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[Story]Wracks
Greg hatte den ganzen Tag lang auf diesen Moment hingearbeitet.
Am frühen Morgen hatte er höchstselbst den kleinen blassen Punkt am Horizont entdeckt und den Befehl zur Verfolgung gegeben. Matt hatte behauptet, dass dieser zunächst sehr unscheinbare Fleck zu dunkel war für ein lukratives Schiff – bloß eine Galeere voller Orks, die nichts hergaben außer Gestank, den man wochenlang nicht aus der Wäsche bekam. Aber Matt hatte natürlich nicht die Spürnase eines Kapitäns, und es war ohnehin nicht erwiesen, dass die Kutter der Orks immer eine dunklere Färbung haben mussten als andere Pötte. Greg hatte da ganz andere Geschichten gehört, aber damit brauchte er Matt gar nicht erst anzukommen. Der war der geborene erste Vizemaat, und weiter würde er es nie bringen. Greg hatte das in seinem Testament so veranlasst.
Mittags dann die Gewissheit: Das waren keine Orks. Matt verstummte und verzog sich auf den Ausguck, wo er hingehörte. Seinen Platz an Gregs Seite nahm pflichtbewusst Skip ein, der immer zur Stelle war, wenn man ihn brauchte, und dem keiner einen Paladin für einen Ork vormachen konnte. Greg hatte schon immer große Stücke auf ihn gehalten. Er hatte sich an diesem Mittag mit ihm beraten, und sie hatten beide mehrmals abwechselnd durch das Teleskop gesehen, um letztendlich eindeutig zu beschließen, dass sie die Zugehörigkeit des noch immer weit entfernten Schiffs zur königlichen Flotte Myrtanas klar und eindeutig festgestellt hatten.
Die Anstrengungen, das nunmehr feindliche Seegefährt einzuholen, wurden auf Gregs markigen Befehl hin massiv beschleunigt, und schon am frühen Nachmittag konnten sich die für den Tagesdienst eingeteilten Schiffsjungen mit dem Wienern der Kanonen berechtigterweise die Zeit vertreiben. Matt hielt solche Maßnahmen für überflüssig, aber wer war schon Matt? Greg wusste: In einer guten Seeschlacht kam es nicht nur darauf an, dass man den Gegner versenkte, sondern vor allem darauf, wie man es tat. Schließlich befanden sie sich nach wie vor auf hoher See, und wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, das Meer mit einer großen Ladung verkohltem und ausgeplündertem Schrott zu verunreinigen, dann sollte es zumindest auf die richtige Art und Weise geschehen. Greg war nicht besonders gläubig, aber er war sich doch sicher, dass die fernen Mächte, die über ihn wachten, ein ordentliches Spektakel zu schätzen wussten. Glänzende Kanonen gehörten klar dazu, da konnte kein Zweifel bestehen.
Abends waren sie in Hörweite. Der Wind trug das nervöse Flüstern der unterbezahlten Milizen an Gregs Ohren. Diese Leute wussten jetzt natürlich, dass sie hier in Gregs Hoheitsgebiet nichts verloren hatten, dass sie eigentlich weit entfernt in den angenehmen Vierteln irgendeiner Hafenstadt für Recht und Ordnung zu sorgen hatten und auf einem einsamen, verletzlichen Schiff auf See völlig nutzlos waren, aber diese Erkenntnis kam zu diesem Zeitpunkt natürlich klar zu spät. Ihr Untergang war gewiss.
Als die Nacht hereinbrach, hatte Greg zufrieden beobachtet, wie die Jungen die schweren Eisenkugeln auf Deck karrten, zu großen Haufen zusammenschmissen und anschließend in einem zusätzlichen Überprüfungsakt die Lunten kontrollierten, an denen es aber aufgrund vorhergegangener Bewerkstelligungen nicht das Geringste auszusetzen gab. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden, und daher wurde alles von den zuständigen Gremien, die aus ein paar Piraten mittleren Alters bestanden, aufs Genaueste kontrolliert, und diese wiederum wurden von Greg kontrolliert, wie es sich gehörte. Alles war in bester Ordnung. Als die Dunkelheit an Kraft gewann, warf der Kapitän einen prüfenden Blick in die Sterne, die ihm zur Seite standen wie alte Freunde und die sich stets aufs Neue als verlässliche Zuschauer erwiesen hatten. Greg wusste, dass sie auf seiner Seite waren, denn erneut hatten sie gute Beute auf seinen Kurs geschickt. Viele seiner Piratenkollegen, die mit anderen Schiffen unterwegs waren, und die man ab und zu in einer der ranzigen halbleeren Kneipen irgendwo in den Buchten antraf, sagten ihm zuweilen, dass sie seine Methoden für abwegig hielten. Sie waren der Meinung, dass es einen ordentlichen Plan brauchte, um genug Gewinn einzufahren, dass man die richtigen Routen in Erfahrung bringen und die Beute dann gezielt abpassen müsse. Aber das war anstrengend, und Greg hatte keine Lust darauf, denn es war auch gar nicht nötig. Sein Schiff fuhr meist auf seinen spontanen Befehl hin quer in die Gegend hinein, und die Sterne besorgten den Rest, indem sie all die Idioten mit dem vielen Plunder an Bord in seine Richtung lockten. Es war ihm umso wichtiger, dass er ihnen, den Sternen, auch etwas dafür zurückgab – dass er auch ihnen ein ordentliches, ansehnliches Inferno bot, das sie die triste Ödnis da oben am schwarzen Himmel für ein paar Minuten vergessen ließ. Er schaute nach oben, und dann – er wusste es – war es Mitternacht und es ging los.
Greg reckte den Hals in die Höhe, stand mit einem Fuß auf der Reling und riss den leuchtenden Degen mit einem einzigen Stoß empor. Seine Stimme bahnte sich dröhnend ihren Weg nach allen Seiten hin.
„Männer – Eine gewaltige Schlacht erwartet uns!“ Gespannt sahen seine Mannen zu ihm hinauf, jedenfalls diejenigen unter ihnen, die nicht mit dringlichen Angelegenheiten beschäftigt waren, die ihnen den Luxus, einer großen Rede ihres Kapitäns lauschen zu dürfen, verboten. Greg wusste, dass er die Gelegenheit dieser höchsten Aufmerksamkeit nutzen musste, um seine Mannschaft auf die kommenden Augenblicke vorzubereiten. „Ihr solltet allerdings wissen, dass unsere Feinde mit allen Wassern gewaschen sind. Diese Leute haben es nicht umsonst auf ein Schiff der königlichen Marine geschafft.“
Greg schritt an der Reling entlang, musterte die Matrosen und berührte gelegentlich einen von ihnen mit der Degenspitze an der Schulter. Er konnte nur mutmaßen, ob diese Geste von den Männern, an denen sie vollführt wurde, als besondere Ehre verstanden wurde, aber gemeint war sie in diesem Sinne auf alle Fälle, schließlich tat Greg selten etwas ohne Grund. „Ihr wisst, dass ich kein Freund besonderer Vorsicht bin. Es gibt allerdings Momente im Leben, in denen es sich rächen kann, unvorsichtig vorzugehen. An meinem Körper könnt ihr ablesen, dass ich nicht immer gut darin war, diese Momente zu erkennen und richtig mit ihnen umzugehen.“ Er deutete nacheinander auf seine schwarze Augenklappe, die den Ort verbarg, an dem einmal sein linkes Auge gesessen hatte, die linke Hälfte seines Gebisses, das aus zwei gebogenen, goldenen Metallplatten bestand, den gewaltigen, rasiermesserscharfen Haken, der schon vor vielen Jahren seinen linken Unterarm und die dazugehörige Hand ersetzt hatte und schlussendlich auf seinen linken Fuß, was kaum jemand verstand, da er den Eindruck erweckte, ein gewöhnlicher Fuß zu sein, der in einem gänzlich unauffälligen Piratenstiefel steckte. Greg bemerkte die teils unverhohlene Verwunderung in den Reihen seiner Zuhörerschaft und erklärte nach kurzem Räuspern: „Ich habe einen mechanischen Zeh.“ Die Piraten nickten, und Greg bemühte sich, das Thema für den Rest seiner Rede nach Möglichkeit auszuklammern. „Einige von euch haben bereits ähnliche Zeichen vergangener Unaufmerksamkeiten davongetragen. Vielleicht mögen auch viele von euch glauben, dass ein Pirat erst durch Verlust einiger seiner Körperteile zu einem echten Piraten wird, aber ich sage euch: Je weniger Körperteile ein Pirat hat, desto weniger ist er auch ein Pirat, und desto mehr ist er Gold und Stahl. Ihr solltet euch aber bemühen, Schätze anzusammeln, und nicht etwa selbst zu einem werden. Ich bin also nicht stolz auf diese Narben aus Metall, keineswegs, doch letzten Endes kommt es immer darauf an, am Leben zu bleiben. Am Leben geblieben bin ich bis heute, und solange ich auf See bin, wird sich daran auch nichts ändern, denn als Kapitän bin ich mächtig und inmitten der Fluten unsterblich. Wenn es nun in wenigen Augenblicken hart auf hart kommt, dann müssen sich selbst die Hartgesottenen unter euch am Riemen reißen und sich ein Vorbild an ihrem Kapitän nehmen: Immer bereit dazu sein, das Unglaubliche zu riskieren, aber ebenso auch bereit dazu, in der Not das sprichwörtliche Tau zu kappen, solange sich noch die Gelegenheit dazu ergibt. Ihr wisst, dass ich recht habe. Seid also vorsichtig, seid misstrauisch, traut eurem eigenen Sieg nicht – niemals! Aber seid auch übermütig, euphorisch, raffgierig, denn ihr seid immer noch Piraten. Oh ja! Gerade dies, und das ist sehr wichtig, dürft ihr niemals vergessen. Das unterscheidet uns von den Menschen, gegen die wir kämpfen, und darauf dürfen wir zu recht stolz sein, ganz gleich was andere behaupten mögen. Vorsicht und Raserei sind der Schlüssel zum Erfolg, und dieses Gleichgewicht in allen Dingen, darauf kommt es an – das sage ich nicht, weil ich es so sehr mit Adanos halte, nein!, das ist schlicht die Wahrheit, und die muss jeder von uns respektieren.“ Die Menge schwieg, und Greg warf vielen von ihnen einen prüfenden Blick zu, war jedoch alles in allem zufrieden mit der allgemeinen Moral. „Die Zeit der großen Worte ist vorbei“, stellte er schließlich fest, klatschte zweimal in die Hände und gab den Luntenmännern den Befehl zum Abtreten. Auch die übrigen Abteilungen der Mannschaft wussten, was sie zu tun hatten und eilten längst quer über das Deck an ihren Einsatzort. „Schickt diese verdammten Nieten hinab in die eisigen Abgründe der Hölle, die allein wir – wir allein! – tagtäglich sicher überqueren dürfen!“ Greg krümmte sich zusammen vor Begeisterung und hätte mit seinem wild schwenkenden Haken beinahe den geschäftigen Henry am Hinterkopf erwischt. „Diese dämlichen Kandelaber haben kein Recht dazu – sie haben hier nichts verloren, hört ihr? – Sie haben uns nichts entgegenzusetzen, sie sind Futter für die Haie, für uns! Das ist ihr einziger Zweck, deshalb wurden sie hier hingeschickt, vor unsere Mäuler, einsam, schutzlos, längst tot, bevor sie es wissen – aber sie wissen es schon, darauf könnt ihr euch verlassen! Könnt ihr ihren Angstschweiß riechen? Ich kann es! Aber ich will etwas anderes riechen – ihre beschissenen fauligen Eingeweide will ich riechen! Ich will diese Amateure tot sehen, habt ihr mich verstanden?“ Mit einem Satz hatte sich Greg zu voller Größe aufgerichtet, war in einem Sprung an der Reling und beugte sich weit vor, drohte mit Haken und Degen dem königlichen Schiff und stieß einen gellenden Schrei aus, heiser und schrill gleichermaßen, ein infernalisches dreckiges Quietschen, das jedem an Bord beider Schiffe durch Mark und Bein gehen musste. Greg rotzte ins Wasser, wandte den Kopf zu beiden Seiten und sah die brennenden Lunten. „Schießt!“
Sofort knallte es aus allen Rohren. Viele verweichlichte Landratten an Bord hielten sich die Ohren zu, doch Greg genoss es, den dutzenden und aberdutzenden Kugeln, die von der unermüdlich arbeitenden Bombardierbatterie seines Schlachtkahns im Sekundentakt hervorgepresst und dem Feind entgegengespuckt wurden, bei ihrem Flug zuzusehen. Er wurde ruhiger, rieb sich gelegentlich die feuchten Augen und stützte sich ansonsten mit dem vollständigen Arm an der Reling auf, während er blinzelnd in die Nacht hinaussah, die allein sein Wort geweckt hatte.
Bereits die erste Salve hatte die halbe Seite des königlichen Schiffs bersten lassen, nach der zweiten schwankte es bedrohlich, und die dritte hätte ein ungeübtes Auge zu dem allzu voreiligen Schluss veranlassen können, dass die Schlacht bereits gewonnen war. Greg aber kannte die Bauweise der myrtanischen Schiffe besser als die meisten königlichen Konstrukteure und wusste, dass mehr an ihnen dran war als es auf den ersten Blick zu erkennen war. Unter der zerbrechlich wirkenden Holzschicht bestanden sie aus massivem Stahl. Um eine solche Barriere zu durchdringen brauchte es mehr als ein paar der gewöhnlichen Kanonenkugeln, die jeder noch so unfähige Freibeuter mit sich herumkarrte. Greg hatte natürlich vorgesorgt und beim letzten Landgang ein ausgesuchtes Sortiment ausgefallenster Munition einkaufen lassen, das sich in der folgenden Schlacht noch als nützlich erweisen konnte. Es war allerdings nie eine schlechte Idee, den Feind zunächst durch Beschuss der ungefährlichen Sorte in Sicherheit zu wiegen, wie sich auch in dieser Situation wieder zeigte: Die ihnen zugewandte Seite des Gefährts funkelte bereits zu großen Teilen verräterisch stählern im Mondlicht, doch niemand an Bord schien Anstalten zu machen, auf den Angriff zu reagieren.
Gregs anfängliche Freude darüber, dass seine Taktik des schonungslosen Überrumpelns auf so hervorragende Weise aufging, wich allerdings zunehmend dem Unverständnis über die vollständige Passivität der feindlichen Truppen. Unruhig wackelte der Kapitän auf beiden Beinen herum und säbelte mit dem Haken gedankenverloren einen großen Splitter aus der Reling.
„Matt!“, schrie er schließlich zum Ausguck empor. „Was zur Hölle geht da drüben vor sich?“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Matts kleiner Kopf über das Geländer schob – eine gänzlich unverständliche Verzögerung, gerade im Augenblick größter Bedrohung, über die zu späterer Zeit noch zu reden sein würde. Greg war zu nachgiebig mit Matt gewesen, und er durfte unmöglich zulassen, dass durch seine Nachsicht eine Gefahr für das Schiff und seine Mannschaft entstand.
„Gar nix, Käpt'n!“, brüllte Matt und hielt sich dabei den hässlichen Hut gewaltsam am Kopf fest, obwohl es überhaupt nicht stürmte. „Ich glaube...“ Er setzte kurz das Rohr ans Auge, neigte den Kopf in einer ganz und gar sinnlosen Bewegung hin und her und rief schließlich zu seinem Kapitän herunter: „Ich glaube, die stehen alle auf der anderen Seite des Decks! Keine Ahnung, was die da – hey, Greg!“
„Ja, was denn?“, schnaufte Greg ärgerlich darüber, dass Matt nun auch noch überflüssigerweise eine Antwort von ihm verlangte, die er natürlich laut zu ihm hinaufbrüllen musste, damit Matt auch etwas davon mitbekam. Sein Organ war durch die Rede von vorhin bereits über alle Maßen in Anspruch genommen worden und es konnte ihm also nur missfallen, dass einer seiner Männer die Gesundheit seines Kapitäns aufs Spiel setzte, ohne dass es einen verständlichen Grund dafür gab. Greg war sich zwar sicher, dass kein böser Wille dahintersteckte, aber für Dummheit mitten im Gefecht konnte es keine Entschuldigung geben. Er würde ein ernstes Wörtchen mit Matt zu reden haben, wenn das alles vorüber war.
„Hast du das gehört, Käpt'n? Ich glaube, die schießen da drüben, aber nicht auf uns!“
„Was soll das heißen, nicht auf uns?“ Greg warf über die Schulter einen Blick in Richtung des fremden Kreuzers, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Es war allerdings auch schwer, etwas zu erkennen oder gar, wie es Matts Worte nahegelegt hatten, zu erlauschen, das nicht von dem Kugelgewitter ausging, das sie selbst in Gang gesetzt hatten und noch immer am Leben hielten.
„Da ist noch was auf der anderen Seite – ein anderes Schiff, glaube ich. Und ich glaube, sie haben all ihre Leute auf der Seite postiert, und greifen auch nur dieses andere Schiff an“, berichtete Matt. „Die kümmern sich gar nicht um uns. Die anderen sind wohl die größere Bedrohung für sie.“
„Die größere Bedrohung?“ Schnaubend spießte Greg eine lockere Planke am Boden auf und zerfetzte sie mit ein paar raschen Handgriffen in der Luft. „Es gibt keine größere Bedrohung als mich! Diese Torfnasen wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben!“
Matt schien den gerechtfertigten Zorn des Kapitäns gar nicht zu bemerken, was Greg nur noch ein bisschen wütender machte. Stattdessen schrie der Vizemaat plötzlich zu ihm herunter: „Potzblitz, das ist eine Orkgaleere! Ich hab's ja gleich gesagt!“
„Orkgaleere?“, keifte Greg und schleuderte seinen Degen nach Matt, traf damit aber nur einen aufgescheuchten Küchenjungen an der Schulter, der hier, wie Greg auffiel, genau genommen gar nichts zu suchen hatte, weil sein Aufgabenbereich keine Anwesenheit an Deck vorsah, erst recht nicht während einer Schlacht. Heftig schnaufend holte er sich seine Waffe zurück und schubste den Jungen in Richtung der Treppe zum Unterdeck, bevor er sich wieder seinem eigentlichen Gesprächspartner widmete. „Du kannst von Glück sagen, dass du da oben hockst, wo ich dich ganz bestimmt nicht besuchen werde, um noch mehr Zeit zu vergeuden! Ansonsten würdest du was von mir zu hören kriegen!“
„Es stimmt aber“, behauptete Matt und setzte wie zum Beweis erneut das Rohr ans Auge. „Ich kann's jetzt eindeutig erkennen. Das ist eine echte große Galeere, eine der ersten aus dem Krieg. Die haben sie auch noch ordentlich ausgebaut, das Ding ist mindestens doppelt so breit wie das königliche Schiff und dreimal so lang. Da wimmelt's vor Orks, und die beschießen die ollen Paladine wie die Bekloppten. Kein Wunder, dass die nicht wissen, wie ihnen geschieht!“
Greg sah ein, dass es allmählich nicht mehr möglich war, die Intensität seines Zorns weiter zu steigern, ohne dass dies mit unverhältnismäßig großen Anstrengungen seinerseits verbunden sein musste. Daher bemühte er sich, Matts ungeheuerliches Fehlverhalten für den Moment zu ignorieren und ihm mit der Ruhe zu begegnen, die eines mächtigen Piratenkapitäns angemessen war, der sich stets als Herr der Lage erwies. So vernünftig dieses Vorhaben auch war, so schwer fiel ihm die Umsetzung, denn schließlich musste er noch immer zu Matt hinaufbrüllen, damit ihn dieser überhaupt verstehen konnte.
„Wie kannst du dieses Schiff denn übersehen haben, wenn es so unglaublich groß ist?“, beschwerte er sich und achtete kaum auf die Kugelträger, die links und rechts mit frischer Munition an ihm vorbei rannten und die Kanonen beluden. Mittlerweile hatten sie, wie es die Strategie vorsah, auf einen Munitionstyp der nächsthöheren Effektivitätsstufe umgestellt, der den Stahl des myrtanischen Gefährts zwar nicht gerade wie Butter durchdringen, aber doch bei beständigem Beschuss im Laufe weniger Minuten in ausreichendem Maße deformieren würde, um den Sinkprozess einzuleiten. Dann konnten ein paar ausgesuchte Männer und natürlich Greg selbst an Bord gehen und die ausbrechende Panik nutzen, um alles einzusacken, was nicht niet- und nagelfest war. Das war der Plan gewesen, aber durch Matt und seine Orkgaleere drohte plötzlich alles zu kippen, und nicht bloß wie vorgesehen der Pott des Königs.
„Ich hab's doch schon heute Morgen gesagt, dass da ein Orkschiff ist“, verteidigte sich Matt. „War aber natürlich schwer zu erkennen.“
„Zu schwer für mich, willst du damit wohl sagen! Zu schwer für Greg!“, brüllte der Kapitän, dessen goldene Kieferplatten vor Erregung deutlich hörbar aufeinanderschlugen. „Du wirst den Rest deines Lebens da oben verbringen müssen – oder da unten mit den Haien! Die Wahl liegt bei dir!“
„Kapitän Greg.“ Skip stupste ihn, rücksichtsvoll wie immer, mit dem Handgelenk in die Seite. „Das myrtanische Schiff ist beinahe versenkt. Wir sollten jetzt an Bord gehen, sonst bleibt keine Zeit mehr.“
„Jetzt schon?“, erwiderte Greg sichtlich überrascht. „Das ging schneller als gedacht. Worauf warten wir noch?“
„Die Orks könnten ein Problem darstellen“, gab Skip zu bedenken. „Sie könnten auch an Bord wollen, wir könnten uns in die Quere kommen. Die ganze Geschichte könnte in einem fürchterlichen Blutbad enden. Außerdem hast du selbst schon bemerkt, dass das Schiff schneller demoliert wurde als es eigentlich von uns geplant war, was zweifellos dadurch zu begründen ist, dass der massive orkische Beschuss von der entgegengesetzten Seite aus die allgemeine Stabilität des Schiffs in starke Mitleidenschaft gezogen hat. Sie werden den Beschuss möglicherweise fortsetzen und uns mitsamt den Paladinen versenken, bevor wir zurück auf unser Schiff gelangen können.“
Missgelaunt grummelte Greg einige leise Flüche vor sich hin, die größtenteils in Matts Richtung gingen, weil er keinen der Orks persönlich kannte. Er wusste, dass Skip recht hatte, was aber nicht bedeutete, dass er seine Worte deshalb gerne gehört hatte. Diese versifften Mistviecher machten ihm seinen ganzen schönen Plan zunichte – mehr noch, sie stellten sich einem Plan in den Weg, der nicht nur von Greg erdacht, sondern zudem von einem höheren Schicksal erwiesenermaßen abgenickt und unterstützt wurde. Sie konnten nur scheitern, und diese Dummheit, durch die sie letzten Endes nicht nur Greg das Leben schwer machten, sondern unzweifelhaft allesamt selbst den Tod finden würden, machte Greg nur noch ärgerlicher.
„Was rätst du mir also?“, wandte er sich nach einer längeren Phase des Grübelns, während der auf Deck selbstverständlich nach wie vor das regste Treiben herrschte – Kanonen wurden beladen, Lunten ausgetauscht, Entertrupps formierten sich –, wieder an seinen Vertrauten Skip. „Sollen wir einfach dabei zusehen, wie diese von irgendwo dahergepaddelten Orks die uns zugedachte Beute abgreifen oder, noch übler, sinnlos im Meer versenken, wo sie niemandem jemals etwas nützen wird?“
„Ich meine nur, dass wir vorsichtig vorgehen sollten“, sagte Skip. „Wenn wir an unserem Plan festhalten wollen, dann müssen wir es allerdings entschiedener denn je tun. Wir müssen schnell sein und jederzeit bereit zur Flucht.“
Nach diesen Worten fackelte Greg nicht mehr lange, überprüfte rasch die Vollständigkeit seiner Ausrüstung und winkte gleichzeitig den Plankenmännern zu. „Worauf warten wir dann noch? Runter mit der verdammten Planke, bereitmachen zum Entern!“
Längst waren sämtliche neun Entertrupps direkt hinter ihm, neben ihm salutierten seine zwei Kampfgefährten Angus und Hank, die ebenfalls je einen Entertrupp anführten und mit denen er im Degenkampf durch jahrelange gemeinsame Beutezüge bestens harmonierte. Skip würde an Bord bleiben und ihre Rückkehr absichern. Es war wichtig, dass jemand Vertrauenswürdiges in Gregs Abwesenheit dafür sorgte, dass das Ruder nicht Männern vom Schlage Matts überlassen wurde.
Die Plankenmänner leisteten eine hervorragende Arbeit: Unter großem Getöse wurde die Plankenschnur durchtrennt und der große, massive Holzscheit rollte wie von einer unsichtbaren Schnur getrieben über die Luft hinweg nach unten hin, wo er sich dem gegnerischen Schiff näherte, immer weiterschlitternd auf seiner Achse und schließlich Halt machend mit großem Knall, der selbst auf dem diesseitig so lethargisch wirkenden Schiff der myrtanischen Marine einiges Aufsehen erregen musste. Greg wusste, dass sie jetzt das Ziel Nummer Eins waren, Orks hin oder her. Es würde ein harter Kampf werden.
Der Übertritt war in vollem Gange, und vier der Entertrupps waren bereits auf der anderen Seite angekommen. „Folgt mir!“, donnerte Gregs Stimme über ihre Köpfe hinweg. „Über die Planke! Über die Planke! Bringt ihnen die Vernichtung!“ Dann rannte er selbst, an seiner Seite die Getreuen. Der herrliche Geruch von Salpeter lag schwer in der ohnehin schon dunstigen Luft, und umschwirrt von den beständig rumsenden Salven ihrer eigenen Geschosse schwebten sie über die Planke hinweg, die doch so unendlich dünne Pappe war im Vergleich zur feuchten Tiefe, die sich ewig weit unter ihr erstreckte.
Greg bemerkte rasch, dass das andere Schiff unheimlich verqualmt war. Er konnte keine Feuer entdecken, aber der tiefschwarze Rauch war überall, und angesichts der unsichtbaren Quelle blieb es offen, ob er von den Orks als Waffe gegen die Myrtaner oder von den Myrtanern zur Verunsicherung der Eindringlinge eingesetzt wurde, oder ob sein Entstehen – unwahrscheinlich, aber doch denkbar – gar Gregs Leute durch eine noch zu ermittelnde Art und Weise, versehentlich oder auf eigenes unautorisiertes Handeln hin absichtlich, ausgelöst hatten.
