausgelassen strahlend. „Ich hatte irgendwie gleich den Eindruck, dass Du Hilfe brauchst, und als ich gesehen habe, wie dieser Kerl und seine Kumpanen Dir hinterher gegangen sind, hielt ich es für sinnvoll, Euch zu folgen. Mein Name ist übrigens Uriel, und wie heißt Du?“

Sagittas Herzschlag und Atem hatten sich beruhigt. Der Fremde namens Uriel hatte sie zu einem nahegelegenen Teehaus eingeladen. Sie war froh, der Kälte entkommen zu sein, denn ein prasselndes Feuer strahlte angenehme Wärme in den Raum. Sagitta hatte die Hände um die Tasse gelegt, aus der heißer Dampf aufstieg. Ihr Gegenüber nippte hin und wieder an seiner Tasse und aß langsam von dem Kuchen, der mit dem Tee serviert worden war. Der Eigentümer des Lokals – ein Varantiner mit dunkler Haut, dunklen Haaren, dichtem Schnauzbart und exotischem Akzent - erkundigte sich kurz, ob alles zur ihrer Zufriedenheit sei, und widmete sich sodann wieder den anderen Gästen.
„Was soll ich jetzt nur tun?“, fragte Sagitta Uriel, als sie die Geschichte, wie sie Meister Merinor verloren hatte, zuende erzählt hatte, „es wird schon dunkel, und Meister Merinor ist ein alter Mann, der vermutlich gar nicht weiß, wohin! Er könnte überall sein.“
Uriel schaute sie aus gütigen Augen an. Seine Gegenwart und freundliche Art beruhigten sie ein wenig. „Kopflos in irgendwelche Gassen zu laufen bringt uns wohl kaum weiter“, sagte er, „außerdem ist Merinor ein Feuermagier und vielleicht mächtiger, als Du denkst. Ein wenig Vertrauen in den Gott, dessen Kirche Ihr beide angehört, könnte vielleicht hilfreich sein.“
Sagitta stützte schwer das Kinn auf die Hand und seufzte: „Bei Meister Merinor ist nicht viel vom Feuermagier übrig. Und ich bin auch nicht gerade die beste Nonne, die man sich vorstellen kann.“
„Wieso denn das?“, fragte Uriel, „Du hast Dich dazu entschieden, Dein Leben Innos und seiner Kirche zu widmen, oder?“
Sagitta zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht recht. Ich bin halt bei den Schwestern aufgewachsen und habe eigentlich nie etwas anderes gekannt. Ich wusste halt nicht, wo ich sonst hätte hingehen sollen.“
„Hast Du denn sonst keine Familie?“
„Nein. Die ist wohl gestorben, als ich noch klein war, aber daran erinnere ich mich kaum noch.“
„Aber das macht Dich doch nicht zu einer schlechten Nonne, oder?“
„Vielleicht nicht. Aber ich weiß nicht, ob ich mich dazu entschieden hätte, wenn ich bei meinen Eltern groß geworden wäre. Oder wenn ich etwas mutiger wäre. Es gab ja noch andere Waisenmädchen bei den Schwestern. Die meisten von ihnen sind irgendwann gegangen. Die anderen Nonnen sind fast alle so vergeistigt und so spirituell und so weiter.“
„Ich habe Gerüchte gehört, dass Euer Konvent einer der größten Abnehmer von Süßspeisen in der Stadt sei. So vergeistigt und spirituell kann es bei Euch also gar nicht zugehen!“
Sagitta lachte. „Ja, unsere Mutter Oberin sorgt wirklich mit großer Entschiedenheit dafür, dass wir mit Süßigkeiten gut versorgt sind. Offiziell natürlich für die Waisen, aber das hindert uns anderen auch nicht, von unseren Vorräten zu naschen, insbesondere die Oberin selbst nicht. Aber das meine ich nicht. Ich... ich glaube, dass mir eigentlich die nötigen Tugenden fehlen.“
„Was denn für Tugenden? Brauchen denn Ordensschwestern mehr Tugenden, als normale Menschen?“
Sagitta nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Na, sowas wie Demut halt, Gehorsam, und...“ Bei Uriels Lächeln bildeten sich kleine Grübchen um seine Mundwinkel, und seine Augen strahlten. Sie waren bernsteinfarben mit kleinen, sternförmig angeordneten Sprenkeln darin. Sagitta fürchtete, zu erröten, als ihr bewusst wurde, dass sie Uriel anziehend fand. „...und halt so... Tugenden. Die man als Nonne haben muss.“
Sie dachte über ihr Leben nach. Sie mochte das Leben im Konvent, fühlte sich dort wohl und Zuhause. Und doch hegte sie Zweifel daran, dass dieses Leben für sie das richtige war.
