Extraschicht für Meister Saddel

für Eddie


Es war kalt draußen. Wahnsinnig kalt. Das ganze Umland war schon lange in ein immer dicker werdendes weißes Gewand gehüllt, das, vor wenigen Tagen noch wie ein dünnes Laken, nun wie ein gefütterter Pelzmantel die Umgebung einhüllte und alles darunter zu ersticken drohte.
Die Miliz hatte den Versuch schon lange aufgegeben, die wichtigen Verbindungswege zwischen den Städten und Dörfern von verurteilten Verbrechern freischaufeln zu lassen, da bereits zu viele dieser armen Beliars zumindest eines ihrer Gliedmaßen an die wortwörtlich kalte Hand des Todes abgetreten hatten. Wieder andere der Sträflinge waren entflohen, was die Gegend nicht gerade sicherer machte, sofern sie nicht auch erfroren waren. Der Kampf gegen das eisige Element war einfach von Anfang an aussichtslos gewesen. Nun saßen die meisten Menschen in ihren Hütten und Häusern und hofften einfach darauf, dass die Vorräte reichen würden. Kaum noch jemand ging seiner geregelten Arbeit nach, da das Wetter die meisten Tätigkeiten unmöglich zu bewerkstelligen machte. Die Ökonomie stagnierte mal wieder, doch in zumindest einem Betrieb im östlichen Sildener Umland ging ein Lehrling seiner Arbeit nach.

Frank blickte, seinerseits in einen eher wärmenden Pelzmantel verhüllt, mit Kennerblick auf die soeben reparierte Kutsche. Eigentlich hatte er das ganze Drum und Dran auf eine neue Achse setzen müssen, womit es viel eher auch eine neue Kutsche mit einige alten Teilen war, aber das war ja Ansichtssache. Hauptsache, das Ding fuhr wieder. Wenn es das denn tat, denn dies galt es, bald auszuprobieren. Es würde ein sehr kurzer Ausflug werden. Mehr würde der Chef seinem Lehrling und vor allem den Pferden bei diesen Temperaturen wohl auch nicht zumuten wollen. Der angehende Kutschenexperte sah aber dennoch gegen diese unvermeidliche Fahrt ins Kalte an.
Als eine dicke Schneeflocke eine Landung in dem kleinen Ausschnitt geschafft hatte, über die sie Franks Nacken erreichen konnte, und sie auch schon im Begriff war, zu schmelzen und ganz langsam seinen eigentlich noch gut gewärmten Rücken hinunter zu laufen, beschloss Frank, den Blick endlich abzuwenden und in die Werkstatt zurückzukehren. Einfach widerlich, wie sich das anfühlte. Das Rauschen des eiskalten Windes verstummte schlagartig, als er die Tür hinter sich schloss.
Frank atmete tief durch. Die praktische Arbeit war mal wieder fast getan, bald müsste er zurück zur Universität. Und dann war ja auch schon fast Weihnachten...
„Fraaank?“, ertönte plötzlich eine wohlbekannte Stimme aus dem hinteren Teil der großen Kutschenwerkstatt, „Fraaahaaaaankkkk?!“
Meister Saddel war wieder in Rage. Wie immer, wenn ihm wieder einige Wochen ohne seinen Schützling bevorstanden. Wahrscheinlich würde er gleich noch „ein paar kleine Sächelchen“ aufzählen, die Frank noch vor seiner Reise zurück nach Geldern zu erledigen hatte. Dann kam der dickliche ältere Herr auch schon vor Anstrengung schnaubend um die Ecke.
„Ach Frank, pff... hu, da bist du ja. Warum hat das denn so lange gedauert? Ach egal, jetzt biste ja da, weißt du, welcher Auftrag jetzt noch unbedingt raus muss, bevor du wieder zu die Uminersität hinne gehst?“
Franks Antwort bestand lediglich aus einem fragenden Blick, denn natürlich wusste er das nicht. Außerdem war er verwundert darüber, wie aufgeregt sein Chef zu sein schien, der sich doch sonst nie so einen Stress machte, wo er für den Stress doch Frank hatte.
„Die Kutsche... wo du grad am schrauben dran warst... wie weit biste damit?“ Der Chef röchelte geradezu vor Luftschnappen und Frank konnte verzweifelte Hoffnung in seinen Augen aufflackern sehen. Da lächelte er dem alten Mann fröhlich entgegen, „Ich bin fertig. Hat 'ne Weile gedauert, aber sie müsste wieder fahren. Probiert hab ich's zwar noch nicht, aber –“
„Na, klasse!“ Saddel klatschte vor Glück lautstark in die Hände und legte ein breites Grinsen auf, „Für Testfahrt ham'wer jetzt auch gar keine Zeit. Dat Ding muss jetz' nach Silden. Sofort. Aber einmal ansehen will icks mir vorher noch. Man sieht ja nicht jeden Tag sooo eine Kutsche...“
Da hatte Meister Saddel auch schon die Tür geöffnet und das unangenehme Pfeifen des Windes fegte Frank entgegen. Er zog misstrauisch eine Braue hoch, bevor er seinem Chef hinterher rief:
„Und wie wollen Sie das Ding jetzt noch nach Silden kriegen? Peter ist doch krank. Sie müssten die Werkstatt schließen, wenn Sie selber...“
Saddel hatte sich zu Frank umgedreht und eine unsichere und bittende Miene aufgelegt. Es wirkte, als wolle er einen Dackelblick versuchen, und wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Frank wohl gegen den Drang ankämpfen müssen, lauthals loszulachen.
„Nein“, sagte er stattdessen nur und schüttelte energisch den Kopf, „Das kann ich echt nicht machen, Meister. Ich würde unzählige Vorlesungen zur Theorie des Kutschenbaus, zur Physik und zur angewandten Kutschensegnung verpassen!“
„Ach, papperlapapp!“, entfuhr es Meister Saddel schließlich, als er merkte, dass er mit dem Dackelblick nicht punkten konnte, „Guck mal hier!“ Er hämmerte mit der zur Faust geballten rechten Hand auf die stabile Kutschtür ein. „Hast du das etwa inner Uminersität gelernt? Nee, das is' Handwerk!“ Demonstrativ zeigte er nun auf die stahlverstärkten Holzräder. „Und das da: Bestens verarbeitete Materialien, ganz wie der Meister früher. Ich sag dir, da kannste drauf einschla'an! So wie die Orks damals im Krieg. Die ham auch drauf eingschla'an! Aber meine Kutschen hielten!“
Frank verdrehte die Augen, diesen Vortrag hatte er sich schon zig mal anhören müssen.
„Und damals, da hat noch keiner geglaubt, er müsste in die Uminersität lernen, wenn der dann Kutschen bauen wollte. Und trotzdem ham wir die besten Wagen gebaut. Na, was sachste jetzt?“
Meister Saddel hatte sich mal wieder in Rage geredet und sein Glatzkopf war dabei puterrot geworden. Die kleinen Schneeflocken schmolzen darauf noch schneller, als sie es – mal wieder – in Franks Nacken taten.
Der Lehrling hatte wirklich keine Lust, auch diese Reise noch unternehmen zu müssen. Er hatte sich doch schon so sehr darauf gefreut, an die Universität und zum Fest zu seiner Familie zurückkehren zu können. Aber er konnte anderen kaum einen Gefallen ausschlagen. Er seufzte tief.
„Aber Sie bezahlen mir die Fahrt nach Geldern, wenn ich den Karren in Silden abgeliefert habe.“
Meister Saddels Augen glänzten, „Ja natürlich, Junge! Komm, ich geb dir gleich ein paar Kupferlinge mit. Und eine Aufwandsentschädigung und Weihnachtsgeld!“
Verdutzt starrte Frank seinem Chef hinterher, als dieser schon fast wieder in der Werkstatt verschwunden war. Nie zuvor hatte dieser sich so großzügig gezeigt, aber ob der Belohnung war er nun gar nicht mehr so verstimmt, dass er mal wieder weich geworden war. Ein dicker Eiszapfen brach von der Dachrinne.

