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    Post [Story]Neue Zeiten, alte Sitten



    Neue Zeiten, alte Sitten



    Trotz der Größe und offenkundigen Seetüchtigkeit des Schiffes, traute Lord Andre ihm nicht so ganz: Man hatte zwar versucht, es den größeren Gästen angemessen zu gestalten, doch offenbar hatte man deren Größe ein wenig unterschätzt. Und so wurde Andre ständig daran erinnert, für wen dieses Schiff eigentlich ausgelegt war: Sei es, indem er sich an einer zu niedrigen Decke den Kopf stieß, die zu niedrige Rehling ihm das Gefühl der Sicherheit, für das eine Rehling üblicherweise gedacht war, verweigerte, er auf zu kurzen Stufen aus dem Tritt kam, auf Sitzmöbeln die Knie leicht anziehen musste oder die Platten von Tischen und anderen Ablagen zu tief waren. Es war, als bewege man sich in einer Welt für Kinder, und Andres sonst so sichereren Intuitionen gingen hier fehl, so dass er sich plötzlich wie ein Tölpel vorkam, und nicht mehr wie der Lord Protektor von Khorinis und erfahrene Paladin, der er war.
    Überhaupt gefiel ihm diese ganze Angelegenheit nicht. Seit wann war das Reich auf die Hilfe von Goblins angewiesen? Zu SEINER Zeit hatte man diese kleinen Mistviecher noch getötet, wenn man ihrer ansichtig wurde.
    Doch die Zeiten hatten sich offenbar geändert. Statt kleiner Plagegeister waren die Goblins plötzlich “zivilisiert”, besaßen eine eigene Stadt, trugen Kleidung und gebärdeten sich zuweilen exaltierter und höfischer als die Fatzken am gelderner Fürstenhof. So auch dieser komische “Großadmiral” Jannaleik Graf Gruben von Grubemünde zu Bythanien, welchletzeres (also Bythanien) offenbar den felsigen und kurzen Küstenstreifen jenes Reiches namens Biblur ausmachte, das plötzlich auf Khorinis aufgetaucht war, was wohl auch der Grund war, wieso man ausgerechnet diesen Kerl zum Befehlshaber der biblurschen Flotte ernannt hatte. An dessen Erfahrung zur See konnte es jedenfalls nicht liegen. In Ermangelung echter Seefahrer und kompetenter Kommandanten hatte man wohl geglaubt, dass in Sichtweite des Meeres zu wohnen eine ausreichende Qualifikation für diesen Posten sei. Oder zumindest die beste Qualifikation, die aufzutreiben gewesen war.

    Andre seufzte. Im Grunde sollte er sich wohl nicht beschweren. Immerhin hatte Biblur, auf Vermittlung der Wassermagier, die noch immer in diesem neu entdeckten Tal namens “Jharkendar” kampierten und dort den ersten Kontakt mit Biblur hergestellt hatten, die erbotene Hilfe geschickt: Drei Kriegsschiffe, inklusive des Kommandoschiffs “Wuschelschaf der Meere”, auf dem sich Andre gerade befand. “Wuschelschaf der Meere!” Andre hatte seinen Ohren nicht trauen wollen, als man ihm den Namen des Schiffes übersetzt hatte. Der Admiral aber hatte gemeint, dass es sich um einen edlen und ehrenvollen Namen handle, der einem königlichen Kriegsschiff und dem Flaggschiff von Biblur angemessen sei.
    Nun, im Grunde wollte Andre dem gar nicht widersprechen, wenngleich seine Gründe wohl in eine etwas andere Richtung gingen, als der Admiral womöglich ahnte. Einerlei: Die Höflichkeit gebot ohnehin, darüber besser zu schweigen.
    Die anderen beiden Schiffe, die auf die furchteinflößenden Namen “Bunter Schmetterling” und “Schnuffel” getauft waren, waren exakt baugleich. Und obwohl Andre große Vorbehalte vor den maritimen Baukünsten eines Volkes hatte, welches die letzten Jahrhunderte zwar auf einer Insel gelebt, aber außer kleinen Fischerkuttern keinerlei nennenswerte Seefahrt zustande gebracht hatte, musste er einräumen, dass die Schiffe durchaus was hermachten: An Größe mochten es die schweren Dreimaster sehr wohl mit den größten myrtanischen Schiffen aufnehmen, auch wenn viele Proportionen natürlich nicht stimmten. Die Takelagen waren kompliziert und ausladend, und boten viel Segelfläche, die Aufbauten dagegen waren klein und niedrig, was aber von den großen, mehrgeschossigen Schiffsrümpfen kompensiert wurde.
    “Diese Modelle wurden nach den Entwürfen unserer besten Ingenieure gefertigt”, hatte man Andre versichert, “sachkundig beraten von unseren Freunden aus dem Kreis des Wassers.”
    Na dann. Bessere Schiffe hatte Andre ohnehin nicht zur Verfügung. Und er BRAUCHTE diese Schiffe. Dringend. Denn eine Flotte der Orks war mit Kurs auf Khorinis gesichtet worden - und diesmal würden sie die Stadt selbst angreifen.
    Andre seufzte erneut.
    “Ihr wirkt angespannt und nervös, Mylord”, sagte Admiral Jannaleik ruhig, und stellte seine Tasse Tee auf das Tischchen zurück, das man auf dem Deck hingestellt hatte. Auch Andre hatte eine Tasse erkaltenden Tees vor sich, die er bislang jedoch ignoriert hatte: Das flaue Gefühl in seinem Magen ließ ihn einstweilen auf jede Nahrung verzichten. Der Admiral hingegen thronte völlig gelassen auf dem sonderbaren Stuhl, den man ihm hingestellt hatte: Der Tisch der kleinen Sitzgruppe war aus Respekt und Rücksicht auf Andre annähernd für menschliche Größen ausgelegt, ebenso wie Andres Stuhl. Dafür hatte Jannaleik einen erhöhten Sitz mit eingebauten Stufen, der Andre an ein Möbelstück am Gelderner Hof erinnerte, welches eines der Kinder des Fürsten benutzt hatte, als Andre dort zu Gast gewesen war.
    Für Andre symbolisierte dieser lächerliche Stuhl alles, was ihm an diesem Bündnis missfiel: Die Goblins hatten die Größe von Kindern, die Welterfahrung von Kindern, benutzten die Stühle von Kindern und gaben ihren Kriegsschiffen Namen, wie es Kinder täten. Für Andre waren diese kleinen Geschöpfe wie Kinder.
    Und doch waren sie mit Kriegsschiffen gekommen, auf denen dutzende, schwere Geschütze montiert waren. Die Rümpfe der Schiffe waren mit Minecrawlerplatten verstärkt, die Segel und Leinen aus deren enorm reißfesten Gespinst, das außerdem auch zur Abdichtung genutzt worden war. Die Krieger der Goblins trugen Harnische aus denselben Materialien und Waffen aus magischem Erz, denen man zwar große Kunstfertigkeit ansah, die aber offenbar in erster Linie als die Zierwaffen einer Armee gedacht waren, deren einzige Aufgabe in den letzten Jahrhunderten darin bestanden hatte, prunkvoll auszusehen und schöne Paraden zu veranstalten.
    “Natürlich bin ich nervös”, entgegnete Andre dem kleinen Admiral, “schließlich stehen wir kurz vor einer Schlacht mit einer Flotte der Orks. Ihr wisst nicht, was das bedeutet. Die Orks sind fürchterliche Krieger. Ihre Galeeren mögen im Vergleich zu Euren Schiffen klein und primitiv sein, doch sind sie schnell und wendig. Wenn es zum Enterkampf kommt, werden nicht nur meine Männer, sondern auch Goblins sterben. Wir selbst möglicherweise ebenfalls. Seht Ihr, es ist angemessen, in dieser Situation nervös zu sein, Admiral.”
    Den aber ließen Andres Worte ungerührt. “Wir werden sehen”, sagte er nur, und schenkte Andre ein entspanntes Lächeln, das kleine, spitze Zähnchen offenbarte, “möglicherweise werden es sich die Orks ja noch einmal anders überlegen, wenn sie unsere prächtige Flotte sehen.”
    Andre bezweifelte dies und wollte zu einer schnippischen Entgegnung ansetzen, als plötzlich der Klang eines Hornes erschallte. In den zuvor so trägen und ruhigen Admiral kehrte plötzlich Bewegung ein, als er sich auf seinem Sitz aufstellte und in der schnatternden, abgehackten Sprache der Goblins Anweisungen zu rufen begann. Meldungen wurden austauscht, Befehle erteilt, Goblins wuselten hin und her, kletterten die Wanten hinauf oder hinunter, veränderten die Position der Segel, und gaben den anderen Schiffen mit Fähnchen oder metallenen Blashörnern die Anweisungen des Admirals weiter.