„Wem ist denn die Mutter Oberin zu Gehorsam verpflichtet? Und zu Demut?“
„Hm, naja... den hohen Feuermagiern, würde ich sagen. Sonst eigentlich niemandem. Außer Innos, natürlich.“
„Naja, gegen Innos ist ja sogar der König zu Demut und Gehorsam verpflichtet, oder? Das zählt also nicht. Wenn Dir also Demut und Gehorsam nicht liegen, musst Du nur Oberin werden!“
„Haha, sehr komisch“, entgegnete Sagitta, „währenddessen kannst Du ja zum Oberbürgermeister von Vengard avancieren!“
Uriel lachte. „Nicht schnippisch werden! Ich wollte ja bloß ausdrücken, dass Dein Leben als Nonne durchaus noch Möglichkeiten für Dich bereit hält.“
Sie senkte die Tasse auf den Tisch herab und hob den Kopf, schaute ihrem Gegenüber in die Augen. „Was hast DU eigentlich für ein Interesse daran, dass ich im Orden bleibe?“
Uriel runzelte verwundert die Stirn. „Interesse? Wieso sollte ich daran Interesse haben?“
„Heißt das etwa, Du willst, dass ich den Orden verlasse?“
„Wie bitte? Ich...“
„Also das wäre nun wirklich allerhand!“
„Ich...ähm, Moment mal! Ich will doch gar nicht... also, mir ist doch egal, ob Du bei den Nonnen bleibst oder nicht!“
Sagitta schnaubte empört: „Hah! Dann bin ich Dir also völlig egal?“
„Also, d-das...“
Uriel hatte mittlerweile einen hochroten Kopf, an dessen Stirn Schweißperlen glänzten. Sagitta lachte schallend.
„Du siehst süß aus, wenn Du verwirrt bist“, sagte sie. Als es heraus war, und sie bemerkte, was sie hier tat, dass hier mit einem wildfremden Mann flirtete, schlug sie erschrocken die Hand vor den Mund.
Uriel fand zu seiner alten Ruhe zurück: „Ich sehe nun, was Du meinst“, meinte er. Sagitta glaubte, sie müsse sich schämen, doch das schalkhafte Blitzen in Uriels Augen ließ ihr Herz ein wenig höher schlagen.
„Die vornehmliche Tugend, derer Du JETZT bedarfst, ist jedenfalls eine gute Spürnase“, meinte Uriel, „also würde ich vorschlagen... was hast Du denn?“
„Ich HABS!“, rief sie und sprang auf. „Ich weiß jetzt, wie wir Meister Merinor finden!“
Uriel schaute verwirrt, und sah dabei tatsächlich süß aus. „Wie denn?“
Sagitta grinste triumphierend. „Komm mit, ich zeige es Dir!“

Als die beiden beim Stand der Süßkinds angekommen waren, hatte sich bereits die Nacht über die Stadt gelegt, doch hunderte Kerzen und Fackeln erleuchteten den Domplatz. Tatsächlich hatte es noch zu schneien begonnen, jedoch noch nicht so stark, dass es die Menschen zu stören schien. Es wurde kälter, doch der Glühwein floss dafür umso reichlicher, und die Krämer schickten sich nicht zum Schließen ihrer Stände an, da durchaus noch Gewinne zu erzielen waren.