Ganz so hoch, wie erhofft, fielen letztendlich weder Weihnachtsgeld, noch die Aufwandsentschädigung aus, aber klagen konnte Frank dann doch nicht. Er steckte das Säckchen mit den Münzen in die Innentasche seines wärmenden Eberfellmantels und wartete die weiteren Instruktionen seines Meisters ab.
„So, mal sehen...“, sprach dieser, als er in seinen Auftragsunterlagen blätterte, „Hm, ja. Nach Silden muss die Kutsche...“
„Hat der Kunde eine Adresse angegeben?“, fragte Frank routiniert. Verlegen kniff der Chef die Augen ein wenig zusammen, kratzte sich am Kinn und schüttelte schließlich mit dem Kopf.
„Nicht direkt, nicht direkt...“
„Was soll das heißen, 'nicht direkt'? Wohin soll ich das Ding denn bringen?“ Franks Verwirrung wuchs und wuchs immer weiter.
„Du kennst doch sicher Egons Nagelschmiede?“, fragte der Chef.
„Gegenüber von Theklas Suppenküche?“, erwiderte Frank prüfend.
„Kommt drauf an... Ist die neben Ormkels Fleischerladen?“
„Ist das der, wo die Wurst immer so verdorben schmeckt?“
Meister Saddel schnipste bestätigend mit den Fingern, „Genau!“
„Ja, dann kenne ich Egons Nagelschmiede.“ Frank war froh, dass er und sein Chef sich so gut verstanden.
„Du fährst jedenfalls bei Egon seine Nagelschmiede aus Silden raus und verlässt den Weg. Das wird etwas schwer für die Pferde, aber die schaffen das schon. Sind gute Tiere. Nach wenigen Stunden erreichst du dann die Berge, wo irgendwo 'ne Höhle sein soll. Die darfst du auf keinen Fall betreten! Am besten findest du die erst gar nicht, sondern wartest einfach ab. Der Kunde meint, er wird dich dann schon finden.“
Frank merkte gar nicht, wie ihm die Kinnlade runterklappte. Erlaubte sich der Meister hier einen bösen Scherz mit ihm, oder war er einfach verrückt geworden? So etwas bescheuertes hatte der junge Lehrling jedenfalls noch nie von einem Kutschenbauer gehört. Weder von Meister Saddel, noch von einem der Wagenbau- und -handels-Dozenten in Geldern. So lief doch kein anständiges Kutschengeschäft über die Bühne! Aber der Chef sah ihn ganz ernst an.
„Und wie komme ich dann nach Silden zurück, wenn der Treffpunkt so weit außerhalb liegt?“
„Dafür wird gesorgt. Hat der Kunde versprochen.“
„Und...“, setzte Frank erneut zur Frage an, „Kannst du mir wenigstens den Namen des Kunden nennen?“
„Das, lieber Lehrling, gehört leider auch zu den... wenigen Dingen, über die ich dir keine genaue Auskunft geben kann.“ Unsicher tippelte der Meister von einem Fuß auf den anderen.
„Wie soll ich den Kunden denn dann jemals finden?“, fragte Frank verzweifelnd. Der Gedanke, es sei doch gut gewesen, diesem Auftrag zugesagt zu haben, war schon längst wieder wie weggeblasen.
„Ich habe doch gesagt, der Kunde wird dich finden.“, Meister Saddel legte Frank die Hand auf die Schulter, was ihm dank seiner geringen Körpergröße ein wenig schwer fiel, und sah Frank in die Augen. „Vertraue mir.“

Max und Moritz – so hatten die Kinder von Meister Saddel die beiden Stuten ungeachtet ihres Geschlechts damals getauft. Es waren kräftige und willensstarke Tiere, aber Frank sorgte sich dennoch. Die Temperaturen dieses Winters waren wirklich unnormal eisig und je näher sie den Bergen Nordmars kämen, umso kälter würde es noch werden.
„Und Sie können mir die Stelle wirklich nicht ungefähr auf einer Karte zeigen?“, rief er vom Platz des Kutschers aus gegen den Wind an.
„Nee“, lautete die barsche Antwort, „Ick weiß den Weg nach Silden und Geldern ausm Kopp. Was soll ich da mit ner Karte anfangen? Die letzte hat vor zwei Jahren Moritz gefuttert.“ Unschuld heuchelnd blickte das Pferd um sich und tat so, als hätte es nichts gehört.
Frank hatte ein flaues Gefühl im Magen, hatte er doch keinerlei Informationen, die ihm weiterhelfen konnten. „Na gut, dann fahr ich mal. Ich kann aber für nichts garantieren! Hüa!“
Und mit diesen Worten gab er den beiden Stuten zu verstehen, sie sollten losreiten. Zurück ließ Frank einen Meister, der alle seine Hoffnungen in ihn setzte.
„Hoffentlich schafft'er dat.“, murmelte dieser mit einem Blick auf sein Haus, durch dessen Fenster er seine Kinder spielen sah, „Wenn'er wüsste, was davon abhängt!“

Fährt ja relativ ruckelfrei, dachte Frank stolz, nachdem er grob geschätzt bereits eine knappe Meile zurückgelegt hatte. Schnittig ist sie auch. Zwar keine Sportkutsche, aber lange nicht so plump, wie diese Familien-Karossen, obwohl sie fast genau die Maße hat. Frank musste unwillkürlich grinsen. Plötzlich fühlte er sich richtig gut.
Und ebenso schienen sich die beiden Pferde zu fühlen. Man sah ihnen deutlich an, wie sehr sie es genossen, endlich mal wieder Auslauf zu bekommen. Obwohl die Verbindungsstraße schon fast wieder komplett zugeschneit war, und das Laufen und Ziehen sicherlich nicht so einfach, wie noch im Herbst, strotzten sie nur so vor Energie. Tolle Tiere, dachte Frank und fühlte sich ungeachtet der Kälte sicher und wohl auf der neuen alten Kutsche. Endlich hatte er Zeit, die Landschaft zu genießen.
Es war wirklich alles weiß, und ständig fielen neue Flocken zu Boden. Tausende in der Sekunde, überall ringsherum. Der Schnee auf dem Boden reduzierte das eigentlich laute Trappeln der Pferdehufen zu dumpfen Aufschlägen, nicht halb so geräuschvoll.
Der Anblick hatte schon etwas für sich und manchmal wusste Frank die Einsamkeit, in der Meister Saddels Werkstatt lag, richtig zu schätzen. Sie war so weit ab vom Stadtlärm, sehr weit im Osten des Sildener Landes, lief aber dank der hohen Qualität, die jedes einzelne Werkstück dort aufwies, trotzdem rentabel. Es gab natürlich auch andere Tage, an denen Frank die Einsamkeit gar nicht mehr ertragen konnte und sich wieder unter Menschen sehnte, die möglichst gar nichts mit dem Kutscherhandwerk zu tun haben sollten. Immer wenn es so weit war, tröstete er sich damit, dass so ein Monat ja auch keine Ewigkeit war und dass er bald wieder an die Universität gehen und seine Familie sehen könnte. Und dann kam ja auch schon wieder Weihnachten...
Der junge Kutschenbauer hatte den Geschmack von in roten Zuckerguss getauchten Äpfeln schon regelrecht auf der Zunge, als plötzlich die Pferde wiehernd hochschreckten.
Frank wurde hin und her geschüttelt, der Platz des Kutschers war durch den Schnee besonders rutschig geworden. In einem sehr heiklen Moment drohte er sogar, völlig den Halt zu verlieren und rechts über das kleine, eher zierende Geländer zu stürzen.
„Ruhig, ihr beiden! Ruhig!“, brüllte Frank voller Panik, bis er bemerkte, dass sein Tonfall bei den Tieren eher das Gegenteil des Gesprochenen bewirken würde. Sie waren noch immer außer Rand und Band. Als Frank wieder einigermaßen ruhig dasaß, wagte er einen Blick in die an beiden Seiten der Kutsche angebrachten Seitenspiegel – eine patentierte Erfindung des Meisters – und erschrak heftig, als er um die fünf weiße Schemen sich auf dem Schnee bewegen sah, die sich farblich nur minimal von diesem abhoben. Eiswölfe aus Nordmar. In seiner gut ausgeprägten Fantasie sah der junge Mann sie schon die Zähne fletschen.
„Schneller! Hüa!“, trieb er Max und Moritz an, aber sicherlich gaben die beiden in ihrer Angst schon alles. Frank musste sich irgendetwas einfallen lassen.
In der Gewissheit, als Kutscher im Moment eh überflüssig zu sein, verließ er seinen Posten und kletterte vorsichtig in den Laderaum. Vielleicht gab es ja noch Ballast abzuwerfen, um den Pferden die Flucht zu erleichtern... oder vielleicht gab es hier etwas, das er nutzen konnte, sich zu verteidigen. Aber selbst, wenn dort nun ein Langschwert gelegen hätte, hätte er es niemals gegen fünf Eiswölfe aufnehmen können. Da gab Frank sich gar keinen Illusionen hin.
Es gab ein starkes Ruckeln, gerade als er den zweiten Fuß in den Lade- und Passagierraum der Kutsche setzen wollte. Schreiend verlor er den Holzboden unter den Füßen und wurde hart gegen die Wand geschleudert. Immerhin in die Richtung, in die er auch wollte.
Schwarze Schleier bildeten sich vor seinen Augen, als er diese öffnete. „Du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden!“, ermahnte er sich selbst lautstark und setzte sich entschlossen auf. Alles tat irgendwie weh, aber gebrochen war wohl nichts. So die Selbstdiagnose.
Die Vorhänge vor allen Fenstern der Karosse ließen nicht viel Licht einfallen. Frank konnte kaum etwas sehen. Er stand auf, trotz wackeliger Beine, und zog die edlen Stofffetzen der Reihe nach beiseite. Dann sah er sich erneut um. Es gab tatsächlich einen Knüppel an der Stelle, wo Meister Saddel in seiner Vorsicht immer einen versteckte, wenn irgendwelche Testfahrten anstanden. Frank nahm sich das schwere aber handliche Stück Holz und begutachtete es genau. Dann dachte er wieder an die Reißzähne der Wölfe und ihm wurde regelrecht übel. Nein, das brachte nichts. Gar nichts. Aber was hatte er denn sonst hier zu finden gehofft? Was hätte es sonst in einer gerade reparierten Kutsche geben können, die komplett leer bei ihnen abgegeben worden war?
Ein großes Paket? Der dem Tode geweihte Kutschenmechaniker glaubte nicht, was er dort sah. Ein großes, unförmiges Paket, das mit grobem Packband zugeschnürt war. Daran hing ein Zettel, in fein säuberlicher Handschrift geschrieben: „Ein gutes Weihnachtsmahl erspart dir Beliars Qual“
Hektisch riss Frank das Papier beiseite und zum Vorschein kam ein dicker, fetter Truthahn. Das Tier war bereits gefedert worden, aber sonst unbehandelt. Vielleicht war das die letzte Chance.
Frank zerrte den dicken Weihnachtsbraten nach vorne, neben sich auf den Kutscherplatz. Durch einen Blick auf den linken Seitenspiegel stellte er erschrocken fest, dass das kleine Eiswolfsrudel schon ein wenig aufgeholt hatte. Max und Moritz gaben immer noch alles. So tapfere Tiere, selbst wenn sie in Panik waren.
Dann, mit einem kräftigen Ruck, schmiss Frank den Truthahn über Bord. Er flehte zur Sonne, dass die Wölfe den Leckerbissen auch wittern würden, bevor sie einfach daran vorbeistürmten.
Frank beobachtete alles in seinen Spiegeln, so lange er konnte. Die beiden schnellsten Wölfe erreichten den Braten zuerst und sofort entbrannte zwischen ihnen ein Streit. Dass ein Truthahn keine fünf Wölfe satt machen konnte, war ihren Artgenossen wohl auch klar, weshalb sie sich direkt mit ins Getümmel um den Leckerbissen warfen. Frank atmete auf. Max und Moritz hatten noch nicht mitbekommen, dass die Jagd ein Ende gefunden hatte und – so schlecht Frank sich dabei fühlte – versuchte er auch nicht, ihnen einen Hinweis zu geben. Er wollte nun möglichst schnell einen möglichst riesigen Vorsprung aufbauen. Und was gab es da wirksameres, als panische Pferde vor der Kutsche? Er würde ihnen zur Entschuldigung ein paar rot glasierte Möhren kaufen.