Das alles war jetzt unwichtig. Greg keuchte voran, presste sein Gesicht an den Piratenschal um seinen Hals, wollte durch den dünnen Stoff atmen, was ihm aber mehr schlecht als recht gelang, denn plötzlich war da ein großer dürrer Mann, der ihn mit einer Bewegung, die völlig aus dem Nichts kam, mitten im Lauf zurückschmetterte. Die Wucht des Schlags schleuderte ihn zu Boden, Greg wusste nicht womit er geschlagen worden war, er spürte nur, dass es nicht bloß eine nackte Faust gewesen war. Vielleicht hatte er einen gewaltigen Riss im Gesicht, er glaubte Blut zu spüren, aber sein Auge konnte der Mann nicht erwischt haben, denn – das war das Gute daran, einäugig zu sein – Greg hätte das auf jeden Fall sofort bemerkt. Er versuchte vergeblich sich aufzurappeln, und obwohl er nicht erblindet war, konnte er doch nichts erkennen außer finsterstem Qualm, hier und da mal eine Hand und – Er duckte sich gerade noch rasch genug, etwas dickes Schweres an einer Kette hatte ihn knapp verfehlt – aber da war der Kerl schon wieder, viel zu groß und dünn im Grunde für einen Soldaten Myrtanas, keine Uniform konnte ihm passen – Greg zückte seinen Degen, doch im gleichen Moment bekam er einen Schlag mit der Waffe ab, preschte aber vor, konnte nichts mehr sehen – da waren nur noch kleine weiße Punkte inmitten der Schwärze, aber gerade das baute ihn plötzlich wieder auf – die Sterne waren auf seiner Seite, immer noch! – und er schnellte hervor und durchbrach den Brustkorb des dürren Typen mit seinem Haken, gleichzeitig zersäbelte er ihm die Beine, und dann die Kehle und was er sonst so zu packen bekam. Blut spuckend fiel der Kerl auf ihn drauf, und Greg beförderte ihn mit einem kräftigen Tritt zur Seite, wo er halbiert liegen blieb.
„Das kommt davon, wenn du dich mit dem falschen Kapitän anlegst!“, keifte er, dass ihm der wenige verbliebene Speichel aus dem zur Fratze verzerrten Maul nach allen Seiten sprühte. „Was hast du dir dabei gedacht – Weißt du eigentlich, wen du hier vor dir hast!“ Und er wandte sich nach allen Seiten um. Obwohl er kaum etwas sehen konnte, war er sich doch sicher, Zuhörer zu haben. „Wisst ihr alle eigentlich, wen ihr vor euch habt!“
Vor sich sah er Bewegung, etwas kroch auf Kniehöhe in seine Richtung hin und er schnellte vor, um es mit dem Degen aufzuspießen. Er erwischte es an der Hand, aber am Aufschrei erkannte er plötzlich, dass es Hank war. „Du Scheißkerl – du hast mir meine Hand durchstochen!“, kreischte der zweite Maat in Gregs Mannschaft, dem – wie dem Kapitän jetzt auffiel – beide Ohren fehlten, was zuvor nie so gewesen war, soweit er sich erinnerte. Das Blut lief ihm in dicken Klumpen an beiden Seiten des Schädels und an der Stirn herunter, und jetzt steckte auch noch Gregs Degen in seiner Hand. Greg bemühte sich, ihn wieder herauszuziehen, was schwieriger war als es sich Greg erklären konnte, vielleicht hielt Hank das Ding ja mit der anderen Hand fest – er konnte es nicht genau erkennen, weil plötzlich sein eigenes Blut das übrig gebliebene Auge verdeckte, es musste ihn doch hart erwischt haben – aber noch war er am Leben! – und warum sollte Hank das tun, warum sollte er den Degen festhalten, er wollte ihn doch sicher auch raushaben? Er schrie doch wie am Spieß – und dann war er draußen, und Greg stolperte ein paar Schritte vorwärts, stieß mit dem Fuß an etwas, das wahrscheinlich nicht Hank war, sondern ein toter Feind, und dann waren da plötzlich wieder lebende Feinde, die zu zweit auf ihn einstürmten – einer selbst mit schmerzverzerrter Miene und klebrigem Gesicht, von was auch immer, und der andere überraschend unverletzt, aber das änderte sich, als Greg ihm eins mit dem Haken direkt ins Gesicht verpasste – ihre Schläge bemühte sich Greg abzuwehren, aber immer wieder verklebte das verdammte Blut seine Wimpern und er musste durch ein zusammengekniffenes Auge durch einen schmalen Schlitz den Überblick über das Duell behalten, das doch eine sehr unfaire Angelegenheit war, da der Feind zu zweit war – das gehörte sich nicht für ein Duell, aber Greg schaffte es, diese Ungerechtigkeit aufzuheben, als er einem der beiden den Degen in den gerade geöffneten Mund stieß, mit solcher Wucht, dass er auf der anderen Seite wieder herauskam – allerdings rächte sich dieser vermeintliche Triumph rasch, denn sein Degen steckte wieder fest und er musste den umso zornigeren Angriffen des Zweiten mit seinem Haken begegnen, was eine ungünstige Sache war, denn der Mann hatte ein massives Schwert und steckte in einer guten Milizrüstung – aber Greg verpasste ihm einen Tritt, dass er umkippte und sich den Kopf an einem Stück Metall stieß, das von irgendwoher aus dem kaputten Schiff hervorragte. Der Kerl war hinüber und Greg wischte sich das Blut mit dem Handrücken aus dem Auge. Er konnte für den Moment wieder klar sehen, auch wenn das Blut ganz langsam wieder von Neuem nachkam, und auch der Rauch schien sich etwas gelichtet zu haben, was ihm neuen Mut verlieh, an dem es ihm nach dem letzten bestandenen Kampf ohnehin nicht mangelte. Plötzlich wusste er wieder, wieso er der größte Piratenkapitän war, den es auf sämtlichen Meeren jemals gegeben hatte. Von Zeit zu Zeit brauchte es einfach einen ordentlichen Kampf, um den Seeräuber in ihm wachzurütteln.
„Wisst ihr jetzt, mit wem ihr es zu tun habt?“, krächzte es heiser aus dem Rachen des Piraten, als er erst auf wackeligen Beinen weiterstolperte, dann zunehmend an Halt gewann und schließlich vorwärts stürmte. Er hatte seinen Degen verloren, aber das war egal, denn seine wahre Waffe war der Haken, der fest mit ihm verwachsen war. „Ihr Arschlöcher dachtet, ihr könntet Greg umbringen! Aber das ist nicht möglich! Niemand bringt Greg um, solange er auf See ist! Niemand!“
Er konnte jetzt sehen, dass überall um ihn herum die Entertrupps ihre Arbeit taten, und die Geräuschkulisse, die er zuvor als Zeichen des völligen Chaos fehlgedeutet hatte, war doch vielmehr bloßes Produkt des Piratenhandwerks, das von seinen Männern in diesen Augenblicken auf so hervorragende Weise verrichtet wurde. Die Milizen und Soldaten waren bereits zum größten Teil am Boden, soweit Greg die Situation überblicken konnte, aber einige der Paladine waren nicht so leicht unterzukriegen und lieferten sich ausdauernd harte Gefechte mit einer Überzahl von Piraten. Greg sah, dass eine kleine Gruppe bestehend aus Angus und einigen jüngeren Kameraden die mit Trümmern gespickte Treppe zum Unterdeck hinabrannte, was ihm im ersten Moment feige vorkam, aber wohl seinem Plan, so rasch als möglich die Beute von Bord zu schaffen, nur zugute kommen konnte. Eile schien dem Kapitän umso mehr geboten, als ihn eine gewaltige Kugel dunklen Stahls nur knapp verfehlte und den großen Mast, neben dem er stand, zum Einknicken brachte. Greg war mittlerweile an der anderen Seite des Schiffs angelangt und hatte die Kriegsgaleere der Orks jetzt in ihrer ganzen einschüchternden Größe vor Augen. Er musste sich eingestehen, dass sein eigenes Schiff trotz all seiner Vorzüge und seiner auch schon sehr immensen Ausmaße im direkten Vergleich wie eine lächerliche Nussschale wirken musste: Die Orks hatten eine wahre Festung auf See errichtet. Beinahe pyramidenartig erhob sich das Schlachtschiff über mindestens dreißig Ebenen in die Höhe, die jede für sich über dutzende Geschütze unterschiedlichster Art verfügten. Hunderte grunzende Orks waren auf dem Schiff zugange und hatten nur ein einziges Ziel, nämlich das königliche Schiff und all die Menschen darauf auf den Grund des Meeres zu befördern. Greg war sich jetzt sicher, dass sie keineswegs die Absicht hatten, auf Raubzug zu gehen. Diese Bestien hatten keinen Sinn dafür; in ihrer stumpfsinnigen Brutalität wollten sie die Menschen, die ihren Weg in einer unglücklichen Fügung vermutlich rein zufällig gekreuzt hatten, schlichtweg sterben sehen und nahmen dabei auch Schäden an ihrem eigenen Schiff, die ja ohnehin dem Anschein nach nur gering ausfielen und ausfallen konnten, billigend in Kauf.
Greg wusste natürlich, dass die Galeere trotz ihrer gewaltigen Erscheinung und der üppigen Bewaffnung alles andere als unbesiegbar war. Wenn es jemand schaffen konnte, dieses Ungetüm zu bezwingen, dann war er es, dann war es Kapitän Greg – er hatte mit Sicherheit die richtigen Waffen an Bord, aber um die einzusetzen, musste er erst einmal wieder dorthin zurück kommen und das mit möglichst vielen Männern im Schlepptau, die Kugeln schleppen und Kanonen bedienen konnten. Die Beute war ihm plötzlich egal, die Planken auf denen er stand erschienen ihm unbedeutend und überflüssig, nur ein Trittstein auf dem Weg zum wahren Ziel, den man leicht und ohne Reue überspringen konnte, wenn man denn nur rechtzeitig über eben dieses wahre Ziel Bescheid wusste. Genau dieses Wissen aber hatte Greg gefehlt, und jetzt da er erkannt hatte, dass die Galeere der Orks in seiner Nähe bestand und welcher Art sie war, hätte er das nur allzu gewöhnliche Schiff der Paladine mit all seiner langweiligen, erwartbaren Beute am liebsten schon jetzt auf dem tiefsten Boden des Ozeans und ihn selbst an der Lunte seiner mächtigsten Kanone gesehen. Er beschloss, die ganze Angelegenheit auf dem ruinierten Königsschiff so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, denn seine Leute verpulverten noch immer im Sekundentakt wertvolle Munition an dieses so ungemein irrelevante Objekt, die sie doch viel dringender im anschließenden Gefecht mit der Galeere benötigen würden. Greg musste also möglichst bald auf Deck zurück sein, um die richtigen Befehle zu geben, aber zuvor wollten die Restbestände der königlichen Truppen aus dem Weg geräumt werden.
Kurz entschlossen befreite Greg seinen großen Haken mit dem rechten Ärmel von ein paar klebrigen Rückständen seiner jüngsten Opfer und stolperte dann beinahe rennend in die ihm am nächsten liegende Gruppe kämpfender Männer hinein, zog dem erstbesten von ihnen eins mit dem Haken über den Schädel und trat ihm mit aller Kraft in den Rücken, sodass er haltlos vorwärts wankte und von der Reling fiel. Erst jetzt erkannte Greg, dass der Kerl einer seiner eigenen Leute gewesen war, und mit einem schlecht gelaunten Knurren zwischen den Zähnen prügelte und schubste er dessen verwirrt guckenden Kontrahenten, einen schwer mitgenommenen Milizionär, gleich hinterher. „Macht das da unten unter euch aus, ihr Deppen!“, brüllte er ihnen nach und ließ seine beiden Metallplatten im Mund knirschen, dass es in den Ohren und im Kiefer schmerzte. Er brauchte jetzt dringend eine ordentliche Dosis irgendeines hochprozentigen Gesöffs, aber die würde er wohl auf diesem Schiff nicht bekommen, so wie er die Paladine einschätzte.
Die Schlacht konnte indessen schon als gewonnen gelten, und lediglich das benachbarte Schiff der Orks stellte nach wie vor eine Bedrohung für Leib und Leben von Gregs Entertrupps dar. Wieder zischte eine Kanonenkugel haarscharf über seinem Kopf vorbei und erwischte diesmal sogar seinen Hut. Schnaubend rannte Greg der Kugel nach, doch sie war wohl mitsamt seiner Kopfbedeckung durch die Bodenplanken gebrochen und lag jetzt irgendwo im Bauch des Schiffs herum, wo Greg keine Lust hatte nachzusehen. Er besaß noch dutzende andere Hüte in seiner Kajüte und diese widerlichen Drecksviecher auf ihrer peinlichen protzigen Galeere sollten sich bloß nicht zu viel darauf einbilden, ihm einen seiner weniger geliebten Zweithüte vom Kopf geschossen zu haben. Als gestandener Kapitän konnte er derartige Verluste leicht verkraften, und außerdem befand sich noch ein halb bewusstloser Paladin in seiner Nähe, an dem er sich ein bisschen abreagieren konnte, indem er ihm mit ein paar wuchtigen Hakenschlägen den Rest gab.
„Käpt'n Greg!“
Greg, der gerade ganz in seine eher einseitige Schlägerei mit dem Paladin vertieft war, brauchte einen Augenblick, bis er die Stimme erkannte. Er richtete sich auf, schüttelte den Haken ein paar Mal in der Luft und stolperte dann auf Angus und seine Leute zu, die gerade wieder das Oberdeck betreten hatten. Den prall gefüllten Säcken nach, die sie mit sich herumschleppten, hatten sie ordentlich Beute gemacht – sieben der Männer trugen sogar, offenbar unter großen Kraftanstrengungen, eine massive, schmuckvolle Silberkugel beträchtlicher Größe die Treppe hinauf, die einiges wert sein konnte –, Gregs Aufmerksamkeit jedoch wurde vielmehr von dem erschöpft, aber weitestgehend unverletzt wirkenden Mann in unauffälliger grauer Stoffjacke geweckt, den ein paar von ihnen mit sich zerrten und ab und zu durch einen kräftigen Tritt zum Mitgehen motivierten.
„Der Penner hier –“ Angus hielt mitten im Satz inne, um Greg blöd anzustarren. „Äh, Käpt'n... Alles okay, Käpt'n?“
„Was soll die bescheuerte Frage?“, schnaubte Greg. „Seh ich etwa aus, als wär nicht alles okay mit mir? Hab ich den Kerl da, den bescheuerten Paladin, hab ich den nicht grad vor deinen eigenen Augen abgefertigt als wär's nix? Hab ich den nicht vor deinen eigenen Augen ausgeweidet?“
„Ja, schon... ist ja gut, Käpt'n“, murmelte Angus und schien mit sich zu ringen, ob er das Thema vertiefen sollte oder lieber mit seinem
eigentlichen Anliegen fortfuhr. „Es is' nur... du hast da einen echt üblen Kratzer an der Birne, Käpt'n.“
„Ach, das!“ Verächtlich rotzte Greg auf den reichlich zerdepperten Holzboden. Er wunderte sich immer wieder, wo er das Zeug überhaupt noch hernahm, solange wie er nichts mehr getrunken hatte. Aber wer ein echter Piratenkapitän war, der konnte – und wollte – auch dann noch rotzen, wenn er zehn Tage lang ausgetrocknet in der Wüste von Varant herumgeirrt war, ohne Hoffnung auf einen Tropfen Wasser, geschweige denn irgendwas Vernünftiges. Greg wusste das aus eigener Erfahrung, aber diese fürchterliche Zeit war zum Glück lange vorüber. „Das habe ich schon selber bemerkt, lass das mal meine Sorge sein! Was ist jetzt mit dem Kerl da, hm?“
„Ja, also... der Penner hier, der wollte nich' kämpfen“, erklärte Angus. „Erst wollte ich die feige Socke plattmachen, aber der Kerl meinte, er hätte dir was zu sagen, und ich dachte, du möchtest dir das ja vielleicht mal anhör'n, Käpt'n. Isses nich' so?“
Greg guckte den Mann an, der sein Gesicht hinter einer matt glänzenden und stark zerkratzten Stahlmaske verbarg, die sowohl Augen als auch Mund und Nase abdeckte. Es war kein Zeichen übermäßiger Kunstfertigkeit in dem Artefakt zu erkennen, abgesehen vielleicht von dem kleinen einfarbig roten Symbol einer lodernden Flamme, das mittig auf der Stirn angebracht war, mit seinen verwaschenen Konturen und unklaren Rändern allerdings einen eher schludrigen Eindruck machte und ein bisschen so aussah, als hätte man einen kleinen mäßig begabten Jungen mit einem Farbtopf an die Maske gesetzt und ihn irgendwas daraufschmieren lassen. Greg hatte die Maske in dieser neuen Form noch nicht gesehen, aber erkannt hatte er sie sofort.
„Dieser Mann da ist Kapitän Jargo Savierra, oder war es zumindest früher einmal“, erklärte Greg. „Wir beide teilten uns damals ein Schiff, als wir uns jeder für sich noch kein eigenes leisten konnten. Es war gute brüderliche Arbeitsteilung: Am einen Tag war ich der Kapitän, am nächsten war er es. Das Ganze lief lange Zeit hervorragend, und man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass wir zwei gemeinsam zu den berüchtigten Piratenkapitänen heranreiften, die wir zumindest zur Hälfte, und damit bin natürlich ich gemeint, noch sind. Damals wagten wir uns bewusst nur selten an die größeren Schiffe heran, denn wir wussten beide, dass die meisten aufstrebenden Piratenkapitäne irgendwann urplötzlich verschwunden waren und nach ein paar Wochen Rätselraten niemand mehr ernsthaft danach fragte, an welcher Stelle im Meer genau ihre aufgedunsenen Körper jetzt wohl herumtrieben, möglicherweise durch einen ungünstigen Zufall auf ewig an ihrem zerborstenen Schiff festgekettet, oder von einem Hai verspeist und jetzt längst als tausend kleinste Stückchen im Wasser verteilt. Wir hatten uns geschworen, dass wir alles daran setzen würden, zu überleben, und dass wir möglichst auch im Besitz all unserer Körperteile bleiben wollten, und genau aus diesem Grund gingen wir es schön langsam an. Als unsere Mannschaft zahlreich und stark genug war, und als wir genug Kanonen und Munition an Bord hatten, um einen größeren Kreuzer anzugreifen, da hatten sich in unserer Partnerschaft – ich würde es nicht Freundschaft nennen, denn das war es doch eigentlich zu keiner Zeit gewesen, wir wussten nur gut voneinander zu profitieren und respektierten uns auch einigermaßen –, in dieser unserer Zweckgemeinschaft hatten sich jedenfalls also die ersten Brüche gezeigt, aus welchem Grund genau, das könnte ich heute auch nicht mehr genau sagen. Einig waren wir uns aber zumindest, was die große Attacke auf das Schiff der königlichen Marine anging – damals war das noch ein anderer König, aber die Leute auf diesen Schiffen waren im Grunde die gleichen –, auf dieses imposante Schiff, das Jargo abgepasst hatte und dessen Route wir also kreuzten. Die Operation verlief sehr zufriedenstellend, und wir machten die fetteste Beute, die wir beide in unseren Leben bis dahin je gesehen hatten. Und wie das bei manchen Leuten so ist, wenn die große Kohle winkt, wurden in meinem ehemaligen Partner durch den Anblick des vielen Goldes niederträchtigste Instinkte geweckt, denn als er sich eine außerordentlich wertvolle Perlenkette, an deren unterster Rundung ein leuchtend roter Rubin in einer hübschen kleinen Halterung steckte und die ich bereits lange vor ihm mit Recht beansprucht hatte, als er sich dieses Schmuckstück also nehmen wollte, um es wahrscheinlich einem seiner hässlichen skorbutkranken Flittchen vor die Füße zu schmeißen, die er immer in seiner Hälfte der Kajüte herumlungern hatte, da war es mit meiner Geduld zu Ende. Wir hatten am Abend zuvor noch ausdrücklich vereinbart, dass jedem genau ein halber Teil des Schatzes zugesprochen werden sollte, dass wir den nächstgelegenen Hafen anpeilen und uns zwei neue Schiffe zulegen würden, mit denen dann ein jeder von uns beiden mit einer Hälfte der Mannschaft davonsegeln sollte. Das wäre auch das Vernünftigste gewesen, und Jargo hätte in den Jahren danach noch viele dieser Perlenketten in die Finger bekommen können, ohne dass es zu Streit und Missgunst geführt hätte, aber so gut er im oftmals geradezu lächerlich pedantischen Planen seiner Überfälle war, so festgefahren war er auch in seiner Sturköpfigkeit. Es kam, wie es kommen musste: Wir lieferten uns ein verbissenes Gefecht mit Faust und Degen, wie es sich nur gestandene Piratenkapitäne liefern können, die der Welt nichts mehr zu beweisen haben und nur in ihrem gleichwertigen Ebenbild einen würdigen Gegner finden. Ein gleichwertiger Kontrahent war Jargo für mich aber keineswegs, wie sich herausstellte, denn während er es gerade einmal zustande brachte, mir ein einziges Auge aus der Stirn zu piksen, wütete ich wie Adanos in seinen übelsten Zeiten in Jargos bis zu diesem Zeitpunkt noch, wie ich zugeben muss, gar nicht mal so hässlichem Gesicht. Zähne, Lippen, Nase, Augen – nichts davon ließ ich an seinem Ort, alles musste in der Form und Position neu ausgerichtet werden. Leicht hätte ich ihn gänzlich vernichten können, aber den Menschen, der er einmal gewesen war, die Person, die man wiedererkennen und an die man sich erinnern konnte, hatte ich doch längst ausgelöscht. Ich beließ es also dabei, ich spielte sogar kurz mit dem reizvollen Gedanken, ihm die Kette zu lassen, denn keine seiner Gespielinnen würde sie jetzt noch aus seiner Hand annehmen wollen, geschweige denn würden sie ihn je wieder zu sehen bekommen – was wohl auch besser so war –, da ich ihn auf dem halb zerstörten, aber doch noch ausreichend seetüchtigen Schiff der Myrtaner gemeinsam mit den kläglichen Resten der königlichen Seetruppen zurückließ. Diese Leute müssen wohl Mitleid mit ihm gehabt haben, oder er hat sie sonstwie zu beeinflussen gewusst, denn als ich Jargo Jahre später wiedertreffe, da ist er Kapitän eben jenes Schiffes, das er inzwischen die Blutrose getauft und unter die Flagge des Piratentums gestellt hat, und deren leuchtend rotes Emblem – die genannte Blutrose selbst nämlich – er stolz auf der stählernen Maske trägt, die mittlerweile sein entstelltes Gesicht verbirgt. Bei aller Feindseligkeit meinerseits, die mein Bericht sicherlich bis hierhin schon angedeutet hat, muss ich doch sagen, dass Jargo ein beachtlicher Kapitän ist, denn soweit ich informiert bin, ist er bis heute nicht dazu in der Lage irgendetwas zu sehen, und auch das Verspeisen fester Nahrung fällt ihm schwer, weshalb er sich wohl in noch höherem Maße von Rum und Grog ernähren wird, als ich das tue. An ihm zeigt sich, dass ein guter Kapitän keine oberflächlichen Sinnesorgane benötigt, um seine Mannschaft anzuleiten und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Entweder man hat es im Blut, oder man hat es nicht im Blut, und solange man noch Blut im Körper hat, da ist man auch noch der gleiche Kapitän, der man vorher war, ganz gleich was einem angetan wurde. Seit dieser letzten Begegnung sind wieder einige Jahre vergangen, und als ich die Gerüchte darüber hörte, dass Jargo sein Leben als Pirat an den Nagel gehängt und sich ausgerechnet den myrtanischen Truppen angeschlossen hatte, konnte ich es zunächst nicht glauben. Was könnte einen Piratenkapitän dazu bewegen, einen derartigen Pakt mit dem Feind zu schließen – und einen größeren Feind als den König kann es für einen solchen Mann nicht geben –, was also konnte an dieser Geschichte dran sein? Es war natürlich denkbar, dass die Natur seines Schiffes letztendlich die Oberhand über sein Gemüt errungen hatte, aber dennoch glaubte ich den Gerüchten nicht. Jetzt jedoch sehe ich ihn vor mir, mit der gleichen Maske, aber mit mühsam abgeändertem Emblem, sodass es die Flamme des Feuergottes zeigt und die darunter liegende, aber natürlich nach wie vor vorhandene Vergangenheit nur für Eingeweihte, wie ich es bin, erahnen lässt.“
„Das war eine ganz schön lange Rede“, sagte Angus verwirrt, als er merkte, dass Greg geendet hatte. „Darauf war ich gar nich' vorbereitet, Käpt'n.“
„Es war ja auch eine ganz schön lange Geschichte“, brummte Greg. „Was du gerade gehört hast, habe ich schon lange aufgeschrieben. Es steht in meinen Memoiren, die ich derzeit für die Nachwelt verfasse, und ich habe bloß auswendig rezitiert. Da konnte ich schlecht etwas auslassen, ohne zu riskieren, mit den Sätzen durcheinander zu geraten und am Ende überhaupt nichts Zusammenhängendes und Verständliches mehr erzählt zu haben.“
„Käpt'n, du...“ Betreten guckte Angus zu Boden, aber jetzt, da er den Satz begonnen hatte, musste er ihn auch zu Ende bringen. „...du kannst schreiben?“
„Hier oben hab' ichs reingeschrieben“, erwiderte Greg und tippte sich nach kurzer Suche an einen heilen Fleck auf der Stirn. „Und da bleibt es alles drin, bis ich einen finde, der es für mich zu Papier bringt. Es eilt ja nicht damit, und wenn der Wälzer erst in der Welt ist, dann soll er auch zumindest annäherungsweise vollständig sein, denn ich habe ganz bestimmt nicht vor, einen zweiten Teil nachzuschieben.“
Angus sagte nichts mehr, und auch Greg schwieg jetzt. Das Zitieren aus dem Buch seiner eigenen bewegten Vergangenheit hatte ihn ein wenig von der gegenwärtigen Situation distanziert und ihn auch im Allgemeinen sehr beruhigt. Er atmete jetzt viel gleichmäßiger, spürte dadurch aber auch allmählich die unangenehm pochende Wunde an der Stirn. Um sich davon abzulenken, widmete er sich dem alten Bekannten, der die ganze Zeit über keinen Laut von sich gegeben hatte, jedenfalls keinen, der durch die dicke Maske gedrungen wäre.