„Ach, Gitta! Schon wieder da? Oh, ist Dein Meister jünger geworden?“ Ina warf Uriel einen interessierten Blick zu. Der Andrang war nicht mehr ganz so schlimm wie am Nachmittag, und Jonas war nun zugegen, so dass der Betrieb nun weniger hektisch war.
„Das ist Uriel“, sagte sie, „ein Freund. Das ist eine lange Geschichte. Was Meister Merinor angeht: Den habe ich verloren.“
„Wie, verloren?“
„Na, verloren. Er ist weg. Du hast ja erlebt, wie er sein kann. Er ist sicherlich verwirrt, so ganz alleine.“
„Das ist ja schrecklich! Sagitta, was machst Du denn nun?“
Jonas hatte das Gespräch mit angehört. „Sollen wir Dir vielleicht suchen helfen? Habt Ihr vielleicht mal die Stadtbüttel informiert?“
Sagitta schüttelte den Kopf. „Ich habe eine bessere Idee. Schaut, der hier gehört Merinor. Er hat ihn ausgezogen, um die restliche Hälfte meines kandierten Apfels zu essen.“ Sagitta holte Merinors Handschuh hervor. „Sagt mal, glaubt Ihr, dass ich mir vielleicht Rolo ausleihen könnte?“
„Wer ist Rolo?“, fragte Uriel sie. Ihm schien nicht klar zu sein, warum Sagitta ihn hergeführt hatte, oder wie das dabei helfen sollte, den vermissten Feuermagier wiederzufinden.
„Das ist Rolo“, sagte Sagitta und deutete auf den Hund, der immer noch an seinem Platz lag, „und ich denke, dass er genau DIE vornehmliche Tugend hat, derer es mir leider gebricht.“

Jonas war einverstanden gewesen und kam selbst mit. „Eigentlich mag ich diesen Verkaufstrubel nicht besonders, da bin ich froh, den Stand verlassen zu können.“
Sie hatten Rolo an Merinors Handschuh schnuppern lassen, und der hatte die Witterung aufgenommen. Nun führte er sie an straff gespannter Leine vorwärts.
„Raffiniert, wirklich raffiniert“, sagte Uriel anerkennend. Angesichts Ihres Stolzes über dieses Lob kam sie sich ein wenig töricht vor.
Sie kamen an Borgus' Stand vorbei, und passierten einige weitere Stellen, die Sagitta bekannt vorkamen. Eine Zeit lang war sie offenbar tatsächlich auf der richtigen Fährte gewesen. Der Hund führte sie tiefer in das Gewirr der Straßen von Vengard. Zum Glück hatte Jonas eine Fackel mitgenommen, denn angesichts des immer stärker werdenden Schneefalls boten die Straßenlampen kaum ausreichendes Licht.
„Ich denke, hier bin ich schon gewesen“, sagte Sagitta. „Naja, Du wohnst ja auch schon seit fast zwanzig Jahren in der Stadt, da wundert es nicht, dass Du ein Bisschen herumgekommen bist“, entgegnete Jonas.
Sie folgten weiter dem Weg, den Rolo sie führte.
„Neinnein, ich meine: Ich kenne mich hier wirklich gut aus. Dort hinten geht es zu unserem Konvent herunter. Und dort, wo uns Rolo hinzieht... NEIN!“
Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Aber es war wahr. Rolo führte sie geradewegs auf ein größeres und wohlhabenderes Anwesen zu, dass Sagitta nur allzu vertraut war. Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und stöhnte auf.
„Was ist denn?“, fragte Jonas besorgt, „stimmt etwas nicht?“
Sagitta schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Es ist alles in Ordnung. Ich darf Euch auf dem Anwesen seiner Eminenz Meister Merinor willkommen heißen, Erzbischof der heiligen Kirche Innos' und Meister der Flamme.“

Jonas hatte das Angebot von etwas Tee oder Gebäck in Merinors Anwesen abgeschlagen. Seine Eltern würden ihn ohnehin dafür rügen, dass er den Stand verlassen habe, da wolle er lieber nicht länger als nötig wegbleiben.