    Die Flotte änderte geschlossen ihren Kurs.
    “Seht, dort”, sagte der Admiral und zeigte in Richtung Horizont. Andre folgte dem Fingerzeig, und tatsächlich: Er konnte Schiffe ausmachen. Viele Schiffe. Eine ganze Flotte orkischer Galeeren. Noch konnte Andre die genaue Zahl nicht bestimmen, doch diese Schiffe würden gewiss rasch näher kommen.
    “Der Ausguck meldet, dass es sich um drei Dutzend Galeeren der Orks handle”, sagte Jannaleik, und schlürfte erneut an seiner Tasse. Nach dem kurzen Ausbruch an Geschäftigkeit hatte er zu seiner früheren Ruhe zurückgefunden.
    “DREI DUTZEND!”, ächzte Andre. Das war mehr, als er erwartet hatte. Eine solche Flotte könnten sie niemals besiegen. An Bord dieser Schiffe mochten mehrere tausend Orks sein. Die Schiffe, klein und wendig, wie sie waren, könnten den Hafen von Khorinis direkt anlaufen, und ihre blutrünstige, tödliche Ladung direkt im Hafenviertel ausschütten. Es würde ein Blutbad geben. Und die drei Schiffchen der Goblins waren bei weitem nicht genug, um diese Flotte aufzuhalten. Selbst wenn die Schiffe der Goblins auch noch so überlegen wären - woran Andre seine Zweifel hatte! -, und wenn deren Mannschaften auch noch so geschickt wären - der Ausdruck “Zweifel” wäre in diesem Falle wohl noch untertrieben -, könnten die Orks einfach einen kleinen Teil ihrer Flotte in den Seekampf schicken, und mit dem Rest unbehelligt weiter nach Khorinis segeln.
    “Diese Angelegenheit wird wohl eine neue Flagge erfordern”, murmelte Jannaleik. “Flagge?” Andre verstand nicht, wovon dieser Goblin sprach. “Ja, eine andere Flagge. Aber das hatten wir ehrlich gesagt erwartet. Warten wir noch ein Bisschen, bis die Orks näher sind.”
    Ein erneutes Nippen am Tee, Knabbern an den Plätzchen, die zum Tee serviert worden waren, und vergnügtes Summen. Andre musste seine Meinung über die Goblins revidieren: Die waren nicht etwa unerfahren und kindlich, sondern schlicht dumm. Oder verrückt. Oder beides.
    Schon wollte Andre sich erheben, ein letztes Mal vor der Schlacht, die seinen Tod bringen würde, Schwert und Rüstung prüfen, ein letztes Gebet an Innos richten, da legte der kleine Admiral ein pelziges Händchen auf Andres Arm. “Bitte, bleibt sitzen, Lord Protektor! Und achtet auf Eure Haltung! Denkt daran: Ein Kommandant bewahrt in jeder Situation Contenance!”
    Na, der hatte gut reden! Immerhin wäre es nicht Biblur, das in spätestens einem Tag in einem Blutbad untergehen würde! Trotzdem sackte Andre auf seinen Stuhl zurück. Was spielte es schon noch für eine Rolle, was er tat? “Natürlich”, kicherte er, nahm die Tasse mit seinem erkalteten Tee, und kippte sich alles in einem großen Schluck herunter. Der Tee schmeckte. Dann stopfte er sich eines der Plätzchen in den Mund. “Mhm, gut!”, schmatzte er, wobei er Speichel und Krümel verspritzte, “habt Ihr keinen Barden an Bord? Wir könnten fröhliche Lieder singen?”
    Der Admiral blieb ungerührt, hob nicht einmal eine Augenbraue. “Ich glaube nicht, dass das angemessen wäre”, sagte er nur in einem Ton, als habe er es tatsächlich ernsthaft erwogen, was Andre erneutes Kichern entlockte. Ein weiteres Plätzchen fand seinen Weg in Andres Mund, während er seinen Blick wieder der Orkflotte zuwandte, die deutlich näher gekommen war.

    Jannaleik schnatterte einen Befehl, und deutete auf die Mastspitzen: “Seht Ihr, die Flaggen!”
    Andre konnte beobachten, wie die Goblins, offenbar die jüngste Anweisung ihres Kommandanten befolgend, Flaggen hissten. Große Flaggen, deren Motiv eindeutig ein dickes, wolkiges Schaf auf rotem Grund erkennen ließ. Kurz darauf ertönten wieder die Hörner, drei Mal.
    “Jetzt wird sich herausstellen, aus welchem Holz die Orks geschnitzt sind.” Diesmal hörte Andre einen Hauch Anspannung in Jannaleiks Stimme, “wenn unsere Chroniken ungenau sind, oder nicht mehr aktuell…”, der Admiral ließ den Satz unvollendet und beugte sich auf seinem Sitz vor, den Blick starr auf die Orkflotte gerichtet, die immer näher kam. Immer besser ließen sich Details ausmachen: Segel und Ruder, martialische Galleonsfiguren, einzelne, an Deck wimmelnde Orks, deren Waffen im Sonnenlicht metallisch schimmerten.
    Plötzlich ertönte ein Horn. Doch diesmal kein Goblinhorn, sondern der Ton kam von den Orks. Drei lang anhaltende Stöße. Und dann konnte Andre ungläubig beobachten, wie ein Großteil der Orkflotte beidrehte, nicht mehr direkt auf die drei Schiffe der Goblins zuhielt, sondern in Warteposition ging. Alle Schiffe, bis auf eines, das den Kurs auf die “Wuschelschaf der Meere” beibehielt und - Andre konnte nicht fassen, was er dort sah! - eine Flagge hisste, die jener der Goblins nahezu glich: Ein dickes, wolkiges Schaf auf rotem Grund.

    Das Orkschiff kam näher, ging schließlich längsseits, und Goblins beeilten sich, Leitern und Taue zu der niedriger gebauten Galeere hinunterzuwerfen.
    “Was geschieht hier?”, stieß Andre hervor, doch Jannaleik würdigte ihn nichtmal eines Blickes. Stattdessen schaute er der kleinen Abteilung von Orks entgegen, die gerade über die Rehling kletterten, sich kurz umsahen, und dann auf Andres und Jannaleiks Sitzgruppe zumarschierten.
    Einer der Orks war mit seinem langen, federgeschmückten Stab und seinem bunten Kopfputz eindeutig als Schamane zu erkennen. Die anderen beiden waren offenbar Krieger, mit den traditionellen Äxten der Orks und irgendwelchen Stammeszeichen ausgestattet.
    Großadmiral Jannaleik erhob sich auf seinem Sitz, um die Gäste stehend willkommen zu heißen, schnippte mit den Fingern, worauf einige Goblins einen weiteren Sitz wie dem von Andre sowie ein weiteres Teeservice herbeitrugen.

    Dem, was nun geschah, konnte Andre nicht folgen, da sich zwischen dem Schamanen der Orks, der Andre nur einen kurzen Blick zuwarf und ihn ansonsten ignorierte, und dem Admiral der Goblins ein Dialog in einer für Andre unverständlichen Sprache entfaltete. Jannaleik persönlich schenkte dem Schamanen Tee ein, welchen dieser kostete, und von irgendwoher brachten Untergebene ein Stück ungefärbten Stoffs, vermutlich aus Minecrawlergespinst, welches dem Ork überreicht wurde. Dieser wiederum winkte einen seiner Untergebenen heran, der aus einem Päckchen eine Art Gebäck entrollte, was Jannaleik einen erstaunten, fast ehrfürchtigen Gesichtsausdruck entlockte. Der Schamane übernahm das Gebäck, brach ein Stück ab, aß davon, und reichte es daraufhin an Jannaleik, der sich ebenfalls ein Stück nahm, kostete und es an Andre weiterreichte.
    “Esst ein Stück!”, befahl Jannaleik. “Wieso sollte ich?” Andre war verwirrt, verärgert und hatte keine Lust darauf, sich von diesem elenden Ork womöglich vergiften zu lassen. Jannaleik aber ließ sich nicht erweichen. “Esst! Es handelt sich hierbei um eine Kostbarkeit aus alten Tagen, die bei uns nur in alten Erzählungen und historischen Abhandlungen Erwähnung findet! Dies ist Kretzelbrot, eine traditionelle, orkische Delikatesse, die seit Jahrhunderten auch zu Kulthandlungen und Riten verwendet wurde, und zur Zeit Jahrkendars eines der Hauptimportgüter der Insel Khorinis war. Berichten zufolge war dieses Brot wegen seiner Schmackhaftigkeit, Nahrhaftigkeit und Haltbarkeit bei allen bekannten Völkern beliebt. Als Biblur nach dem Untergang Jharkendars in die Isolation fiel, wurden wir leider auch von unserer Kretzelbrotquelle abgeschnitten, und da die Orks das Geheimnis um seine Herstellung seit jeher hüten, blieb uns nichts als die Erinnerung daran. Doch ich kann Euch versichern, es schmeckt vorzüglich. Dieser Laib hier wird gewiss seinen Weg zu ihrer Majestät Königin Sabatha finden, doch Ihr, Lord Protektor Andre, habt die Ehre und das Glück, ein Stück davon kosten zu dürfen. Also kostet!”
    Jannaleiks Tonfall ließ keinen Widerspruch zu, und so kostete Andre ein Stück dieses sonderbaren Brotes. Von den Aromen, die sich in Andres Mund entfalteten, kamen ihm manche bekannt vor, andere waren ihm jedoch völlig fremd. Es schmeckte angenehm fruchtig und würzig und erinnerte Andre eher an Kuchen denn an Brot. Der Goblin hatte nicht gelogen: Es war in der Tat eine Köstlichkeit, wie Andre verwundert feststellte.
    Der Ork beobachtete Andre, wie dieser kaute und schluckte, und wandte sich dann wieder an Jannaleik. Beide setzten ihr für Andre unverständliches Gespräch fort, bis Jannaleik schließlich einen seiner Untergebenen herbeirief, der eine Ledermappe bei sich trug. Jannaleik nahm die Mappe entgegen, öffnete sie und entnahm dieser ein offenbar schon sehr altes, durchaus aber noch lesbares Pergament, das er dem Orkschamanen reichte. Andre konnte die Schriftzeichen auf dem Pergament nicht entziffern, der Ork hingegen offenbar schon. Dieser runzelte die Stirn, während er las, und murmelte leise vor sich hin. Mehrmals blickte er unwillig auf, schaute mal Jannaleik, mal Andre an.
    Schließlich begann der Schamane zu lachen. Dabei reichte er das Pergament den anderen Orks, die ebenfalls lasen, Andre anschauten, und dann ebenfalls in Gelächter ausbrachen.
    Andre verstand die Welt nun endgültig nicht mehr. Er wusste nur, was immer auf diesem Pergament stand, musste die Orks sehr erheitern, denn deren Keuchen, Beben und Glucksen wollte gar kein Ende nehmen. Schließlich beruhigte sich der Schamane wieder langsam, schaute nun Andre an, und erhob sich.
    “Glück Du hast, Mensch. Orks leben nach Ehre, und Ehre gebietet, Insel in Frieden zu lassen. Dank Kleinleuten!”
    Der Schamane und Jannaleik wechselten einen Handschlag, und dann wandten sich der Schamane und seine Begleiter zum Gehen. Andre konnte es kaum fassen. Das sollte es gewesen sein, einfach so? Die Orks wollten trotz ihrer Überlegenheit abziehen, und die Insel Khorinis nicht weiter behelligen? Das war doch nicht möglich!