„Jargo, ich denke du weißt, dass ich dein Schiff vielleicht nicht angegriffen hätte, wenn ich gleich gewusst hätte, dass es deins ist. Ich glaube wirklich, dass es das beste für uns gewesen wäre, für immer getrennte Wege zu gehen. Jetzt aber habe ich es nun einmal vernichtet, und ich glaube nicht, dass ich dich unter diesen Umständen erneut am Leben lassen kann. Auch meine Gnade ist irgendwann erschöpft, und du kannst nicht immer wieder eine Sonderbehandlung von mir erwarten. Es wird mir zwar leid tun, aber was bleibt mir schon übrig? Dich auf mein Schiff nehmen? Das kommt nicht in Frage, du wirst das verstehen. Die Zeiten, in denen wir uns ein Schiff teilten, gehören der Vergangenheit an und sollten da auch bleiben. Dich hier lassen? Das käme dem Tode gleich, und da ist es doch angenehmer für uns beide, das gleich hier und jetzt zu regeln.“ Es kam bei diesen Worten schon wieder etwas Bewegung in Gregs Haken, den offenbar die Aussicht auf Anwendung munter gemacht hatte. „Was meinst du dazu, Jargo?“
Jargo antwortete nicht sofort, und es sah ganz danach aus, als hätte er auch gar nicht vorgehabt, sich überhaupt in irgendeiner Weise zu äußern, dann trat er aber plötzlich ganz nahe an Greg heran und flüsterte ihm durch die Maske ein dumpfes, kehliges Gesäusel ins Ohr: „Du solltest mich in der Tat nicht hier lassen, wenn du mich tot wissen willst, Greg. Denn dieses Schiff wirst du nicht zerstören, so sehr du dich auch bemühst. Es wird nicht nur von Holz und Stahl geschützt, sondern auch von einem magischen Kern im tiefsten Innern, den du mit Kanonenkugeln nicht vernichten wirst, weil die Magie, die ihn am Leben hält, in diesen Augenblicken von einer ganzen Reihe fähiger Magier immer wieder von Neuem gekräftigt wird. Mehr noch: Während du deine Kräfte an das Schiff, auf dem wir stehen, verschwendet hast, hat sich die wahre Bedrohung bereits unsichtbar von der anderen Seite her genähert. Greg, dein Schiff wird in Kürze am Grund des Meeres liegen, wenn du nicht auf mich hörst.“
Greg hatte eine Weile gebannt zugehört, bei den letzten Worten aber stieß er Jargo von sich und verpasste ihm schnaubend ein paar Tritte gegen das Schienbein und in den Bauch. Jargo krümmte sich zusammen, ließ aber wieder keinen Laut hören.
„Wer bist du, dass du glaubst, Kapitän Greg sei auf deine Hilfe angewiesen!“, brüllte Greg der leeren Maske entgegen. „Glaubst du etwa, der gefürchtetste Kapitän der bekannten und unbekannten Welt ist noch immer – war jemals abhängig von dir, von irgendwem!“
Er ließ von Jargo ab, der eine Weile brauchte, um sich wieder zu erholen. Greg machte es nur noch wütender, dass ihn die mienenlose Maske genauso ausdruckslos anstarrte wie zuvor, als hätten seine Taten nicht den geringsten Eindruck auf sie gemacht, aber er war auch müde und wollte Jargo nicht das Gefühl geben, von besonderer Bedeutung für ihn zu sein, indem er sich ihm allzu ausgiebig widmete.
Ausreichend abgeschreckt war er wohl jedenfalls noch nicht, denn er trat wieder an ihn heran und sagte, diesmal etwas lauter, was das unterschwellige, aber umso irritierendere Gurgeln in seiner Stimme stärker zum Vorschein kommen ließ: „Es ist ein ganzes Kriegsschiff voller Magier“ – Angus zuckte bei diesen Worten sichtlich zusammen und murmelte mit heiserer Stimme etwas Unverständliches – „aber keiner von deinen Leuten konnte es bemerken, weil eine Gruppe von ihnen das ganze Schiff mit einem beständigen Tarnmantel umgibt, der auch den Gang der Wellen aufs Täuschendste simuliert. Solange sie von dort aus den magischen Kern des Schiffes, auf dem wir stehen, am Leben halten, wirst du es nicht versenken können, und deine Versuche, es zu vernichten, werden dem eigentlichen, größeren Gefährt die ausreichende Zeit geben, um unbemerkt an dein eigenes Schiff heranzufahren. Es wird dann keinen Seekampf geben, sondern nur ein kurzes Entermaneuver, dem deine Männer, die ich wirklich nicht gering schätzen möchte, obwohl ich keinen von ihnen persönlich kenne, wohl nichts entgegenzusetzen haben werden, da sie ausschließlich auf das Abwehren gewöhnlicher Kämpfer, nicht aber auf eine Kompanie von Magiern vorbereitet sind.“
Der Schmerz in der Stirn machte sich nun noch entschiedener bei Greg bemerkbar. Er musste dringend in seine Kajüte und sich einen Krug Grog über die Wunde kippen, aber so wenig er Jargo vertraute, so sehr beunruhigten ihn doch dessen Berichte von unsichtbaren Magiern und dergleichen.
„Du weißt ja sehr über diese ganze Sache Bescheid“, murmelte er in unbestimmtem Tonfall, hauptsächlich um Zeit zu gewinnen, sich eine echte Antwort zu überlegen.
„Das liegt daran, dass es mein eigener Plan ist“, sagte Jargo, und Greg hätte zu gerne hinter die Maske geblickt, um vielleicht erahnen zu können, wie nervös der ihm nun so Ausgelieferte beim Aussprechen dieser für ihn doch nicht gerade vorteilhaften Wahrheit war. Seiner immer etwas undeutlichen Stimme ließ sich jedenfalls nichts anhören. „Dein Schiff hätte geschlagen sein sollen, bevor deine Mannschaft gewusst hätte, wie ihr geschieht. Ich konnte aber nicht mit den Orks rechnen, natürlich nicht. Sie haben uns stark zugesetzt und alles durcheinander gebracht, und jetzt hast du mich in deiner Gewalt.“
„Warum erzählst du mir das alles?“, knurrte Greg, während er halbherzige Versuche unternahm, Rückstände halb getrockneten Bluts mit der Hand vom Augenlid zu entfernen. „Wirst du jetzt anfangen, um dein Leben zu betteln?“
„Eine letzte Zusammenarbeit ist alles, was ich möchte“, begann Jargo, und der Kapitän war kurz davor, ihn schon nach diesen wenigen Worten zu unterbrechen, ließ ihn dann aber doch ausreden; sei es aus Erschöpfung oder tatsächlicher Neugier, was Jargo wohl noch zu sagen hatte.
„Damals, als die königlichen Truppen mich und mein Schiff ergriffen und meine Hinrichtung mitten auf dem großen Versammlungsplatz in der Hafenstadt Vengard bereits beschlossene Sache war, da machte mir der Lordkommandant einen Vorschlag. Ich nahm ihn an, denn wie du weißt, habe ich nie enge, persönliche Kontakte zu anderen Piratenkapitänen geknüpft und war also bereit dazu, ihre Namen, ihre Schiffe und Routen den Paladinen im Tausch für mein Leben mitzuteilen, mehr noch, die Myrtaner als Berater zu begleiten und ihnen während der Schlacht mit den richtigen Hinweisen beizustehen – die meisten Piraten sind leicht zu durchschauen, wie du weißt, zumindest für uns beide. Du kannst mich dafür verurteilen, wenn du möchtest, aber letztendlich tun wir alle, was wir tun müssen, um am Leben zu bleiben. Einige Monate lang reise ich nun schon mit ihnen, und dutzende Männer trugen meinen Namen noch auf den steifen Lippen, als der Henker den Strick löste, der ihr Schicksal besiegelt hatte. Mir geht es dem Anschein nach gut, der Lordkommandant unterbreitet mir Vorschläge und stellt einiges in Aussicht. Aber er weiß nicht, dass mein Wissen sich erschöpft, dass du der letzte bist, der Mächtigste und Wertvollste, den ich mir bis zum Ende aufgespart habe, und dass ich nach dieser Schlacht nutzlos für ihn sein werde. So sehr sie mir alle schmeicheln und mich anderes glauben lassen wollen: Ich weiß doch, dass ich für sie immer noch ein Pirat bin und eine bloße Flamme auf meiner Stirn daran nichts ändern kann. Ich habe Pläne geschmiedet, natürlich, und vielleicht hätte ich zum richtigen Zeitpunkt, der allerdings auch in Kürze schon hätte kommen müssen, mit dem richtigen Plan Erfolg gehabt und mich absetzen können nach Varant oder auf die südlichen Inseln, wo der König machtlos ist und nicht nach mir suchen wird. Aber all diese Überlegungen sind jetzt hinfällig. Nicht der König oder der Lordkommandant bedrohen mich, sondern du, Greg. Diese Männer auf dem größeren Schiff, die Magier und hohen Ritter, bedeuten mir ebenso wenig wie die Leichen, die deine Leute hier um mich herum hinterlassen haben. Du hast allen Grund, mich diesmal zu vernichten, Greg, und wenn es dir so beliebt, dann werde ich nichts dagegen ausrichten können, wie du wohl weißt. In diesem Fall aber wirst auch du von der Hand der Magier vernichtet werden. Wenn du dich jedoch dazu entschließen könntest, dich ein letztes Mal mit mir zu verbünden, dann werde ich dir zeigen, wie du das Schiff der Magier enttarnen und überrumpeln kannst, dann gibt es noch Hoffnung für uns beide und wir können am Ende des Tages endgültig auseinander gehen in dem Wissen, unseren Frieden miteinander gemacht zu haben.“
Jargo schwieg, und auch Greg brauchte eine Weile, um sich darüber klar zu werden, ob ihn die Worte seines ehemaligen Partners nun beleidigt, belustigt oder gar gerührt hatten. Obwohl ihn Jargo aber ganz offensichtlich an die Paladine verraten und seinen Tod nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar eingeplant hatte – was Greg allerdings keineswegs schockierte – hatte er kein großes Verlangen danach, Jargo zu töten. Außerdem hing er an seinem Schiff, und da der blinde und schwächliche Jargo allein keine große Gefahr darstellen konnte, sprach nichts dagegen, ihn zunächst mit an Bord zu nehmen und über sein endgültiges Schicksal zu entscheiden, wenn die Seeschlacht vorüber war.
„Wir werden noch sehen, wer von uns beiden am Ende auseinandergehen wird“, grinste Greg, drehte Jargo um und zerteilte seine Fesseln mit dem Haken, was aber zu seinem Ärger nicht auf Anhieb gelang, sodass sich sogar Angus dazu genötigt fühlte, mit seinem stumpfen Messer einzugreifen, das dem stabilen Strick nun wirklich nicht das Geringste zuleide tun konnte. Schließlich war Jargo befreit, rührte sich aber nicht und traute seinem vorläufigen Glück wohl noch nicht ganz. Aber was blieb ihm denn auch anderes übrig als hilflos herumzustehen, blind wie er war? Es musste immer jemanden geben, der an seiner Seite war und der ihn führte, an ein eigenständiges Dasein war gar nicht zu denken.
„Käpt'n, ich weiß nich', wie sehr es dich kümmert, aber...“ Angus war offensichtlich eingeschüchtert von Gregs ruppiger Reaktion auf seine Intervention während der Entfesselungsaktion und traute sich kaum, die Stimme zu erheben.
„Was ist, Angus?“, schnaufte Greg auch entsprechend ungehalten. „Wenn es nichts Wichtiges ist, dann behalt es für dich, ansonsten könnte es deine Schuld sein, dass wir wertvolle Zeit vertrödeln und die verdammten Magier unser Schiff abfackeln lassen, und in die Situation möchtest du nicht kommen, das kann ich dir versichern!“
„Die Orks“, sagte Angus schnell und zeigte mit dem Daumen in die Richtung der Galeere. „Ich glaube, die sind am Abhauen, Käpt'n. Die schießen nich' mehr, und das Schiff is' schon ein ganzes Stück weggetrieben, aber man erkennt ja nix, so groß isses. Greg, mir gefällt die ganze Geschichte nicht, mit den Magiern und dem magischen Kern von dem Schiff hier, und dem magischen Unsichtbarkeitszauber, und überhaupt dem ganzen Magischen... das ist nicht richtig, so viel Magie aufs Wasser zu bringen, und besonders nich' die Feuermagie. Sowas lockt die falschen Leute an, hm, nuja, Leute is' vielleicht falsch gesagt... sowas is' wie ein Leuchtfeuer für was auch immer hier in der Gegend
unterwegs ist, über oder unter dem Wasser, in der Tiefe, und was wir ganz sicher nich' kennen lernen wollen...“
„Sehr richtig“, sagte Greg, klopfte Angus zu dessen großer Überraschung anerkennend, aber nichts desto trotz ziemlich heftig auf den Rücken – was Angus nicht weiter schlimm gefunden hätte, wenn er dazu wenigstens die Hand und nicht den Haken benutzt hätte – und fügte an Jargo gewandt hinzu: „Ich hoffe, du hast –“ Ärgerlich verpasste er Jargo, der in eine ganz andere Richtung guckte, einen Stoß in die Seite. „Wirst du mich wohl ansehen, wenn ich mit dir rede, verdammt! Also, Jargo: Dass du mich umbringen willst, schön und gut. Dass du das lieber von einer Horde Pennern in Roben erledigen lässt als dich nochmal an mich ranzutrauen – meinetwegen, kann ich verstehen. Aber wie kommst du auf die bescheuerte Idee, eine ganze Horde von denen mit aufs Meer zu nehmen! Du weißt genau, was du damit alles anlockst – jeder Pirat sollte das wissen, gerade Piratenkapitäne, und Piratenkapitäne von unserem Schlag, wie es sie weit und breit kein zweites Mal gibt, die sollten das nicht nur wissen, die sollten diejenigen sein, die es herausgefunden und am eigenen Leib gespürt haben, und das haben wir damals, als wir dieses blöde Kloster plünderten und die ganzen döseligen Novizen mit an Bord geschleppt haben, weil wir glaubten, die wären ihren Eltern noch was wert – und sogar die, die doch nicht viel mehr mit Magie zu tun hatten, als dass sie ihren Lehrern vielleicht mal ein bisschen beim Zaubern zugucken durften, sogar die haben schon ausgereicht, um eins von den ganz großen Viechern anzulocken. Was glaubst du also, was bei so einem Magierschiff passiert, das mit echten Magiern beladen ist, die auch noch die ganze Zeit am Zaubern sind, wie du ja selbst gesagt hast? War das etwa von Anfang an dein toller Plan, selber mit drauf zu gehen?“
„Es ist, wie du selbst gesagt hast“, erwiderte Jargo, und erneut fiel es Greg schwer, die mit schwacher Stimme genuschelten Worte durch die Maske hindurch zu verstehen. „Diesmal handelt es sich um ausgebildete Magier, die mit allem fertig werden, was die Abgründe der See an Abscheulichkeiten für uns bereit halten.“
„Und du hast mir gerade selbst vorgeschlagen, diese Magier zu versenken!“, fauchte Greg, dessen hochroter Schädel erahnen ließ, dass er noch lange nicht fertig war, und aber in diesem Moment vom immer unruhiger werdenden Angus unterbrochen wurde.
„Käpt'n, wir sollten zuseh'n, dass wir hier wegkommen, da braut sich was Übles zusammen...“
In der Tat konnte auch Greg selbst auf die große Entfernung und mit heftig flimmerndem Auge erkennen, dass es eben dort inmitten des nachtdunklen Wassers stark zu brodeln begann, wo sich zuvor die trotz ihres augenscheinlichen Fluchtversuchs noch immer recht nahe Orkgaleere befunden hatte. Große, schwere Bläschen trieben an die Oberfläche, und wenn sie an der Luft träge zerplatzten, dann versprühten sie eine dicke, ockerfarbene Flüssigkeit, die mit gewöhnlichem Wasser unmöglich verwechselt werden konnte.
Greg spürte, dass die Sache für sein Schiff und seine Mannschaft drohte, ungünstig auszugehen, und nahm sich vor, keine Sekunde mehr mit Gesprächen zu verschwenden, die sich in der nachträglichen Betrachtung möglicherweise als unnötig erweisen würden.
„Männer!“, donnerte seine Stimme über das – magischer Kern hin oder her – zweifellos dem Untergang geweihte Schiff hinweg: „Wir kehren zurück auf unser Schiff! Alle Mann zurück! Rückkehr! Rückkehr! Das ist ein Befehl!“
Er lief selbst schon während er das sagte, immer wieder ungewisse Blicke über die Schulter nach dem bedrohlichen Wasser werfend, das jetzt schon die ersten Gipfel eines großen schleimigen Monolithen ausspuckte – Angus lief etwas hinter ihm, und zwei Mitglieder seines Entertrupps stützten Jargo und halfen ihm dabei, vorwärts zu kommen, was nur quälend langsam ging, da Jargo selbst im Augenblick größter Gefahr angesichts seiner generellen Orientierungslosigkeit ungern rannte – und die wenigen der sonstigen auf dem Schiff noch verbliebenen und nicht toten oder hoffnungslos verwundeten Piraten folgten dem kleinen Trüppchen nach, während der Großteil der überlebenden Mannschaft sie bereits an Bord erwartete.
Greg war jetzt an der Planke angelangt, die ihm plötzlich viel schmaler und wackeliger erschien als noch zum Zeitpunkt des Entermaneuvers. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass ihn die vergangenen anstrengenden Gefechte mit den bis an die Zähne bewaffneten Paladinen und vielleicht auch die Wunde, die sich noch immer durch ein unangenehmes Pochen bemerkbar machte, und es konnte auch sein, dass das so unverhoffte Wiedersehen mit Jargo etwas dazu beitrug – dass ihn eine Mischung aus all dem benommen gemacht hatte und es ihm erschwerte, das Schwarz der nächtlichen See, in dem sich nur gelegentlich der helle Sternenschein hilfreich spiegelte, von dem dunklen Eichenholz der Planke zu unterscheiden. Er erinnerte sich an seine eigenen Worte, die er vor nicht allzu langer Zeit an seine Mannschaft gerichtet hatte: Bedächtig musste er vorgehen, und selbst in einer solchen Situation, in der es auf schnelles Handeln natürlich durchaus ankam, mit der angemessenen Ruhe vorgehen. Obwohl er sich das selbst sagte und auch tatsächlich immer wieder leise zuflüsterte, war der Gedanke an die feindlichen Magier, die sich möglicherweise schon in Position befanden und gerade die letzten Vorbereitungen trafen, um sein Schiff zu stürmen, zu quälend, um all die guten Vorsätze in die Tat umzusetzen. Halb rasend lief er über die Planke, jeden Schritt im Ungewissen setzend, ob er der geraden Linie, die eine solche Planke natürlich bilden musste, auch nach wie vor richtig folgte, und beinahe wäre er ins Stolpern gekommen, wenn sich nicht seine in Momenten wie diesem äußerst nützliche mechanische Zehe durch das dünne Leder der halb zerbröselten Sandale gebohrt und im feuchten Holz festgekrallt hätte. Greg wusste, dass es eine kleine Weile dauern würde, bis sich die Vorrichtung wieder löste, und nutzte die ohnehin verlorene Zeit, um sich erneut umzublicken.
Ein gewaltiger, glitschiger Brocken hatte sich aus dem Ozean erhoben, über und über von dunkelgrünem Tang bedeckt, den die Nässe im Mondlicht schimmern ließ. Wie ein fauliger Eisberg war das Ding an die Oberfläche gestiegen und Greg war sich im ersten Moment sicher, dass es unter der Oberfläche bis in die Unendlichkeit weiterreichte, denn dass es dort unten in der völligen Finsternis irgendwo ein plötzliches Ende nehmen konnte, das war Greg vollständig unvorstellbar. Die Galeere der Orks war nicht mehr zu sehen, aber es schien sehr wahrscheinlich, dass sie das grenzenlose Ungetüm beim Auftauchen beiläufig umgestoßen und zum Kentern gebracht hatte. Jetzt drangen ringsum weitere dunkle Klumpen durch die Wasseroberfläche, stießen in einem einzigen Schwung gen Himmel und zuckten plötzlich auseinander, um den Dreck der tiefen See weit von sich zu spritzen. Als schwarze Möwen zogen sie ihre Bahnen über dem Objekt, noch immer tropfend vor Nässe, und ihre gelegentlichen schrillen Schreie waren wie fremdartige Rufe aus einer anderen Welt, die kein lebender Mensch je kennenlernen wollte. Als sich einer der Vögel auf der obersten Spitze des Objekts niederließ, da weitete sich plötzlich Gregs Blick, vielleicht aus einer alten Erinnerung heraus, die das Bild in ihm wachgerufen hatte, und er erkannte das Ding als das, was es tatsächlich war: Ein gewaltiges Schiff, ein vermodertes Wrack, das im Tode noch durch unzählbare Wucherungen gewachsen war, und das jetzt erneut aus den Untiefen des Meeres zurückkehrte, um die magischen Energien in sich aufzunehmen, die es tief unten am schwarzen Grund, wo es vielleicht jahrzehntelang zur Lauer gelegen hatte, aufgespürt haben musste.
„Käpt'n, wir müssen weiter!“
Angus und die anderen waren schon dicht hinter ihm auf der Planke, und auch der mechanische Zeh hatte sich längst gelöst. Greg nickte und wandte sich ab – widerwillig allerdings, denn in den letzten Sekunden war Leben in das verdorbene Schiff selbst geraten, oder zumindest etwas oberflächlich Vergleichbares: Die Algen und Fäden, die es über und über bedeckten, wurden an vielerlei Stellen zur Seite geschoben, sodass kleine graue Augen starrend hervorblitzen konnten – er wandte sich also ab, erinnerte sich daran, dass immer noch das besiegte Schiff des Monarchen als Schutzwall zwischen ihm und dem Grauen lag, und dass das unsichtbare Schiff der Magier wohl in den nächsten Minuten, die entscheidend sein konnten, die größere Bedrohung darstellte.
Die letzten paar Schritte über die Planke waren schnell gemacht, und gemeinsam mit Angus und seiner Abteilung kehrten sie als letzte Überlebende der Mannschaft an Bord zurück. Die Planke wurde umgehend von den Zuständigen eingefahren, während Greg sich einen Weg durch die geschäftige Menge zu bahnen versuchte und dabei nach Skip Ausschau hielt, der ihm wohl am ehesten einen Überblick über die gegenwärtige Lage geben konnte. Skip war aber nirgendwo zu entdecken, und immer wieder wurde das viel zu laute Stimmengewirr, das Gregs Kopfschmerzen nur noch unerträglicher machte, von donnerndem Kanonenlärm übertönt. Die erste Vermutung des Kapitäns, nämlich dass noch immer auf das mittlerweile eigentlich besiegte und nur noch durch Magie zusammengehaltene Myrtanerboot gefeuert wurde, stellte sich aber schnell als falsch heraus: Die Kanonen auf der entgegengesetzten Seite wurden jetzt beladen und aufs leere Meer hin abgefeuert.
Da Greg keinen anderen Ansprechpartner fand, hob er den Kopf zum Ausguck hin und schrie, so laut er nach all dem Geschrei der jüngeren Vergangenheit noch schreien konnte: „Matt! Matt, verdammt nochmal, was geht hier vor sich!“
Matt ließ sich aber da oben nicht blicken, stattdessen stand er plötzlich direkt neben ihm, was Greg im ersten Moment etwas irritierte.
„Was soll schon sein, Käpt'n? Wir sind mitten in einer Seeschlacht.“
„Aber ihr schießt ins Leere, ihr vergeudet die ganze teure Munition!“, ereiferte sich Greg und fuchtelte ein bisschen mit dem Haken herum, was ihm aber bald zu anstrengend wurde. „Seid ihr denn völlig bescheuert! Da draußen ist ein getarntes Schiff voller Magier, das müsst ihr erwischen, hörst du!“
„Ja, Käpt'n, genau das haben wir ja im Visier“, erklärte Matt, wobei er Greg nur kurz ansah, weil er eigentlich damit beschäftigt war, einen Knoten in einem herumhängenden Seil zu lösen, zu einem Zweck, den wohl nur er selbst kannte. „Ich habe vorhin vom Ausguck her so ein seltsames Flimmern in der Luft bemerkt, und manchmal waren ganz kurz Teile von Holzplanken zu sehen, und einmal auch ein paar Leute in Roben, die in der Luft schwebten – das habe ich natürlich direkt Skip gesagt, und zusammen haben wir dann den Angriff beschlossen.“
Greg war nicht gerade begeistert zu erfahren, dass Skip und Matt etwas zusammen beschlossen hatten – schließlich war Skip sein alleiniger Stellvertreter an Bord und sollte auf eine Zustimmung von jemandem wie Matt, der mit bloßem Herumglotzen schon überfordert war, ganz bestimmt nicht angewiesen sein. Aber er hatte jetzt dringendere Sorgen, und in dem späteren kritischen Gespräch mit Matt, das er ja bereits fest eingeplant hatte und auch ganz sicher nicht vergessen würde – nach den jüngsten Ereignissen schon gar nicht – konnte er diesen Missstand ja immer noch in der angemessenen Ausführlichkeit und Ruhe zur Sprache bringen.
„Aber ich sehe nicht, dass ihr irgendetwas getroffen habt!“, beschwerte er sich stattdessen, denn die schweren Eisenkugeln prallten einfach nutzlos an der Wasseroberfläche auf und gingen unter, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, Schaden an einem unsichtbaren Schiff angerichtet zu haben. „Du musst dich getäuscht haben, das Schiff liegt sicher in einer anderen Richtung.“
„Das ist unmöglich, Käpt'n, ich bin mir da sehr sicher, und außerdem schießen wir doch in alle möglichen Richtungen auf dieser Seite des Schiffs“, erwiderte Matt, und hatte den Knoten jetzt endlich gelöst, worauf er aber direkt wieder einen neuen an anderer Stelle im Seil knüpfte.
Greg wollte etwas darauf erwidern, aber im gleichen Moment erhob Jargo die Stimme, der jetzt wieder neben ihm aufgetaucht war und ab und zu von ein paar beschäftigten Piraten, denen er im Weg stand, ohne große Rücksicht zur Seite gestoßen wurde. Im allgemeinen Krach musste sich Greg anstrengen, um Jargos Worte zu verstehen, zumal er sie natürlich wieder an einen leeren Fleck richtete, der sich ein paar Meter von Gregs eigentlicher Position entfernt befand: „Die Angriffe gehen, soweit ich es beurteilen kann, schon in die richtige Richtung“, sagte er. „Dass ihr keinen Einschlag seht und die Kugeln scheinbar wirkungslos im Wasser versinken, ist bloß ein Teil der Illusion. Wenn ihr durch den Schleier sehen könntet, dann würdet ihr vermutlich ein schon einigermaßen zerstörtes Schiff vor Augen haben, aber auch dieser Schaden ist wieder nur oberflächlich. Mit Kanonenkugeln könnt ihr dieses Schiff nicht versenken, nicht mal mit den teuren.“
„Womit dann?“, keifte Greg, der die ständigen Belehrungen dieses im Grunde längst toten Menschen nicht mehr ertragen konnte. So völlig verloren stand er da, beide Hände in den Taschen seiner billigen Jacke vergraben, weil er wohl sonst nichts damit anzufangen wusste, und dennoch glaubte er dem Anschein nach immer noch, ihm überlegen zu sein, ihm, dem Mann, der doch schon vor langer Zeit das Gegenteil bewiesen hatte. Vielleicht hätte ihn dieses verzweifelt auf Würde bedachte Verhalten, dieses sture Nicht-Einsehen-Wollen der eigenen verwirkten Existenz belustigt, wenn er nicht gleichzeitig das Gefühl gehabt hätte, tatsächlich auf seinen Rat angewiesen zu sein.