Die nächsten Stunden vergingen langsam. So langsam, wie Zeit eben vergeht, wenn man von Sorgen geplagt ist, sich unbeantwortbare Fragen stellt und auch noch niemanden hat, mit dem man über all das reden könnte. Wo war so urplötzlich dieser riesige Braten hergekommen, als Frank ihn gerade gebraucht hatte? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Meister Saddel ihm diesen heimlich mit auf den Weg gegeben hatte. So großzügig war der alte Handwerksmeister nämlich bestimmt nicht. Außerdem war da dieses Schildchen mit der wunderhübschen Handschrift dran. Frank kannte Saddels Klaue, die ungefähr das Gegenteil des gesehenen darstellte. Vielleicht war es Saddels Frau oder eines der Kinder gewesen?
Frank verwarf alle Gedanken an das unerwartete Geschenk, als er bemerkte, dass es schon viel dunkler geworden war. Es war zwar erst Nachmittag, aber der Tag kündigte schon jetzt sein Ende an. Dem Kutscher gefiel das gar nicht, hatte er sich doch gerade erst von dem Schock erholt, den das Wolfsrudel ihm verpasst hatte. Auch wenn es Nacht war, würde er sicher kein Auge zutun, aus Angst, es könnten noch mehr dieser Tiere auftauchen. Was hatten die eigentlich hier zu suchen? Die Wölfe waren doch schon lange aus den Gegenden verschwunden, in denen die Menschen sich niedergelassen hatten. Und auch wenn es nur eine Werkstatt, der Stall und das Wohnhaus der Saddels waren, die wie Felsen in der Brandung hier in der Wildnis standen, so hatten sich doch schon lange keine der Tiere mehr in die Nähe des Hofes verirrt. Wer wollte sich auch schon mit dem alten Saddel anlegen? Aber hungrige Nordmar-Wölfe auf der Jagd ließen sich wohl auch davon nicht abschrecken.
Max und Moritz hatten mittlerweile auch bemerkt, dass keine Gefahr mehr drohte, und waren in einen etwas gemütlicheren, wenn auch immer noch nervösen Trab verfallen. Ja, es waren gute Tiere, dachte Frank erneut. Beide etwas ganz besonderes. Die schneeweiße Max mit ihrem schwarzen Kälteschutz und die pechschwarze Moritz mit dem weißen Pferdemantel waren eben nicht nur äußerlich bemerkenswert.
Und so sah Frank die Sonne langsam untergehen, auf seinem bisher viel zu aufregenden Weg nach Silden.

„Hehehe, wer da?“, fragte die dürre Wache und streckte Max und Moritz ungeniert seinen Speer entgegen. Die beiden Stuten ließ das kalt.
„Ich heiße Frank“, antwortete der angehende Kutschenbauer und -auslieferer wahrheitsgemäß, „Ich komme von Meister Saddel und soll die Kutsche abliefern. Hier... irgendwo...“
„Und da kommst du Spinner mitten in der Nacht?“, keifte der Pikenier ihn wütend an und funkelte dabei böse, „Weißt du nicht, wie gefährlich das da draußen ist? Nicht nur wegen dem Schnee?“
Frank wollte gerade erwidern, dass er das sehr wohl wüsste, doch da hörte er ein Knirschen von Holz und ein darauffolgendes Knacken hinter sich. Erschrocken drehte er sich um, als auch schon eine der hinteren Ecken der Kutsche nach unten wegbrach und das ganze Gefährt, das nun auf drei Rädern dastand, in eine sehr komische Lage versetzte, „Oh nein...“, murmelte Frank und sprang vom Kutschersplatz.
„Hast du nich' behauptet, das Ding kommt von Saddel?“, höhnte der Wachmann mit dem Speer, „Der leistet doch sonst keine so miese Arbeit.“
Aber Frank beachtete den Meckerer gar nicht weiter, sondern inspizierte die Bruchstelle. Das ganze Rad war absolut zerstört. „Scheiße“, fiel ihm dazu nur ein.
„Sieht aus, als lieferst du gar nüscht mehr aus“, lautete die letzte rotzefreche Bemerkung des Nachtwächters, ehe er sich gelangweilt abwandte und weiter seine Runden ging.
Niedergeschlagen und traurig betrachtete Frank wieder das Rad. Eine tolle Erfindung, das Rad. Besonders die Erfindung des Ersatzrades in der Kutsche fand Franks Gefallen, und die meisten Kunden bestellten trotz des beträchtlichen und übertriebenen Aufpreises auch eines mit, doch das war hier Fehlanzeige. Mitten in der Nacht stand Frank auf einer Sildener Straße, versperrte den Weg mit einer unfreiwillig dreirädrigen Kutsche und hatte nicht einmal ein Ersatzrad dabei. Dabei hatte er sich doch eigentlich erhofft, spätestens morgen Abend in Geldern bei seinen Lieben zu sein.
Wenn ich nur ein bisschen Werkzeug und Material hätte...