Nun standen Sagitta und Uriel alleine vor der Haustür. Im Innern des Hauses schien es größtenteils dunkel zu sein, doch Sagitta hatte Licht durch das Fenster von Merinors Arbeitszimmer gesehen. Der alte Zausel hatte es also tatsächlich geschafft, alleine nach Hause zu finden! Wie lange er wohl schon hier war?
„Willst Du... willst Du vielleicht noch...?“ Sagitta stockte. Sie wusste nicht, ob es recht war, Uriel noch mit ins Haus zu nehmen. Gewiss, Gastfreundschaft war eine hohes Gut, das man von einer Schwester Innos' erwartete. Insbesondere einem Menschen gegenüber, der ihr so sehr geholfen hatte, wie Uriel. Doch der Gedanke daran, Uriel einen Augenblick am warmen Kaminfeuer und etwas Verpflegung zu bieten, fühlte sich keineswegs nach Pflichterfüllung an.
„Nein. Ich denke, ich werde jetzt auch gehen, Sagitta.“ Er hielt inne. „Es war schön, Dich kennen zu lernen, weißt Du?“
Sagitta nickte. „Ja. Ich danke Dir. Ohne Dich wäre ich verloren gewesen. Doppelt verloren.“
Uriel trat an sie heran und strich ihr eine Locke aus der Stirn. Sagitta hatte derlei schon öfters beobachten können. Das schien bei jungen Männern gegenüber ihren Liebchen sehr beliebt zu sein. Für einen kurzen Augenblick berührte seine Fingerspitze die Haut ihrer Stirn. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Uriel gar keine Handschuhe trug, und dennoch war seine Hand angenehm warm.
„Unsinn“, sagte er, „Du hattest den rettenden Einfall doch selbst. Darauf muss man erstmal kommen!“
Er verstummte. Würde er sie jetzt küssen? Bei normalen Mädchen, deren Leben nicht Innos geweiht war, würde es bestimmt so laufen. Uriel beugte sich ein wenig herab, ihre Gesichter näherten sich einander, bis sie den Atem des andern spüren konnten. Sagittas Herz schlug noch schneller als nach der Verfolgungsjagd, und obwohl sie zu zittern glaubte, spürte sie keine Kälte mehr. Beinahe berührten sich ihre Lippen.
„I-ich... ich...“, stammelte sie, „i-ich muss noch Merinors Strümpfe zusammenlegen!“
„Strümpfe?“
„Danke, dass Du mir den Tag gerettet hast“, stieß sie hervor und küsste Uriel auf die Wange. Auf die Wange, nur auf die Wange! Hastig öffnete sie die Tür, trat hindurch und warf sie hinter sich in die Angeln.
Sie verharrte noch eine Weile, den Rücken an das Holz der Tür gelehnt. Schließlich hörte sie das Stapfen sich entfernender Schritte.
Ein aufgekratztes, überspanntes Kichern bahnte sich seinen Weg aus ihr heraus. Sie war wirklich schön blöd, da hatte dieser Straßenräuber schon recht gehabt: Nur sie konnte so dumm sein, in so einer Situation von Merinors SOCKEN zu sprechen!

Am nächsten Morgen stand Sagitta mit einer sonderbaren Mischung unterschiedlicher Gefühle auf. Es war Weihnachten, Heiligabend, aber irgendwie spielte das dieses Jahr kaum eine Rolle. Sie hatte keine Geschenke kaufen können, und hier im Hause Merinors hatte sie auch keinerlei Geschenke zu erwarten. Freilich, heute würde sie sich und Merinor fein herausputzen, sie würden die Messe im Dom besuchen und danach an einem Festbankett teilnehmen, zu dem ihr Meister als hoher Feuermagier geladen war. Aber diese Dinge waren nicht wirklich etwas Besonderes.
Ihre Gefühle rührten vor allen Dingen von den Erlebnissen des Vortages her.