Jargo antwortete, aber Greg konnte die Antwort nicht verstehen, und im nächsten Moment drängte sich eine Horde Säbler zwischen sie. Die Männer waren offenbar in großer Eile auf dem Weg zur Waffenkammer, die sich unter Deck befand, aber doch so nah an der Treppe, dass sie auch in einem plötzlich eintretenden Notfall schnell erreicht werden konnte. Die Unruhe auf dem Schiff nahm jetzt noch weiter zu, und immer wieder waren Stimmen zu hören, die mit Nachdruck forderten, sich in Bewegung zu setzen, schleunigst wegzukommen vom geplünderten Königsschiff, auf dem wohl, so fürchtete zumindest Greg, mittlerweile wieder einige Bewegung herrschte. Nachsehen konnte er nicht, denn eine ganze Reihe seiner Männer versperrte ihm die Sicht, mit welcher Entschuldigung auch immer, und außerdem wollte er ja Jargos Plan hören. Er zerrte ihn zu sich heran, und weil nach wie vor großer Lärm um sie herum tobte, schleifte er ihn ein wenig mit sich bis an die Reling, zwischen zwei Stahlrohrbündel der diesseitigen Kanonenbatterie, die von den verantwortlichen Luntenmännern trotz großer Erschöpfung aufs Disziplinierteste und mit großer Effizienz bedient wurde.
„Lass deine Leute von hier verschwinden“, kämpfte Jargos schwache Stimme gegen das Gebrüll der erhitzten Matrosengemüter an – Befehle und Codewörter, deren Bedeutung Greg nicht kannte, auch gar nicht kennen brauchte, wurden quer über das Schiff geschrien, sodass sich Greg wundern musste, dass überhaupt ein Wort seinen angedachten Empfänger fand und nicht ungehört in der bedeutungslosen Kakophonie unterging – „Was sollen sie hier?“, fuhr also Jargo fort. „Hier werden sie nur sterben und ja doch nichts gegen den Zauberschutz anrichten können, und auch wir sollten gleich auf die andere Seite oder besser noch unter Deck wechseln, wenn du die nötigen Befehle gegeben hast.“
„Sie sind noch nicht hier“, erwiderte Greg und sah von Jargo weg aufs Meer hinaus, das sich auf dieser Seite weit und leer bis zum Horizont erstreckte, nur durchbrochen von den tausend Stahlgeschossen, mit denen seine Kanonen das große Nichts beharkten. „Wir würden sie doch sehen, wenn sie schon an Bord wären? Diesen verfluchten Magiern traue ich eine solche Feigheit zu, dass sie in Tarnmänteln herumschleichen und ihre blödsinnigen Zauber aus dem Hinterhalt wirken!“
„Der Tarnmantel schützt nur ihr Schiff und alles was sich an Bord befindet, Greg. Sie können gar nicht an Bord kommen, ohne dabei auch ihre Tarnung aufzugeben. Wenn das Schiff allerdings nah genug an uns herangekommen ist, auf eine entsprechende Reichweite...“
Greg sah wieder zur Seite, er hasste den Anblick der widerlichen Maske, und lieber sah er dem leeren Schwarz ins Auge, auch wenn er wohl wusste, dass diese Leere nur eine weitere Maske für etwas viel Gefährlicheres war. Auch diese Maske hatte einen roten Fleck auf der Stirn, wie er nun zum ersten Mal bemerkte – einen winzigen glühenden Funken, der aufgetaucht war, kaum mit dem bloßen Auge zu erkennen, und Greg glaubte im ersten Moment, dass das lästige Flimmern in seinem Schädel bloß eine andere Farbe angenommen hatte – aber nun erkannte er es deutlicher, nun schwoll es an, nun wurde es zu einem fetten, pulsierenden Hitzeklumpen, der die Nachtluft um sich herum zischend aufsaugte, durch den bläulich züngelnden Randkranz schleuste und sich einverleibte, um größer und größer zu werden: eine neue Sonne auf dem Meer war geboren, erschaffen nur aus einem Grund, nur zu dem einen Zweck – zur endgültigen Vernichtung Gregs, und er erkannte diesen Zweck nun umso deutlicher, da der gewaltige Feuerball auf ihn zusteuerte und jetzt sein ganzes Blickfeld einnahm, ihn umfasste – fortschleuderte, eine gewaltige Kraft schmiss ihn nach hinten weg – entzündete ihn – seine Hose stand in Flammen, er konnte dem aufpreschenden Brand zusehen, wie er seine Jacke fraß, und dann zerprallte sein Schädel und er war am Boden – kurz war er weg, aber doch nicht ganz, denn das war bloß der Augenblick, in dem der Schmerz einsetzte und ihn auffahren ließ – „Glaubt ihr ich lasse mich abfackeln wie eine beschissene Hexe!“, schrie es in seinem Kopf und wohl auch außerhalb – er stolperte fortwärts, wieder auf die Reling zu – „Wisst ihr eigentlich wen ihr vor euch habt!“ – noch ein paar Schritte bis zur Reling, seine Sandalen schmorten längst durch, entfachten bei jeder Berührung mit dem Bodenholz ein kleines Inferno – „Wenn ihr mich töten wollt, dann müsst ihr kommen und mich holen – mich wegbringen – aber nicht – nicht hier – nicht auf See, ihr Amateure!“ – die Flammen waren am Nacken, am Hals, leckten jetzt sein Kinn hoch, und ein unerträglicher Hitzeschwall erfasste sein Gesicht, als plötzlich sein Bart brannte – der ganze Bart – er rannte brüllend vorwärts mit loderndem Bart – „Die See wird mich heilen!“ – und er nahm den letzten Meter im Sprung, stürzte sich von der Reling, blieb mit dem Fuß irgendwo hängen und prallte von außen mit der Nase ans Holz, beides splitterte, und einen kurzen Moment lang verharrte er in der Schwebe, kopfüber hängend, aber dann war er plötzlich frei und glitt endlich hinab ins Wasser.
Greg tauchte gänzlich unter, schloss das Auge, atmete tief durch. Er hörte jetzt nichts mehr, und er sah auch nichts mehr. Es gab nur ihn und die endlose Schwerelosigkeit des Ozeans, der sich um ihn sammelte. Eine Weile lang pochte sein Herz noch sehr schnell, aber es wurde bald ruhiger, indem es sich dem behäbigen, unerschütterlichen Takt des Meeres anpasste. Die eisige Nässe hatte er längst in sich aufgesogen, und obwohl sein ganzer Körper heftig schmerzte, fühlte er sich doch nach einer gewissen Zeit völlig sicher und entspannt. Greg fragte sich, wieso er eigentlich das Schiff brauchte, wieso er jemals auf die Idee gekommen war, das Meer anders als schwimmend und tauchend bereisen zu wollen. Vielleicht würde er einfach hier bleiben und eine Weile mit den Fischen leben.
Eine Zeit lang hing er so in der Schwebe, dann aber musste er sich wieder rühren. Er öffnete das Auge und blickte hinab in die Tiefen, von denen er geglaubt hatte, sie müssten völlig schwarz sein und somit das auf Dauer anstrengende Geschlossenhalten des Augenlids überflüssig machen, aber er hatte sich getäuscht: Das Sternenlicht war in dieser Nacht besonders kräftig und strahlte Greg durch die trotz des Kanonenbeschusses ruhige Wasseroberfläche hindurch den Blick auf mehrere Meilen Abgrund frei, der sich ihm jetzt in einem schmutzigen Türkis zeigte, aber das Sternenlicht dem Anschein nach aufgesaugt hatte und deshalb beinahe von innen heraus erglühte. Es war hier unten in der Stille tatsächlich heller als es an Bord gewesen war, oder zumindest kam es Greg so vor, und er wünschte sich im ersten Moment sein zweites Auge zurück, um das schöne einfarbige Leuchten vollständig auf sich wirken zu lassen, was ihm mit halber Sehkraft natürlich nie ganz gelingen konnte. Mit der Hand griff er schon nach dem Bändchen, das seine Augenklappe am Schädel hielt, als er den Blick weiter senkte und in der Bewegung erstarrte. Das Glühen war nicht so rein und hübsch, wie er zunächst angenommen hatte, vielmehr war es durchsetzt von einem Netz aus dicken, suppigen Schatten, die das Licht zu den Seiten wegpressten und es dabei auseinandertrieben, um es schließlich zu zerstreuen. Ein dichter Schattenteppich hatte sich so gebildet, der begleitet von dumpfem Dröhnen unaufhaltsam nach oben drang und dabei mehr und mehr erkennbare Konturen herausbildete. Nur kurz blitzten hier und da innerhalb der schwarzen Bereiche fahle Lichter auf, die doch viel weniger waren als der schwächste Funke, den man im Reich über dem Meeresspiegel kannte. Ein kühler Schauer erfasste Greg, und kurz danach zog eine der abscheulichen Schmierblasen an ihm vorbei, um über seinem Kopf zu zerplatzen – Greg hörte das schmatzende Geräusch auch aus seiner ehemals sicheren Zuflucht heraus, die ihm jetzt jedoch keine mehr war. Weitere Bläschen streiften ihn, kleiner zwar, aber das machte es nur noch schlimmer, denn der Gedanke, eines davon versehentlich einzuatmen, zu trinken gar, zu verdauen, in sich aufzunehmen, war unerträglich. Greg hielt es keinen Moment länger mehr in der Gegenwart der feindlichen Präsenz aus, die in gewaltiger Masse auf die Oberfläche zusteuerte – er stieß sich nach oben ab, war aber plötzlich weiter weg von der Oberfläche als er geglaubt hatte und musste sich anstrengen, einen Weg durch die trübe See zu finden. Er paddelte mit Hand und Haken, aber hatte dabei das Gefühl, weiter abzusinken, als ob ihn die Abscheulichkeiten der Tiefsee allein mit der Kraft ihrer unsterblichen Begierde zu sich herabziehen wollten. Greg spürte keine Furcht, aber großen Ekel, eine ungemeine Abscheu gegen die Pest, die zu ihm heraufdrang, und die Jargo mit seinen Magiern ihm gebracht hatte. „Ist das dein wahrer Plan!“, brüllte Greg und warf wieder einen kurzen Blick nach unten, wo die schwarzen Klumpen bereits erkennbare Formen angenommen hatten – „Willst du mich hier unten verpesten lassen! Willst du mich zu denen nach da unten schicken, ist es das was du willst!“ – schnaufend und blubbernd drängte er eine der schleimigen Blasen mit dem Haken zur Seite, aber die nächste war bereits an seinem Ohr und er konnte noch immer nicht den Kopf aus dem Wasser strecken, war weiter davon entfernt denn je – ja, er wusste nicht einmal, ob es überhaupt noch die Oberfläche war, auf die er zusteuerte, ob er nicht vielmehr eines der fahlen Lichter anpeilte, das er mit dem wahren Licht verwechselt hatte – war es schon so weit gekommen? – „Ich schwöre dir, Jargo, ich werde zurückkommen und dich –“
Ein dicker Kordel war vor seiner Nase aufgetaucht, ein massives Stück langes Seil. Er griff mit der Hand danach, hielt es so fest er konnte, und zwängte sich daran empor, bis die mechanische Zehe nach dem untersten Ende greifen konnte, was es sehr viel leichter machte, nicht abzurutschen. Er wollte emporklettern, durch die Oberfläche dringen, aber das war gar nicht nötig, denn das Seil bewegte sich jetzt von selbst und zog ihn erst langsam, dann mit immer größerer Geschwindigkeit nach oben – durch den Meeresspiegel – durch die Nachtluft – über die Reling – zurück an Bord.
Zurück an Bord. Es war unheimlich schnell gegangen, so schnell, dass er im ersten Augenblick gar nicht glauben wollte, dass es sein eigenes Schiff war. Aber nachdem er einen großen Schwall eisiges Meerwasser auf die Holzplanken gehustet und gespuckt hatte, atmete er tatsächlich wieder Luft statt Wasser, und der Mann, der ihm die Feuchtigkeit aus den Haaren wrang, war Angus. Ein paar andere seiner Leute wickelten hastig das Seil auf eine Rolle, und aus dieser Gruppe löste sich jetzt auch Jargo, der, geleitet von einem Luntenmann – der sich wohl ganz offensichtlich von seinem Posten entfernt haben musste, wie Greg in einem Anflug von Ärger bewusst wurde – auf ihn zuwankte. Das Schiff bebte, und als weit über ihm bei einem Aufprall eine große Menge Holz zersplitterte, schwanden Greg ganz kurz die Sinne. Er hörte aber auch in diesen Sekunden noch Jargos Stimme flüstern, bloß verstehen konnte er die Worte nicht.
„Weg – zur Seite!“ – jemand schleifte ihn nach hinten fort von einem Fegefeuer, das sich auf Deck entzündet hatte. Sein Kopf stieß an die gekrümmte Hand einer Leiche, die noch im Tode einen kleinen grauen Stein umklammert hielt. „Bringt ihn unter Deck!“ Greg wollte sich das nicht mehr länger anhören, er riss sich los und rollte sich zur Seite, mühte sich schließlich in eine Sitzposition. „Wie sind die verdammten Magier an Bord gekommen?“, krächzte er irgendwie hervor und wusste in diesem Moment noch gar nicht, an wen er sich eigentlich richtete. Aber Jargo und Angus waren jetzt wieder bei ihm und packten ihn am Arm. „Wir müssen dich hier wegbringen“, sagte Jargo. „Die Magier haben das Schiff geentert und in deinem Zustand hast du ihnen nichts entgegenzusetzen.“
„In meinem Zustand?“, knurrte Greg, stieß den Haken in eine Bodenplanke und richtete sich mühsam, aber erfolgreich daran auf. „Mein Zustand ist hervorragend! Der beschissene Feuerball muss erst noch erfunden werden, der einen echten Piratenkapitän von den Füßen haut! Diese verdammten Magier wissen gar nicht, mit wem sie es zu tun haben!“
„Käpt'n, ich will ja nix sagen, aber...“ Angus wackelte hoch nervös auf beiden Beinen herum und warf auch immer wieder einen hektischen Seitenblick nach einem der vielen Kämpfe, die an Deck tobten, und von denen her dutzende gequälte Schmerzensschreie zu ihnen herandrangen, die wohl nur in den seltensten Fällen von einem der Magier ausgestoßen wurden. „Du hast da ein paar echt üble Brandwunden im Gesicht. Und nich' nur da, Käpt'n. Außerdem musst du dir was Ordentliches anziehen, so kannst du ja nich' rumlaufen, mit Verlaub, Käpt'n.“
Greg vergeudete nur widerwillig wertvolle Zeit an die Bewertung seines Gesundheitszustands, an dem er ja augenblicklich ohnehin nichts ändern konnte. Was auf die Schnelle zu erkennen war, bot aber keinen Anlass zu großer Sorge: Zwar waren weite Teile seiner glitschig nassen Haut verkohlt und von seiner ehemals ziemlich schicken Kapitänsjacke hatten nur einige lose Fetzen den magischen Angriff und den anschließenden Tauchgang überstanden, von der stark verkürzten und unangenehm verschmort stinkenden Hose ganz zu schweigen – aber er hatte doch, zumindest der ersten oberflächlichen Begutachtung nach, überhaupt keine Gliedmaßen verloren, und das war ein besserer Ausgang als ihn viele andere derartige Situationen genommen hatten. Natürlich war ihm ziemlich schwindelig, und immer wieder setzten seine Gedanken für einen kurzen Moment aus, wenn ihn ein heftiger Schmerz zu übermannen drohte, was auch zum Teil sicher an der Stirnwunde lag, die sich vermutlich längst entzündet hatte, aber das waren alles Nebenerscheinungen, die ihn nur vorübergehend behindern würden und die sich auch leicht ignorieren ließen.
„Solange diese teuflischen Magier nicht allesamt ausgerottet sind, werde ich nicht von Deck gehen“, stellte Greg klar. „Ihr wisst nicht, was ich im Meer gesehen habe: Das fürchterliche schwarze Schiff dort drüben“ – er schwenkte den Haken in die Richtung, in der er das leergeräumte Schiff der Paladine und dahinter den aus den Tiefen des Ozeans aufgetauchten Koloss vermutete, wenngleich er auch nichts Klares erkennen konnte angesichts des großen Tumults um ihn herum und des ständigen immer heftiger werdenden Flimmerns vor seinem juckenden Auge – „das Schiff, es ist nur die Vorhut viel größerer Schrecken. Sie sind in diesem Augenblick zu Hunderten, zu Tausenden vielleicht auf dem Weg zu uns, und solange sie die Präsenz lebendiger Magie spüren, werden sie auch nicht von ihrem Ansturm ablassen. Ich warte nicht unter Deck darauf, dass sie den Boden unter meinen Füßen durchschlagen und mich in die dunkelsten Tiefen zu sich herabziehen!“
Greg hatte einen offenbar orientierungslosen und heftig blutenden älteren Magier in seiner direkten Nähe entdeckt und machte schon Anstalten, auf ihn loszugehen, wurde aber in der gleichen Sekunde von Jargo am Arm gepackt.
„Ist das dein Ernst, Greg?“, vergewisserte er sich, und Greg glaubte aus seinem Tonfall unter all dem dumpfen Gurgeln eine gewisse Nervosität herauszuhören. „Bist du wirklich sicher, dass du dergleichen gesehen hast? Es war sicher dunkel da unten und –“
„Es war nicht dunkel!“, schrie Greg und drückte Jargo von sich weg, war mit einem Sprung beim Magier und schlug ihm mit dem Haken das Gebiss kaputt. „Es war alles hell erleuchtet! Es hat geblendet, so hell war es! Nur sie waren dunkel! Nur sie!“ Der Magier tastete röchelnd nach einer verloren gegangenen Rune, aber Greg hatte genug von ihm und durchbohrte den Mann an ein paar entscheidenden Stellen mit dem Haken. „So tot wie dieser Scheißkerl muss jeder verfluchte Magier an Bord sein!“, keifte Greg, dem der blutige Speichel in kleinen Fäden von der Unterlippe herunterhing, bis er ihn sich schlürfend wieder einverleibte. „Jeder einzelne!“
„Käpt'n, aber die Magier sind viel mehr als wir...wenn wir nich' verschwinden, dann...“
„Hast du auch nur ein Wort von dem verstanden was ich gesagt habe!“ Greg machte Anstalten, mit dem Haken nach Angus auszuholen, ließ jedoch davon ab, als er drohte, dabei das Gleichgewicht zu verlieren. „Wenn wir verschwinden, wird unser ganzes Schiff versenkt, und dann wirst du dir wünschen, du hättest keine blödsinnigen Einwände eingebracht, sondern lieber den nächstbesten Magier vermöbelt, und zwar so, dass ihm seine idiotischen Runen sonstwo rauskommen, verstanden!“
„Natürlich, Käpt'n, wenn du meinst...“ Angus warf einen hilflosen Blick in Jargos Richtung, was Greg nur noch wütender machte – wie sollte denn dieser dem Chaos so gänzlich ausgelieferte Krüppel ihm weiterhelfen können, wenn es sein Kapitän, der Mann, der ihn jahrelang durch allerlei Unwegsamkeiten und die scheinbar aussichtslosesten Situationen heil hindurch gelotst hatte, wenn es dieser mit allen Wassern der See ausgiebig gewaschene Anführer, wenn es sein Kapitän Greg nicht konnte? Jargo war ja nicht einmal dazu in der Lage, diesen deplatziertesten aller denkbaren Blicke bloß wahrzunehmen, geschweige denn auf welche Art auch immer darauf zu reagieren. Er konnte nur blöd in der Gegend herumstehen und hoffen, nicht hinterrücks von einem der Magier überwältigt zu werden, die während ihres Großangriffs ganz offensichtlich keinerlei Rücksicht auf ihren ehemaligen Verbündeten nahmen, falls sie denn überhaupt bemerkt hatten, dass er an Bord war.
Eine größere Gruppe Säbler, die gerade mit zwei besonders wehrhaften Magiern abgerechnet hatte, eilte an ihnen vorbei und gab den Blick auf das Schiff der Innosdiener frei, das seine Tarnung mittlerweile aufgegeben hatte, da die dafür notwendigen magischen Energien natürlich im Kampf mit Gregs Männern dringend benötigt wurden. Es war allerdings dem Anschein nach noch eine ausreichende Anzahl von Magiern an Bord geblieben, um den astralen Kern des Gefährts aufrecht zu erhalten, und das war nach Gregs Einschätzung von deren Seite aus auch gar nicht anders zu handhaben, wenn sie ihr Schiff denn behalten wollten: Seine Kanonen hatten ganze Arbeit geleistet und kaum etwas vom eigentlichen Holzgerüst übrig gelassen. In einem hellen, leicht transparenten Cyan leuchtete das Schiff schummrig in der dunkler werdenden Nacht, die trotz der Gregs Empfindung nach schon seit so langer Zeit andauernden Schlacht gar nicht daran dachte, dem anbrechenden Tag zu weichen. Hier und da klebten noch einige verlorene Holzplanken an der geisterhaften Erscheinung, und der Bug schien sogar noch in Teilen intakt zu sein, aber das alles war nichts, das nicht sogleich in sich zusammenfallen und ins Meer hinabsinken würde, sobald der Zauber gebrochen war. Das Schiff war im Grunde bereits versenkt, und sobald die Lage auf Gregs eigenem Schiff geklärt war, würde sich ein mutiger Entertrupp hinüberwagen und die restlichen Magier beseitigen müssen, um sich anschließend nach der Verpuffung des Zaubers irgendwie aus dem Meer fischen zu lassen. Greg nahm sich vor, für diese Aufgabe vorsichtshalber keine seiner weniger entbehrlichen Männer auszuwählen.
Geändert von Laidoridas (25.08.2013 um 03:39 Uhr)
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Er drehte sich wieder zu Jargo um, als der gerade von zwei hastig flüchtenden Piraten zur Seite gestoßen wurde. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten, und es dauerte auch keine halbe Sekunde bis weitere Männer auf sie zuliefen. Neuer Lärm wurde laut, eine Stimme rief: „Sie sind an Bord!“ – eine andere: „Mein Arm!“, immer wieder in nervenzersägendem Kreischen: „Mein Arm!“, und ähnliches Geschrei wurde jetzt überall auf dem Schiff laut. Nachdem sich die Kämpfe mit den Magiern auf große Teile des Schiffes verteilt hatten, flüchtete nun alles zu jener Seite hinüber, an der Greg mit Angus und Jargo stand, und unter den vielen Piraten, denen sich das erblickte Grauen in beide Augen eingebrannt hatte, waren auch hier und da vereinzelte Magier, die an den Kampf mit den Seeräubern plötzlich nicht mehr dachten, aber bei dieser günstigen Gelegenheit natürlich in vielen Fällen von einem unerschütterlichen Piraten beiläufig abgestochen wurden. Greg hatte Mühe, den Überblick zu behalten – überall war jetzt Bewegung, aber kein Auftrag und kein Plan stand mehr hinter ihr, die gewohnte Ordnung an Bord war endgültig zerschlagen worden. Jeder hatte seinen eigentlichen Aufgabenbereich vergessen, alles rannte nur noch wie von Sinnen einem Ziel entgegen, das Greg nicht kannte und das den Panischen vermutlich selbst nicht vollends bewusst war. Greg ahnte aber natürlich, was das plötzliche Chaos ausgelöst hatte, und nicht nur das abscheuliche grunzende Knattern wie von einer verschleimten defekten Pumpe, das sich unter das allgemeine Geschrei gelegt hatte, sondern auch der sich ausbreitende unerträgliche Modergestank bestätigten ihn in seiner Deutung des Phänomens: Die Ladung des ersten aus der Tiefe heraufgetriebenen lebendigen Wracks hatte sich über den myrtanischen Kreuzer hinweg auf sein Schiff ergossen. Er spürte ein leichtes Kribbeln in der allervordersten Spitze seines Hakens, das eigentlich gar nicht da sein sollte, aber das er sich nicht bloß einbildete. Der Haken wusste, dass er in sehr naher Zukunft gebraucht werden würde, mehr noch als in den vergangenen Stunden, und im Gegensatz zu Greg kannte er keinen Ekel und war voll und ganz einverstanden damit, ja geradezu begierig darauf, sich in die unterschiedlichsten Materialien zu bohren, wenn damit nur auch die Beendigung eines feindlichen Lebens einherging, oder, wie im derzeitigen Fall, zumindest etwas weitestgehend Vergleichbarem. Die letzten der Flüchtlinge hatten sich an Greg vorbei in in die scheinbare Sicherheit gerettet, waren also entweder die Treppe hinunter in den Bauch des Schiffes gestolpert oder hatten sich zur Reling begeben, wohl um im äußersten Notfall ins Wasser springen und zum Astralschiff hinüberschwimmen zu können, wo sie allerdings natürlich auch nicht viel zu erwarten hatten. Greg wusste, dass es keinen anderen Ausweg gab als den Kampf, und so aussichtslos die Lage für viele seiner weniger standhaften Untergebenen schien, so entschlossen war er selbst, um jeden Preis als Sieger aus der Schlacht hervorzugehen. Nur wenige tapfere Piraten waren an ihrem Posten verblieben und stellten sich der anstürmenden Horde entgegen, und jetzt, da die Feiglinge den Blick freigegeben hatten, war endlich das ganze Ausmaß der Bedrohung zu erkennen: Es waren Dutzende, Hunderte vielleicht. Dass sein Schiff noch nicht völlig überrannt war, lag einzig und allein daran, dass eine große Lücke zwischen den beiden angrenzenden Schiffen bestand und die Scheusale beim Versuch, sie springend zu überqueren, vielfach scheiterten und ins Wasser hinabglitten, das sie allerdings an geeigneter Stelle bald von Neuem ausspuckte. Die Piraten bildeten an der Reling eine Reihe und bemühten sich, die unerwünschten Neuankömmlinge ins Meer zurückzustoßen, was leichter gelang, solange sie nach dem schwierigen Sprung noch keinen Halt gefunden hatten. Oft waren diese Bemühungen von Erfolg gekrönt, manchmal aber lösten sie dabei nur einzelne unwesentliche Teile aus den Kreaturen heraus, und im ungünstigsten Fall wurde ein Pirat gar in einem überraschenden Hieb umgestoßen, und dann fuhr blitzschnell ein langer talgnasser Rüssel auf den Unglücklichen herab, um am Bauch oder durch den Mund in ihn einzudringen und den verlorenen Körper mit grünem Schaum zu füllen, dass ihm faulige Blasen aus Ohren und Augen quollen.