Bumm Bumm Bumm.
„Egon?“
Bumm Bumm Bumm.
„Egon, bist du noch wach?“
Bumm Bumm Bumm.
„EGON –“
„Ja, verdammt!“
Endlich. Es hatte Frank sehr viel Überwindung gekostet, so spät noch zu versuchen, Egon aus dem Bett zu klopfen. Aber als er schon dabei war, war er auch hartnäckig, denn es war seine einzige Chance, den Auftrag noch relativ zeitnah zu vollenden. Die Tür wurde geöffnet.
„Wat soll'n das, Junge? 's is' schon spät...“
„Egon, ich brauche deine Hilfe! Nägel und etwas Werkzeug!“ Frank klang entschlossen in seiner Verzweiflung, was den alten Egon etwas verunsicherte.
„Der Laden is' dicht. Schon seit“ Der Mann in dem Schlafanzug und der Bommelmütze zog demonstrativ eine Taschenuhr aus seinem Morgenmantel hervor, „sechs Stunden ungefähr“, beendete er den Satz dann missgelaunt. „Das musste doch jetz' nicht sein, dass du mich weckst, oder?“
Frank atmete einmal tief durch. Warum musste es überall Konflikte geben? Weshalb redete einfach jeder Depp entweder auf ihn ein, um ihn zu etwas zu bewegen, dass er nicht tun wollte, oder um ihn von etwas abzuhalten, dass er tun musste, aber eigentlich selbst nie gewollt hatte? Es war zum Haareraufen!
„Komm schon, Egon, ich brauche nur etwas Werkzeug, ein paar Nägel und vielleicht etwas Holz. Dann bist du mich los, versprochen!“
„Und seh' meinen Kram nie wieder, oder was?“
Diese Unterstellung traf Frank doch ziemlich. Beleidigt und empört erwiderte er: „Natürlich würde ich dir die Sachen zurückbringen, wenn ich fertig bin!“
„Da zweifel' ich ja auch gar nicht dran... Frank, nich wahr? Lehrling von dem Saddel, nech? Es geht mir eher darum, was die Miliz mit dem Kram macht, wenn die dich wegen Ruhestörung verknackt. Die sacken das doch glatt ein! Für ihr'n Privatgebrauch oder so, damit keiner mehr zu mir kommen muss! Neenee, Frank, du kanns' nich' nachts hier anfangen, rumzukloppen. Und schon gar nicht mit meine Hämmers.“
Egon war schon gerade im Begriff, sich wieder umzudrehen und Frank alleine vor seiner Haustür stehen zu lassen, da bat der Kutschenbauer in flehendem Tonfall: „Bitte, Egon! Was muss ich tun, damit du mir dein Werkzeug leihst? Es ist wirklich wichtig!“
„Mann, Junge!“ Genervt wandte Egon sich wieder Frank zu, „Kauf mir das Werkzeug doch ab, wenn's so wichtig ist. Dann ist mir auch egal, ob die Miliz den Scheiß konfisziert.“
Ein kleines Lächeln minimaler Hoffnung schlich sich in Franks Züge, „Ja, das kann ich machen“, erwiderte er und obgleich er seinen knappen Ersparnissen sicherlich hinterhertrauern würde, zog er den dünnen Lederbeutel aus seiner Manteltasche hervor. Egon nahm das Säckchen entgegen, schüttete sich die Münzen in die Handfläche und betrachtete sie. Dann schüttelte er den Kopf.
„Das sind ja nur Kupferlinge!“, stellte er wütend fest, „Nee, Freundchen, so nötig hab ichs auch nicht, dass ich mein' Kram für'n Appel und'n Ei verkaufen müsste.“ Er gab dem verdutzten Frank das Geld zurück, „Jetzt nerv mich nicht weiter und hau ab. Verdammt kalt hier draußen...“
Mit einem lauten Knall war die Tür wieder verschlossen.

Das war also die Nächstenliebe, die die Menschen während der Weihnachtszeit füreinander aufbrachten, dachte Frank verbittert. Nur in einem Punkt hatte Egon recht gehabt: Es war verdammt kalt. Nur hatte Frank keine geheizte Hütte zur Verfügung, sondern nur den Laderaum der immer noch fahruntauglich auf der Straße herumstehenden Kutsche. Wenigstens Max und Moritz hatten es schön – die hatte Frank nämlich für einen Kupferling im nächstbesten Gehöft unterbringen können. Ob er da wohl auch nächtigen konnte? Nein, besser nicht. Irgendjemand musste doch auf die Kutsche aufpassen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in seinen Mantel gehüllt hineinzulegen und trotz der Schieflage zu versuchen, einzuschlafen. Der Pelz würde ihn zwar vor dem Erfrieren schützen, aber eine fette Erkältung würde das trotzdem geben. So viel war klar.
Das von der Eiseskälte angegriffene Holz knarzte, als Frank den Sitz des Kutschers erklomm. Plötzlich ging ihm die Frage durch den Sinn, warum das Rad den ganzen Weg über gehalten, und dann erst hier in Silden gebrochen war. Komischer Zufall, aber ein sehr gelegener. Wäre das Ding schon während der Flucht vor den Wölfen draufgegangen, dann Prost Mahlzeit. Frank erschauderte bei dem Gedanken.
Seine Stiefel waren voller nun schmelzendem Schnee, was den Innenraum der Kutsche nicht gerade behaglicher machte. Die Schieflage war ein weiteres Problem, was nun leider erstmal unüberwindbar war. Frank hatte sowieso das Gefühl, sicher nicht schlafen zu können und all die Unannehmlichkeiten und Entbehrungen machten es geradezu unmöglich. Nicht einmal ein Kopfkissen hatte er. Erfinderisch, wie Frank als angehender innovativer Kutschenkonstrukteur nun einmal war, suchte er nach den Packpapierfetzen, in die der mysteriöse Truthahn am Nachmittag eingewickelt gewesen war. Das Papier musste, ein wenig luftig zusammengeknüllt, zumindest reichen, um den Kopf einigermaßen darauf zu betten. Frank tastete den gesamten Kutschenboden ab, doch seltsamerweise fand er nichts. Vielleicht, so dachte er, lag es an der Dunkelheit, aber er konnte sich eigentlich noch recht gut daran erinnern, wo er den Weihnachtsbraten gefunden und ausgepackt hatte. Er tastete weiter.
Dann traf seine Hand auf etwas. Doch wider Erwarten war es kein Papier, das er dort fand. Es war weicher und sehr klein. Frank hob es hoch und merkte, dass es auch einiges an Gewicht hatte. Eine Ratte?! Nein. Leder... und Schnüre... ein Geldbeutel?
Sofort war Frank wieder auf den Beinen und kletterte aus der Kutsche, um das grelle Mondlicht auf den gefundenen Gegenstand fallen zu lassen. Tatsache: es war ein Beutel, gefüllt mit Münzen. Aufgeregt öffnete Frank denselbigen und ließ das runde Edelmetall in seine linke Hand rieseln. Zum Vorschein kamen fünf Silberlinge und – oh Schreck! - ein goldener Taler. So viel Geld hatte Frank nie zuvor besessen. Er starrte abwechselnd die Münzen und den entleerten Beutel an, unfähig zu glauben, was dank des Mondlichts offensichtlich war. Dann bemerkte er das kleine Schildchen, das an der ebenfalls ledernen Schnur des Beutelchens hing. Darauf stand mit goldener Schrift geschrieben: „Das Geld bestimmt den Lauf der Welt, völlig gleich, ob's uns gefällt“.
Es war die gleiche Schrift, die er schon am Nachmittag an dem Truthahnbündel gesehen hatte. Frank bekam Angst. Was war das für ein komisches Spielchen, das da mit ihm getrieben wurde? Andererseits: war es nicht egal? Bisher hatte man ihm immer zu helfen versucht. Ja, er wusste, irgendwo hatte er einen Beschützer und Helfer, so mysteriös, wie sein Auftrag selbst. Es war wohl ungemein wichtig, dass er Erfolg haben würde. Frank fasste sich ein Herz und sah die Gasse hinab.

„Egon?“
Bumm Bumm Bumm.
„EEEGON!“
Bumm Bumm –
„Was zum Beliar?!“
Die Tür wurde aufgerissen und da stand Egon, einen dicken Holzknüppel in der Hand. Er stierte Frank boshaft an und man sah seinen ganzen Brustkorb beim Atmen auf- und abwippen.
„Wenn du jetz' was Falsches sagst, dresch ich dich, bis du nicht mehr weißt, ob du Männlein oder –“
„Egon, ich habe das Geld, das du wolltest!“
„Was?“ Die Miene des Nagelschmieds ging von purer Wut in Skepsis über, „Das hast du doch nicht geklaut, oder?“, hakte er misstrauisch nach.
„Nein, ich hab's noch bei mir gehabt, wusste nur nichts davon“, beschnitt Frank die Wahrheit ein wenig und streckte Egon lächelnd drei Silberlinge entgegen. Der Nagelschmied zögerte kurz, dann grapschte er nach dem Geld. „Warte 'nen Moment.“ Er verschwand in seiner warmen Hütte und schloss die Tür vor Frank zu. Es dauerte knapp zwei Minuten, da öffnete sie sich wieder.
„Hier.“ Egon drückte Frank ein dreckiges, grob zusammengewickeltes Bündel in die Hand, „Da ist alles drinne, was du haben wolltest. Und jetzt lass mich endlich pennen!“