    Andre sprang auf, eilte den Orks hinterher und hielt diese auf, kurz bevor sie über die Rehling wieder zu ihrem Schiff hinunterklettern konnten.
    “Wartet! Was hat das zu bedeuten?” Die Orks wandten sich erneut zu ihm um, einer der Krieger lachte bellend, der andere grinste. “Von was für einem Vertrag redet Ihr?”
    Der Schamane, sichtbar belustigst, gluckste, ließ sich aber doch zu einer Antwort herab: “Alter Vertrag. Alt, aber gültig. Ehre gebietet, einhalten!” “Aber worum geht es in dem Vertrag?” “Vertrag gebietet nicht angreifen Kleinleute.” “Ihr greift die Goblins nicht an?” Der Schamane schüttelte den Kopf, wobei die Federn an seinem Kopf auf und ab wippten. “Nein, nicht angreifen Land von Goblins. Land von Goblins nicht, und…” kumpelhaft schlug der Schamane Andre auf die Schulter und stieß ein kurzes Kichern aus, “…und auch nicht Land von Vasallen.”
    Der Schamane kehrte Andre den Rücken zu und verließ endgültig das Schiff. Andre schaute den Orks noch lange nach, wie sie sich von der “Wuschelschaf der Meere” abstießen und in die Formation ihrer Flotte zurückkehrten. Wie die Flotte der Orks abdrehte und sich wieder entfernte, weg von Khorinis, weg von der Insel, die zu schützen Andre befohlen war. Als er sich schließlich von der Rehling wegwandte, stand der Admiral vor ihm.
    “Das hat doch heute ganz gut geklappt, nicht wahr, Lord Protektor? Oh, und übrigens: Herzlich willkommen im Königreich Biblur! Ihre Majestät wird über Euren Beitritt höchst erfreut sein.”

    Geändert von Sir Ewek Emelot (24.07.2016 um 09:52 Uhr)

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    Der Satz von Adanos



    “Wenn N also gleich zweiunddreißig M ist, und W für eine angepeilte Lebensdauer von einer Stunde neunzehn Kilo-M betragen muss, bedürfen wir ohne rekursiver Bindematrix für den Golem einer Gesamtenergie von…” Der Goblin-Priester redete und redete, rasselte Zahlenwerte herunter und rechnete irgendwelche Dinge vor.

    Nicht zum ersten Mal war Saturas über diese Goblins und ihre von unstillbarem Wissensdurst getriebene Gelehrsamkeit erstaunt. Es waren immer mehr von ihnen nach Jharkendar gekommen und hatten die einst versunkene Stadt Stück für Stück in Beschlag genommen, bis sie kaum mehr wieder zu erkennen war: Als er und die anderen Wassermagier hier angekommen waren, hatten Gesträuch und Ranken die verfallenen Ruinen fast vollständig überwuchert, und die wenigen noch erhaltenen Prachtbauten waren von Moos und dem Schmutz von tausend Jahren bedeckt gewesen.
    Doch mit der Ankunft der Goblins begann Jharkendar nach und nach wieder in der Pracht zu erblühen, die es einst ausgemacht haben musste.
    Niemals hätte Saturas erwartet, dass dies ausgerechnet Goblins zu verdanken sein würde.
    Hunderte der wuseligen, kleinen Geschöpfe waren im Laufe der vergangenen Monate in die Stadt geströmt und hatten sich ihrer angenommen, sie nach und nach von den Spuren jahrhunderte langer Vernachlässigung befreit und Stück für Stück dem Griff der wuchernden Natur entrissen.
    Zuerst waren es nur wenige, sorgfältige Forscher gewesen: Gelehrte wie der Philologe und Historiker Garnau Klaufen, sorgfältig darauf bedacht, nichts zu beschädigen oder auch nur zu verändern. Sie hatten sich für Tempel und Paläste ebenso wie für die Überreste einfacher Bauten interessiert, hatten Grundmauern frei- und topografische Karten angelegt, Wandinschriften entziffert, Waffen, Steintafeln und Gebrauchsgegenstände ausgegraben, alles datiert und katalogisiert, selbst alte Feuerstellen oder Aborte bis ins kleinste Detail analysiert, um möglichst viele Daten über das Leben im alten Jharkendar zusammenzutragen.
    Dann waren die Archivare gekommen. Abschriften alter Texte und historische Berichte aus der alten Zeit im Gepäck, hatten sie sich der gesammelten Daten angenommen und das neue Wissen mit den Überlieferungen Biblurs verglichen: Waren die alten Karten der Stadt, die ein Jahrtausend lang in Biblur aufbewahrt worden waren, zutreffend? Ließen sich die Funde mit den überlieferten Annahmen über das Leben in Jharkendar in Einklang bringen? Oder musste man die Geschichtsbücher umschreiben, die alten Texte einer Revision unterziehen?
    Schnell hatten Saturas und der Kreis des Wassers feststellen müssen, dass sie sich ein völlig anderes Bild jener alten Kultur machen mussten. Der Stadtstaat war nicht nur mit Biblur, dem Königreich der Goblins, verbündet gewesen, sondern ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner Bevölkerung hatte aus Goblins bestanden. Einrichtungen, Gräber und Skelette, Die Größe von Bauten: Nachdem sie die Stadt mit anderen Augen zu betrachten begonnen hatten, waren die Spuren der Goblins des alten Jharkendar für die Wassermagier unübersehbar geworden. Und selbst einige architektonische Details im Minental ergaben plötzlich viel mehr Sinn, wenn sie als Produkte der Baukunst nicht nur eines Volkes betrachtet wurden.
    Doch schnell hatte sich herausgestellt, dass die Stadt zu groß, die Menge der auszugrabenden, historischen Schätze zu zahlreich - und das politische Interesse einer Neubesiedelung zu stark war. Die Goblins von Biblur hatten mehr als nur wissenschaftliches Interesse an Jharkendar. Die Stadt sollte ihr neues Tor zur Welt sein. So war es auch früher schon gewesen, hatte Garnau dem hohen Magier des Wassers mitgeteilt: Während Biblur selbst inmitten der gebirgigen Landschaft im Nordosten von Khorinis gelegen hatte, abgeschieden und kaum erreichbar, war Jharkendar für die Goblins der Zugang zum Rest der Insel ebenso wie zum Meer und damit der ganzen Welt gewesen. Von hier aus hatte man zusammen mit den Jharkendari Forschungs- und Handelsexpeditionen unternommen. Man hatte nicht nur die Insel Khorinis beherrscht, sondern auch auf anderen Inseln, selbst auf dem Festland Kolonien oder Außenposten errichtet, war gen Norden bis in die Gebiete der Orks und gen Süden bis nach Varant und zu den südlichen Inseln vorgedrungen. Khorinis war zu Zeiten Jharkendars ein Zentrum des Welthandels gewesen, eine Großmacht - und Biblur verstand sich als direkter Nachfolger dieser Großmacht. In den Augen der Goblins mochte die Stadt Jharkendar untergegangen sein, doch deren Nation hatte nie aufgehört zu existieren, sondern hatte in Biblur fortbestanden.
    Und so waren den Entdeckern und den Archivaren die Pioniere gefolgt.
    Nun machte man Jharkendar wieder bewohnbar. Saturas war beeindruckt von der Findigkeit und technischen Versiertheit der Goblins. Andererseits wunderte ihn das nicht wirklich, hatten diese doch ununterbrochen auf die Kenntnisse des alten Jharkendar zurückgreifen können.
    Der Sumpf wurde trockengelegt, Gebäude wieder hergerichtet und ein Hafen erbaut. Die Piraten mit ihrem Versteck am Strand hatten zunächst Probleme bereitet, jedoch bald erkannt, dass ihre maritime Expertise für die unbedarften Goblins von unschätzbarem Wert war. Da die Piraten zudem ihr Schiff offenbar verloren hatten, und ihnen kaum andere Optionen offen standen, war ein beiderseitig profitables Arrangement möglich gewesen.
    Die Wassermagier hatten beschlossen, in Jharkendar zu bleiben. Saturas war von den Goblins und ihrem alten Wissen fasziniert, während er und die seinen wiederum von den Goblins als Priester Adanos’ und als Magier geachtet wurden. Außerdem brauchte Biblur Kreis- und Ring des Wassers, um mit den Menschen außerhalb von Jharkendar in Kontakt zu treten. Nicht zuletzt waren aber vor allem die Priester und Magier Biblurs, die sich selbst als “Experimentaltheologen” bezeichneten, an einem Wissensaustausch mit den Magiern vom Festland interessiert.