„Ich hab die Schnauze voll von dieser ganzen Scheiße!“, brüllte Greg und rannte auf die nächstbeste Gestalt zu, die es an Bord geschafft hatte und die eher klein geraten war, aber mit einem gewaltig aufgeblähten Bauch, in den er seinen Haken bohrte. Die gallertartige Substanz, in der die längst funktionslos gewordenen Innereien der Bestie als verkümmerte Relikte einer vergangenen menschlichen Existenz in einem Nebel schwarzer Schlieren steckten, durchdrang der Stahl mit Leichtigkeit – und noch ehe der abscheuliche Wiedergänger seinen gewaltigen Rüssel nach Greg ausstrecken konnte, war sein Leib in große wabbelige Stücke zerrissen, die auf den Planken allmählich in sprudelnden Schaum zergingen. Gregs geschundener Körper war gesprenkelt mit dem Zeug, aber für den Moment konnte er das gut ausblenden, denn obwohl er den Oberkörper der fürchterlich kreischenden Kreatur jetzt derart demoliert hatte, dass er nach unten wegknickte, war das über und über von nassem Tang bedeckte Haupt noch immer sehr aktiv und schwitzte nicht bloß aus allen weichen Poren einen süßlich miefenden Eiter aus, sondern schlug vor allem mit dem langen schwarzen Rüssel um sich. Dem ersten Hieb konnte Greg ausweichen, aber dann zuckte plötzlich seine lästige Stirnwunde auf und alles schwirrte ihm für einen kurzen, aber entscheidenden Augenblick, den die halbierte Bestie dazu nutzte, um ihm den feuchten Rüssel mit aller Macht von unten ins Gesicht zu dreschen, dass er umfiel und sich beim vergeblichen Versuch, die Hand zum Abstützen zu verwenden, den kleinen Finger brach. Nicht einmal der rasselnde Atem des Monstrums, dessen obere Hälfte sich jetzt träge über ihn schob, konnte das Geräusch des knackenden Fingerknochens in Gregs pfeifenden Ohren übertönen. Greg ahnte schon, dass der Finger womöglich endgültig hinüber war, aber er hatte ja noch vier weitere übrig, die wohl ohnehin die wichtigeren waren und die er vor allem vor den beiden tentakelhaften Armen des Tiefenwesens retten musste, die seinen Körper jetzt an allen denkbaren Stellen begrabschten, aber zu Gregs Vorteil mangels spitzer Klauen keinen echten Schaden daran anrichten konnten. Der Rüssel jedoch suchte sich wieder sein Ziel und schwebte jetzt über Gregs Brust in der Luft – Greg wusste, er durfte sich von der vermeintlichen Trägheit der Gestalt nicht täuschen lassen, der Rüssel konnte blitzschnell zuschlagen, er hatte es gesehen – Greg hieb daher mit dem Haken auf ihn ein, wollte ihn schon im ersten Schlag zerteilen, aber das Ding war zu kräftig und sehnig, und nicht so leicht kleinzukriegen wie der Geleebauch, den er so leicht vernichtet hatte – er brauchte ein paar Augenblicke, viel zu lange Augenblicke, in denen immer wieder kleine Mengen grünlichen Eiters aus der aufgequollenen Fratze über ihm in sein eigenes Gesicht tropften und schließlich auch ins Auge, sodass er sekundenlang geblendet war und sich den kläglichen Rest seiner Sehkraft hektisch blinzelnd zurückerkämpfen musste – aber dann hatte er es geschafft, der Rüssel lag in Stücken auf seinem Bauch und rührte sich kaum noch. Er zögerte nicht lange und stieß den Haken in den Kopf, der auch gleich widerstandslos zerplatzte und sich unter gewaltigem dunklen Zischen und Brodeln in einem großen grünen Schaumbad über Gregs Oberkörper und Gesicht ergoss. Hustend und spuckend wischte er die Reste mit der Hand beiseite, von der sein kleiner Finger in einem bedenklichen ungewohnten Winkel abstand. Er wollte sich aufrichten, aber bevor es dazu kam, wankten zwei andere auf ihn zu. Eines erwischte er mit dem Fuß so am Bein, dass es umkippte und für den Moment außer Gefecht gesetzt war, aber dabei fiel es genau auf seinen linken Arm, der zur Hälfte aus dem Haken bestand, und klemmte ihn dabei unter sich ein. Unter Stöhnen und Brüllen versuchte Greg, den so wichtigen Waffenarm unter dem schweren, fetten Leib der Kreatur zu befreien, aber er hatte jetzt kaum noch Gefühl im Arm und erkannte rasch, dass es zwecklos war. Das andere Wesen war schon bei ihm, es machte zwischen vielen Saugelauten immer wieder leise Geräusche wie ein gutturales menschliches Gemurmel und beugte sich jetzt bereits über ihn – und ließ den Rüssel über seinem Gesicht kreisen. Es war Hank. Greg hatte ihn sofort am großen Loch in der Hand erkannt, zwischen deren Fingern jetzt dünne transparente Häute gewachsen waren. „Hank...“, keuchte Greg und verschluckte dabei versehentlich etwas Klumpiges, das wohl irgendwie in seinen Mund gelangt war und das er am liebsten gleich wieder hervorgewürgt hätte. „Hank, Junge, das mit deiner Hand tut mir leid.“ Der Rüssel hielt jetzt inne, er war etwas kleiner als das Exemplar, das Greg vor wenigen Sekunden zerfetzt hatte, er war ja wohl auch frisch gewachsen und musste sich erst noch zu seiner vollen Größe ausbilden. Überhaupt hatte Hanks Haut noch etwas mehr Farbe, aber da er auch noch große Teile seiner Piratenkleidung trug, war nicht gut abzuschätzen, inwiefern der Aufweichungsprozess des Fleisches bereits vorangeschritten war. Seine Haare jedenfalls hingen ihm in langen nassen Strähnen herab und waren so ein ganz passabler Ersatz für den Tang, den viele seiner neuen Mannschaftskameraden als Kopfbedeckung trugen. „Hank, du hättest einfach mehr aufpassen müssen“, röchelte Greg. Hank glotzte ihn aus großen Stielaugen an und verharrte in der Bewegungslosigkeit. „Es tut mir wirklich leid, was mit dir passiert ist, aber ich habe alles getan, was ich als dein Kapitän für dich tun konnte, Hank. Du hättest einfach mehr aufpassen müssen, du hättest auf meine Rede hören müssen, die ich deswegen gehalten habe. Ich wollte ja, dass ihr alle aufpasst, damit sowas nicht passiert, Hank.“ Ein heftiger Ruck ging jetzt durch das Schiff und einen Moment lang geriet es stark ins Schwanken, als sei es von etwas Gewaltigem gestreift worden. Hank hatte sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten und kippte ein wenig, hatte aber gleich wieder in seine alte Position zurückgefunden. „Ich habe mir wirklich nichts vorzuwerfen, Hank“, presste Greg mühsam hervor. „Du weißt, dass ich immer für dich da war und dich unterstützt habe, wo ich nur konnte. Das mit deiner Hand, das war keine Absicht, und das weißt du auch, Hank.“ In Hanks Gesicht zuckten ein paar tote Muskeln. Greg wollte die Hand langsam heben, irgendwie in eine Position bringen, in der sie ihm zur Abwehr nutzen konnte, aber der noch nicht ganz ausgewachsene Tentakel mit der durchlöcherten Handfläche drückte seinen eigenen Arm mit großer Kraft zu Boden. „Hank, hör mal, das alles kann immer noch gut für uns beide ausgehen. Lass uns einfach – “ Der Rüssel raste herab, stieß zwischen die geöffneten Lippen hindurch in seinen Rachen und quetschte sich mit aller Gewalt durch seine Speiseröhre, wollte in seinen Magen hinein, tief in sein Innerstes eindringen. Ein infernalischer Würgereiz überkam Greg, aber er würgte nicht, sondern biss, er riss seine Kiefer zusammen und ließ die goldenen Zahnplatten aufeinander zupreschen, und das widrige Stück totes Fleisch zwischen ihnen zermalmen – immer wieder biss er zu, spürte das schwarze kalte Blut und spuckte es mitsamt den zitternden fleischigen Brocken aus. Noch immer steckte ein großes Stück in seinem Hals und hinderte ihn am Atmen, aber da Hanks Tentakelarm die Umklammerung gelöst hatte – wohl eher aus Überraschung denn aus echtem Schmerz – konnte Greg die Hand zuhilfe nehmen und das schleimige, zappelnde Teil aus seinem Rachen zerren. Noch in seiner Hand zuckte es vor sich hin, bevor es Greg so weit wegschleuderte wie er konnte. Hustend würgte er die gröbsten Restbestände des Rüssels hervor und sah aus dem Augenwinkel wie der paralysierte Hank hilflos zur Seite torkelte und wohl Anstalten machte, sich aus Gregs Reichweite zurückzuziehen, die ja nicht sehr groß war, da sein Haken nach wie vor in der Verklemmung steckte – aber Greg packte ihn mit der nackten Hand am Hals und zerrte ihn zu sich herab, reckte sich vor und schnappte mit dem Maul nach ihm, biss zu, ein ums andere Mal, und ließ seine klappernd wütenden Kieferplatten das kreischende verschrumpelte Gesicht Hanks Stück für Stück auseinanderreißen. „Was denkst du eigentlich wen du vor dir hast!“, fauchte er und ließ den elektrischen Schmerz, der bei jedem Zusammenprall der Goldplatten über ihn kam, bereitwillig geschehen. „Du dachtest wohl, du könntest mich verpesten! Du wolltest deinen Kapitän verpesten, der sich jahrzehntelang den Arsch für dich aufgerissen hat, du Scheißkerl!“ Verzweifelt irrten Hanks schwächliche Tentakel über Gregs Körper, drückten hier und da kurz zu und begriffen doch jedesmal rasch, dass sie den tödlichen Prozess ohne Beihilfe des verloren gegangenen Rüssels nicht aufhalten konnten. Der Widerstand ließ rasch nach, und als sich Hank nicht mehr rührte, schubste ihn Greg nach einem letzten befriedigten Biss zur Seite weg. Im gleichen Augenblick aber durchfuhr ihn ein ungeheurer Schmerz, der vom rechten Bein ausging und entlang des Rückgrats bis in sein gemartertes Hirn zuckte. Jetzt da Hank ihm nicht mehr die Sicht versperrte, bemerkte Greg, dass sein linker Arm mit dem Haken wieder frei war, aber das nützte ihm nicht viel, da er noch immer nichts fühlen konnte – und ohnehin konnte er sich nicht darüber freuen, denn das aufgedunsene, fettleibige Monstrum, das ihn zuvor noch blockiert hatte, war auf Gregs Unterleib gefallen und hatte in Ermangelung anderer freier Stellen, die ja Hank für sich beansprucht hatte, den breiten Rüssel tief in sein Bein gebohrt, vorbei an den Muskelsträngen bis ins Knocheninnere hinein, und jetzt pumpte er schmatzend und ratternd seine verdorbene Saat direkt ins Mark. Greg wollte aufspringen, aber die dicke menschliche Qualle hielt sein Bein mit beiden Tentakeln gleichzeitig am Boden fest, blickte jetzt leicht zur Seite – soweit es das konnte, ohne dabei den Rüssel, der ja im Gesicht verankert war, aus dem Bein zu ziehen – und warf Greg einen Blick zu, der keine Feindseligkeit und keinen bösen Willen mehr erkennen ließ, der beinahe liebevoll wirkte, als wollte es sagen: „Du bist jetzt einer von uns, Greg.“ Panisch und zornig schlug Greg mit der Hand um sich – der Schmerz war kaum auszuhalten, das ganze Bein schien zu vibrieren und der verdorbene Kern strahlte jetzt eine tiefe, dunkle Kälte nach allen Seiten aus –, aber es war nichts zu finden, das als Waffe verwendet werden konnte, nur kleine Stücke von Hank befanden sich in Reichweite, die sich zum Teil schon in Schaum aufgelöst hatten und die ohnehin nicht dazu geeignet waren, etwas gegen die Kreatur auszurichten. Wieder wurde das ganze Schiff in eine heftige Bewegung versetzt, aber Greg bekam es kaum noch mit und hatte nur noch ein tiefes Raunen im Ohr, bevor es schwarz um ihn wurde, er spürte wie sich mehr von ihnen näherten, und er wusste, bald würde er mit ihnen laufen.
„Greg! Greg, verdammt, wach auf!“
Er riss das Auge auf vor Schmerz – etwas schien mit aller Macht den Knochen aus dem Bein zerren zu wollen – es war alles weiß im ersten Moment, aber dann sah er wieder in das Gesicht der Kreatur, bloß dass es jetzt ganz ausdruckslos war und schlaff am aufgeplatzten Körper des Scheusals herunterhing. Angus kniete vor seinem Bein und mühte sich damit ab, den abgetrennten unteren Teil des großen Rüssels herauszuziehen. Das Bein war stark verändert: Seine alte gewohnte Farbe, die ja auch schon durch den Brandanschlag der Magier gelitten hatte, war im unteren Bereich einem ins Schwarze gehenden dunklen Grün gewichen, und rundherum hatte die weich und klebrig gewordene Haut dicke schlierige Blasen geschlagen, die gelegentlich aufplatzten und dabei einen abscheulichen brodelnden Sud versprühten. Die Verderbnis reichte ungefähr bis zur Hälfte des Oberschenkels hoch, aber es war deutlich zu erkennen, dass sich auch dort bereits kleine Bläschen gebildet hatten und weiterhin bildeten, und dass die abscheuliche Pest unaufhaltsam ihren Weg über seinen übrigen Körper finden würde, bis sie ihn vollständig vereinnahmt hatte.
„Wir haben keine Zeit, es wird hier bald voll von ihnen sein“, hörte er Jargos Stimme hinter sich. „Zieh es später raus, wir müssen ihn wegschaffen. Weg von den Biestern.“
„Hackt es ab!“, brüllte Greg und wollte Jargo packen, der wohl direkt hinter ihm stehen musste, aber seine Hand griff ins Leere. „Hackt das ganze Bein ab, verdammt, worauf wartet ihr!“
„Aufs Unterdeck also?“, wandte sich Angus fragend an Jargo und dachte gar nicht daran, der Forderung seines Kapitäns Folge zu leisten, was Greg ganz rasend machte.
Jargo antwortete nicht, aber vielleicht hatte er genickt oder sonst ein Zeichen gegeben, denn Angus trat jetzt hinter ihn und tauschte gewissermaßen mit Jargo den Platz; dann wurde Greg an beiden Armen gepackt und nach hinten geschleift, während Jargo langsam an seiner Seite ging und ihn oder den für Greg nur in einer unangenehmen Nackenstellung seines Kopfes, die er nach Möglichkeit zu vermeiden suchte, sichtbaren Angus von Zeit zu Zeit zur Orientierung an der Schulter berührte. Schlaff und nutzlos klapperte der Haken über die Planken, und Greg bemerkte bei einem Blick zur Seite, dass auch sein kleiner Finger, der nur noch an einer einzigen bloßgelegten, widerstandsfähigen Sehne mit der Hand verbunden war, lose am Holz entlang schrabbte, woraufhin er die Hand vorsichtshalber auf den Brustkorb legte. Grelles weißes Flimmern behinderte ihm nach wie vor die Sicht, aber immer wieder konnte Greg aus dem Augenwinkel Kreaturen erkennen, die genauso gut zu seinen eigenen Männern als zu den verhassten Wiedergängern gehören konnten. Großes Geschrei war von überall her zu hören, das Getöse der magischen Zaubersprüche jedoch konnte Greg nicht mehr darin ausmachen.
„Was ist mit den Magiern?“ Niemand antwortete, und er wollte jetzt wieder schreien, aber die Stimme versagte ihm zu einem heiseren Flüstern. „Die Magier – sind sie tot, sind sie weg – und – könnt ihr endlich mein beschissenes Bein abhacken, verdammt!“
„Jargo, Achtung!“
Gregs Kopf prallte dröhnend auf die Planken auf, als er ohne weitere Vorwarnung losgelassen wurde – im nächsten Moment eilte Angus mit gefletschten Zähnen an ihm vorbei zum jetzt leerstehenden kleineren Versammlungsplatz der Luntenmänner, wo er sich bald mit dem Säbel gegen einen dort aufgetauchten Angreifer aus der Tiefe wehrte. Jargo, der sich in seiner Verwirrung tastend an Angus' Seite gehalten hatte, war unbeabsichtigt mitten im Zweikampf gelandet und musste vom angestrengt fechtenden Piraten zu seinem eigenen Schutz zur Seite geschoben werden.
Greg atmete schwer in seiner unbequemen Liegeposition und musste sich sehr zusammenreißen, um einen zumindest behelfsmäßig klaren Kopf zu bewahren. Er wusste, dass er jetzt für den Moment vollkommen hilflos war, und dass er auch an sein Bein besser keinen überflüssigen Gedanken verschwendete. Mit der zitternden Hand tastete er sein gleichermaßen feuchtes wie brennendes Gesicht ab, fand die Augenklappe und schob sie vorsichtig beiseite. Es gelang ihm, seinen Atem zu kontrollieren, seinen Puls herunterzufahren, und als er dalag und in den schönen schwarzen Himmel hinauf sah, der von allerhellstem Sternenlicht zu allen Seiten bestens ausgeleuchtet war, schwand auch das Flimmern vor seinem Auge dahin. Er sah nicht hinüber zu Angus und Jargo und hörte nicht auf ihre Rufe, die ja ohnehin nicht ihm galten. Für den Augenblick vergaß er alle Gefahr und allen Schmerz und genoss die wundersame Bestrahlung des langsam schwächer werdenden Sternenlichts – bis das Schiff wieder zur Seite gestoßen wurde, heftiger denn je, und Greg mit sich nahm – er rollte auf den Bauch, beinahe wäre ihm die lose Augenklappe vom Kopf gerissen worden, aber er brachte sie rasch wieder in die ursprüngliche abdeckende Position – ein Schwall Wasser ergoss sich von irgendwoher über ihn, kaltes, salziges Wasser des Ozeans, aber mit dem bitteren Beigeschmack der Pest vermischt. Und als sich Greg unter kaum zurückgehaltenem Ächzen wieder auf den Rücken drehte und empor in den Himmel blickte, da glitt dröhnend hoch über seinem Kopf ein gewaltiger langer schwarzer Körper vorüber, ein kolossaler Walfisch, und aus seiner glitschigen qualligen Haut stieß er Schwälle abscheulichen schaumigen Sekrets aus, die als entsetzlicher Regen auf das Schiff niedergingen. Greg riss den Arm vor sein Gesicht, und noch ehe er ihn wieder zu senken wagte, spürte er den bekannten Griff unter den Achseln und er wurde erneut nach hinten weitergezerrt. Angus war jetzt wieder bei ihm; er hatte einen großen blutigen Striemen im Gesicht, wie Greg beim kurzen Hochblicken auffiel, aber er war noch auf den Beinen und nickte Greg von oben knapp zu. Wieder wurde das Schiff von einem Ruck erfasst, wohl als der verseuchte Koloss ins Meer zurückkehrte.
„Sie sind schon alle hier“, krächzte Greg hervor und suchte mit den Augen nach Jargo, den er im ersten Gedanken schon verloren glaubte, schließlich aber an seiner linken Seite ausmachen konnte. „Angus... Jargo... die Magier, wenn wir sie nicht alle erwischen, dann hat dieses Schiff keine Zukunft, dann seid ihr alle verloren – es sind noch einige am Leben, richtig? Es sind noch welche hier, habe ich recht? Habe ich recht?“
Jargo hatte ihn vielleicht nicht gehört, aber auch Angus antwortete ihm nicht, zog ihn stattdessen plötzlich in eine halbe Standposition hoch und drehte ihn etwas zur Seite, sodass er über die Reling hinaus aufs Meer blicken konnte, das jetzt von einem heftigen Brodeln erfasst war. Das leuchtende blaue Astralschiff war noch immer dort, allerdings in einer deutlich verblassten Gestalt, die an Strahlkraft vieles vermissen ließ. Gregs Aufmerksamkeit jedoch wurde von etwas anderem auf sich gezogen. Was seine nervöse Pupille ausgemacht hatte, war ein immenser vielgliedriger Schatten, ein dürres Ungetüm, das sich nur undeutlich vom Nachthimmel abzeichnete, aber dennoch klar zu erkennen war als ein abscheuliches schwarzes Spinnentier, das sich mit allen seinen nasshaarigen Beinen an das geisterhafte Schiff geklammert hielt und seine großen glänzenden Kiefer mitten in das transzendente Herz trieb, ihm die magischen Kräfte geradewegs heraussaugte, um sein eigenes dunkles Wesen dadurch zu stärken. Kreischend zogen die schwarzen Möwen ihre Bahnen über dem erlöschenden blauen Licht, das mitsamt seiner Urheber und Insassen zweifellos im Niedergang begriffen war.
„Was ist mit denen hier an Bord?“, stieß Greg aus – Angus hatte ihn wieder etwas herabgelassen, wenn auch nicht so weit wie zuvor, und zerrte ihn weiter in Richtung der Treppe, die Greg jetzt bei einem Blick über die Schulter schon ausmachen konnte – „Sind noch Magier hier an Bord?“ – und als Angus nur ein abwesendes „Ruhig, Käpt'n“ murmelte, rief er zum mühsam Schritt haltenden Blinden hinüber: „Jargo, sie werden nicht verschwinden, solange sie noch Magie spüren können, du weißt das ebenso gut wie ich!“
Ein tiefes Brummen drang von allen Seiten her zu ihnen heran, und bei einem flüchtigen Blick zur nahen Meerseite hin glaubte Greg eine weitere Erhebung zu bemerken, die durch die Wasseroberfläche nach oben drang. Jeder Versuch, Näheres auszumachen, musste scheitern, denn Angus hatte ihn im gleichen Moment abrupt in eine andere Richtung gezerrt, um auf dem Weg zur Treppe den quer aufs Deck gestürzten und an einigen Stellen in Brand gesetzten Hauptmast zu umgehen, wobei er ihn zudem wieder auf die alte Höhe heruntergedrückt hatte. Als die Reling das nächste Mal in sein Blickfeld geriet, war es ihm nicht möglich, aufs Meer hinaus zu blicken, was allerdings nicht nur an seiner niedrigen Sichthöhe, sondern vor allem auch an den vielen Piraten lag, die sich dort bei den Kanonenbatterien herumtrieben und gerade dabei waren, die stählernen Geschütze so zurückzuziehen und umzuwenden, dass ihre Öffnungen in das Schiffsinnere hinein wiesen.
„Was – was machen diese Stümper da!“ Greg tastete mit der lädierten Hand nach Jargos Arm und drückte ihn ein paar Mal, nachdem er ihn endlich gefunden hatte. „Die feigen Idioten wollen mein Schiff in Grund und Boden schießen!“
Angus' Kopf beugte sich jetzt über ihn, ganz groß und verkehrt herum sagte das blutende Gesicht: „Nee, Käpt'n, keine Sorge. Die nehmen das Zeug, das wir beim letzten Landgang für solche Sachen gekauft haben, dafür war's ja gedacht.“
Tatsächlich eilten jetzt, während Greg dem Gefühl nach in noch größerer Eile rückwärts über das Deck geschleift wurde, immer wieder geschäftige Männer aus der Richtung der Treppe an ihnen vorbei, die jeder mit beiden Händen schwere leinerne Säcke schleppten. Greg erinnerte sich nicht mehr genau daran, was die Säcke enthielten, aber Henry, der bei jedem Landgang in seinem Sinne die Munitionsliste für den Einkauf zusammenstellte, wusste es sicherlich, was ja auch völlig ausreichend war. In jedem Fall war es wohl eine gute Idee, sich vor Beginn dieses neuen Angriffs auf die invadierenden Abscheulichkeiten unter Deck aufzuhalten, denn der Inhalt der wenig stabilen Geschosse würde sich hier oben sicherlich in kurzer Zeit in jeden Winkel hinein ausbreiten, und Greg hatte die starke Vermutung, dass der Kontakt damit nicht bloß für die Wiedergänger einen beträchtlichen Schaden bedeutete. Mehr und mehr aber wurden seine Gedanken jetzt von dem lästigen rechten Bein gestört, das ihm längst nur noch ein immer unerträglicher werdendes, tief im Knochen sitzendes Jucken und Beißen war; ein heißes Brodeln an der Oberfläche – und zugleich die lähmendste Kälte im Inneren, im Ganzen von einer ständigen Vibration und einem in unberechenbaren Abständen wiederkehrenden heftigen Zucken erfasst. Er wagte kaum, es anzusehen, denn bei jedem Blick schien es ihm fremder und widriger, und der starke Wunsch in ihm, es endlich loszuwerden, es zu zerquetschen, auszuwringen und abzustoßen wie eine schlechte Prothese, die man ihm aus einem grässlich verschlickten und allen ranzigen Sud der Gewässer aufsaugenden Schwamm gefertigt hatte. Es war doch längst nicht mehr sein Bein, das da mit ihm verwachsen war und das die Fühler seiner Krankheit Blasen schlagend zur Hüfte hin ausstreckte, die es aber nie erreichen durfte – Gregs Augen suchten nach einem geeigneten Gegenstand, um sich endlich zu befreien von dem ungeheuren Fluch, der ihn ergriffen hatte, aber an Deck schien alles zerstört und zerschlagen, so dass er seine Hoffnungen nur auf das hoffentlich noch brauchbare Waffenarsenal in den unteren Räumlichkeiten richten konnte, wenn ihn Angus denn nicht mit seinem Säbel erlösen wollte.
„Pack mit an, wir sind da!“, hörte er Angus' Stimme hinter sich, aber sie richtete sich natürlich nicht an ihn, sondern an Jargo, der jetzt tatsächlich nach kurzem Zögern und Fühlen seine Beine packte – oder es zumindest versuchte, denn die Berührung des verpesteten Beins war nur von kurzer Dauer. Jargos Hand rutschte ab, und das Bein fiel schwer auf die Dielen zurück, woraufhin Greg erneut die Sinne schwanden – aber wohl nur kurz, denn als er wieder zu sich kam, hatte es Jargo gerade erst fertig gebracht, ihn mit einem unnötig komplizierten Griff an der linken Kniekehle und mit der anderen Hand an einer Stelle des unteren Rückens zu packen. Gemeinsam mit dem immer wieder Anweisungen gebenden Angus trug er Greg nun die Treppe hinunter, was kein leichtes Unterfangen war, da sie von in großer Zahl heraufeilenden Säckeschleppern zur Seite gedrängt wurden und auch das mit gequältem Knarren aufseufzende Schiff jetzt zum wiederholten Male von einem Seitenschlag getroffen wurde, der den überraschten Jargo beinahe zum Ausrutschen gebracht hätte.
Im ersten Korridor des verzweigten Unterdecks erwartete sie eine nervöse Dunkelheit, die nur unzureichend von den in weiten Abständen an den niedrigen Wänden angebrachten Fackeln durchbrochen wurde. Eine von ihnen hatte sich ganz in der Nähe zur Treppe aus der Halterung gelöst und ruhte jetzt am Boden, wo sie einen kleinen Brand ausgelöst hatte, den die verschwitzte Riege der Munitionsträger geflissentlich umging. Zunächst herrschte noch einiger Betrieb, der sich aber ausschließlich nach oben zum Deck hin richtete, und bald nachdem Greg von Jargo und Angus in einer geeigneten Nische abgesetzt worden war, hatten sich die letzten der Männer aus dem Korridor zurückgezogen. Die dumpfen Schlachtgeräusche, die durch die knirschende Decke und vom offenen Treppenausgang her zu ihnen herab drangen, wurden nur durch leises Jaulen und Jammern ergänzt, das aus einer der unzähligen benachbarten Räumlichkeiten und vielleicht auch von einer niedrigeren Ebene her zu hören war. Diese Schmerzenslaute konnten aber durchaus auch aus der allernächsten Nähe stammen, denn hier auf dem Gang hatte Greg schon mehrere starre Körper bemerkt, unter denen nicht bloß Piraten, sondern auch Männer in beschädigten roten Roben waren. Greg wollte nachsehen, ob einer der Magier vielleicht noch atmete – es konnte von größter Bedeutung sein, einen solchen Zustand zu ändern – aber der Anblick des Eiter und Säure speienden Schleimbatzens, der einmal sein Bein gewesen war, verdrängte alle übrigen Gedanken in seinem Kopf. Die Zeit, in der eine bloße Amputation das Fortschreiten der Seuche noch aufhalten konnte, wurde allmählich knapp.