Frohen Mutes machte Frank sich sofort ans Werk. Er versuchte, so leise wie möglich vorzugehen, um nicht noch mehr Menschen die Nachtruhe zu rauben, doch so ganz wollte ihm das nicht gelingen. Er hämmerte, sägte, nagelte und fräste fast zwei Stunden, bis das Rad repariert war. Jetzt musste er es nur noch wieder an die Kutsche kriegen, was genau genommen auch das schwierigste an der ganzen Sache war. Irgendjemand Kräftiges musste ihm helfen, die ganze Karosserie anzuheben, damit er das Rad anschrauben konnte.
Es war nun schon ungefähr zwei Stunden vor Sonnenaufgang, da musste sich doch irgendjemand, der in seiner Berufswahl nicht ganz so viel Glück gehabt hatte, vor der Arbeit abfangen lassen! Wie gerufen ertönte ein Pfeifen, das ganz eindeutig nicht von Menschenmund stammte. Frank wartete eine Weile und stierte in die Nacht. Das Pfeifen verstummte, als plötzlich die große Gestalt eines Orks, der gerade eine richtig dicke Salami zum Mund führte, um die Ecke bog. Fleischer Ormkel, bei dem die Wurst immer so verdorben schmeckte! Nie zuvor hatte Frank sich so gefreut, den selbst für einen Ork gut beleibten Mann zu sehen.
„Meister Ormkel!“, rief er und klang dabei beinahe fröhlich, „Huhu, Meister Ormkel!“ Grunzend und kauend sah der Nordländer in Franks Richtung. „Ich brauche Ihre Hilfe, könnten Sie mir kurz zur Hand gehen?“ Schulterzuckend und schnaubend setzte der Ork einige gemütliche Schritte in Franks Richtung.
„Was gibt’s?“, fragte er knapp und biss noch mal einen riesigen Happen von der Salami ab. Frank, selbst ein Kenner guter Wurst, musste mit sich kämpfen, bei dem Geruch dieser orkischen Gewürzkomposition nicht das Gesicht zu verziehen. Stattdessen deutete er auf die zerstörte Ecke der Kutsche.
„Wenn Sie nur da einmal anheben könnten, während ich das Rad wieder dranschraube –?“
Ormkel grummelte bestätigend, „Kannst hier ja auch nicht ewig stehen. Gleich kommt Viehfutter von den Höfen außerhalb. Der Karren muss hier ja auch noch langkommen. Sonst gibbet bald keine Wuast mehr!“ Ein orkisches Kichern folgte auf diese Bemerkung und Ormkel zog das Kutschgestell mit nur einer Hand hoch, während er in der anderen die scheinbar nie kleiner werdende Salami hielt und sie sich noch einmal genüsslich in den Rachen stopfte.
Frank wäre beinahe einfach stehen geblieben und hätte diesen Baum von einem Ork angestarrt, wie er einfach keine Miene verzog bei dem Gewicht dieses aus edlen Hölzern bestehenden Fahrzeugs. Der Mechaniker raffte sich schließlich auf und ging dort ans Werk, wo die lebende Hebebühne aus Fleisch, Blut und Fell ihm die Arbeit erleichterte. Schon wieder dieser Wurstgestank...
Nach bereits zwei Minuten war die Arbeit vollendet und der Ork überließ den Karren wieder ganz sich selbst. Frank war glücklich,
„Sie ahnen ja nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben, Meister Ormkel! Vielen vielen Dank!“ Diese Worte kamen von Herzen.
„Ach...“ Mit einer grimmigen Handbewegung machte der Metzgermeister Frank klar, dass das doch eine Kleinig- und Selbstverständlichkeit gewesen war. Doch dann tat er etwas unerwartetes: Er streckte Frank den angekauten Rest seiner immer noch beachtlich großen Wurst entgegen.
„Ich bin jetz' eh schon spät dran. Iss du's, sonst wird’s schlecht.“ Frank hatte noch nie eine der tiefen, grummeligen Orkstimmen in Sorge darüber sprechen hören, dass Nahrungsmittel eventuell verderben könnten. Aber gut, es gab ja immer ein erstes Mal.
Als er die sabberige Wurst sah, meldete sich sein Magen, den er bis dahin gekonnt ignoriert hatte. Ja, Franks Magen verdiente mal wieder was anständiges, aber das?! Danach wäre das hungrige Organ ja noch empörter, als zuvor!
Um nicht unhöflich zu sein, nahm Frank die Wurst schließlich dankend entgegen. Und naja, er konnte die sabberige Stelle ja auch nachher noch abschneiden.

Endlich ging die Reise weiter! Frank, der mittlerweile schon mehr als müde war, lenkte die beiden ausgeruhten und gesättigten Pferde vorbei an Ormkels Fleischerladen, Theklas Suppenküche und Egons Nagelschmiede. Schwer verwundert bemerkte der Profi-Kutschenauslieferer in spe, dass sich neben Egons Nagelschmiede ein Maniküre-Laden breitgemacht hatte: Eggies Nagelpfeile.
Tief in Gedanken darüber versunken, ob diese Eggie nicht Egons Gemahlin war, verließ Frank das beschauliche kleine Silden noch bevor Innos' glühender Lebensspender endgültig wieder am Himmel stand.
Es schneite an diesem Tag nicht, was die Weiterfahrt schonmal um einiges angenehmer machte. Max und Moritz waren frohen Mutes und liefen graziös nebeneinander her. Auch das reparierte Rad tat seinen Dienst bestens und Frank hatte allen Grund, stolz auf sich zu sein. Es wäre perfekt gewesen, wenn da nicht dieser Hunger gewesen wäre... Der Kutscher band die Riemen vor sich fest, nahm die für teures Geld von Egon erworbene Handsäge und begann, das besonders eklige Stück der Salami damit abzutrennen. Was dieser Ork für Zähne haben musste! Die Bissen waren einfach riesig und es sah aus, als hätte er die Wurststückchen immer eher herausgerissen, als sauber mit den Zähnen durchtrennt. Naja, lieber nicht mehr dran denken, ging es Frank lächelnd durch den Kopf und er war kurz davor, das abgesägte Stück einfach über Bord zu werfen, bevor er es sich wieder anders überlegte. Wenn nochmal Wölfe kämen, wollte er sicher nicht einfach drauf vertrauen, wieder plötzlich einen unbekannten Truthahn dabei zu haben.
Frank biss von der Wurst ab und das Aroma war mehr als gewöhnungsbedürftig. Aber wenn er sie nicht gleich wieder ausspie, würde sie ihn sättigen. Und das war das wichtigste. Nach zwei weiteren Bissen, die er sich geradezu herunterwürgen musste, erkannte er auch einen der wesentlichen Bestandteile des Rezepts: Alkohol. Ormkels Wurstwaren waren einfach voller Schnaps, was auch immer das bezwecken sollte. In verarbeiteter Form sollte das Nervengift aber nicht mehr seine berauschende Wirkung entfalten, so hoffte Frank jedenfalls. Nach dem sechsten Bissen fühlte sein Magen sich schon wieder um einiges zufriedener an. Und an den Geschmack gewöhnt man sich langsam auch, wenn man ihm denn eine Chance gibt, dachte Frank unnormal breit grinsend.

Er nickte zwischendurch immer wieder ein, was normalerweise kein Erkennungsmerkmal für einen erstklassigen Kutscher war. Aber was sollte er denn machen? Er hatte seit zig Stunden nicht geschlafen und außerdem auch noch eine Salami voller Alkohol verputzt. Da war es doch ganz verständlich, dass einem ab und zu mal die Augen zufielen!
Aber es durfte einfach nicht sein. Frank durfte dem natürlichen Drang, zu schlafen, einfach nicht nachgeben. Basta. Punkt. Ende der Diskussion. Schnarch. Es war zum Mäusemelken!
Frank versuchte, sich auf etwas anderes, als seine Müdigkeit zu konzentrieren. Die Landschaft war wunderschön, so gefährlich das kalte Weiß für viele Menschen auch war. Es lag ganz still da, überall. Nur ab und zu schimmerte an einigen Stellen noch das Grün von Nadelbäumen durch die eisige Decke. Der Kiefernwald ganz in der Nähe war beinahe nicht auszumachen, so perfekt war er getarnt. Weißer Wald auf weißem Hintergrund. Fasziniert hob Frank den Blick gen Himmel. Auch weiß, wie alles andere. Der Kutscher sog die kalte Luft tief in die Lungen und sie belebte ihn von innen heraus. Ein Kaffee wäre jetzt echt was feines gewesen.