    So auch bei Saturas’ heutigem Treffen mit Pater Fleddelig, der sich seit kurzem mit der menschlichen Golemmagie zu befassen begonnen hatte, und dieses Thema nun mit Saturas zu besprechen gedachte.
    Die Ziffern und sonderbaren Zeichen auf dem Pergamentblock begannen vor Saturas’ Augen zu verschwimmen, sich ineinander zu verdrehen und ihm schwirrte der Kopf. Unerbittlich hielt der Redeschwall des Paters an, erklärte irgendwelche Zahlen und Rechnungen, die Saturas nicht verstand, deutete hin und wieder auf eine Stelle des Blatts, ohne dass dies irgendetwas klarer gemacht hätte.
    Saturas war es Leid.
    “Genug!”, rief er aus und donnerte den Block auf den Tisch, “was hat denn dieser ganze Quatsch mit Magie zu tun? Oder mit der Belebung von Golems?” Unwillig schüttelte Saturas den Kopf und wischte mit einer Armbewegung die Hand des anderen Goblins beiseite, der irgendeine Messlatte an seinen Kopf gelegt hatte.
    “Nun sträubt Euch doch nicht so”, sagte Fleddelig, “der gute Micha versucht doch nur, Eure Schädelgröße zu vermessen.” “Und was soll das bitte bringen?”, brauste Saturas auf.
    “Wir haben festgestellt, dass der moderne Gobbo Nudus im Schnitt um einige Zentimeter größer ist, als noch vor tausend Jahren”, quatschte der Goblin mit der Messlatte los, “da die Proportionen identisch geblieben sind, hat sich auch der Schädel vergrößert.”
    “Gobbo Nudus?“ “Aber ja. Wie auch unser Volk und die Orks gehört auch Ihr Menschen zu den Primaten der Gattung Gobbo”, führte Micha aus. “Ihr seid Gobbo Sapiens Nudus, um genau zu sein. Anders als bei uns, also Gobbo Sapiens Sapiens, wurdet Ihr seit dem Untergang Jharkendars offenbar immer größer. Zumindest den Exponaten unserer naturhistorischen Sammlungen nach zu urteilen. Es wäre natürlich auch möglich, dass speziell die Jharkendari besonders kleinwüchsig waren.“
    Saturas verstand nicht, was daran so besonders sein sollte. Heute waren die Menschen eben etwas größer, als es die Jharkendari vor tausend Jahren gewesen waren, na und?
    “Unsere Anthropologen gehen davon aus, dass mit einem größeren Schädel auch ein größeres Gehirn einhergeht”, erklärte Fleddelig, “natürlich ist das nur eine Hypothese, welche erst durch einige posthume Sektionen verifiziert werden könnte. Ihren Prognosen zufolge müsste mit größerer Hirnmasse auch eine größere Intelligenz einhergehen. Aber wenn ich mir so Eure mathematische Kompetenz, oder besser: den Mangel daran ansehe, so scheint entweder das Gehirn von Euch Menschen nicht mit gewachsen zu sein, oder es gibt tatsächlich keine direkte Korrelation zwischen Hirnmasse und Intelligenz.”
    “Also, was soll das denn heißen?”, rief Saturas empört, “wollt Ihr etwa sagen, ich sei dumm?”
    Fleddelig lachte. “Aber nein. Nur, dass Eure Spezies im Laufe der Zeit wohl nicht intelligenter geworden ist.”
    “Unsere Forschungen stehen noch ganz am Anfang”, warf Micha ein, packte seine Sachen jedoch zusammen. Gut so, Saturas hatte keine Lust, sich weiter wie ein Studienobjekt behandeln zu lassen!
    “Ich werde mir einen der anderen Magier suchen”, sagte Micha, sprang von seinem Stuhl herunter und verließ das Zimmer.
    “Warum ist es überhaupt so wichtig, ausgerechnet Magier zu vermessen?”, fragte Saturas Fleddelig, der im Raum verblieben war. “Die Anthropologen wollen untersuchen, ob es physiognomisch charakteristische Merkmale von magiebegabten Menschen gibt. Ihr braucht Euch wirklich nicht so zu sträuben, Meister Saturas. Es dient doch nur der Wissenschaft!”
    “Wirklich tolle Wissenschaft!”, schnaubte Saturas verächtlich. “Ich verstehe übrigens noch immer nicht, was diese ganzen seltsamen Rechnungen dort mit Magie zu tun haben. Also, wenn Ihr wirklich diese ganzen Berechnungen anstellen müsst, kann ich durchaus verstehen, dass Ihr Euch für unsere Runenmagie so sehr interessiert.”
    Saturas und die Wassermagier waren sehr darüber erstaunt gewesen, dass die Goblins nicht nur über Magier verfügten, sondern dass diese für ihre Zauberei offenbar nicht einmal magischer Runen bedurften. Im alten Jharkendar sei die Runenmagie unbekannt gewesen, hatte man ihnen mitgeteilt, sie sei eine myrtanische Entwicklung, die vor eintausend Jahren noch in den Kinderschuhen gesteckt habe.
    “Natürlich müssen wir nicht für jeden kleinen Zauber präzise Berechnungen anstellen. Für größere Wirkungen hingegen schon. Dazu gehört eben auch, und damit wären wir wieder beim Thema, die Erschaffung von magischen Golems oder Gobbunculi. Seht Ihr: Letztlich sind diese ganzen, mathematischen Gleichungen, Werte und Formeln nichts anderes, als eine Form, magische Sachverhalte auszudrücken. Und zwar auf eine sehr präzise Weise. Wir können magische Formen und Wirkungen prinzipiell in algebraischer oder geometrischer Weise darstellen, also Magie in Mathematik übersetzen. Somit können wir Magie präzise wissenschaftlich modellieren, und werden letztlich unsere magische Forschungen mit denen anderer Naturwissenschaften vereinheitlichen können.”
    “Aber wie soll denn das gehen? Magie mathematisch zu fassen, meine ich.”
    “Nun, jeder Zauber hat doch eine Wirkungsart sowie einen Wirkungsgrad. Der Wirkungsgrad lässt sich algebraisch quantifizieren und somit in einen Wert fassen. Die Wirkungsart des Zaubers wiederum lässt sich geometrisch darstellen, indem man die magischen Strukturen, also die Wirkmatrizes, in eine geometrische Form übersetzt. Geometrische Formen selbst lassen sich wiederum mit Hilfe von mathematischen Funktionen, also Gleichungen, abstrakt darstellen, so dass sich letztlich die gesamte Magie, also jeder beliebige, magische Sachverhalt, algebraisch formulieren lässt. Wenn magische Zusammenhänge mathematisch adäquat modelliert werden, lassen sich Wirkungsarten- und Grade präzise berechnen.”
    Was der Goblin sagte, erschien Saturas aus nahe liegenden Gründen reichlich absurd: “Aber das ist doch Unsinn! Ihr behandelt Magie ja gerade so, als wäre sie etwas Materielles!”
    Fleddeligs Augen leuchteten auf. “Ganz genau! Genau darum geht es. Mit Magie ist es möglich, die materielle Welt zu verändern. Man kann damit Einfluss auf Körper nehmen. Umgekehrt haben Körper auch Einfluss auf Magie. Ihr seht also, dass Materielles und Geistiges, Physik und Magie prinzipiell ineinander überführbar und übersetzbar sind.”
    “Ihr meint, ein Körper könne Magie beeinflussen? Jeder Magus vermag mit seiner geistigen Kraft, seinem Willen und seiner Vorstellung, die Körperwelt zu beeinflussen. Aber wie sollte das umgekehrt möglich sein?”
    Fleddelig lachte. “Ist das denn nicht offensichtlich? Na, mit Euren magischen Runen!”
    Saturas musste eine Weile darüber nachdenken. “Aber es ist doch die Magie, die in den Runensteinen steckt, welche wirksam wird. Nicht deren bloße, physische Beschaffenheit.” “Ahja? Kann man das denn so genau trennen? Wenn Ihr den Runenstein zerstört, kann man damit keine Zauber mehr wirken. Wenn Ihr einen Eurer magischen Fokussteine an einen bestimmten Punkt positioniert, kann man von dort aus gewisse Wirkungen erzielen. Ihr verändert die magische Wirkung alleine dadurch, dass Ihr Eure Fokussteine in gewisser Weise räumlich anordnet. Räumliche Anordnung ist aber doch ein Charakteristikum von Körpern, oder nicht? Zumindest, wenn man einmal von transzendentalphilosophischen Überlegungen absieht, nach denen Raum und Zeit bloß subjektive Formen der Sinnlichkeit sind, wie Melchior Candidus ausgeführt hat. Das, ähm, war einer unserer Philosophen der seinerzeit für einiges Aufsehen sorgte.” Der Goblin machte eine wegwerfende Handbewegung und fuhr dann fort: “Wie dem auch sei: In letzter Konsequenz lassen sich alle physikalischen Phänomene letztlich auf einige einfache Prinzipien zurückführen. Zwei davon sind die Prinzipien der Konstanz”, Fleddelig ballte die Hand zur Faust und spreizte den Daumen ab, “nämlich zum einen das Prinzip der Masseerhaltung: In einem geschlossenen System bleibt die Menge an Materie immer gleich. Man mag Materie von einer Art in Materie einer anderen Art umwandeln oder Materie von einem Ort zum andern bewegen können. Aber niemals wird aus dem Nichts neue Materie entstehen oder bestehende Materie zu Nichts vergehen.
    Zum anderen”, der Zeigefinger gesellte sich zum Daumen, “das Prinzip der Energieerhaltung: Die Menge an Energie innerhalb eines abgeschlossenen Systems ist immer konstant. Man kann Energie in Form von Bewegung in Hitze oder Licht umwandeln, kann Energie von einer in eine andere Form bringen oder aber von einem Ort zum andern umleiten. Aber niemals wird aus dem Nichts Energie entstehen oder bestehende Energie zu Nichts vergehen.
    Diese beiden Prinzipien wiederum”, Fleddelig umfasste Daumen- und Zeigefinger der einen Hand mit der anderen, “lassen sich zu einem höheren, kosmischen Konstanzprinzip zusammenfassen, für welches es keine Differenz mehr zwischen Energie und Materie gibt. Wir können aus Magie elementare Manifestationen wie Wasser oder Erde schaffen, und wir können mit ihr die Bewegung von Körpern verändern, sie erhitzen oder Licht erschaffen, also letztlich den energetischen Zustand in der Welt verändern. Umgekehrt können wir auch Materie in magische Energie umwandeln und an anderen Orten wieder zu Materie gerinnen lassen. Denkt nur an Teleportation! Wir mögen alle körperlichen Dinge einem der Elemente zuordnen. Aber letztlich lassen sich alle diese Elemente auf die Magie zurückführen. Wenn wir also Körper quantifizieren können, lässt sich grundsätzlich auch Magie quantifizieren.”
    Saturas begann, zu verstehen: “Es gehorchen also letztlich alle Dinge denselben Naturgesetzen. Und darum ist es egal, an welcher Stelle wir unsere Beobachtungen durchführen. Wir können die Erscheinungen der Körper beobachten und davon auf alles andere folgern.”
    “Richtig”, sagte Fleddelig, offenbar mit Saturas zufrieden, “und es ist sogar mehr, als das. Letztlich gehorchen ALLE Bewegungen, alle Veränderungen ein und demselben, kosmischen Prinzip. Das genannte Konstanzprinzip geht letztlich auf ein Prinzip der absoluten Stabilität, indem alle Dinge, ob körperlich oder geistig, alle Systeme und der Kosmos selbst auf einen stabilen Zustand zusteuern. Macht es Euch klar: Wenn Ihr zwei wassergefüllte Behältnisse miteinander verbindet, werden diese immer zu einem Zustand finden, in welchem der Wasserspiegel bei beiden identisch ist. Wenn Ihr Salz in Wasser gebt, wird dieses sich auflösen, bis es gleichmäßig im Wasser verteilt ist. Wenn Ihr ein Übermaß an Luft an einer Stelle habt, wird die Luft von dort sich in den umliegenden Raum verteilen, bis überall gleich viel Luft ist. Wenn ein Gegenstand wärmer oder kälter als die Umgebung ist, wird er Wärme abgeben oder aufnehmen, bis überall dieselbe Temperatur herrscht. Letztlich strebt alles zu einem vollkommenen Gleichgewicht. Das ist das Prinzip aller Dinge.”
    “Adanos!”, entfuhr es Saturas, “Das wäre doch ein Prinzip des Gleichgewichts, und das Gleichgewicht ist Adanos! Aber das bedeutet, dass das Gleichgewicht nichts wäre, das zerbrechlich und mühsam zu erhalten ist. Das Gleichgewicht wäre vielmehr der natürlich Zustand, den alles früher oder später erreicht.”
    “Da habt Ihr recht. Darum betrachten wir Priester Biblurs uns auch nicht als Hüter des Gleichgewichts. Jener Zustand, den alles anstrebt, ist letztlich ein Zustand vollkommener Indifferenz. Alles ist sich darin gleich. Darum gibt es nicht nur einen Gott. Darum gibt es Innos und Beliar. Ohne sie würden keine Formen entstehen, keine voneinander geschiedenen Objekte. Die Elemente wären ohne Unterschied ineinander vermengt. Alles wäre wie Wasser: Habt Ihr eine Ziege und teilt diese Ziege durch zwei, so bekommt Ihr keine zwei Ziegen, sondern zwei Ziegenhälften. Teilt Ihr hingegen eine Menge Wasser, so erhalten Ihr zwei Mengen Wasser. Diese könnt Ihr wiederum teilen, und erhaltet erneut Wasser. Erst dadurch, dass jener Zustand vollkommener Harmonie und Homogenität gestört wird, und die Elemente voneinander geschieden werden, dadurch, dass Ungleichgewicht entsteht, beginnen Kräfte zu wirken. Dieses Ungleichgewicht kann aber nicht von innerhalb unserer Welt kommen, weil diese voll und ganz von Adanos’ Satz des Gleichgewichts bestimmt ist. Sie müssen von außen kommen. Darum sind Innos und Beliar nicht Teil dieser Welt. Oder sagen wir besser so: Weil Innos und Beliar nicht Teile dieser Welt sind, kann die Welt so sein, wie sie ist: Ein Ort, in dem Leben möglich ist.”
    Saturas war von Fleddeligs Ausführungen elektrisiert. Die Perspektive der Goblins auf die Welt, auf die Götter und deren Wirken war einzigartig. Eintausend Jahre lang hatten sie das Wissen des alten Jharkendar überliefert und weiterentwickelt. Und nun war es IHM bestimmt, daran teilzuhaben.
    Dennoch: “Das Problem einer genauen Bemessung von magischer Kraft bleibt aber bestehen. Körper lassen sich vermessen. Man kann ihr Gewicht durch ein Gegengewicht feststellen, man kann einen Maßstab an sie legen. Aber wie soll das mit Magie gehen? Wir können Magie nicht sehen oder berühren. Wir können sie nur intuitiv erspüren. Und damit wäre eine Ausmessung von Magie doch nur ebenso präzise, wie die Bestimmung der Temperatur einer Flüssigkeit. Also sehr subjektiv und ungenau. Das Problem ist also ein praktisches. Wie löst Ihr das?”
    Fleddelig nickte: “Für viele Phänomene sind präzise Messgeräte erforderlich. Temperatur messen wir mit einfachen Apparaten, in denen Quecksilber enthalten ist. Bei höheren Temperaturen dehnt sich das Quecksilber aus. Wir müssen dann nur noch durch eine Skala das Volumen des Quecksilbers einem bestimmten Wert zuordnen, und schon können wir Temperaturen genau und objektiv bestimmen. In diesem Falle übersetzen wir Wärmeenergie in eine spezifische Länge. Letztlich kann man mit den richtigen Methoden dasselbe auch mit Magie. Es gibt genügend magische Kristalle, welche auf magische Wirkungen physische Reaktionen zeigen, indem sie zum Beispiel in einer bestimmten Farbe leuchten. Ein jeder Zauber stellt eine bewusste Übersetzung dar, indem er einen Zusammenhang zwischen magischen Strömen und körperlichen Ereignissen herstellt. Es lassen sich eigens Zauber wirken, welche bloß dazu dienen, das Maß an magischer Energie für einen anderen Zauber sichtbar zu machen. Zum Beispiel, indem ein Lichtzauber seine Helligkeit variiert. So kann man objektive Messungen durchführen, die zu genauen Zahlenwerten führen.”
    “Wenn es also möglich ist, Zauberei mathematisch darzustellen… dann kann man also magische Forschungen betreiben, ohne zu zaubern. Man könnte auf mathematischem Wege neue Zaubersprüche errechnen?”
    Fleddelig grinste. “Exakt. Einige unserer besten Magietheoretiker waren nicht einmal magisch begabt.”
    Wenn das stimmte, was dieser Goblin sagte, erschlossen sich ihm und den Wassermagiern völlig neue Möglichkeiten.
    “Warum genau empfindet Ihr unsere Runensteine als derart interessant? Sie engen doch die Möglichkeit zu zaubern ein. Eine Rune kann nur eine ganz bestimmte Wirkung erzeugen und oftmals sogar nur mit einem festen Wirkungsgrad.”
    “Das mag sein. Doch ist uns aufgefallen, dass sie unglaublich effizient sind. Ihr betrachtet sie als Eingrenzung Eurer Möglichkeiten, weil Ihr nicht so flexibel zaubern könnt, wie wir. Doch sind magische Runen ein außerordentliches Beispiel dafür, wie Materielles und Immaterielles zusammenwirken, und sind beispiellose Instrumente magischer Einflussnahme. Wir können größere Mengen magischer Kraft nur schwer kontrollieren. Das braucht große Disziplin und Konzentration. Mit Runen ist das aber sehr leicht, GERADE weil sie nicht nur die Wirkungsart, sondern auch oft den Wirkungsgrad genau bestimmen. Zauberrunen sind sozusagen eine Schnittstelle, mit der wir Sterblichen auf die Magie Einfluss nehmen können. Darum bin ich mir sicher, dass Eure Runenmagie in der biblurschen Experimentaltheologie eine revolutionäre Wirkung haben wird. Umgekehrt könnten unsere Kenntnisse Euch von ebensolchem Nutzen sein. Habt Ihr vielleicht schon einmal daran gedacht, dass dieses Missgeschick mit der magischen Barriere, von der Ihr uns berichtet habt, mit präzisen Kalkulationen vermeidbar gewesen wäre?”
    Der Goblin hatte Recht. Wenn ein Runenstein einen Zauber sowohl in der Wirkungsweise als auch in dessen Stärke bestimmte, war über die Runen nicht nur Zauberei möglich. Grundsätzlich wäre damit auch möglich, magische Energieströme exakt zu bemessen. Wie blind sie doch alle gewesen waren, wie dumm seine Einwände! Und jetzt verstand er auch, welche Möglichkeiten Fleddelig in den Runensteinen verborgen sah: In Form der Runensteine hatten sie immer schon präzise Messgeräte gehabt. Sie hatten die Möglichkeiten der Runenmagie nur aus einem viel zu engen Blickwinkel betrachtet.
    Jharkendar war ein Glücksfall für seinen Orden! Niemals zuvor hatten sich den Wassermagiern derartige Möglichkeiten geboten. Saturas war überzeugt, dass das Potenzial der Kenntnisse Fleddeligs und der anderen Goblins noch gar nicht absehbar war. Gemeinsam würden sie Magie und Zauberei revolutionieren. Und er, Saturas, würde an dieser Revolution des Denkens teilhaben!
    Geändert von Sir Ewek Emelot (10.09.2013 um 08:49 Uhr)