„Angus...dein Säbel...gib mir deinen Säbel...“ Orientierungslos geworden durch einen unerwartet einsetzenden Schub starker Kopfschmerzen tastete er nach dem Piraten, bevor sich Jargos leere Maske in sein Blickfeld schob.
„Angus wird sich jetzt darum kümmern, Greg“, sagte er und trat dann zu Angus heran, der seinen schartigen und alles andere als keimfreien Säbel misstrauisch beäugte.
„Nix für ungut, Käpt'n, aber das wird verdammt weh tun. Besser isses, wenn du dir was zwischen die Kiefer packst, zum Beißen.“
„Ich hab' die Schnauze voll vom Beißen!“, brüllte Greg und machte Anstalten, sich aufzurichten, bevor ihn Jargo, der das wohl gespürt hatte, sanft zurückdrückte. „Hackt es endlich ab, verdammt!“
Jargo nickte, und auch Angus kniete sich jetzt mit entschlossener Miene vor das immer stärker anschwellende Bein, aus dem noch immer das schwach zuckende Rüsselende heraushing, und dessen Ausflüsse längst eine große übelriechende Pfütze am Boden gebildet hatten.
„Hier oben, Käpt'n?“, wandte sich Angus mit brüchiger Stimme an Greg, und blickte kurz auch zu Jargo hin, der sich neben ihn gehockt hatte und die Maske zum Boden hin gesenkt hielt.
„Ja – ja doch, da wird es schon gehen, hack es einfach ab!“
Er zögerte noch. Oben donnerten die Geschütze und versetzten das Schiff erneut in Unruhe.
„Mach schon, Angus!“, schnaufte Greg. „Hack es ab!“
Angus hob den Säbel, hielt kurz inne und ließ ihn dann auf das Bein niederfahren. Greg sah dem großen Stück Stahl dabei zu, wie es die stickige Korridorluft durchschnitt und auf die oberste nasse Hautschicht auftraf, sie zerteilte und zur Seite drängte, dabei das darunter liegende fast gummiartige Gewebe lockerte, aber doch nicht durchdringen konnte und schlussendlich davon abglitt, ohne etwas erreicht zu haben. Angus wollte es erneut versuchen, aber Greg sah an seinem Blick, dass ihm die nötige Entschlossenheit fehlte – er würde es niemals bewerkstelligen können, er würde immer wieder scheitern und als nutzloser Zeuge dabei zusehen, wie auch der restliche Körper seines Kapitäns von der dunklen Krankheit ergriffen wurde, wie sein Bauch aufweichte, und wie ihm Nesseln, Rüssel und Tentakeln wuchsen – die würde er ihm dann vielleicht abschlagen, und dann würde er versuchen ihn umzubringen, aber all das würde für Greg bloß in einer ewigen Existenz als hirnloser Krüppel enden, dessen einziges trostloses Ziel es war, alten grauen Magiern nachzujagen, gegen die er sich nicht einmal mehr zur Wehr setzen konnte. Greg sah das alles sehr deutlich vor sich, und noch bevor Angus den Säbel wieder gehoben hatte, fuhr er aus seiner Liegeposition empor, schleuderte den lebendigen Arm voran und entwand Angus den Säbel – krümmte die viergliedrige Hand darum zur Faust – stieß den hochschreckenden Jargo mit dem linken Bein zur Seite – und prügelte mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war, und das war eine viel größere Kraft als es Angus, Jargo oder irgendwer sonst wahrhaben wollte, auf die groteske Extremität ein. Mürbe gewordenes Muskelgewebe und zu dicken Schläuchen angeschwollene Adern mussten gleichermaßen seinem unbeugsamen Willen weichen, und erst als er den schwarzen, träge pulsierenden Knochen freigelegt hatte, erkannte er, dass er zu weit unten angesetzt hatte – er musste das Bein an einer gesunden Stelle zertrennen, um sicher zu gehen, dass keine Überreste der feindlichen Kraft an seinem Körper verbleiben konnten, die den Angriff zweifellos fortsetzen würden. Diese Erkenntnis war sehr unangenehm, aber Greg wusste, dass ihn langes Nachgrübeln nicht retten würde, und noch gab es ja schließlich eine stetig weniger Raum einnehmende gesunde kleine Fläche ganz oben am Bein, eben an jenem Fleck wo es sich in seine Hüfte einrenkte, und genau da – so wusste er – musste er ansetzen. Das ganze blöde Bein musste weg. Ohne Pause machte er sich wieder ans Werk, aber diesmal war es schmerzhafter als zuvor: Diesmal war es sein eigenes Fleisch, das er zerschnitt, und das machte es in seinem Empfinden zu einem Angriff auf sich selbst.
Nach einer gewissen Zeit, es mussten wohl einige Minuten vergangen sein, hatte er es geschafft. Das Zerbrechen des Knochens war der schwierigste Teil, aber er konnte beobachten, wie sich der Knochen von der unteren Seite her allmählich verdunkelte, und das hielt ihn davon ab, in seinem Bestreben nachzulassen. Als er das letzte Stück abgerissen hatte, drückte er das ganze sinnlos sprudelnde Bein von sich weg und robbte auf dem Boden zurück, um noch mehr Platz zwischen sich und das abgestoßene Glied zu bringen. Blut kam aus der Wunde, aber es war rotes Blut. „Ha!“, schrie er im Augenblick des Triumphes zur Decke hinauf – „So viel zu eurem lachhaften Plan, Kapitän Greg zu verpesten! Ihr könnt mit meinem Bein anstellen was ihr wollt – ihr dachtet wohl, ich sei in irgendeiner Weise darauf angewiesen, aber das stimmt nicht – ich habe noch ein anderes, ein besseres, es hat sogar eine mechanische Zehe, die mich viel gekostet hat, und dieses Bein ist mehr wert als drei gewöhnliche Beine zusammen – und das werdet ihr euch nicht nehmen, und dieses eine Bein wird voll und ganz ausreichen, um jeden einzelnen von euch Amateuren von meinem Schiff zu treten!“ Ein paar Meter weiter hinten im Korridor sah er den verdrehten Leichnam eines Magiers liegen, der seinen im oberen Drittel zerbrochenen Stab noch in beiden Händen umklammert hielt. Fest entschlossen, wieder wie ein vernünftiger Mensch gehen zu können und nicht länger auf Angus' oder gar Jargos Hilfe angewiesen zu sein, kroch er eine blutige Spur hinter sich herziehend auf diese Leiche zu, zerrte den Stab aus den steifen blassen Fingern heraus und rammte das splitterige Ende in die frische Wunde, wo es sich ausreichend tief eingrub und auch in einem solchen Maße verkantete, dass sich Greg jetzt mit viel Mühe aufrichten konnte, ohne dass seine neue Prothese zur Seite wegknickte.
„Käpt'n, ich weiß ja nich' ob das 'ne gute Idee is'“, meldete sich der bis dahin wie festgefrorene Angus zu Wort, hob den von Greg liegen gelassenen Säbel vorsichtig auf und warf auch Jargo wieder einen hilfesuchenden Blick zu. Jargo aber war natürlich in eine ganz andere ereignislose Richtung gedreht und versuchte seine jetzt wieder sehr offensichtliche Hilflosigkeit zu überspielen, indem er die Hände abwechselnd zusammenfaltete und in den Jackentaschen vergrub.
„Ich sag dir, was keine gute Idee ist!“, schnaufte Greg und genoss die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit, indem er auf Angus zuhumpelte und ihn am Kragen seiner Lumpenweste packte. „Hier rumkriechen und zugucken, wie diese Biester mein Schiff übernehmen, nur weil ihr strunzdoofen Murkser damit überfordert seid, eine Handvoll lachhafter Funkenschläger zu versenken, das ist keine gute Idee! – Wo steckt eigentlich Skip? Ist es denn zu viel verlangt, wenigstens eine einzige fähige Person zur Stelle zu haben?“
Angus wollte wohl etwas sagen, aber ein von tief unten zu ihnen heraufdringendes scheußliches mattes Quietschen übertönte für eine Weile alle anderen Geräusche.
„Sie sind noch immer auf dem Weg“, sagte Greg und ließ von Angus ab, um den Korridor abzulaufen, so zügig es ihm jetzt noch möglich war. „Es müssen lebende Magier an Bord sein, anders ist das nicht zu erklären! Vielleicht haben sie sich in die unteren Korridore geflüchtet, wir müssen nachsehen.“
„Es geht ganz schön weit in die Tiefe“, gab Angus zu bedenken, der Jargo am Arm gefasst hatte und ihn so hinter Greg herlotste. „Wir können da unmöglich alles absuchen, Käpt'n. Wir wissen ja nich' mal selbst, was ganz unten alles is', da wo wir selber nich' hingeh'n, und so'n Magier könnte sich da bestimmt überall verstecken.“
Verständnislos schüttelte Greg den Kopf. „Und genau deshalb müssen wir da suchen!“
Sie hatten mittlerweile die Treppe zum zweiten Unterdeck erreicht, und Greg hatte einige Mühe, die hohen Stufen mit seinem improvisierten Holzbein zu bewältigen. Als er ganz unten angekommen war, bemerkte er am Ende des langen leeren Korridors, der noch deutlich stickiger und auch noch spärlicher beleuchtet war als der gerade zurückgelassene, eine sich bewegende Figur, die seine Ankunft offenbar bemerkt hatte und sich jetzt rasch in einen nahen Raum begab. Ohne auf Angus und Jargo zu achten, die durch Jargos langsames Vorankommen noch nicht ganz zu ihm aufgeschlossen hatten, stolperte er in vollem Lauf auf die Stelle zu, an der sich die verdächtige Erscheinung aufgehalten hatte – er gewöhnte sich schnell an sein neues Bein und konnte damit schon fast so schnell laufen wie zuvor; er fragte sich unwillkürlich, wieso sich Menschen eigentlich so ungern von ihren Beinen trennten, wenn sich doch so ohne Weiteres hervorragender Ersatz beschaffen ließ – und als er den Gang ungefähr zur Hälfte passiert hatte, da ertönte weit unten ein entsetzlicher Lärm wie von tausend zerberstenden Bäumen, der das ganze Schiff erbeben ließ und Greg zu Boden riss. Er wartete darauf, dass es nachließ, aber das Toben wurde nur noch lauter und schraubte sich jetzt hoch in unerträgliche Höhen – Greg presste die Hand aufs rechte Ohr, aber selbst wenn er den nutzlos gewordenen linken Arm noch hätte einsetzen können, so wäre sein Haken zu einer derartigen Aufgabe doch nicht geeignet gewesen – er musste das markerschütternde Fräsen und Bohren also mit einem Ohr weiterhin ertragen, und es nützte auch nichts, dass er sich quer über den schwankenden Flur schob, um das Ohr an die Wand zu pressen, denn auch die Wand vibrierte ja, als müsste sie jeden Augenblick zerspringen.
Als es vorüber war, traute Greg seiner Erleichterung zunächst nicht, es konnte ja jederzeit von Neuem losgehen, aber schnell stellte sich das zwiespältige Gefühl ein, dass irgendeine bedrohliche Arbeit da unten wohl vollendet war, wozu auch eine besorgniserregende Ahnung beitrug, dass sich das Schiff in den vergangenen Augenblicken auf eine nicht greifbare Weise zu seinen Ungunsten verändert hatte.
„Alles in Ordnung, Käpt'n?“ Angus stand jetzt wieder neben ihm, und Jargo lehnte in verkrampfter Haltung an der Wand, schwer atmend.
„Hast du ihn gesehen?“ Der Holzstab hatte sich durch den Sturz und wohl auch durch den heraussickernden Blutfluss etwas aus der Wunde gelöst, und Greg brauchte ein paar Sekunden, bis er ihn wieder fest verankert hatte. „Den Magier, meine ich! Da war einer, gleich da hinten an der Tür, und eigentlich müsste er immer noch da drin hocken.“
„Das ist das Büro vom obersten Luntenmann“, sagte Angus. „Was sollte so'n Magier denn da wohl wollen?“
Ärgerlich rappelte sich Greg wieder auf und prüfte die wiederhergestellte Stabilität des Holzbeinimitats. „Weg von uns will der, was sonst!“ Wieder sehnte er sich Skip herbei, dem man nicht jeden naheliegenden Gedankengang in aller ermüdenden Ausführlichkeit erklären musste. Außerdem hatte Skip immer ein paar Flaschen Rum dabei, und den konnte er jetzt mehr denn je gebrauchen, um den üblen Nachgeschmack, den Hank in ihm hinterlassen hatte, aus dem Rachen zu spülen.
Er hatte den Raum, in dem die fremde Person verschwunden war, bald erreicht, und in der Tat handelte es sich um ein spärlich, aber sehr ordentlich eingerichtetes Büro, in dem nur der Schreibtisch mit seinem großen Stapel aktueller Berichte betreffend des Luntenbestands auf eine noch kürzlich stattgefundene Aktivität hindeutete. Der Raum war allerdings nur vom Gang her beleuchtet und daher nicht vollständig zu überblicken. Greg nahm sich die nächste Fackel aus der Halterung und ging hinein.
„Ich weiß, dass du hier drin bist, Magier“, sagte er offen heraus, denn der Fackelschein verriet ihn ohnehin, und es bestand ja auch nicht der geringste Grund zu einem heimlichen Vorgehen. „Es gibt keinen zweiten Ausweg aus diesem Raum, und ich habe deutlich gesehen, wie du hineingegangen bist, wie du dich bei meinem Anblick hierhin verzogen hast. Einer meiner eigenen Männer hätte keinen Grund dazu, der würde seinem Kapitän freudig entgegenlaufen, ebenso auch die Missgestalten, die ihr Magier uns an Bord geholt habt, wenn auch aus anderem Grund, also kannst du nur ein Magier sein. Es nützt auch gar nichts, dich zu verstecken, denn wenn ich dich nicht erwische, dann wird das gesamte Schiff zweifellos untergehen und du wirst entweder den Tod dabei erleiden oder die Invasoren auf ihrem Heimweg in die eisigen Tiefen begleiten, was auch keine schöne Aussicht ist, wenn du meine Meinung hören willst. Es ist wirklich das beste für uns alle, wenn du dich einfach schnell von mir töten lässt, und ein studierter Kerl wie du müsste das eigentlich einsehen.“
Greg hatte sich während seiner Ansprache an den Unbekannten im ganzen Raum umgesehen, aber angesichts der kargen Möblierung fehlte es dem Büro auch an einschlägigen Versteckgelegenheiten, und die Suche war schnell zu einem wenig zufriedenstellenden Ende gelangt. Über die Schulter blickte er zu Jargo hin, der neben Angus vor der Tür wartete. „Dieser Unsichtbarkeitszauber –“
„Nicht, wenn er alleine ist“, fiel ihm Jargo leise ins Wort. „Viele Magier sind nötig, um einen solchen Zauber aufrechtzuerhalten. Du wärst wahrscheinlich längst über sie gestolpert.“
„Was ist mit dem Schrank da, Käpt'n?“, sagte Angus. „Vielleicht 'n bisschen klein, aber sonst...“
Greg brauchte einen Moment, um zu begreifen wovon Angus sprach. Die ständigen Schmerzen, die in unterschiedlichen Ausprägungen mittlerweile seinen ganzen Körper ergriffen hatten, machten es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und so musste er den schmalen Aktenschrank, der aus dem gleichen Holz gezimmert war wie die Bürowände, während der bisherigen Untersuchung übersehen haben. Er zögerte nicht mehr lange und riss die Tür auf, hinter der auch tatsächlich ganz zusammengekauert ein junger dürrer Kerl in halb zerrissener roter Robe hockte.
„Ich bin kein Magier!“, schrie er sofort, als Greg ihn am Arm packte und aus dem Schrank zerrte. „Es gibt keinen Grund, mich umzubringen, ich kann noch nicht mal zaubern! Du kannst mich überall durchsuchen, ich habe gar keine Runen dabei!“
„Warum hast du dann diese Robe an?“, knurrte Greg und verpasste dem verheulten Jüngling einen gewagten Tritt mit dem Holzbein, der allerdings ihm selbst am allermeisten gefährlich wurde. „Sieht mir doch ganz verdächtig nach einer Magierrobe aus!“
„Ist sie aber nicht, ehrlich!“, versicherte der Junge verzweifelt. „Ich bin doch nur ein Novize, und jeder weiß, dass Novizen noch gar nicht zaubern dürfen. Außerdem bin ich überhaupt erst seit ein paar Wochen bei den Magiern, und da wurde ich dann gleich auf diese furchtbare Seefahrt mitgenommen. Das war wirklich nicht das, was ich mir unter einem Gelehrtenleben vorgestellt habe, und ja, kaum sind wir endlich am Ziel angelangt, also bei deinem Schiff, da werde ich auch noch von meinem Meister mit an Bord geschleppt und muss zusehen, wie er versucht eins dieser ekelhaften Viecher zu töten, aber das Ding schluckt alle Feuerbälle als wären es Heilzauber – nicht dass ich Genaueres über Heilzauber wüsste, wirklich nicht! – es scheint sich danach jedenfalls noch viel besser zu fühlen als vorher, und mein Meister, ja, du kannst dir ja denken, was mit einem Magier passiert, dem seine Zaubersprüche nicht mehr weiterhelfen – ich hab jedenfalls alles versucht um vom Schiff wegzukommen, aber ins Wasser springen und zu unserem eigenen Schiff zurückschwimmen...naja, das kam mir dann auch ein bisschen riskant vor, vor allem weil ich unter der Oberfläche eine Menge komischer Schemen gesehen habe, und da bin ich eben lieber die Treppe runter gerannt und habe versucht, mich irgendwo zu verstecken – aber bestimmt nicht, um einen Zauber einzuüben oder was ihr denkt! Ich versteh doch auch nicht mehr von Magie als irgendeiner von euch Piraten, ich weiß nicht mal wie dieser Lichtzauber funktioniert, über den alle immer lachen, weil er so simpel und langweilig ist, weil ihn jeder echte Magier sofort durchschauen würde! Ich glaube, ich habe überhaupt kein Gespür für Magie, und ich bin auch nur meiner Eltern wegen zu den Magiern gegangen, und schon die hatten gar keine Veranlagung fürs Magische. Ich werd also ganz sicher nichts zaubern, ich versprech's dir hoch und heilig, ich schwör es dir bei...“ – er hielt kurz inne und biss sich unsicher auf die Lippen – „...Beliar?“
„Für wen hältst du mich, für einen dämlichen Schwarzmagier?“ Greg merkte, dass der Boden wieder ein bisschen bebte, und er erinnerte sich daran, dass er keine Zeit damit verschwenden durfte, sich die hohlen Worte eines Magiers anzuhören, der für allerlei Abschaum in nicht allzu großer Ferne ein lebender Magnet war. „Du kannst Beliar selbst fragen, wie es mit meiner Verehrung für ihn steht – denn er wird dich gleich persönlich in Empfang nehmen!“
Mit der rechten Hand griff er nach dem Haken, der vom linken tauben Arm herabbaumelte und stach mit ihm nach dem Hals des Novizen – der konnte sich aber noch rechtzeitig zur Seite rollen und stürzte jetzt zur Tür, die allerdings von Angus und Jargo versperrt wurde – hilflos und panisch stand er so im Raum, wusste nicht wohin, und schon war Greg bei ihm und ging mit dem Haken auf ihn los, der sein Ziel diesmal traf – aber im nächsten Moment kippte der Boden nach unten weg, das ganze Büro war in einer ungeahnten Drehung begriffen und schleuderte Greg und den Novizen an die hintere Wand, während es Angus und Jargo in den schwarzen Korridor zurückriss. Gregs Schädel traf unglücklich an einer harten Kante auf, nur knapp über der nach wie vor sehr lästigen Stirnwunde, aber Greg ließ nicht zu, einmal mehr ins Reich der Bewusstlosigkeit entführt zu werden – direkt vor seiner Nase war ja immer noch der Magier, der gut und gerne der letzte an Bord sein konnte, und solange es noch warmes, lebendiges Blut war, das aus seiner atmenden Brust sickerte, so lange konnte auch der Wahnsinn dieser schon so langen Nacht kein Ende nehmen. Der Junge hatte sich aus einem Reflex heraus in die Ecke gedrückt, die jetzt durch die bedrohliche Neigung des Schiffes zum tiefsten Punkt des Zimmers geraten war, und aber wohl gleich bemerkt, dass er sich damit bloß in eine Falle begeben hatte, in der ihn keine Macht der Welt mehr vor Gregs Hakenstichen schützen konnte. Schon machte er sich also daran, den Weg zur Tür zu erklimmen, aber der Kapitän, der die kurze Phase der Benommenheit bereits erfolgreich überwunden hatte, war ihm dicht auf den Fersen und packte ihn am unteren Ende der Robe, als der Magier gerade den schräg über ihm aufragenden Türrahmen ergriffen hatte. Sekundenlang hielt sich ein Gleichgewicht, in dem keiner der beiden mehr Kraft aufbringen konnte als der andere, dann aber stemmte sich der Panische von der Kraft seiner Todesfurcht beseelt hoch und wuchtete den eigenen verwundeten Körper über den hölzernen Rahmen hinweg auf den Gang – Greg indes hielt nur noch ein großes abgerissenes Stück seiner Robe in den Händen, ärgerlich aufschnaubend warf er es beiseite und bemühte sich, dem elenden Flüchtling zu folgen, der in diesem Augenblick mit großer Wahrscheinlichkeit für alles Unheil an Bord allein verantwortlich war – aber mit nur einem lebendigen Arm war es ihm unmöglich, sich am Rahmen hochzuziehen, wie es der Widersacher getan hatte, und erst als er das verbliebene Bein empor reckte und seinen mechanischen Zeh einrasten ließ, konnte er sich mit der Hand in eine geeignete Position bringen, um den Kopf vorzurecken – sogleich verbissen sich die Kieferplatten im weichen Holz, und unter einigen Kraftanstrengungen konnte Greg jetzt auch den Rest seines zitternden Körpers mit Bein und Arm nach oben schleifen. Der Augenblick des Triumphes währte nur kurz, denn schon kippte Greg bei einer weiteren plötzlichen Bewegung des Schiffs – diesmal allerdings in die andere Richtung – zur Seite weg und schlitterte den Korridor hinab in die bodenlose Dunkelheit hinein, aus der jetzt aber Rufe hallten – Menschen waren aus der Tiefe auf dem Weg hierher – aber bevor Greg das ganz begriffen hatte, tauchte wieder eine Wand vor ihm auf, die er knapp rechtzeitig erkannte, um sich mühsam mit der Hand abzubremsen – trotzdem war der Aufprall schmerzhaft, aber er sah jetzt, in nicht weiter Entfernung, den gesuchten Magier vor sich auf dem schiefen Holz kauern. Er kroch heran, aber der Magier rührte sich nicht und machte keine Anstalten zu fliehen – vielleicht hatte er sein Schicksal endlich akzeptiert, es war ja auch auf längere Sicht keine andere vernünftige Lösung für ihn denkbar –, und Greg hatte ihn bald erreicht. Jedes Zögern konnte jetzt verhängnisvoll sein. Greg griff den Haken, pirschte sich auf wackeligen Beinen und wackeligem Grund voran, und nachdem ihn diese paar schwankenden Schritte in Reichweite gebracht hatten, verschenkte er keine Sekunde mehr und ließ die magische Quelle versiegen. Als die Robe endlich in Fetzen lag und der freigelegte nackte rote Rücken dahinter ebenso, wandte Greg den Körper des Magiers um und erkannte, dass dieser zweite Angriff gar nicht nötig gewesen war, denn das von Greg eigentlich unberührte Gesicht des Jungen war zu seiner Verwunderung zur linken Hälfte zertrümmert und im Ganzen ausdruckslos. Er stellte jetzt auch fest, dass der leere Fackelhalter an der zum schiefen Boden gewordenen Wand, den der Leichnam zum Teil unter sich verborgen hatte, ganz blutig verschmiert war und wohl für den dreisten jungen Mann das lange überfällige Ende bedeutet hatte.