Die Bekanntschaft mit Uriel hatte eine bestimmte Saite in ihr angeschlagen. Es war nichts gänzlich Neues, doch hatte es sich eben noch nie so eindeutig manifestiert, wie jetzt: Sie hatte sich verliebt.
Es fühlte sich gut an, aber auch ein wenig wehmütig, denn sie wusste nicht, wo Uriel wohnte, was er tat oder wie sie ihn finden könnte. Sie hatte einen Freund gewonnen, doch die Wahrscheinlichkeit, ihn wiederzusehen, schien ihr eher gering. Doch selbst diese Wehmut fühlte sich auf merkwürdige Weise schön an.
Dass sich Uriel noch einmal von sich aus blicken ließe, schien ihr angesichts ihres gestrigen Abschieds jedenfalls sehr unwahrscheinlich. Dafür wollte sie sich am liebsten immer noch selbst ohrfeigen. Wohl noch nie hatte sie etwas derart Törichtes gesagt! Und so gesellte sich zu Verliebtheit und Wehmut auch etwas Wut auf sich selbst.
Und dann war da natürlich Merinor. Dass er wohlbehalten nach Hause zurückgefunden hatte, war eine Erleichterung. Zornig war sie ihm dennoch, dass er ihr all diesen Ärger bereitet hatte. Aber auch ein wenig dankbar, denn andernfalls hätte sie Uriel niemals kennen gelernt.
Merinor verhielt sich diesen Morgen nicht anders, als sonst. Er ließ sich von Sagitta wecken, nahm das Bad in Anspruch, dass sie ihm vorbereitete, und schlüpfte in die Roben, die sie ihm auslegte. Als er in das Esszimmer trat, in dem sie das Frühstück bereits angerichtet hatte, beschwerte er sich über die Position des Eierbechers. Sagitta revanchierte sich mit einer Klage über die schief hängende Robe und die schlecht geschnürten Troddeln. Sie zupfte an Merinors Kleidung herum, bis alles ordentlich und eines Magiers des Feuers angemessen saß. Nach dem Frühstück räumte sie den Tisch ab, und als sie wieder ins Esszimmer trat, saß Merinor noch immer auf seinem Platz. Mit großen Augen schaute er sie an.
„Stimmt etwas nicht, Meister Merinor?“, fragte sie, unsicher, ob sie in den Augen ihres pingeligen Meisters wieder etwas falsch gemacht hatte.
„Wir indizieren, ähm, indUzieren auf Basis von sozialer oder vielleicht, ähm, nun, ERFAHRUNG, auf gesellschaftliche Konventionen als normgebende... gleichsam gebende, Normen, vonket..., ähm, KONVENtioneller und mithin hypothetischer Natur, NICHT moralischer, und antizipieren, quasi empirisch, zwischenmenschliches Verhalten.“
Merinor schien auf etwas zu warten. Dann seufzte er und deutete auf Sagittas Platz. Sagitta legte die wenigen Schritte zurück.
„Aber... was ist das denn?“, fragte sie. Merinor hob bloß die Brauen. „Gesellschaftliche Konvention!“, sagte er empört.
Sagitta packte das Geschenk aus. Es war ein Buch, eine wunderschöne Handschrift. Sagitta hatte immer gern in der Bibliothek des Konvents gelesen, aber nie ein eigenes Buch besessen. „Die rumreychen und gar wundersamen Abentheuer des edlen Ritters Sir Imadis von Junkersbach (nahe Trelis) und seynes tapferen Knappen“, las sie den Titel des Buches, geschrieben von einem gewissen Miguel de Vercantes.
Sagitta war sprachlos. Ihr Meister Merinor hatte ihr ein Weihnachtsgeschenk gemacht! Ein Gefühl der Rührung erfasste sie.
„Natürlich mal wieder typisch, dass ICH nichts bekomme“, quengelte Merinor, „ich weiß ja wirklich nicht, was DU den ganzen Tag gestern gemacht hast. Aber ICH jedenfalls habe meine Weihnachtsbesorgungen erledigt.“


Ende