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    Khorinis’ neuer Gouverneur



    Die Seereise steckte ihm noch immer in den Knochen. Seine Erwartungen bezüglich der Segelkunst der Goblins im Allgemeinen ebenso wie über Jannaleiks Eignung als Admiral im Besonderen hatte sich auf höchst unangenehme Weise bestätigt: Nach den erfolgreichen Verhandlungen mit den Orks war die Rückkehr nach Khorinis zu einem Fiasko geworden.
    Andre hatte schon öfters Schiffsreisen unternommen. Er hatte dabei auch den ein oder anderen Sturm erlebt. Doch nichts war auch nur annähernd so schlimm gewesen, wie das jämmerliche Versagen der Biblur-Flotte angesichts des mickrigen, kleinen Unwetters, das sie bei der Rückfahrt überrascht und sowohl die Schiffe als auch die Mannschaften der Goblins heillos überfordert hatte. Nachdem die “Schnuffel” schließlich gekentert und Jannaleik am Ende seines Jharkendarisch angelangt war, hatte Andre das Kommando übernehmen und eine Notrettung koordinieren müssen, um wenn schon nicht die Schnuffel selbst, so doch zumindest die Besatzung zur Insel zurückzubringen.
    Letztlich waren eine schlagseitige “Wuschelschaf der Meere” und eine um einen Mast erleichterte “Bunter Schmetterling” mit dafür aber jeweils um die Hälfte größerer Besatzung, in den Hafen von Khorinis eingelaufen.