Stundenlang schaffte Frank es noch, sich vom Schlafen abzuhalten. Er wusste nicht genau, wo er war, aber er näherte sich langsam den großen Bergketten, die die flachen Lande Myrtanas von den Eishängen des Nordens abgrenzten. Je näher er der Grenze kam, desto größer wurden wieder seine Sorgen: Waren wohl Nordmar-Wölfe in der Gegend? Bewegte er sich überhaupt noch in die richtige Richtung? Könnte der Kunde ihn tatsächlich finden? Würde er ihn auch wie versprochen zurück nach Silden bringen? Warum konnten sie sich dann nicht direkt in Silden treffen? Hat Meister Saddel mich verarscht?
Dann erblickte Frank ein Holzschild, das viele Meter vor ihm im Boden steckte und dessen Beschriftung er noch nicht lesen konnte. Es ragte hoch aus dem Schnee heraus und war von diesem noch nicht völlig bedeckt. Ein Hinweis des Kunden?, war der erste Gedanke, der Frank zu der Sache kam. In gemütlichem Galopp näherten sich Max und Moritz dem seltsamen Hinweis stetig, bis Frank die Worte lesen konnte. Er gab den Pferden zu verstehen, sie sollten langsamer werden.
ACHTUNG! In 20 Metern zugefrorener Fluss unter der Schneedecke!“
Puh, an sowas hatte Frank ja gar nicht gedacht! Dem Urheber dieses Schildes in Gedanken seinen Dank aussprechend, kam Frank zu dem Entschluss, dass es vielleicht besser war, einen Bogen zu fahren und dabei genau aufzupassen, ob sich irgendwo vor ihm der Boden veränderte. Abhängig davon, wie der Flusslauf war, konnte er ihn ja vielleicht einfach umfahren...
Plötzlich schreckten die Pferde hoch. Wiehernd und wie von der Beliarspinne gestochen, rannten sie los und ließen sich nicht zum Anhalten bewegen.
„Was zum?!“, entfuhr es Frank, der die erneute Panik der Tiere zunächst gar nicht verstand. Er dachte nur daran, dass sie wahrscheinlich geradewegs auf den gefrorenen Fluss zuliefen und bei ihrer Geschwindigkeit und ihrem Gewicht, konnte die Eisdecke noch so dick sein: Das ganze Gespann würde einkrachen, was ihrer aller Tod bedeutete.
„Halt, bei Innos! Nun haltet doch!“, brüllte Frank verzweifelt, bis er im Spiegel ihre Verfolger entdeckte. Einen kurzen Moment lang dachte er, es sei wieder ein Rudel Wölfe aus Nordmar, aber er erkannte schnell, dass es Menschen waren, die auf Rössern ritten. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, waren es Sträflinge, die der Miliz entflohen waren, als diese sie noch Verbindungsstraßen freischaufeln lassen wollte. Auch das noch... Nicht weit entfernt von Frank fuhr ein Pfeil in die Schneedecke und blieb darin stecken.
„Hüa!“, rief Frank, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Pferde waren Fluchttiere und Max und Moritz hatten schon lange begriffen, dass es Zeit war zu flüchten. Schneller konnten sie auch nicht laufen, sie waren schließlich an diese Kutsche, diese verfluchte Kutsche gefesselt. Frank sah ihre Verfolger immer weiter aufholen. Die wahrscheinlich gestohlenen Pferde der Kriminellen hatten außer ihrem Reiter keine weiteren Lasten zu schleppen, weshalb sie immer näher an das schwerfällige Gefährt herankommen konnten. Als das dumpfe Geräusch von Hufen, die in weichem Schnee aufschlugen, in ein Klack-Geräusch überging, blieb Frank beinahe das Herz stehen: eine Eisdecke. Und seine Pferde rasten getrieben von Panik darüber. Er schloss die Augen und war schon dabei, ein letztes Gebet zu murmeln.
„Hey, bleib stehen, du Spinner!“, brüllte eine krächzende Stimme. Es war einer der Sträflinge, die nun nur noch geschätzte 20 Meter zurücklagen, „Wir wollen nur, was du in der Kutsche hast!“
„Und die Kutsche selbst!“, ergänzte einer seiner Mitstreiter.
„Und die Pferde auch!“
„Und dein Hemd sieht auch ganz schick aus!“
Die grausigen Kerle ließen johlendes Gelächter ertönen, aber Frank achtete gar nicht auf sie. Er hörte nur, dass sich unter den Hufen der Pferde wieder Gras befand. Die Eisdecke war wie durch ein Wunder überwunden. Doch der Kutscher hatte keine Zeit, aufzuatmen.
„Wir meinen's ernst! Halt an, sonst erschießen wa dich!“
Ein Pfeil drang in das Holz der Kutsche ein, soviel konnte Frank hören.
„Das war nur 'ne Warnung!“
Verzweifelt drehte der Kutscher sich um und brüllte, „Ich kann nicht anhalten! Die Pferde sind außer Rand und Band!“ Er hoffte, dass diese Information seine Verfolger davon abhalten würde, weiter auf ihn zu schießen, aber weit gefehlt!
„Dann tut's uns Leid um die beiden Schönen!“
Wieder flogen Pfeile durch die Gegend, und diesmal waren sie gezielt auf Max und Moritz gerichtet. Frank hatte keine Ahnung, was er nun noch tun konnte. Er stand vorsichtig auf, und folgte der plötzlichen Eingebung, in den Laderaum zu klettern, wo er doch auf dieser Reise schon zweimal einen Ausweg aus irgendeinem Schlamassel gefunden hatte. Es war nicht besonders dunkel darin, aber viel konnte Frank nicht erkennen. Er tastete den Boden ab, ob da irgendetwas im Verborgenen lag. Vor allem die Stelle, an der er zuvor schon den Truthahn und den Geldbeutel gefunden hatte, untersuchte er genauestens. Doch da war nichts. Gar nichts.
„Wie auch?“, dachte er ärgerlich und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, „Hast du tatsächlich geglaubt, du könntest auf irgendwelche dämlichen Wunder vertrauen?“
Er kletterte wieder aus dem Laderaum, fest entschlossen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen oder bei dem Versuch zu sterben. Grimmig bestieg er seinen Thron, den Platz des Kutschers.
Dann sah er das gerollte Pergament, dass mit einer Nadel an das Geländer gesteckt worden war. Er riss es grob hinunter und entrollte es.
Entschuldige die Verspätung...“, lautete die hastig hingeklatschte Botschaft darauf. Doch in der Mitte der verzierten Rolle, standen noch einige weitere Worte. Worte in einer fremden, lange gestorbenen Sprache, die nur noch die Weisen zu sprechen vermochten.
„Ein Zauberspruch!“, kam es Frank in den Sinn und er schöpfte neue Hoffnung. Er drehte sich um und kletterte auf das Dach seiner wertvollen, fahrenden Fracht. Es war schwer, Halt zu finden, bei der Geschwindigkeit, die die Pferde hergaben, aber letztendlich stand Frank sicher. Mit entschlossener Miene entfaltete er das Pergament erneut und las die Worte in der Mitte laut und deutlich vor.
Die Schneemassen um ihn herum begannen, sich zu erheben. Immer höher stiegen sie in die Luft, bis sie Frank einhüllten. Es war ein gewaltiger Anblick: Frank stand auf seiner Kutsche, die im Auge eines magischen Sturmes daherfuhr. Die eisigen, weißen Massen flogen um ihn herum, ohne an Energie zu verlieren. Immer wieder gingen sie zu Boden, nur um mit neuer Kraft wieder aufzusteigen. Frank brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, was zu tun war: Er bewegte die Hand, in der er die magische Spruchrolle hielt, nach vorne, womit er den gesamten Schnee-Tornado auf die Banditen zusteuerte. Er selbst, sowie seine Pferde und die Kutsche blieben unbeeinflusst von der magischen Naturgewalt. So tödlich, wie sie für Franks Feinde war, so belanglos war sie für die, die er schützen wollte.
„Scheiße!“, hörte er die Sträflinge brüllen, als der Tornado ihnen immer näher kam, „Der Dreckskerl!“ Frank konzentrierte sich auf den ersten Mann. Er war zornerfüllt, wusste er doch, dass diese Typen ihm ans Leder wollten. Der Sturm hob den Angreifer von seinem Pferd, das seinerseits einfach verängstigt weiterlief und sich später wunderte, wo denn sein Reiter abgeblieben war. In hohem Bogen flog der Mann brüllend durch den Schnee, bis er irgendwo, irgendwann in dem weichen Weiß landete.
Dem zweiten sowie dem dritten Räuber erging es nicht besser. Als wären sie leicht wie Federn gewesen, hob die magische Hand des Sturmes sie an und warf sie fort. Sie unterschieden sich von besagten Federn nur insofern, dass sie lange nicht so langsam wieder zu Boden fielen, wie eben solche.
Schließlich lenkte Frank seinen magischen Sturm, den er nur noch mit Müh und Not unter Kontrolle halten konnte, in die Richtung des vierten und letzten Gegners. Kurz bevor er mit dem unvermeidlichen konfrontiert wurde, schoss der Bandit aus reiner Bosheit noch einen letzten Pfeil ab.
Entsetzt beobachtete Frank die Flugbahn des Geschosses, das gerade aus dem magischen Sturm heraus auf ihn zugerast kam. Bisher hatte er doch so viel Glück gehabt...
Doch damit war nun Schluss. Der Pfeil drang in Moritz' Schulter ein und das Pferd kam vor Schmerz aufwiehernd aus dem Gleichgewicht. Es stürzte hart auf den Boden, dicht gefolgt von Max, die der plötzliche Sturz ihrer verletzten Freundin ebenfalls umriss. Frank wurde von der Kutsche geschleudert und fiel irgendwo in den Schnee.

Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, aber er war froh, in der Zeit nicht erfroren zu sein. Frank öffnete ein Auge, doch die schneeweiße Umgebung war zu hell. Gepeinigt von dem gespiegelten Licht kniff er es wieder zu. Es vergingen Minuten. Er wusste, dass er auf keinen Fall wieder einschlafen durfte. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war, aber weiter durfte er das Schicksal auf keinen Fall provozieren. Frank setzte sich auf. Alles, wirklich alles tat ihm weh. Aber nichts schmerzte so schlimm, wie sein linker Knöchel. Kein gutes Zeichen...
Dann sah Frank die Kutsche.
Der Anblick war grausam. Der Schnee ringsherum war getränkt mit Pferdeblut. Max und Moritz lagen einige Meter voneinander entfernt, beide zum Teil begraben unter dem großen Wagen, den sie so tapfer und so gut bis hierher gezogen hatten. Bis hierher, wo er sie letztendlich getötet hatte.
Frank kamen die Tränen. So etwas hatte er noch nie erlebt, so etwas schreckliches noch niemals zuvor mit eigenen Augen gesehen. Und es war allein seine Schuld. Er war der Kutscher und deshalb für alle Vorgänge verantwortlich. Er war einfach zu langsam gewesen. Dieser letzte Pfeil, er hätte das verhindern können! Aber er hatte versagt.
Ohne weiter auf seine physische Pein zu achten, stand Frank auf und humpelte zu den beiden treuen Tieren hinüber. Als er seinen Kopf kurz hob, sah er hohe Berge und Gletscher in der Ferne. Er hatte sein Ziel erreicht, dachte er bitter.
Überall war Blut und der warme Lebenssaft schmolz den Schnee, wo er ihn nur berührte. Max hatte die Augen noch geöffnet, der Atem war flach. Auch Moritz war noch nicht ganz tot. Das war endgültig zu viel für Frank. Nicht einmal ein schneller Tod, wie beispielsweise ein Genickbruch war den geschundenen Tieren vergönnt gewesen. Sie siechten vor sich hin, ausblutend, und warteten auf den Tod, der sich viel zu viel Zeit ließ. Den Lebenswillen hatten die beiden Tiere schon lange verloren.
Frank setzte sich zwischen sie und streichelte schluchzend abwechselnd die Nüstern der beiden Stuten. „Bald ist alles wieder gut“, brachte er unter Tränen nur heraus und irgendwie meinte er es auch ernst. Was war denn im Tod nicht besser als im Leben? Auch er verlor langsam jegliche Hoffnung. Hier draußen konnte ihn niemand mehr finden und er war schrecklich müde. Sobald die beiden Pferde von ihm gegangen waren, würde Frank sich zum Schlafen in den Schnee legen.

Seine Augen wurden schon trüber, so wie die Augen der Pferde, da erkannte er einen roten Schemen, noch ziemlich weit entfernt. Er konnte gar nicht beurteilen, ob er noch richtig wach, oder schon in die geheimnisvolle Welt der Träume abgedriftet war. Die Augen fielen ihm wieder zu.
Als er sie erneut öffnete, war der rote Schemen immer noch da. Er kam näher. Ist das ein Mensch?, fragte Frank sich verwundert und versuchte unter größter Mühe, das Bild in seinem Kopf klarer werden zu lassen. Tatsache, es war ein alter Mann in einer roten Robe, der sich auf einen groben Stock stützte. Ein Feuermagier...
Frank wartete geduldig auf den Mann und verlor zwischendurch immer wieder kurz das Bewusstsein.

„Das sieht ja gar nicht gut aus...“
Frank schreckte hoch. Er lag noch immer im Schnee, doch kalt war ihm schon lange nicht mehr. Das einzige, was er von seinem Körper noch spürte, war das gelegentliche Ziehen in seinem linken Knöchel.
„Nein, das sieht gar nicht gut aus. Schrecklich...“
Die Stimme klang warm, aber gleichzeitig kraftvoll. Frank versuchte, den Mann zu sehen, dem sie gehörte, doch es fiel ihm so schwer, sich umzudrehen. Er sah nur die rote Robe, in der ein dicklicher Körper steckte, und den langen, grauen Bart.
„Wer seid Ihr?“, fragte der junge Kutschenbauer müde. Der Alte drehte sich zu ihm um.
„Ah, du bist wach.“ Er unterbrach seine Inspektion der Kutschenüberreste und kniete sich vor Frank. Ein freundliches, aber besorgtes Gesicht mit dicken roten Wangen schaute auf den Verletzten hinab und musterte ihn wohlwollend.
„Danke, dass du mir meine Kutsche zurückgebracht hast, mein Junge“, sprach der alte Mann schließlich und in seiner Stimme lag weder Spott, noch Ironie, „Du und die Pferde, ihr habt dafür schreckliche Gefahren auf euch genommen und das Ende hier sieht nicht gut aus.“ Dann bückte er sich und reichte Frank seine Hand, „Steh auf, du kannst nicht dort im Schnee liegen bleiben.“
Frank nahm das Angebot an und packte, schwach wie er war, zu. Der Magier zog ihn auf die Beine – was auf einmal einen höllischen Schmerz in Franks Knöchel auslöste. Jaulend fiel er zurück in den Schnee.
„Oh nein, oh nein...“, ließ der Alte von sich vernehmen und bückte sich erneut zu Frank hinunter. Vorsichtig tastete er nach dessen Fuß. „Der Knöchel ist wohl gebrochen...“ Es war kaum mehr als ein Murmeln. Dann legte er die Handfläche auf die Verwundung, was Frank zunächst wieder zusammenzucken ließ, und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Franks Körper durchströmte eine positive Energie, die ausgehend von seinem Knöchel in alle Zellen vordrang. Sie wärmte ihn auf, gab ihm etwas Mut zurück und machte ihn wach. Frank atmete auf.
„Und jetzt – raus aus dem Schnee!“ Diesmal bot der Magier, der passend zu seiner hellen, roten Robe auch eine rote Mütze mit weißem Bommel trug, dem Kutscher nicht seine Hand. Er wollte sehen, ob Frank aus eigenen Kräften aufstehen konnte. Es dauerte nicht lang und Frank stand vor ihm. Geheilt, aber noch immer bedrückt von dem, was noch immer mit flachem Atem im Schnee lag.
„Guter Magier“, fragte Frank in flehendem Tonfall, „Max und Moritz – die Pferde! – kannst du auch sie heilen?“
Bedrückung schlich sich in die roten Wangen des gutmütig dreinblickenden Greises, „Ihre Verwundungen sind zu schwer und sie haben schon lange aufgegeben“, erklärte er, „Ihr weltliches Leben ist zuende.“ Frank sah hinunter zu Max und Moritz. Vielleicht bildete er es sich ein, aber er glaubte, ihr Atem sei noch flacher geworden. Es dämmerte um die beiden und schon bald hätten sie es überstanden.
„Gibt es denn gar nichts, was du für sie tun kannst?“ Die Stimme des Lehrlings klang monoton, als ahnte er die Antwort bereits.
„Wie gesagt, ihr weltliches Leben ist zu Ende“, wiederholte sich der Alte, „Aber vielleicht geht ihre Reise auf eine andere Art weiter.“
Frank verstand kein Wort, „Wie meinst du –?“, doch der Magier bedeutete ihm, zu schweigen.
„Du musst mir helfen, die Kutsche wieder zu reparieren, mein Junge. Geh schonmal zu meiner Höhle. Sie ist dort, wo ich herkam.“ Er legte Frank seine Hand auf die Schulter, „Es ist wichtig.“
So eindringlich und vertrauenserweckend, wie der gutmütige Magier zu dem jungen Lehrling gesprochen hatte, konnte Frank gar nicht anders, als dessen Wünschen nachzukommen. Nach einem letzten Blick auf die zerschmetterten Körper von Max und Moritz, wandte er sich ab und ging los. Immer weiter in die Richtung, aus der der alte Mann ihm entgegengekommen war.
Der Greis in dem roten Mantel mit der roten Mütze beugte sich hinunter zu den sterbenden Pferden, legte ihnen jeweils eine Hand auf den Kopf und murmelte eine etwas kompliziertere Formel.