Das Schiff war mittlerweile etwas ruhiger geworden und war zudem sehr langsam und beinahe unmerklich wieder in Richtung seiner ursprünglichen Lage hin gekippt, doch so gerne Greg diese Anzeichen wiedergewonnener Stabilität auch als untrüglichen Beweis für die vollständige Auslöschung der magischen Streitkräfte begreifen wollte, so sehr war ihm auch bewusst, dass sich noch eine unüberschaubare Vielzahl an Ebenen unter seinen Füßen erstreckte. Allein das Arbeitsareal der Küchenjungen nahm ganze vier Stockwerke ein, und dazu kamen noch die Mannschaftsquartiere, die sich auf eine Greg nicht bekannte und wohl auch von Zeit zu Zeit wechselnde Zahl von Etagen ausbreiteten. Noch viel weiter unten wiederum befanden sich die Hallen der Ingenieure, die seinen Informationen nach von großer Bedeutung für den Erhalt des Schiffes waren und von zusätzlichen vereinzelten Wartungsgeschossen ergänzt wurden, die sich hier und da zwischen eigentlich zusammenhängende mehrstufige Bereiche schoben, als unauffällige Kleinstetagen, in denen man nur gebückt vorankam – allerdings wusste er von diesen Etagen hauptsächlich durch Matts Berichte Bescheid, und denen hatte er noch nie voreilig seinen Glauben geschenkt. Über alles was im untersten Teil des Schiffs stattfand, wusste er gar nichts, und auch die anderen jener Männer, deren hauptsächlicher Arbeitsplatz das Oberdeck war und mit denen Greg also am meisten zu schaffen hatte, interessierten sich nicht besonders dafür. Greg hatte eine gute Vorstellung davon, was er im Auge behalten musste, um den ganzen Betrieb am Laufen zu halten: Er brauchte bloß die großen Befehle geben, die Order von entscheidender und allumfassender Bedeutung, und konnte sich dabei gewiss sein, dass sich die Idee und der Wille hinter diesen Worten auch bis in die niedersten Bereiche fortpflanzen würden, von deren genauem Aufbau und Funktion er nichts wusste und auch gar nicht wissen musste. Er wusste allerdings sehr wohl von ihrer Existenz und so auch von der unüberblickbaren Vielfalt möglicher Verstecke für flüchtige Feuermagier. Wenn alles seine Ordnung hatte, würde ein Fremder sofort auffallen, aber jetzt, mitten in der Schlacht, war das Schiff noch für einige Zeit voll von Schlupfwinkeln, und ein einziger gut verborgener Magier würde genügen, um das ganze Schiff dem Untergang zu weihen. Greg wusste, dass er die Suche fortsetzen musste, so unmöglich die Aufgabe auch schien, aber als er sich jetzt wieder voran mühte, wurde ihm das Gehen schwerer und schwerer, die Knochen knirschten und die ganze verschmorte Haut brannte wie mit einer Drahtbürste gerieben. Auch machte sich der ständige Blutverlust an der Hüfte in einem starken allgemeinen Schwindel bemerkbar, der ihn schon jetzt übermannte, nachdem er erst ein paar Schritte in eine willkürlich gewählte Richtung gemacht hatte – der Korridor war in alle Richtungen gleich schwarz, denn viele der wenigen Fackeln waren durch die starken Bewegungen des Schiffs erloschen oder hatten sich aus den Halterungen gelöst – und entgegen seiner Entschlüsse lehnte er sich gegen die Seitenwand und sank herab, das Auge klappte zu, der Arm senkte sich, das Holzbein blieb polternd liegen. Vielleicht war es gar nicht nötig, weiterzusuchen. Vielleicht waren die feindlichen Horden bereits auf dem Rückzug, vielleicht war die Zeit der Regeneration gekommen und er musste bloß warten, um alles zu einem guten Ende zu bringen. Er durfte jetzt allerdings noch nicht schlafen, denn im direkten Anschluss an die Schlacht musste es eine nachträgliche Besprechung geben, die für die Moral und die Weiterbildung der Mannschaft stets von großer Bedeutung war. Zuerst würde er eine kurze Rede halten, er hatte nichts vorbereitet und würde sich wohl spontan etwas Geeignetes einfallen lassen müssen, jedenfalls würde er durch diese Rede das Bedürfnis seiner Leute nach Zusprache ihres Kapitäns, das ja nur sehr natürlich und verständlich war, hoffentlich ausreichend befriedigen und brauchte dann bloß noch einige kleinere Einzelgespräche unter zwei oder drei Augen führen, in denen es um bestimmte Begebenheiten von gewisser Bedeutung ging, deren Besprechung er nicht aufschieben wollte, um sie nicht später in der Gegenwart anderer Ereignisse wieder zu vergessen, was in vielerlei Hinsicht fatal sein konnte und einem Kapitän von seinem Schlage unmöglich unterlaufen durfte. Er nahm sich vor, zuallererst mit Matt zu sprechen, denn der machte ihm die meisten Sorgen und hatte durch sein unmögliches Betragen im Verlaufe des Tages und ganz besonders der noch bestehenden Nacht immer wieder den gerechtfertigten Unmut des Kapitäns auf sich gezogen. Greg würde ihn nicht aus der Mannschaft werfen und er würde ihn auch nicht degradieren, das war nicht seine Art, aber Matt musste doch wissen wo sein Platz war und dass es sein Kapitän durchaus nicht übersah, wenn er den ihm zugedachten und ja auch nicht über alle Maßen schwierigen oder gefährlichen Aufgaben nicht die nötige Aufmerksamkeit zukommen ließ, oder wenn er andere Teile der Mannschaft – darunter sogar den Kapitän selbst – durch besorgniserregendes Fehlverhalten in ihren gerade anfallenden Arbeitsabläufen irritierte. Nachdem das erledigt war, würde eine wohl deutlich angenehmere Unterredung mit Skip folgen, in dem sich die aus dem Ergebnis der Schlacht resultierenden weiteren Pläne herausbilden sollten. Es war davon auszugehen, dass das Schiff einer großen Reparatur unterzogen werden musste, was umso ärgerlicher war, als sie ja im Verhältnis kaum Beute gemacht hatten und die ganze Operation ohne großen Ertrag ausgehen würde. Er hatte zwar noch keinen Bericht über die Schätze gehört, die man von Bord des ersten Myrtanerschiffs geborgen hatte, aber da dieses ja wohl von Anfang an nur als Lockmittel und Ablenkung vorgesehen gewesen war, konnten es eigentlich keine beträchtlichen Mengen sein. Möglicherweise würden sich noch weitere kurze Gespräche anschließen, viele ergaben sich erst aus der Situation heraus, und zu guter Letzt musste natürlich durch seine Hand die Beförderung der Männer erfolgen, die von ihren jeweiligen vorgesetzten Entertruppführern oder Obersäblern für eine solche Belobigung vorgeschlagen worden waren. Das war kein sehr langwieriger Prozess, und hoffentlich würde der gesamte Nachtrag zur Schlacht in ein paar Stunden oder weniger abgeschlossen sein, sodass Greg noch etwas Schlaf finden konnte, bevor es wieder an die geregelte übliche Kapitänsarbeit ging. Nun da er alles durchdacht hatte, beschloss Greg, sich aber doch noch vor der ersten Rede eine große Flasche Rum oder Grog oder was auch immer zu haben war holen zu lassen, denn nichts half ihm so sehr dabei, körperliche Beschädigungen wegzustecken wie ein paar Schlucke eines beliebigen Piratengesöffs.
Greg überlegte gerade, ob es nicht auch hier in der zweiten Etage des Unterdecks ein Getränkelager geben konnte und ob es sich wohl lohnte, den Weg bis dorthin auf sich zu nehmen, als sich wieder die Stimmen näherten, die er bereits während seines Sturzes über den schiefgelegten Korridor aufgeschnappt hatte. Er glaubte jetzt am hintersten Ende des Ganges schwaches Fackellicht aufglimmen zu sehen, und tatsächlich – es wurde jetzt stärker, ganz kurz sah er sogar ein menschliches zerfurchtes Gesicht unter einem Kopftuch hervorblitzen, das zweifellos einem seiner Matrosen zuzuordnen war. Es waren eiligen Schrittes mehrere Männer unterwegs, aber sie gingen nicht den Korridor hinunter, in dem Greg lag, sondern nahmen wohl einen Quergang. Das Schiff war nun sehr ruhig und weder von unterhalb noch vom Deck her drangen viele Laute zu ihm vor, sodass er gut verstehen konnte, was die Männer miteinander sprachen.
„Es müssen die Luken zwölf, einhundertacht und die vier anschließenden auf Wartung fünf geöffnet werden“, sagte der eine. „Und auf Wartung vier die entsprechenden in versetzter Reihenfolge. Et cetera.“
„Verstanden“, erwiderte ein anderer. „Ich gehe schleunigst in den Pumpenraum und gebe auf dein Zeichen hin die Aktivierung des Mechanismus in Auftrag.“
„Ja, erst auf mein Zeichen“, wiederholte der erste. „Das ist wichtig. Es besteht kein Grund zur Eile. Im Augenblick reicht das Wasser bis aufs dritte Deck hoch, und selbst wenn es bis zu dieser Etage hier vordringt, kann das dem gesamten Schiff nicht bedrohlich werden. Es ist ja hervorragend gebaut. Wir haben sicher zehn Minuten Zeit, bevor es beginnt zu sinken. Du darfst aber unter keinen Umständen den Pumpmechanismus in Gang setzen lassen, bevor sämtliche Luken offen stehen, es könnte andernfalls ein großer Unterdruck entstehen, der vieles hier beschädigt. Ich muss sagen, wenn ich ehrlich bin, dass ich lieber den eigentlichen Signalgeber der Pumpenanlage mit dem Auftrag betraut wüsste. Bist du sicher, dass du ausreichend eingewiesen wurdest?“
„Mehrmals“, kam die rasche Versicherung. „Ich bin ein vollwertiger Stellvertreter, es besteht kein Grund zur Sorge.“
„Ich will es glauben. Also, du wartest auf mein Zeichen. Und du“ – er wandte sich jetzt offenbar an einen Dritten – „wirst dem Zuständigen in der oberen zentralen Wartungsanlage Bescheid geben – vergiss deine ursprünglichen Anweisungen, die Situation ist ernst genug, um einen Übergang zum zweiten alternativen Ablaufplan zu rechtfertigen. Ich glaube zwar, dass dort bereits alle alarmiert sind, aber wir müssen die Notfallregelungen befolgen. Sag ihnen Folgendes: Der unterste Ebenenblock muss um jeden Preis versiegelt bleiben, denn ansonsten wird das Wasser erneut hereinströmen durch das große Loch, das die Kreatur dort gefräst hat. Es ist sehr wichtig.“
Die dritte Person antwortete etwas, aber sehr leise, und die Stimmen waren jetzt ohnehin allmählich undeutlicher geworden und machten es Greg zunehmend schwerer, ganze Sätze aufzuschnappen. Schließlich waren sie vollständig in den ferneren Räumlichkeiten der Etage verhallt und Greg war wieder allein. Aber das war ihm nur recht, denn die Informationen, die er von seinen Männern erlauscht hatte, waren sehr dazu geeignet, zu seiner Beruhigung beizutragen: Wenn die unteren Ebenen ausnahmslos überflutet waren, dann konnte sich auch unmöglich ein Magier dort aufhalten, ohne entweder zu ertrinken oder an die Oberfläche geschwemmt zu werden, und dann musste sich ein derart hochgespülter Magier in der gleichen Etage aufhalten wie er selbst, was natürlich sehr gut sein konnte, aber doch eher unwahrscheinlich war, denn ein so von den Fluten überwältigter Mann hatte sicher große Mühe, sich verborgen zu halten und wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit aufgefallen, wenn nicht ihm, dann jemand anderem – nun, ganz auszuschließen war es nicht, dass in diesen Augenblicken noch ein letzter durchnässter Magier in klammer Robe durch die Korridore kroch, aber die weiterhin andauernde beruhigte Verfassung des Schiffs setzte doch ein klares Zeichen gegen ein solches Szenario. Greg dachte noch eine Weile darüber nach, aber er kam immer wieder zu dem gleichen Schluss.
„Die Schlacht ist gewonnen“, murmelte er müde vor sich hin und zwang sich zu einem überlegenen Grinsen, das in einer solchen Situation einfach angemessen war. Lauter fügte er hinzu: „Ihr ganzen elenden Amateure habt es nicht geschafft, mich zu besiegen!“
Bald konnte er an Deck zurückkehren, es liefen vermutlich bereits die ersten Aufräumarbeiten, aber für den Moment wollte er noch ein wenig hier bleiben, halb sitzend, halb liegend, mit der Wand im Rücken, die jetzt wieder so gerade stand wie sie es sollte. Nach all dem Lärm der Nacht genoss er die Stille, die nur vom dumpfen Grollen weit unter ihm und vereinzelten fernen Rufen über ihm getrübt wurde. Er selbst aber befand sich mitten im Zentrum der Ruhe, und das war nach einer gewonnenen Schlacht für ein paar Minuten genau das Richtige, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dass er seine Memoiren noch keinem Schreiber anvertraut hatte, war eine sehr gute Entscheidung gewesen, denn die vergangene Nacht würde vielleicht einen eigenen längeren Abschnitt verdienen – der würde auch allein deshalb schon von Nöten sein, um den Verlust eines jeden kürzlich abhanden gekommenen Körperteils eingehend zu beschreiben. Greg legte auf diesen Aspekt besonderen Wert, denn eine Piratenbiographie, deren Protagonist plötzlich und womöglich gar kommentarlos über Prothesen verfügte, deren Geschichte nicht ausreichend geklärt wurde, konnte ja niemand richtig ernst nehmen.
„Greg?“ Das war Jargos Stimme, nuschelig wie immer, und überraschend nah. „Ich habe dich reden hören. Das warst doch du, Greg? Bitte sag noch etwas, damit ich dich finden kann.“
Greg überlegte, ob er nicht einfach still bleiben und Jargo vorbei wanken lassen wollte. Es war ohnehin eine ausgesprochen großzügige Geste seinerseits gewesen, diesen Mann, der für allen jetzt endlich bewältigten Ärger ja immerhin hauptverantwortlich war, überhaupt am Leben zu lassen, sodass er sich in keiner Weise dazu verpflichtet fühlte, den im Labyrinth der Korridore natürlich hoffnungslos Verlorenen heil an die Oberfläche zu führen.
„Greg, wir müssen das Stockwerk um jeden Preis verlassen, so schnell es geht. Dort hinten habe ich es schon an meinen Fersen gespürt, und ich höre es ohne Unterlass unter den Dielen brodeln und blubbern – es wird durch die Fugen dringen, und wenn das passiert, sollten wir in der Nähe der Treppe nach oben sein, oder wir werden versinken.“
Mit Gregs entspannter Verfassung war es schnell vorbei, als er den Blick senkte und durch die schmalen Ritzen zwischen den Bodenplanken tatsächlich mit viel Mühe ein unheilvolles Sprudeln und Brodeln erkennen konnte. Was auch immer den Eintritt des Wassers in das Schiffsinnere ermöglicht hatte, es musste gleichzeitig für eine furchtbare Verseuchung gesorgt haben. Jetzt erst wurde ihm auch die Bedeutung des vorhin belauschten Gesprächs erst gänzlich bewusst und er begriff viel zu spät, dass die Überflutung dieses zweiten Stockwerks gar nicht verhindert werden sollte, sondern vielmehr von den Ingenieuren in Kauf genommen wurde, um das Schiff in seiner Gesamtheit zu bewahren – grundsätzlich eine vertretbare Maßnahme, aber das konnte natürlich nur für eine gewöhnliche Flut aus klarem, unverdorbenem Meerwasser und nur aus dem Blickwinkel einer Person gelten, die sich nicht zum Zeitpunkt einer solchen giftigen Überschwemmung in eben diesem zweiten Stockwerk aufhielt.
„Ich bin hier, Jargo!“, rief er und richtete sich etwas zu hastig auf – der Beinstab rutschte ihm weg und er selbst fiel der Länge nach auf den Korridor zu Boden, wobei er auch direkt einen heftigen Schmerz in seinem übrig gebliebenen Knie verspürte. Er wollte wieder aufspringen, aber gleich riss es ihn zu Boden – jeder Versuch, das Bein anzuwinkeln, mündete in ein entsetzliches Strohfeuer der Schmerzen, das die Nervenenden bis in den dröhnenden Schädel hinein in Flammen setzte.
„Greg, bist du das?“ Eine glitschige Hand packte von oben in sein Gesicht, und Greg schüttelte sie zornig ab. „Ja, das bist du wohl. Bist du verletzt?“
„Soll das ein Witz sein, natürlich bin ich verletzt!“, keifte der Kapitän, dem an der Bewahrung der ohnehin verdorbenen Stille jetzt nicht mehr viel gelegen war. „Ich bin gleich wieder auf den Beinen – hab mir nur das Knie verdreht, das hält mich nicht lange auf!“
Auch der nächste Versuch, wieder nach oben zu kommen, blieb aber vergeblich, und nicht nur die Tatsache, dass es nach wie vor stockdunkel war und er seinen größten Vorteil verloren hatte gegenüber Jargo, der so aufrecht vor ihm thronte, als sei er selbst es gewesen, der ihm den vernichtenden Schlag gegen das Knie versetzt hatte – nicht nur diese Demütigung brachte ihn in Rage, viel mehr noch machte ihn die widerwärtige klebrige Feuchtigkeit wahnsinnig, die er jetzt mit dem ganzen müden Körper an den Brettern spürte, die wohl also schon durch die Ritzen gedrungen sein musste und die ihn bald erreichen würde. Schon jetzt führte sie ihm wieder Bilder seines hässlich mutierten Beins vor Augen, die er am liebsten für immer vergessen und wohl auch aus seinen Memoiren ausgespart hätte. Er wusste nicht, wie es sich anfühlen würde, ein langes Bad in diesem bösen Sud zu nehmen, aber er war sich auch sehr sicher, dass er es nicht herausfinden wollte – „Ich habe schon einmal eure verdammte Pest ertragen – und ich habe sie überlebt! Ich werde sie wieder überleben, und wieder, und wieder, ihr könnt mich nicht töten – und ich werde nicht zulassen, dass ihr mich deshalb zu einem von euch macht – diesen Triumph werde ich euch nicht gönnen, und ich werde nicht mit euch ziehen in die verfluchten eisigen Tiefen hinab!“
„Dann gib mir deine Hand“, sagte Jargo und hielt sie ihm hin. „Vielleicht kann ich dich hochziehen.“
Greg wollte keine Hilfe von Jargo annehmen, aber er wollte ebenso wenig von der heraufpreschenden dunklen Flut überwältigt werden, und ein wenig – so musste er sich eingestehen – imponierte es ihm auch, dass Jargo bei ihm ausharrte, wenn er schon längst selbst auf der Flucht sein konnte. Vielleicht glaubte er ja, dass ihm Greg den Weg weisen konnte, er selbst ahnte ja vermutlich nichts von der ihn umgebenden Finsternis, für ihn selbst war sie ja auch ohne jede Bedeutung, aber wenn er das glaubte, dann lag er jedenfalls falsch – es war die Aufgabe eines Kapitäns, sich auf den Meeren der Welt zurechtzufinden, nicht aber jeden verwinkelten Gang seines eigenen Schiffs zu kennen, der doch für gewöhnlich nie von ihm begangen werden musste.
„Nimm endlich meine Hand, wir müssen hier weg!“
Greg zögerte nicht länger und griff zu. Jargos Griff war überraschend fest, und mit einem starken Ruck, der von einem nur allzu vernehmlichen Knacken im Knie begleitet wurde, riss er den Kapitän zurück auf die Beine. Obwohl ihm eines dieser Beine nun ungeheure stechende Schmerzen bereitete und das andere ein langer steifer Stock war, er also beide Beine nur mit Mühe bewegen konnte, schaffte er es doch, einige Schritte voranzustolpern, während er noch immer Jargos Hand ergriffen hatte. Er wollte nicht, dass Jargo seine eigene Orientierungslosigkeit erkannte und kämpfte sich umso entschlossener in die aus einer Eingebung heraus gewählte Richtung voran, von der er nur hoffen konnte, dass sie zur Treppe wies, die hoch zum ersten Unterdeck führte – und somit fort vom Blasen sprühenden Morast, der jetzt bereits den Boden in solchem Ausmaße bedeckte, dass er durch seine zähe und klebrige Konsistenz das Gehen zusätzlich erschwerte. Beinahe wäre Greg in der Dunkelheit an eine Wand gestoßen, aber gerade noch rechtzeitig konnte er sich abfangen und den Weg um eine scharfe Biegung herum ertasten. Zu seiner großen Erleichterung war der sich nun eröffnende neue Korridor mit einigen Fackeln, von denen mehrere zu Boden gefallen waren, zwar spärlich, aber doch durchaus ausreichend beleuchtet, um sich darin problemlos zurechtzufinden. Greg bildete sich sogar ein, den Flur wiederzuerkennen und wähnte sich ganz in der Nähe der Treppe.
„Wir sind gleich da“, sprach er mehr sich selbst als seinem Begleiter Mut zu. „Ganz hinten müssen wir uns rechts halten, und dann sollten wir schon direkt an der Treppe sein.“
„Viel Zeit bleibt uns auch nicht“, sagte Jargo, der nicht sehen konnte, wie das unruhig flackernde Fackellicht jede Beule und jeden Kratzer seiner zerschundenen Maske hervortreten ließ. Greg hörte solche Worte nicht gerne, denn er wusste selbst sehr wohl, dass Eile geboten war – das widerliche Zeug stand ihm schon bis über den Knöchel, und jedesmal wenn er das Holzbein daraus hervorzog, befürchtete er, es könnte im modrigen Schleim statt in der unerlässlich blutenden Wunde steckenbleiben – aber er konnte nicht schneller, er musste um jeden einzelnen Schritt ringen wie er mit den Paladinen und den Magiern und Scheusalen gerungen hatte – aber dieser Kampf war zermürbender, und ein Sieg schien in weiter Ferne, denn obwohl der Korridor auf den ersten Blick gar nicht so lang gewirkt hatte, zog er sich nun doch gewaltig, und für jede Tür, die er passierte, tauchte weiter hinten eine weitere aus dem schwach erleuchteten Dunkel auf. Nur der stetig steigende Pestwasserspiegel ließ auf eine gewisse Veränderung der Situation schließen, an der Greg aber natürlich überhaupt nichts gelegen war. Er glaubte schon, jetzt ganz hinten die ersehnte Biegung ausmachen zu können, da bemerkte er plötzlich einen glänzenden grauen Fleck an der rechten Seite, und eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf – er drängte voran, machte den nächsten Schritt, und noch einen, und je weiter er kam, desto mehr fühlte er sich in dieser Ahnung bestätigt. Schließlich war die eiserne Tür zur Schatzkammer klar erkennbar und er konnte sich nicht mehr einbilden, einer Täuschung erlegen zu sein.
„Es ist hoffnungslos!“ – Er schrie es heraus nicht wie eine Resignation, sondern wie eine Anklage. „Das da drüben ist die Tür, die zur Schatzkammer führt – ich kenne diesen Fleck, das ist der einzige Raum in diesem Stockwerk, den ich gelegentlich aufsuchen muss – die Schatzkammer aber, die verdammte Schatzkammer, sie befindet sich genau im Kern der Etage, und das bedeutet, dass wir noch eine ganze Strecke von der Treppe entfernt sind und wir – nie rechtzeitig dort angelangen werden!“
Jargo rührte sich nicht, ebenso wenig wie er selbst, aber er ließ jetzt Gregs Hand los, ohne dass er daraufhin mit seiner eigenen etwas anzufangen gewusst hätte. Es war offensichtlich, dass er nichts mehr zu sagen hatte, und wenn es eine gewöhnliche Flut gewesen wäre, die da an ihren Beinen leckte, dann hätte es Greg vielleicht sogar genossen, gemeinsam mit Jargo unterzugehen und ihn sterben zu sehen, um selbst zu überdauern und zurückzutauchen an die Oberfläche – so aber war die Aussicht, gemeinsam mit Jargo zu überleben, reizvoller als die Vorstellung, gemeinsam mit ihm in die stinkende Seuche einzutauchen – Greg war fest entschlossen, das nicht zuzulassen, er brauchte nur noch eine zündende Idee, einen guten Plan, aber dafür war Jargo doch immer zuständig gewesen, und er stand nun hier direkt neben ihm und wusste ebenso wenig weiter wie er selbst. Niemand sagte etwas, alle Worte schienen überflüssig. Eine Weile lang standen sie so da im Bewusstsein, dass ihnen jeder Augenblick die stinkende Pestilenz näher brachte, dass sie beide aber auch eine Fortsetzung der zähen Flucht nicht weiterbringen konnte.
„Jargo“, begann Greg schließlich mit heiserer Stimme. „Hör mal, das damals mit der Kette –“
Ein Schock ging durch das Schiff, im gleichen Augenblick zerbarst die Decke über ihren Köpfen und ein aufgequollenes fettes Fleisch bohrte sich hindurch – ein gewaltiger schleimtriefender Tentakel schlug auf dem Boden auf, über und über mit großen fauligen Furunkeln besetzt, mit denen er sich jetzt an den Brettern festsaugte und im Auffahren den halben Boden herausriss – Splitter durchfetzten die Luft, und Greg musste sich an die Wand drücken, um nicht in das heftig brodelnde Gewässer unbekannter Tiefe herabzustürzen, das sich mit einem Mal vor ihnen aufgetan hatte – auch Jargo hatte Mühe sich zu halten und Greg zog ihn rasch zu sich heran, denn schon holte der Tentakel, der wohl zu einem noch ungemein imposanteren Untier gehören musste, zu einem weiteren Hieb aus – „Das ist nicht möglich!“, brüllte Greg in das schrille Kreischen hinein, das der unsichtbare Schlund der Kreatur hervorpresste – „Sie sind nicht abgerückt, sie sind noch immer hier – Es sind noch Magier am Leben, hier an Bord!“ – jetzt rammte sich der Schleimarm in die linke Wand hinein und schleuderte sich wild umher, tobend vor Zerstörungswut – „Es muss noch einen geben, wenigstens einen noch, noch einen verdammten Magier!“
Jargo war näher herangerückt, und weil er nicht in der Lage war, die Stimme stark zu heben, beugte er sich heran an Gregs Ohr und sagte so laut er konnte: „Die Schatzkammer! Die Schatzkammer, ist sie geschützt?“
Greg dachte nach, aber er wusste nicht viel über den Aufbau der Schatzkammer und der heftige Kopfschmerz, der ihn jetzt zum erneuten Male und in der ungünstigsten Situation befallen hatte, machte ihm jede konzentrierte Überlegung unmöglich – aber er erinnerte sich daran, dass Skip damals beim Bau besondere Maßnahmen ergriffen hatte, um die Schatzkammer vor Parasitenbefall und vor der Freilegung durch Kanonenbeschuss zu schützen, er hatte eine Art Stahlmauer um die Kammer herum errichten lassen, oder er hatte dieses Vorhaben vielleicht auch nur geplant und dann wieder verworfen, aber es blieb nur diese eine Möglichkeit, die Entscheidung, vom Besten auszugehen – „Ja, ich glaube schon!“, schrie Greg zurück, und er griff nach Jargos Arm und zerrte ihn in Richtung der Eisentür, zu der jetzt nur noch ein schmaler Pfad aus kaum sichtbaren überspülten Bretterresten führte, der sich an die rechte Wand klammerte und der offenbar noch nicht bereit war, in das grünlich schimmernde Gebräu hinabzufallen.
„Du musst mir jetzt genau folgen“, rief er Jargo zu, der sich wohl überhaupt keine Vorstellung von der Situation machen konnte, in der er steckte. „Halt dich direkt an die Wand und drück dich an der Seite entlang bis zur Tür – keinen Schritt von der Wand weg machen, ansonsten bist du verloren und ich kann nichts mehr für dich tun – und gib auf den Tentakel acht.“ Greg hatte natürlich keine Ahnung, wie Jargo sich vor etwas hüten sollte, das für ihn gar nicht auszumachen war, und dem wohl auch er selbst nur schwerlich ausweichen konnte, sollte sich das scheußliche Ungetüm nur einmal dazu entschließen, den schweren Arm in seine Richtung zu bugsieren – aber ähnlich wie Jargo war auch dieser Arm zumindest blind und konnte nur ziellos um sich schlagen, was aber auch ein großes Glück war, denn andernfalls wäre an ein Vorbeikommen gar nicht zu denken gewesen.
Greg hatte jetzt die Hälfte des Weges zurückgelegt. Mit dem Gesicht zum Gang hin schob er sich auf die Tür zu, immer den Tentakel im Blick, der im Augenblick noch mit der gegenüberliegenden Wand beschäftigt war, aber natürlich jederzeit zur anderen überwechseln konnte, wenn es ihm beliebte. Es kostete Greg jedes Mal ein großes Maß an Überwindung, den zitternden Stock von einem der halb im Morast versunkenen Bretter auf das nächstgelegene zu bewegen, und er war sehr froh darum, dass zumindest der mechanische Zeh zuverlässig seinen Dienst tat und den Halt seines lebendigen Beins sicherstellte, das jetzt nach jedem Schritt schon zur Hälfte in der ansteigenden dickflüssigen Masse versunken war. Obwohl Jargo über kein Hilfsmittel verfügte, das dem nützlichen mechanischen Zeh gleichkommen konnte, schlug auch er sich tapfer, selbst wenn der durch die leblose Maske erzeugte Eindruck völliger Ruhe sicherlich ein falsches Bild seines Gemütszustands vermittelte.