    Und doch: So schlimm die Fahrt auf den Seelenverkäufern von Goblinkähnen auch gewesen sein mochte, so wünschte sich Andre doch dorthin zurück. Ein Schlachtfeld, ein überfülltes Seuchenhaus, eine Grube voller Dämonen - alles wäre ihm lieber als die Situation, in der er sich nun wieder fand!
    Was für eine Schmach! Welch Demütigung für König und Reich, seinen Orden und nicht zuletzt ihn selbst! Hatte er nicht einen Lehnseid geschworen? War er nicht Ritter des Königs? Im Grunde beging Andre Hochverrat.
    Andererseits: Lord Hagen selbst hatte ihm alle Vollmachten übertragen. “Beschütze die Insel und ihre Bewohner vor den Orks und den finsteren Schergen Beliars - um jeden Preis!”, hatte er ihm befohlen, “von nun an bist Du… nein, seid IHR der Lord-Protektor von Khorinis, Bevollmächtigter der Krone. IHR seid verantwortlich für die Sicherheit der Menschen. Enttäuscht sie nicht!”
    Ja, Andre hatte einen Rittereid geleistet. Auf das Reich und den König. Doch wo war der König? Existierte das Reich noch? Die Berichte von den wenigen Schiffen, die in den letzten Wochen in Khorinis angelegt hatten, ließen nichts gutes hoffen. Der König konnte sein Volk nicht beschützen.
    Die Goblins aber, dieses unwahrscheinliche Königreich Biblur, konnte dies offenbar sehr wohl. Botschafter Garnau HATTE Wort gehalten. Garnau Klaufen, dieser pummelige, schwermütige, kleine…
    “… müsst Ihr also nur noch hier und hier unterschreiben!”, beendete der Botschafter aus Biblur seine Erklärungen bezüglich des Annexionsvertrages. Heute wirkte Garnau wesentlich fröhlicher, als Andre ihn sonst kannte. Garnau Klaufen war seit seinem Amtsantritt als Botschafter in Khorinis im selben Maße dicker geworden, wie sich seine Grundstimmung verdüstert hatte. Doch heute war es anders: Garnau war bester Laune, vergnügt und fröhlich - und ausnahmsweise einmal mümmelte er nicht an irgendwelchen Spezereien. Ausgelassen summend packte er die Dokumente wieder in die Mappe, deren Inhalt er Andre erklärt hatte.
    Der Anblick der Mappe ließ Andre in seinem Sessel zusammensacken. Bleierne Müdigkeit lähmte ihm die Glieder bei dem Gedanken, dass in wenigen Minuten er all dies würde erklären müssen - dem Regierungsbeirat von Khorinis, dessen Mitglieder die Annexion würden ratifizieren müssen.
    Andre wusste nicht, wie er das überstehen sollte. Sein Leben lang hatte er für die Einheit des Reiches gekämpft, und nun spaltete sich die Insel Khorinis unter SEINER Ägide vom Reich ab. Lieber wollte er vor Scham sterben, als vor die Augen des Rates zu treten!
    “Für Euch hätte sich dann alles zum Guten gewendet, nicht wahr, Botschafter?”, sagte er zu dem älteren Goblin, “oder sollte ich ‘Statthalter’ sagen?”
    Garnau runzelte einen Augenblick verwundert die Stirn. Dann glätteten sich seine Züge und er begann keckernd zu lachen.
    Andre verstand den Witz nicht.
    Angesichts von Andres finsterer Miene wurde Garnaus Blick ernster. Ruhig schaute er zu Andre auf.
    “Warum glaubt Ihr, dass ich heute so guter Laune bin?”, fragte er.
    “Weil Ihr alle Eure Ziele erreicht habt und nun eine angemessene Belohnung erhaltet?”
    Garnau schüttelte den Kopf. “Ihr seid ein Ritter. Ein Soldat. Behagt Euch Eure Stellung, Mylord?”
    Andre schnaubte wütend: “Zum Beliar mit dem ‘Mylord’! Lieber wäre ich mit einem Schwert in der Hand auf dem Schlachtfeld als meine Zeit in einer Amtsstube zu vergeuden!”
    Garnau nickte verständnisvoll und zeigte in seinem Goblingrinsen spitze Eckzähnchen. “Ganz genau. Und ich bin ein Wissenschaftler. Ich will forschen oder lehren, publizieren. Wir beide wurden für unsere Ämter ausgewählt, weil niemand besseres zur Hand war. Ich bin ebenso wenig ein Diplomat, wie Ihr ein Gouverneur seid. Aber Ihr seid der ranghöchste Offizier und Ritter des Königs diesseits des Passes, und ich beherrsche Eure Sprache, und kenne die Geschichte Eures Volkes besser als jeder andere in Biblur. Und ich habe den seit tausend Jahren ersten Kontakt zwischen unseren beiden Völkern hergestellt. Ich war also eine logische Wahl, genauso wie Ihr. Aber ich wollte das nie, genauso wenig, wie Ihr. Und wenn Khorinis nun zu Biblur gehören soll, braucht es dann noch einen Botschafter?”
    “Nein”, sagte Andre leise.
    “Ganz genau!”, rief Garnau triumphierend, “und ich werde ganz sicher keinen Posten als Statthalter annehmen! Gruben wird Ihre Majestät hier vertreten, nicht ich. Ich kann endlich wieder das tun, wofür ich geschaffen wurde, meiner Profession nachgehen. Oh, ich habe jetzt schon Daten für ein Dutzend neuer Veröffentlichungen, welche die Wissenschaftswelt in Aufruhr versetzen werden!”
    Andre verstand. Nach der unerwarteten Wendung auf der myrtanischen See war Andre dem Goblin böse gewesen. Er hatte ihm dieses offensichtlich abgekartete Spiel übel genommen, man hätte ihn vorher einweihen müssen! Doch nun, da er wusste, dass Garnau sich bald wieder anderen Dingen zuwenden und ihn, Andre, in all dem Mief von Amtsstuben und Regentschaft alleinlassen würde, überkam ihn eine sonderbare Traurigkeit. Letztlich hatte er Garnau irgendwie lieb gewonnen, und nun würde dieser einfach ersetzt. Andre hätte sich gern für den kleinen Historiker gefreut, doch brachte er keinen Glückwunsch über die Lippen.
    “Muss es wirklich Jannaleik sein?”, fragte er stattdessen müde.
    “Gruben ist ein guter Mann”, entgegnete Garnau, “er war einer meiner besten Studenten, und ich bedaure bis heute, dass er keine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hat. Letztlich wurde er aus ähnlichen Gründen auf seinen aktuellen Posten berufen, wie ich. Ihr habt ja festgestellt, wie gut er Myrtanisch und außerdem Orkisch beherrscht, und seine Leistung bei den Verhandlungen bestätigt, dass die Wahl richtig war. Kaum jemand kennt sich so gut mit Sprache und Kultur der Orks aus, wie er, und genau das wird er brauchen.”
    Andre seufzte. Ihm blieb ohnehin keine Wahl mehr, als die Entscheidungen der Goblins zu akzeptieren.
    “Ich muss los”, sagte er und griff nach der Mappe mit dem Vertrag. Langsam stemmte er sich von seinem Sitz hoch, wappnete sich.
    “Wünscht mir Glück!”, sagte er schließlich und verließ mit entschlossenen Schritten den Raum.

    Das kümmerliche Lichtlein von Andres Entschlossenheit flackerte mit dem jedem Schritt, den er vor den anderen setzte. Doch wäre er kein Ritter, erst recht kein Paladin des Königs und Lord-Protektor von Khorinis gewesen, wenn er dies nicht hätte verbergen können. Nach außen hin trug er eine strenge, finstere Miene, seine Schritte waren kraftvoll und beschwingt, seine Haltung gerade, der Blick nach vorne gerichtet. Er erlaubte sich ein leichtes Zittern der Hände, doch auch dies würde er in Griff haben, sobald er vor die Augen des Regierungsrates treten würde.

    Endlich erreichte er den Sitzungssaal.
    Die meisten Teilnehmer waren bereits anwesend und vorsichtiger Applaus begrüßte den Ritter, den die Anwesenden wohl für den Retter von Khorinis hielten. Larius, der eigentliche Statthalter in Friedenszeiten nickte Andre anerkennend zu. Noch wusste niemand, was genau sich auf der myrtanischen See zugetragen hatte. Bekannt war nur, dass die Verteidigungsflotte zurückgekehrt und die Invasion der Orks verhindert worden war.
    Dass die Magier, Daron vom Kreis des Feuers sowie Myxir von den Wassermagiern bereits zugegen waren, verwunderte Andre ein wenig. Die beiden ließen üblicherweise auf sich warten, und diese Sitzung war sehr kurzfristig anberaumt worden.
    Wie immer saßen die beiden zusammen. Vermutlich hatte Myxir bereits im Vorfeld bescheid gewusst, schließlich steckten der Kreis des Wassers in Jharkendar und die Goblins unter einer Decke. Er hatte den Kollegen vom anderen Orden wohl überzeugt, diesmal zeitig zu erscheinen.
    Ob er Daron auch vom Inhalt der Sitzung unterrichtet hatte? Wohl kaum, sonst wäre der Feuermagier kaum so ruhig gewesen. Ein leichtes Lächeln umspielte Andres Lippen bei dem Gedanken an das Gesicht, das Daron machen würde, sobald er davon erfuhr.
    Doch die Zustimmung der Feuermagier bereitete Andre ernsthafte Sorgen. Sie wäre am schwierigsten zu erringen, schließlich war die Innoskirche eng mit dem myrtanischen Königtum verbunden. Genau darum war die Anerkennung des Vertrages durch die Feuermagier das wichtigste: Es war Andres einzige Hoffnung auf so etwas, wie Legitimation.
    Der einzige des Regierungsrates, der noch auf sich warten ließ, war der Richter. Dafür waren jedoch eine Reihe weiterer Leute im Raum, mit denen Andre nicht gerechnet hatte.
    “Ich dachte, dass wir wieder Beisitzer der Bürgervertretung zulassen könnten”, begrüßte Myxir Andre und erklärte damit die Anwesenheit der größten Handwerksmeister der khoriner Gilden. “Da Ihr und die Flotte aus Biblur die Orks erfolgreich abwehren konntet, sollte die Sicherheitslage eine Beteiligung der Bürgerschaft wieder zulassen.”
    Andre hatte keine Einwände, auch wenn ihn die Eigenmächtigkeit des Wassermagiers ärgerte. Er umrundete den großen Tisch, bis er seinen Platz erreicht hatte. Der Platz, auf dem einst Lord Hagen gesessen hatte, als er der Gouverneur von Stadt und Insel gewesen war. Hagen, der das königliche Heer in das Minental geführt hatte, um das magische Erz für den König zu bergen, aber niemals zurückgekehrt war, sondern Andre mit der Last der Verantwortung allein gelassen hatte.
    Andre legte die Mappe vor sich auf den Tisch und setzte sich.
    Bevor der Richter sich endlich blicken ließ, erregte das Erscheinen des Großbauern Onar noch einiges Aufsehen. Auch der war von Myxir eingeladen worden, wie es schien. Letztlich war die Teilnahme des größten Grundbesitzers nur logisch - erst recht, nachdem Hagens Zug ins Minental zuerst zu einem Waffenstillstand und schließlich einer vorsichtigen Kooperation zwischen Stadt und Großbauern geführt hatte: Viele von Onars Söldnern hatten den Hof verlassen, um als Drachenjäger im Minental ihr Glück zu finden - und waren ebenso verschollen, wie Kommandant Hagen und das königliche Heer. Völlig ausgedünnt waren Söldner und Miliz nun aufeinander angewiesen, um den Pass zum Minental vor einem Angriff der Orks zu schützen. Und die Versorgungslage in der Stadt hatte sich ohne die vielen Mäuler der königlichen Armee erheblich verbessert, so dass die Bauern nicht mehr mit willkürlichen Beschlagnahmungen rechnen mussten. Der Beitritt nach Biblur ging außerdem auch die Grundbesitzer an, deren Vertreter der Großbauer seit je her gewesen war.
    Als endlich alle Teilnehmer erschienen waren, entnahm Andre der Mappe die Papiere, schaute in die erwartungsvollen Gesichter der Runde, erhob sich und begann.