Da war sie also: Die Höhle, die schon Meister Saddel erwähnt hatte. Die Höhle, die Frank eigentlich auf keinen Fall hatte betreten sollen, zu der er jetzt aber geschickt worden war, um die erneute Reparatur der Kutsche vorzubereiten. Verrückte Welt.
Mit leichtem Widerwillen betrat er das Loch in der Erde und folgte dem Verlauf des einzigen Ganges. Er führte eine Weile geradeaus, dann weiter nach oben in einen der Berge. Der Aufstieg war nicht leicht, aber Frank, mit neuer Kraft gesegnet, hielt durch. Irgendwann erreichte er eine große Ebene innerhalb des Berges, die vor Regalen und unsortierten Kisten nur so überquoll. Frank staunte nicht schlecht, wie dieser Berg eingerichtet war. Über eine Art großes Tor konnte er nach draußen in das verschneite Land sehen, wo er in der Ferne undeutlich die Kutsche liegen sah. Ein Fernrohr war am Rande des großen Durchgangs aufgestellt.
Der Kutschenmechaniker wandte sich von dem Anblick ab und ging neugierig in Richtung der vielen Regale und Kisten. Er sollte ja Werkzeug suchen, oder so ähnlich. Als wäre der Anblick dieser riesigen Lagerhöhle für Frank nicht schon genug Grund zu staunen gewesen, sah er es plötzlich hinter den Regalen glitzern. Misstrauisch lugte er um die Ecke und blickte in einen kleineren Nebenraum, in dem sich ein riesiger Haufen Päckchen türmte, allesamt in buntes und glitzerndes Papier gehüllt und mit Schlaufen verziert. An jedem Geschenk hing ein Schildchen mit Namen drauf, in genau der feinen Schrift beschrieben, wie die unerwarteten und hilfreichen Güter, die Frank während seiner Fahrt erhalten hatte. Ihm fiel die Kinnlade herunter und er konnte nur noch starren. Minutenlang.
Als er sich endlich von dem Anblick abwenden konnte, ertönte weit hinter ihm ein Rufen.
„Ho, ho, ho!“, brüllte der alte Bärtige und läutete fröhlich mit einer Glocke, während er auf der sehr angeschlagenen Kutsche, die wie durch Magie zusammengehalten wurde, durch den großen Durchgang in den Berg hineinflog. Franks Miene erhellte sich plötzlich, als er sah, dass die Kutsche von zwei geflügelten Stuten gezogen wurde, deren total im Kontrast gefärbten Felle im gleißenden Licht der Wintersonne glänzten. Max und Moritz landeten geschmeidig, als hätten sie es schon unzähligen Male zuvor getan, in der Mitte der großen Höhle. Frank stürmte auf das Gespann zu, das ihn freudig erwartete. Aufgeregt wieherten die beiden vor Lebenskraft strotzenden Tiere mit den großen glänzenden Flügeln. Sie hatten sich verändert. Sie hatten ein ganz neues Leben geschenkt bekommen.
„Ach...“, seufzte der alte Mann, „es ist doch jedes Jahr wieder ein Kampf! Aber das diesjährige Weihnachten ist gerettet, und dafür danke ich dir, mein Sohn!“
Frank hatte so viele Fragen und es war gerade die, die ihm am kindischsten vorkam, welche ihm als erste über die Lippen schlich.
„Bist du der Nikolaus?“
Der alte Mann mit der roten Bommelmütze lächelte gutmütig, „Nenn' mich wie du willst. Nikolaus, Innoskind... Heutzutage sagen manche ja auch schon „Weihnachtsmann“. An den Namen muss ich mich immer noch gewöhnen. So fantasielos, tjaja...“
„Und warum brauchtest du gerade meine Hilfe?“, wollte Frank wissen.
„Jedes Jahr“, setzte der heilige Nikolaus zur Antwort an, „versucht mein Erzrivale, der keine Liebe kennt und sie deshalb verachtet, das Fest zu sabotieren. So lässt er sich jedes Jahr einen neuen gemeinen Trick einfallen, um mir die Arbeit schwer zu machen. Dieses Mal hat er die Dreistigkeit besessen, die Kutsche total zu demolieren. Weißt du eigentlich, wie schwer es war, das kaputte Ding zu deinem Meister Saddel zu kriegen?“ Seine Heiligkeit redete sich in Rage, bemerkte dies aber schnell genug, um sich zur Beherrschung zu zwingen, „Als du das gute Stück dann wieder repariert hattest, hat sich der alte Bösewicht aber immer noch nicht geschlagen gegeben. Er war sogar bereit, über Leichen zu gehen, um das Fest zu zerstören und mich endlich einmal zu besiegen.“ Das altgewordene Innoskind schüttelte mitfühlend den Kopf. „Aber meine kleinen Gaben hast du ja immer gut einzusetzen gewusst.“ Der alte Mann grinste.
„Wieso hat Saddel mir denn kein Wort davon gesagt, dass es darum ging, das Weihnachtsfest zu retten? Er hätte doch nur was sagen müssen...“
„Hättest du ihm das denn geglaubt?“ Der Nikolaus zwinkerte, „Wahrscheinlich hatte er Angst, du würdest ihn dann nicht mehr ernst nehmen.“
„Hm...“, nickte der junge Kutschenmechaniker nachdenklich und bemerkte schließlich, „Die Spruchrolle kam dann aber ja reichlich spät.“ Er klang dabei vorwurfsvoller, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
„Ja, das tut mir Leid“, entschuldigte sich der Heilige, „Aber mein Gegenspieler ist nicht dumm. Mit dem Angriff der Banditen hat er solange gewartet, bis der natürliche Harndrang mich für kurze Zeit unaufmerksam gemacht hatte.“

Mit Franks Hilfe hatte der heilige Nikolaus seine Kutsche schnell wieder funktionstüchtig bekommen und spät am Abend, als die Sonne schon lange untergegangen war, war es für sie alle höchste Zeit, aufzubrechen.
„Bist du bereit?“, rief der Mann im roten Mantel fröhlich vom Kutscherplatz hinunter. Er hatte die Zügel bereits in der Hand.
„Ähm, ja...“, antwortete Frank zögerlich, traute sich dann aber nicht, weiterzusprechen.
„Was hast du denn noch auf dem Herzen?“, fragte der nette alte Mann verständnisvoll nach.
„Ich habe noch nie in einer Kutsche in diesem Zustand gesehen und werde es wohl auch nie wieder“, stammelte Frank mit Blick auf die beiden geflügelten Pferde.
„Ja?“, bestätigte Nikolaus grinsend.
„Hättest du was dagegen... dass ich fahre?“

Nach einer wundervollen Fahrt über den Himmel Myrtanas, vorbei am Weihnachtsstern, mehreren Sternschnuppen und unter allen Sternbildern hindurch, landete die Kutsche schließlich sachte auf dem lange verlassenen Campus der Universität zu Geldern. Es war Mitternacht und niemand hatte sie landen sehen.
„Dann heißt es wohl Abschied nehmen“, ergriff der heilige Nikolaus mit seinem üblichen Lächeln auf den Lippen das Wort.
„Ja“, erwiderte Frank melancholisch und sprang von der Kutscherbank. Er ging nach vorn zu Max und Moritz, holte ein paar Stückchen Zucker aus seiner Manteltasche und gab sie ihnen zu fressen.
„Hier, das hatte ich die ganze Fahrt über vergessen“, murmelte er dabei. Die Pferde dankten es ihm und er streichelte die beiden.
„Tu mir einen Gefallen“, richtete er dann das Wort an den dicken Mann in dem roten Mantel.
„Ja?“
„Lass Meister Saddels Kinder von den Pferden Abschied nehmen. Das wird es für sie leichter machen.“
Der Nikolaus nickte, „Versprochen.“
„Dann...“, setzte Frank befangen an, „mach's gut!“
Max und Moritz begannen zu laufen und breiteten ihre Schwingen aus. Langsam stiegen sie immer weiter nach oben und zogen die schöne große Kutsche mit sich, als sie am Himmel verschwanden. Beste Handwerksarbeit.
Frank sah dem Gespann noch lange hinterher, wandte dann aber den Blick ab und sah auf die Stadt hinunter. Sie war getaucht in viele helle Lichter. Er konnte dazwischen schon das Haus seiner Familie sehen. Bald war Weihnachten.