Greg machte noch einen letzten Schritt, dann war er an der Tür angelangt. Der Tentakelarm hatte sich jetzt wieder aus den zerstörten Räumlichkeiten der linken Seite herausbegeben, er war dort offenbar fertig und suchte nach neuen Dingen, die es zu verwüsten galt. Zitternd und heftig schnaufend drehte sich Greg langsam auf dem bedenklich wackeligen Steg um, auf dem er einen ungewissen Halt aufrecht erhielt. Das Tor zur Schatzkammer mit seiner Vielzahl an Schlüssellöchern kannte er natürlich, und rasch hatte er das für ihn allein bestimmte runde Schlüsselloch ausgemacht, den Haken mit der rechten Hand ergriffen und tief in das Loch hineingerammt. Ein dumpfes Rumoren erfasste die Pforte, wie von heftigen Muskelzuckungen ergriffen schüttelte sie sich, und schier unerträglich träge glitt sie auf, während der bestialische Tentakel mit lautem Schmatzen in den feuchten Abgrund eintauchte, den er selbst geschaffen hatte, und den abscheulichen Schleim dabei in alle Richtungen spritzen ließ. Auch Greg hatte einiges abbekommen, aber jetzt war die Tür weit genug offen, um hindurchzuschlüpfen – schon war es bewältigt, und Jargo folgte gleich darauf.
Greg hatte sofort ein ähnliches Schlüsselloch im Inneren des Raumes mit seinem Haken bedient, woraufhin sich das Tor allmählich wieder zu schließen begann, aber der Tentakel war jetzt wohl durch die sicher auch für ihn spürbaren Vibrationen auf die Tür aufmerksam geworden und schoss plötzlich durch die schmale Öffnung in den Raum hinein, wo er Greg am Rücken erwischte – er wollte sich festsaugen, und Greg spürte seine weichen zuckenden Furunkel an seiner Haut, aber dann packte ihn Jargo und zerrte ihn fort, der Tentakel fuhr panisch zurück, riss dabei in einem letzten kleinen Sieg einen großen Fetzen verkohlter Haut von Gregs Rücken, und glitt in den Gang zurück – nur ein winziger Teil der vorderen Spitze wurde von der sich endlich schließenden Tür noch abgetrennt; dieser blieb zappelnd und bald verendend auf dem glatt polierten Boden der geräumigen Schatzkammer liegen und wurde von Greg nicht länger beachtet.
Es war jetzt sehr still, die Tür hatte nicht nur den aggressiven Tentakel, sondern auch alle sonstigen Geräuschquellen innerhalb und außerhalb des Schiffes wirkungsvoll ausgesperrt. Wie es um die Stabilität der Wände auch bestellt sein mochte, ihre Qualität als Lärmschutzbarrieren war über jeden Zweifel erhaben.
Greg spürte starke Krämpfe im ganzen Körper und an vielen Stellen der Haut war ihm kalter Schweiß ausgebrochen, auch klapperten seine verbliebenen Zahnstummel aufeinander, ohne dass er ein solches Verhalten überhaupt in Auftrag gegeben hatte – kurz, er brauchte Ruhe, dringend, und noch dringender brauchte er ein starkes Gesöff, das er aber hier nicht finden würde, denn die Schatzkammer war lediglich für unverdauliche Mitbringsel aus anderer Leute Schiffen vorgesehen. Dieser Umstand konnte ihm noch zum Verderben werden, wie ihm bewusst war, denn wenn es nun sein Plan sein sollte, in dieser Lagerhalle auszuharren, bis die Schlacht draußen zu einem guten Ende gelangt war, oder aber bis das Schiff versenkt wurde und er zum Grund des Ozeans hinuntergetrieben wurde – er würde irgendwann nachsehen müssen, um herauszufinden, welche der beiden Möglichkeiten eingetroffen war, denn zu erlauschen war ja nun einmal nicht das Geringste – wenn ein solches Warten also der neue Plan war, und einen anderen Plan konnte es unter den gegenwärtigen Umständen nicht geben, dann würde der Durst früher oder später zum Problem werden, ebenso wie die unbehandelte Wunde am kurzen Beinstumpf und schließlich vielleicht auch eine sich einstellende Knappheit an Atemluft, zu der Jargo durch seine Anwesenheit natürlich ungemein beitrug.
Greg ließ den fahrigen Blick lose durch den Raum wandern, den er schon etwas länger nicht mehr betreten hatte: Alles wirkte im Großen und Ganzen recht leer, was auch sicher am Umstand lag, dass die erbeuteten Artefakte nicht etwa wild im Raum herum verstreut oder auf einem großen Haufen gelagert wurden, sondern in viele, nach einem bestimmten System angeordnete hohe Regale einsortiert waren, die man an den Wänden entlang fest aufgestellt hatte und die in der Mitte viel Platz freiließen, der für größere Wertgegenstände vorgesehen und am Boden mit geraden Kreidestrichen in verschiedene Sektionen eingeteilt worden war. Obwohl die heftige Bewegung des Schiffes einiges durcheinander gebracht hatte, blieb die grundsätzliche Ordnung gewahrt: Ein paar edel geschreinerte Kommoden standen hier neben der schweren Silberkugel, deren Abtransport Greg bereits auf dem königlichen Schiff beiläufig beobachtet hatte, und einigen umgefallenen, aber hübsch ausgepolsterten Stühlen, die ihm gerade recht kamen. Mühsam schleppte er sich zu einem der niedrigen Stühle hin, richtete ihn auf und ließ sich darauf niedersinken.
„Willst du dich auch setzen, Jargo? – Jargo, hier sind einige Stühle, du kannst dich setzen, wenn du möchtest. Du bist ja sicher auch müde, der Tag war wohl für uns beide nicht ganz angenehm.“
Jargo tat erst so als hörte er ihn nicht, dann sagte er nach einer Weile: „Nein, nein, ich fühle mich sehr gut“, und ging eine Reihe der Regale entlang. Er hielt den Blick auf sie gerichtet, ganz so als würde er sie nach etwas durchsuchen, und dann blieb er vor einem der Regale stehen und wandte Greg den Rücken zu. Aus seiner rechten Jackentasche zog er jetzt ein kleines Säckchen hervor und holte etwas heraus, es mochte wohl eine Art Flasche, eine Phiole sein, aber Gregs wunder Blick war von starken Schwankungen und immer wieder auftauchenden Lichtblitzen getrübt, die es ihm sehr schwer machten, etwas Genaues zu erkennen. „Was trinkst du da, Jargo? Hast du etwas dabei? Du wirst doch nicht vorhaben, es allein zu trinken, oder? – Weißt du noch, damals, als wir uns alles aufteilten, so ganz gerecht und brüderlich? Ich habe darüber nachgedacht, was du vorhin gesagt hast, Jargo, es ist jetzt wohl schon einige Stunden her, als du meintest, wir könnten vielleicht noch unseren Frieden miteinander machen. Vielleicht hattest du recht, Jargo, und überhaupt ist es doch ganz und gar unsinnig, unsere alten überholten Zwistigkeiten weiterhin zu pflegen, wenn wir vielleicht für lange Zeit hier gemeinsam ausharren müssen und außer unserer gegenseitigen Gesellschaft nichts haben. Was meinst du dazu, Jargo?“
Jargo sagte nichts, vielleicht dachte er über die Worte seines früheren Freundes nach. Er stand eine Weile so da, keine Regung seines Körpers verriet etwas, und dann hob er das Fläschchen hinter die Maske hindurch zum Mund und trank es in einem Zug aus.
„Du hingegen hattest in einem anderen Punkt recht.“ Jargos Stimme klang fester als gewöhnlich, als er das sagte und war plötzlich sehr verständlich, das unterschwellige Gurgeln war kaum mehr auszumachen – „Es gibt noch einen lebenden Magier auf diesem Schiff.“ Und er schmiss die Phiole zu Boden, die zerplatzend die Reste einer bläulichen funkelnden Flüssigkeit freigab, hatte im nächsten Augenblick einen vibrierenden Runenstein in der linken Hand und richtete ihn auf Greg, der von Irritation und Zorn gepackt aufspringen wollte – aber es ging nicht, er saß auf dem Stuhl fest wie angeklebt, und nicht einmal die Zunge oder die Pupille konnte er jetzt noch bewegen, er konnte nur da sitzen und starren Blickes zusehen wie die dunkle Maske mit der roten Stirnflamme sich ruhig schreitend auf ihn zubewegte, als sei jeder einzelne dieser Schritte ein großer Triumph, den es in vollen Zügen auszukosten galt.
„Vielleicht interessiert es dich ja, dass dieser Raum in der Tat der sicherste deines ganzen Schiffes ist“, drang es hinter der Maske hervor, die sich nun zu ihm herabbeugte. „Es ist wohl auch der einzige Ort auf deinem Schiff, an dem ein Magier seine Kräfte entfalten kann, ohne etwas befürchten zu müssen. Er ist in gewisser Weise das gut geschützte Herz deines Schiffs, und alle herbeigeströmten Kreaturen der Tiefsee halten in diesem Augenblick, in dem sie die astralen Energien in mir spüren, mit voller Kraft darauf zu. Sie mögen dabei das Schiff zerfetzen, das ist mir völlig gleichgültig, aber sie werden nicht in diesen Raum eindringen – wir haben also Zeit.“
Jargo ging jetzt in die Knie und schob sein stählernes Antlitz direkt vor Gregs steifes, eingefrorenes Gesicht, das am liebsten vorgeschnellt wäre und nach der Kehle des verhassten, verräterischen Jargo geschnappt hätte, aber das doch, ganz erfasst von dem unbekannten Zauber, keinen der Befehle ausführen konnte, die ihm Greg in verzweifelter, rasender Tollwut zukommen ließ.
„Es wird Zeit, dass du dir auch eine Maske zulegst, Greg. Du siehst entsetzlich aus.“ Und beinahe lachend fügte er hinzu: „Aber ja, natürlich kann ich sehen! – Du glaubst, die Paladine benutzen mich nur, sind gar auf meinen Tod aus? – Ganz im Gegenteil, sie verehren mich, Greg, sie haben mich so vieles gelehrt, dass ich weit über sie alle hinausgewachsen bin. Ich kann nicht bloß dich sehen, wie du halb zerrissen vor mir sitzt, den Kopf voller Flüche und das Herz voller Furcht, ich kann auch jeden einzelnen deiner Männer sehen und jedes einzelne verfluchte Scheusal, das sich in diesen Sekunden einen Weg durch das morsche Wrack fräst, das du dein Schiff nennst. Auch zuvor mögen sie die magischen Spuren in mir erschnüffelt haben, und möglicherweise hat sie diese vage Ahnung davon abgehalten, das Schiff in Frieden zu lassen – aber dieser Zustand ist jetzt Vergangenheit, wie du siehst, und es gibt keinen Grund mehr, mich zurückzuhalten.“
Er schien jetzt das Interesse daran verloren zu haben, Gregs in der Bewegung festgezurrtes Mienenspiel zu betrachten, und nachdem er den leuchtenden Runenstein in seiner Jacke verstaut hatte – ein Vorgang, der ganz offenbar keinen Einfluss auf die Wirksamkeit des entsetzlichen Zaubers hatte –, richtete er sich wieder auf, um seine zuvor begonnene Begutachtung der Regale fortzusetzen.
„Du musst wohl all die Jahre geglaubt haben, dass mein ganzes Dasein auf einen hilflosen, tief empfundenen Zorn dir gegenüber ausgerichtet war. Es wird dir sicher Befriedigung verschafft haben, dass es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der an jedem einzelnen Tag an dich denken muss, für den du der wichtigste, der prägendste, der einzige Mensch überhaupt von Bedeutung bist. Ich muss dich enttäuschen, Greg. Du bist überhaupt nicht wichtig für mich, ich hatte dich ja beinahe vergessen. So ausgeliefert wie du mir jetzt bist, könnte ich mir sicher ein Vergnügen daraus machen, dich nach Belieben zu martern, aber daran liegt mir überhaupt nichts. Sicher, einen kleinen Abstecher warst du mir wohl wert, und natürlich werde ich dich gerne töten, aber damit ist es dann auch getan. Du kannst dir sicher sein, dass ich ab dem morgigen Tag keinen einzigen wertlosen Gedanken mehr an dich vergeuden werde. Du wirst ausgetilgt sein, Greg, du wirst ein Name sein, der vielleicht noch einige Zeit in der Welt ist, aber der für kaum jemanden noch lange von Interesse sein wird, und für mich selbst schon gar nicht.“
Jargo war jetzt an eines der Eckregale getreten, das Greg nur aus dem starren Augenwinkel wahrnehmen konnte, und hatte die Hände an die Hüften gelegt. „Du hast sie also wirklich noch.“ Bedächtig löste er das Stahlgitter, das den einsortierten Schatzbestand auch bei stärkstem Wellengang vor dem Herausfallen schützte, und nahm die kleine, verstaubte Perlenkette vom Regal. „Sehr freundlich von dir, dass du sie für mich aufbewahrt hast.“ Er ging wieder auf die Mitte des Raumes zu, hielt die Kette in der linken Hand und strich mit der rechten den Staub von dem matten roten Rubin, der, ohnehin ganz winzig und unscheinbar, viel von seiner früheren Strahlkraft eingebüßt hatte. Kurz machte Jargo Anstalten, sich die Kette um den Hals zu legen, aber er sah dann wohl ein, dass sie zu klein war und steckte sie nach einigen weiteren unergründlichen Maskenblicken in eine der vielen Taschen seiner grauen Jacke. Als er neben der großen silbernen Kugel angelangt war, die ein unbekannter Handwerksmeister mit einer Vielzahl filigraner Verzierungen in Gold und anderen edlen Metallen bedacht hatte, hielt er inne und legte die Hand auf das gewaltige Artefakt, das ihm bis zur Brust reichte.
„Schön, dass deine Männer so zuvorkommend waren, den Transport für mich zu übernehmen“, sagte Jargo und hockte sich jetzt hin, um mit den Händen irgendetwas an der Hinterseite des Objekts zu bewirken. „Ich habe sie vor einigen Jahren auf dem großen Bazar in Bakaresh erworben, aber gefertigt wurde sie auf den südlichen Inseln von gleich mehreren Meistern der Schmiedekunst, der Mechanik und der Alchemie. Sie ist wirklich ein hervorragendes, hübsches Stück, und es tut mir beinahe ein bisschen leid, dass sie gleich hochgehen wird, zumal ja auch die Stahlwände dieser Kammer vieles von der Kraft der Explosion abfangen werden und dein Schiff vielleicht sogar retten mögen. Sie alleine zu rollen ist mir aber unmöglich, und draußen vor der Tür ist ja ohnehin kein Platz mehr, auf dem sie ruhen könnte – überhaupt kommt es mir auf den Niedergang deines Schiffes gar nicht in einem besonderen Maße an, denn es ist ja bloß ein gewöhnliches geschäftiges Piratenschiff wie viele andere auch, dessen weiteres Schicksal mich nicht kümmert. Die Hauptsache ist ja nur, dass es dich erwischt, Greg, und dass es dich so erwischt, dass es dich im Raum zerstäubt und kein Teil von dir übrig bleibt, dass du ganz und gar ausgelöscht und durchgestrichen bist, und dass sich niemand jemals mehr mit dir befassen und deine unerträgliche Gegenwart erleiden muss.“
Als sich Jargo wieder von der Kugel gelöst hatte, hielt er eine kleine dünne Schnur in der Hand, die er um das Handgelenk wickelte, um sie weiter und weiter aus der unseligen Maschine herauszuziehen. Aus der Kugel drangen dabei abgedämpfte klackernde Geräusche wie von ineinander greifenden Zahnrädern oder Getrieben, die sich im Inneren wanden.
„Nun, ich muss mich entschuldigen, solche Beleidigungen sind ganz überflüssig. Es ist auch ebenso überflüssig, überhaupt mit dir zu reden, Greg, aber zuweilen kann auch das Überflüssige unterhaltend sein, und ich glaube tatsächlich, dass ich mich noch nie so gut mit dir unterhalten habe wie in diesen Minuten. Manchmal kann ein kleiner Zauber aus
einer Person einen ganz neuen und angenehmeren Menschen machen, findest du nicht?“
Er zerrte noch etwas an der Schnur herum, aber sie ließ sich offenbar nicht mehr weiter herauslösen. Mit dem aufgewickelten Ende der Kordel in der Hand stand Jargo für eine Weile neben der Kugel und rührte sich nicht, vielleicht grübelte er über etwas nach, zweifelte womöglich an seinem Verrat gegen den alten Freund oder wollte auch nur den Moment genießen. Große Stille herrschte in diesen Sekunden, nur begleitet vom Werkeln der Maschine und dem leisen Tröpfeln des Blutes, das noch immer aus Gregs Amputationswunde floss und nicht einmal durch Jargos magische Intervention zum Stillstand hatte kommen wollen.
Schließlich hob Jargo den Kopf und schritt auf Greg zu, blieb wieder kurz vor ihm stehen und legte ihm dann das Garnknäuel in den gelähmten Schoß. Sobald er losgelassen hatte, kam Bewegung in dieses Knäuel und der Faden bahnte sich langsam, aber stetig einen Weg in den todbringenden Apparat zurück. Greg hätte nur den Arm heben und zugreifen müssen, um ihn daran zu hindern, aber obwohl ihm noch ein ganzer Arm zur Verfügung stand, der grundsätzlich sehr gut dazu in der Lage war, gab es doch keine unmöglichere Aufgabe für ihn als diesen kurzen Griff durchzuführen.
„Du siehst, Greg, dass mein Werk getan ist“, verkündete Jargo, legte den glühenden Runenstein auf dem Boden ab und zog einen weiteren hervor, den auf schwarzem Untergrund ein unbekanntes weißes Symbol schmückte. „Ich werde mich jetzt verabschieden. Der Zauber wird auch ohne mein Beisein noch eine Weile weiterwirken, und ich lege keinen Wert darauf, mich im Augenblick deines Todes in deiner Nähe aufzuhalten. Möchtest du vielleicht noch etwas sagen, Greg? Ach, ich bin mir sicher, du möchtest mir noch etwas sagen, aber du kannst ja nicht.“
Er umklammerte jetzt den zweiten Runenstein, der wohl einen Teleport zu einem ihm bekannten Ziel bewirken musste und schien bereits im Begriff zu sein, den Zauber zu wirken, als er nach einem kurzen Blick auf den sich nur sehr langsam entwindenden Kordel, dessen Ende gerade von Gregs Schoß herunter gefallen war, die am Boden liegende Rune kurz berührte. In der gleichen Sekunde spürte Greg, wie sich der Zauber von ihm löste, aber nicht, wie er im ersten Moment glauben wollte, vom ganzen Körper, sondern bloß von den Muskeln im Gesicht – Augen, Lippen und Zunge reagierten wieder wie er es gewohnt war. Der Atem aber kehrte ihm nicht zurück, denn seine Lungen mussten wohl weiterhin auf magische Weise beatmet werden.
„Nun, Greg, dann sprich, wenn du möchtest“, sprach Jargo, der einen ausreichenden Abstand hielt, um sicherzustellen, nicht von Gregs Kieferplatten angefallen oder auch nur von ihm angespuckt zu werden. Greg glaubte sich einzubilden, dass in seiner Stimme ein spöttischer Unterton lag, den er aber vielleicht auch nur heraushören wollte und der von Jargo überhaupt nicht beabsichtigt war.
„Niemand soll behaupten können, dass ich es nicht ertrage, deine Worte anzuhören. Gibt es noch etwas, das du mir zu sagen hast, Greg?“
„Ja“, brachte Greg unter starken Würgereflexen hervor – „Du hättest besser verschwinden sollen.“ – Und im gleichen Moment schoss ein schmaler Strahl kalten Sternenlichts hinter der Augenklappe hervor, durchfetzte den dünnen schwarzen Stoff und zerschnitt die Luft, traf auf Jargos Maske auf und schmolz ein Loch hindurch, bis tief ins Fleisch hinein und darüber hinaus, durchstieß noch ein Regal und schließlich die Schatzkammerwand – dann war es vorbei, Jargo stürzte lautlos zu Boden, der Teleporterstein war ihm entglitten – beide Hände pressten sich an das kleine qualmende Loch in der Maske, aus dem ein starker Blutstrom quoll, der sich über den durchstoßenen Stahl bis hinunter auf die Jacke zu großen dunkelroten Flecken ergoss; zitternd und bebend versuchten sie den Fluss aufzuhalten, doch es war vergeblich – und jetzt, da sich Jargo senkte, konnte Greg erkennen, dass sich auch am Hinterkopf ein ähnlicher Anblick bot. Nun aber hatte sich der tödlich Getroffene wieder halb aufgerichtet, kroch am Boden entlang und suchte – jetzt endgültig erblindet – mit hastigen Schlägen nach allen Seiten die Rune, die er zuvor verloren hatte, doch als er sie endlich ergreifen konnte, da lag sie nur schwer und schwarz in seiner Hand und zeigte kein Leben mehr, denn mit dem Blut war wohl auch die magische Kraft aus Jargo herausgesickert. Hektisch drehte er sich nach der Kugel um und tastete den Boden nach dem Garn ab, das aber schon beinahe am Apparat angelangt war und jetzt in eben diesen Sekunden darin verschwand. Jargo erkannte das wohl, vielleicht am veränderten Klang, den der Apparat erzeugte, denn wild strauchelnd stolperte er zur Tür hin und schlug verzweifelt nach den Wänden, aber alles was seine bebenden Hände fanden, waren lauter Schlüssellöcher, die er nicht aufschließen konnte.
„Hol uns hier raus – Greg, Greg, hol uns hier raus“, schrie Jargo, irrte wieder zurück in die Richtung, in der er Greg vermutete und ließ das Blut aus der Gesichtswunde auf alle machtlosen Finger sprudeln – „Dein Haken ist der Schlüssel, ich weiß es, du kannst uns beide retten – ich werde dich befreien, ich werde den Zauber lösen und dann kannst du uns beide befreien – es ist ja noch Zeit, der Faden muss erst einmal herum, erst einmal ganz herum im Inneren, es bleibt uns sicher noch Zeit, wir können es schaffen“ – und er hatte jetzt tatsächlich die aktivierte Rune gefunden und mit den blutverschmierten Fingerspitzen berührt, und als das nichts nutzte, ergriff er ihn mit der Hand und schlug den Stein auf den Boden, immer wieder, bis das Glühen erlosch. „Greg – Greg, du bist frei, du kannst jetzt gehen, öffne das Tor – wir können immer noch beide hier herauskommen, wir können immer noch beide unseren Frieden miteinander machen, hörst du?“
Jargo war zu ihm herangeirrt, presste die blutige Maske an sein Bein und zerrte mit der Hand daran – Greg aber rührte sich nicht, rotzte den letzten Rest Speichel, den sein vertrockneter Körper noch aufbringen konnte, neben dem flehenden Jargo auf den Boden und rief: „Du verdammter, idiotischer Amateur – du dachtest, du könntest mich töten, aber das ist nicht möglich! Du wirst vergehen, aber ich – Kapitän Greg! – bin unsterblich, und solange ich auf See bin, solange die Sterne mir leuchten und mich der Ozean umgibt, so lange werde ich leben!“
Als er schwieg, schwieg auch die Kugel. Sie ruhte in glänzendem Ebenmaß, und Greg sah jetzt wieder sehr klar, erkannte jedes kleine Detail der goldenen Ornamente, die im Licht der Fackeln stumm und schön erstrahlten. Sie lag dort und rührte sich nicht, ganz still, wie ein hübsches Kunstwerk, das den neugierigen Blicken der Menschen schmeicheln sollte. Und dann, sehr anmutig, ging sie auseinander und füllte den Raum mit Flammen.
Kapitän Greg kehrte vier Wochen später auf das Schiff zurück.
Begleitet von Matt und Skip, die ihn an beiden Seiten stützten, setzte er den ersten Schritt an Bord, bei dem das Schiff ein wenig nach unten sank, sich aber bald wieder erholte und nun ebenso gut schwamm wie zuvor. Es war ein schwüler Abend, und als Greg die ersten Meter an Bord zurückgelegt hatte, setzte sich eine kleine weiße Möwe auf seine silbrig glänzende Schulter, begleitete ihn eine Weile lang gurrend und zog dann in den dunklen Himmel davon. Einige Männer, die seinen Weg kreuzten, blieben stehen und grüßten ihren Kapitän, bevor sie sich wieder ihrer gewohnten Arbeit widmeten. Nur Angus verweilte länger, er trug einen schief gewickelten Verband um den Kopf und winkte Greg schon aus der Ferne freundlich zu.
„Es is' alles wieder richtig gut repariert, Käpt'n“, rief er und eilte heran, wobei er eines seiner Beine bei jedem Schritt etwas nachzog. „Unsere Jungs haben sich nich' lumpen lassen. Alles so gut wie zuvor, Käpt'n, wenn nich' besser.“
„Angus hat recht“, bestätigte Matt, der Greg bei einem seiner dicken stählernen Arme gepackt hatte, an dem der große Haken steckte. „Der Hauptmast ist ein gutes Beispiel, wir mussten ihn ja neu bauen und konnten dann gleich einen größeren und höheren Ausguck anbringen. Ich werde jetzt sicher noch besser in die Ferne sehen können, Käpt'n.“
„Es ist auch in der Tiefe einiges ausgetauscht und erneuert worden“, ergänzte Skip, ohne das näher auszuführen. „Du wirst sehr zufrieden sein.“
Sie waren jetzt an Gregs Lieblingsstelle an der Reling angelangt, an der er immer stand, wenn er seine großen Reden hielt und oft auch, wenn er wichtige Unterredungen führte oder nachts für sich allein Entscheidungen von Bedeutung traf. Matt und Skip ließen ihn los, denn er konnte sich im Stehen gut allein halten und benötigte ihre Hilfe nicht länger.
Freundschaftlich klopfte ihm Angus auf den massiven harten Rücken und sagte: „Käpt'n, wir sind wirklich alle sehr froh, dich wieder hier zu haben. Ganz ehrlich. Das war'n keine schönen Wochen ohne dich, da merkt man erstmal was einem fehlt und was man an seinem Käpt'n hat.“
Skip nickte knapp. „Ich denke, es wird bald alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen. Ich habe bereits einige an mich herangereichte Vorschläge für unseren nächsten Beutezug ausgearbeitet, bei nächster Gelegenheit werde ich sie dir zur Begutachtung zukommen lassen. Du wirst bestimmt keine Einwände haben, und sicher drängt es auch dich wieder auf das Meer hinaus. Bei günstigem Wind, und danach sieht es im Moment aus, könnten wir in drei oder vier Tagen in See stechen. Die Aussichten sind sehr gut, du wirst erfreut sein, die Einzelheiten zu hören.“
Er wandte sich jetzt zum Gehen ab und Angus blickte ihm hinterher, wie er über das Deck eilte und ein kurzes Gespräch mit dem Befehlshaber einer Gruppe von Plankenschrubbern hielt. Dann sah er wieder zu Greg hin und sagte grinsend: „Mal seh'n, ob wir auf die letzte Schlacht noch einen draufsetzen können, was, Käpt'n?“ Aber Greg antwortete nicht, er war sehr in sich gekehrt und blickte nachdenklich mit seinen brandneuen Augen schräg in den Himmel hinauf.
Angus folgte dem Blick, halb sah auch er jetzt in den Himmel, der wolkenverhangen und schwarz war. Eine Ecke des Mondes aber konnte doch hervorschauen und beleuchtete Gregs schweren, glänzenden Körper, und ganz besonders die Stirn, auf der ein kleiner roter Fleck einsam funkelte.
Geändert von Laidoridas (25.08.2013 um 03:44 Uhr)
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