    Andre hatte mit Entrüstung gerechnet, und die bekam er auch. Ein Großteil der Anwesenden zeigte sich angesichts seines Berichtes und der ausstehenden Angliederung an Biblur entsetzt. Lediglich die beiden Magier und der Großbauer Onar blieben ruhig, und ließen nicht erkennen, was sie über die Angelegenheit dachten.
    “Die Orks sind nun weg. Wozu brauchen wir die Goblins also noch? Ihrem Königreich beitreten, das ist doch lachhaft!”, tönte Statthalter Larius und erntete Zustimmung. Einige der Handwerksmeister machten allerdings nicht den Eindruck, als sei ihre Empörung echt. Andre vermutete, dass ihnen letztlich egal war, an wen sie ihre Steuern zu entrichten hatten. Außerdem hatte sich seit der Entdeckung Jharkendars ein wachsender Handel mit Biblur etabliert, von dem die Gilden der Stadt profitierten. Die Goblins waren an allen möglichen Waren aus der Außenwelt interessiert, und boten ihrerseits interessante Spezialitäten an, insbesondere teure Luxusgüter, wie mechanische Uhren oder Kleidung aus dem reißfesten und äußerst bequemen Gespinst der Minecrawler, die von den Goblins als Nutztiere gehalten wurden. Auch der Erzhandel schien durch die biblurschen Vorräte wieder eine Zukunft zu haben. Darum war Andre sicher, dass sich die Handwerker eine Zeit lang zieren würden, um sich nicht dem Vorwurf des Opportunismus auszusetzen, aber der Annexion letztlich nicht im Wege stehen würden.
    Schwieriger war die Sache bezüglich des Großbauern einzuschätzen. Auf der einen Seite machten auch die Grundbesitzer zunehmende Profite durch Lebensmittelexporte nach Jharkendar. Auf der anderen Seite schätzte Onar seine durch die Wirren des Krieges neu gewonnene Autonomie.
    “Großadmiral Jannaleik hat mit den Orks die Entsendung von Botschaftern ausgehandelt. Die Orks sollen eine dauerhafte Botschaft auf der Insel erhalten. Dies soll letztlich auch dabei helfen, die Beziehung zu dem Orkstamm zu verbessern, der im Minental sesshaft ist. Die Orks würden es erfahren, wenn wir uns diesem Vertrag verweigern”, antwortete Andre.
    “Das ist doch nichts als Erpressung durch diese pelzigen, kleinen Mistviecher”, knurrte Larius. Der ehemalige Statthalter hatte wohl gehofft, durch eine Rückkehr zur Normalität sein Amt wiederaufnehmen zu können. Doch ob er seinen Posten auch unter den Goblins behalten würde, war gänzlich ungewiss. Die Ankunft Hagens hatte ihn bereits völlig überraschend entmachtet, es war also kein Wunder, dass er einer derartigen, politischen Umwälzung sehr misstrauisch begegnete.
    “Ohne unsere pelzigen Freunde wäre diese Stadt bereits in den Händen der Orks”, warf Myxir mit ruhiger, leiser Stimme ein, “sie haben uns auf die einzige Art geholfen, die ihnen möglich war, und dafür sollten wir wohl dankbar sein, möchte ich meinen.”
    Viele Köpfe in der Runde nickten zustimmend.
    Endlich hörte Andre das Räuspern, das er seit Beginn der Debatte erwartet und gefürchtet hatte. Daron, der Feuermagier, erhob sich, räusperte sich erneut, wartete, bis er die volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
    Jetzt würde der Moment kommen, wo Andre mit all seinen Bedenken konfrontiert werden würde. Wo er sich als Ritter und Lehnsmann würde rechtfertigen müssen. Es war nicht nur die Autorität der Feuermagier, die er fürchtete. Er würde seinen Mangel an Treue nicht nur ihnen, sondern vor allem sich selbst erklären müssen, und Andre wusste nicht, ob er das konnte. Und wenn nicht, so würde er sich der Tatsache stellen müssen, dass er nichts als ein Opportunist und Hochverräter war.
    “Seit tausend Jahren herrscht der König von Myrtana von Innos Gnaden”, begann Daron. Andre wand sich auf seinem Sitz und fühlte, wie ein Schweißtropfen ihm hinter dem Ohr entlanglief. “Alle Provinzen des Reiches unterstehen dem königlichen UND dem göttlichen Gesetz. Es ist der König, der die heilige Kirche verteidigt, seine Untertanen führt und beschützt. Jeder Fürst, jeder Lord, der ihm den Lehnseid geleistet hat, hat sich zu Gehorsam und Treue verpflichtet. Im Gegenzug dazu bietet der König Schutz und Führung. Gerade ein Ritter, ein Paladin zumal, sollte sich dessen im Klaren sein! Gerade ein Streiter Innos, der sein Leben dem Glauben, der Ehre und dem Reich verpfändet hat, der einen Eid auf die Tugend geleistet hat, muss sich daran halten! Ein Verstoß gegen einen solchen Eid ist unverzeihlich.”
    Andre unterdrückte ein Zittern. Wie sollte er darauf reagieren? Wie sollte er erklären, dass es ihm doch nur um die Menschen ging? Er hatte sich Argumente überlegt, Dinge, die er sagen und einwenden könnte. Sie waren ihm überzeugend erschienen, doch plötzlich fiel ihm nichts mehr davon ein. Sein Verstand war wie leer gefegt, was verblieb, war nichts als das schlechte Gewissen und das Unbehagen, ein elender Verräter zu sein.
    Doch Daron war noch nicht fertig.
    “Gehorsam und Treue gegen Führung und Schutz. So lautet der Lehnseid, so lautet der Vertrag zwischen Krone und Reich, zwischen dem König und seinen Untertanen. Doch wo ist der König von Myrtana in dieser des Reiches finsterster Stunde? Wo ist die Führung, die er den Vasallen und Armeen des Reiches schuldet? Wo der Schutz, der den Bürgern versprochen wurde? Die Orks ziehen plündernd durch die Lande, und kein König hindert sie daran.
    Wir haben das Königtum zu lange als selbstverständlich erachtet. So lange, dass wir seine Ursprünge vergessen haben. Einst waren die Könige nichts als die Ersten unter Gleichen, Anführer, die wegen ihrer Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit von Menschen und Göttern erwählt wurden. Wir haben vergessen, dass die Treue und der Gehorsam zum König nur die eine Seite der Medaille ist, und dass sich mit der Herrschaft nicht nur Rechte, sondern auch PFLICHTEN verbinden.
    Ich frage Euch: Kann Rhobar II diese Pflichten einhalten?
    Ich glaube, dass er das nicht kann. Ich glaube, dass wir es schon zu lange geduldet haben, dass der König seine Pflichten vernachlässigt. Wir haben zugelassen, dass die Könige nur noch um ihrer selbst Willen herrschen. Das Wohl des Reiches, die Gerechtigkeit unseres Herren Innos sind immer mehr in den Hintergrund getreten. Das Ergebnis waren Machtgier und immer neue Kriege. Nicht zum Ruhme Innos’ oder für die Sicherheit des Reiches, sondern einzig aus Eitelkeit und Herrschsucht. Und nun erntet das Reich was es gesät hat.
    König Rhobar hat sein Volk nicht beschützt, er hat es in einen vernichtenden Krieg gerissen. Er hat ihm nicht weise Führung, sondern Tyrannei gebracht.
    Hat ein solcher König unsere Treue verdient? Hat ein solcher König Gehorsam verdient? Kann ein solcher König die Gnade Innos besitzen?”
    Daron richtete seinen Blick nun direkt auf Andre.
    “Ich sehe, dass Euch das Gewissen plagt, junger Paladin. Ich sehe, dass Ihr mit dieser Entscheidung gerungen habt. Das gereicht Euch zur Ehre. Doch habt Ihr die richtige Entscheidung getroffen. Wir müssen in dieser Situation das tun, was für die uns anvertrauten Menschen das beste ist. Wir müssen ihre Sicherheit garantieren, denn sie vertrauen auf uns. Aus diesem Grunde hat der hohe Rat des Feuers von Khorinis entschieden, diesem Vertrag zuzustimmen”, Daron holte eine Schriftrolle aus dem Ärmel hervor, die er in theatralischer Geste empor hielt, “auf diesem Dokument sind die Unterschriften aller drei hohen Magier des Feuers, die auf Khorinis residieren. Die Kirche befindet den Austritt der Insel Khorinis aus dem Reichsverband und die Angliederung an das Königreich Biblur als innosgefällig und gewährt ihrer Majestät, Königin Sabatha II von Biblur hiermit volle Unterstützung, von Innos Gnaden über Khorinis zu herrschen. Alle auf Khorinis verbliebenen Ritter und Paladine werden hiermit von ihrem Eid zu Rhobar II entbunden. Dieser Erlass ist Rechtskräftig im Lichte des Herrn, beschlossen und verkündet im Jahre des Feuers 934 durch seine Eminenz Pyrokar, Primas von Khorinis und Meister der Flamme.”
    Daron setzte sich wieder, nahm sichtlich zufrieden das anerkennende Nicken Myxirs entgegen.
    Andre war baff. Der Feuermagier hatte diese Rede schon lange vorbereitet. Sein Orden hatte alles gewusst, möglicherweise selbst mit geplant.
    Das elende Gefühl, das Andre geplagt hatte, war verschwunden. Es hatte einem anderen Gefühl Platz gemacht: Der Wut.

    Obwohl sich alles besser entwickelt hatte, als Andre erwartet hatte, war er wütend. Erneut hatte man ihn übertölpelt. Warum war er überhaupt Lord-Protektor von Khorinis, wenn ohnedies niemanden scherte, was er dachte, sondern alle ihr eigenes Süppchen kochten?
    Er hätte es sich ja denken können! Natürlich standen Feuer- und Wassermagier miteinander in Kontakt, natürlich würden die Wassermagier keine leichtfertigen Schritte unternehmen, wenn die Innoskirche sich dem entgegenstellen könnte! Andre war ja so blind gewesen! Und niemand war auf die Idee gekommen, ihn einzuweihen.
    Er hatte sich während der Sitzung so weit beherrscht, dass der Vertrag unterzeichnet und die Annexion ratifiziert worden war. Nun war Sabatha II offiziell und von Innos Gnaden Königin von Khorinis, die Stadt und alle Menschen auf der Insel Untertanen der Krone von Biblur. Damit waren die Insel und ihre Einwohner bis auf weiteres vor Aggressionen durch die Orks sicher. Im Grunde konnte Andre mit dieser Entwicklung sehr zufrieden sein. Und doch ärgerte ihn die Art und Weise, wie dies zustande gekommen war.
    Am liebsten hätte er Botschafter Garnau die unterzeichnete Urkunde um die Ohren gehauen, als er in dessen Büro in der Botschaft von Biblur angekommen war. Oder besser: Der ehemaligen Botschaft, denn nun war ja ganz Khorinis Biblur.
    Jannaleik war zugegen, und Andre platzte in ein Gespräch, das die beiden in der keckernden Sprache der Goblins geführt hatten. “Oh, Lord Andre!”, rief Garnau zur Begrüßung, “wir sprachen gerade über…”
    Doch weiter kam Garnau nicht. Andre knallte die Mappe mit dem Vertrag schwungvoll auf Garaus Schreibtisch, so dass dessen Satz durch ein lautes Klatschen unterbrochen wurde. “Da habt Ihr Eure Unterschriften”, fauchte Andre, “ganz Khorinis gehört jetzt zu Biblur.”
    Er wollte sich zum gehen wenden, doch Jannaleik hielt ihn zurück: “Bevor Ihr geht, solltet Ihr vielleicht noch den ersten Beschluss ihrer Majestät, Königin Sabatha, vernehmen! Der Beschluss dürfte Euch sehr interessieren, betrifft er Euch doch persönlich.”
    Andre wandte sich wieder den beiden Goblins zu. Würde man ihn nun seines Amtes entheben? Er hoffte darauf.
    “Für den Fall einer Angliederung der gesamten Insel an Khorinis hat mich ihre Majestät beauftragt, Euch, Andre, Lord-Protektor von Khorinis zum kommissarischen Gouverneur und Statthalter der Krone zu ernennen, bis die Insel erfolgreich in die politischen Strukturen Biblurs integriert wurde. Herzlichen Glückwunsch, Mylord-Gouverneur! Außerdem muss ich Euch widersprechen”, ein Lächeln umspielte Jannaleiks Lippen, “es gehört nicht GANZ Khorinis zu Biblur. NOCH nicht.”
    Geändert von Sir Ewek Emelot (10.09.2013 um 13:19 Uhr)

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    Zurück, der Zukunft entgegen!



    An deren Stimmen erkannte sie, dass ihre Verfolger näher kamen. Sie überlegte, ob sie unter einer der Bänke kriechen oder an den Wanten zum Krähennest heraufklettern sollte, entschied dann aber dagegen: Am Ende würden sie sie ja ohnehin finden, und dann würde sie umso mehr Ärger bekommen. Also wandte sie sich zu der Richtung um, aus der die Stimmen kamen. Sie sah, wie die Verfolger auf das Deck traten, sie bemerkten und dann auf sie zu kamen.
    Gefasst erwartete sie die Häscher, die unerbittlich auf sie zuhielten.
    “Ah, endlich haben wir Sie gefunden”, sagte der vorderste von ihnen. Der Häscher verbeugte sich respektvoll und deutete dann auf einen seiner Begleiter. “Wenn Sie gestatten: Professor Melchior Candidus. Bitte begrüßen Sie Ihren neuen Lehrer, Euer Hoheit!”


    Sabatha II, Königin von Biblur, schreckte aus ihren Erinnerungen hoch, als mäßiger Applaus das Ende der Rede des Abgeordneten anzeigte, der sich soeben für die Schließung des Seefahrtministeriums ausgesprochen hatte. Sabatha ärgerte sich darüber. Es ärgerte sie, in dieser elendig langweiligen Parlamentssitzung gefangen zu sein und eine Debatte über dieses lächerliche Thema über sich ergehen lassen zu müssen. Sie kannte alle Argumente, dafür und dagegen. Daher war ihr diese Debatte völlig überflüssig. Ihren Zorn jedoch erregte eigentlich das Gefühl der Missachtung ihres eigenen Willens in dieser Sache, ihrer überaus entschiedenen, eigenen Meinung, von der sie niemals abzulassen gedachte! Dass diese Angelegenheit überhaupt zur Debatte stand fühlte sich wie ein Angriff auf sie persönlich an.
    Es war vor einigen Monaten gewesen, dass irgendjemand aus der Oppositionspartei sich mit dem Vorschlag meinte profilieren zu müssen, das altehrwürdige Ministerium für Seefahrt und Außenhandel zu schließen. Es sei im 19. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß, einen Minister, Staatssekretäre und überhaupt eine ganze Behörde zu unterhalten, die sich mit der Organisation einer Tätigkeit befassen sollte, welche Biblur seit beinahe tausend Jahren nicht mehr ausgeübt hatte. Biblur hatte keine Schiffe, keine Marine mehr. Das Seefahrtsministerium war völlig ohne ersichtliche Aufgaben. Das einzige, was es für die Bürger des Reiches tat, war die Unterhaltung eines nautischen Museums, das an die alte, glorreiche Zeit erinnerte, mehr jedoch nicht.
    Ein weiterer Abgeordneter erhob sich, um zu sprechen. Sabatha verdrehte die Augen und seufzte tief, und bei dem monotonen Gemurmel, das jener Tropf wohl für so etwas wie eine Rede hielt, begannen ihre Gedanken wieder abzuschweifen…

    Eigentlich hatte Sabatha absolut keine Lust, ihren neuen Lehrer kennen zu lernen. Auf den Unterricht, welcher dem Kennenlernen folgen würde, hatte sie noch weniger Lust. Doch wusste sie, dass ihr nichts übrig blieb, als sich in ihr hartes Los zu fügen. Nun, wie dem auch sein mochte: Das bedeutete keineswegs, dass sie sich ihre Unmut nicht anmerken lassen konnte. Ganz im Gegenteil! Statt eines huldvollen Lächelns setzte sie eine strenge Miene auf und beantwortete die Vorstellung des Lehrers mit einem knappen Nicken. Mordur, der Haushofmeister ihres Vaters, runzelte angesichts ihres kühlen Betragens die Stirn. Gewiss hatte er einen Knicks oder dergleichen von ihr erwartet. Tja, Pech gehabt!
    “Professor Candidus ist einer der renommiertesten Gelehrten des Reiches. Er verfügt über umfangreiche Kenntnisse auf allen für Ihre Bildung relevanten Gebieten. Ihre Eltern erwarten, dass Sie den Professor mit allem gebotenen Respekt behandeln.”
    Der Genannte trat vor und neigte knapp das Haupt. Sabatha fiel auf, dass ihr neuer Hauslehrer doch bei weitem nicht so alt war, wie sie zunächst gedacht hatte. Sein Fell war ungewöhnlich blass, beinahe weiß, so dass er von Ferne wie ein Greis gewirkt hatte. Aus der Nähe jedoch erkannte sie die Züge eines Mannes im besten Alter. Aus hellgrauen, fast farblosen Augen musterte er sie.
    “Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen, Prinzessin”, sagte er ruhig und lächelte wohlwollend. Natürlich war es ihm eine Freude, schließlich war sie ja die Kronprinzessin! Alle Bewohner Biblurs wollten sie kennen lernen. Ein erneutes Nicken signalisierte ihre Kenntnisnahme.
    Candidus schaute sich interessiert auf dem Schiff um. “Dies ist ein interessanter Ort zum spielen”, sagte er.
    “Wie kommen Sie darauf, ich hätte hier gespielt?”, fragte sie.
    Natürlich hatte sie gespielt. Ihr war kein Ort zum spielen lieber, als dieses Schiff. Es faszinierte sie, auch, wenn es noch niemals benutzt worden war und wohl auch niemals benutzt werden würde. Dennoch: Seit ihr Vater sie das erste Mal hierher mitgenommen hatte, hatte dieser Ort ihre Phantasie beflügelt, sie von fernen Gestaden träumen lassen, davon, über das Meer zu fernen Orten zu segeln, Abenteuer zu erleben, neue Länder zu entdecken und mit anderen Zivilisationen in Kontakt zu treten. Sie kam gerne hier her, wenn der Ort für normale Besucher geschlossen war, besah sich die alten Instrumente, die einst für die Seefahrt erbaut worden waren, erkundete das alte Schiff und tat so, als segle sie damit über die Meere, überwinde Stürme und andere Gefahren.
    Aber das musste dieser Professor ja nicht wissen.
    “Dies hier ist doch ein Museum”, sagte sie stattdessen, “ein Ort der Bildung also. Was sonst sollte ich hier also tun, als mich zu bilden?”
    Herausfordernd blickte sie zu ihrem neuen Lehrer auf.
    “Ihre Hoheit interessiert sich also für die Geschichte und die Technik der Seefahrt?”, fragte er. Sie nickte. “Dann können Sie mir doch sicherlich erklären, worauf wir gerade stehen!”
    Ein Grinsen überzog Sabathas Gesicht. Der Lehrer wollte also spielen.
    “Wir stehen auf Holz”, sagte sie und unterdrückte ein Kichern.
    Doch der Lehrer ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: “Was für Holz?”
    “Khoriner Lärche.”
    Melchior deutete auf den Mast, an dem Sabatha stand: “Was ist das?”
    “Ein Mast.”
    “Genaue Bezeichnung?”
    Sie verdrehte die Augen. “Der Fockmast.”
    “Funktion?”
    “Manövrierhilfe und Stabilisierung des Schiffskurses.”
    “Falsch.”
    Sabatha stutzte. “Wohl! Das Focksegel diente dazu, das Schiff besser steuern zu können!”
    Melchior lächelte triumphierend: “Ganz recht: Das FockSEGEL diente dazu. Ich fragte nach der Funktion des Mastes, nicht der des Segels.”
    Sabatha wollte gegen diese Spitzfindigkeit protestieren. Doch sie hielt inne. Sie selbst hatte eine ähnliche Pedanterie an den Tag gelegt, um ihren Lehrer zu verunsichern.
    “Wie lautet der Name des Schiffstypen, auf dem wir uns befinden?”, fragte Melchior weiter.
    “Trireme oder Triere, benannt nach den drei übereinander liegenden Ruderreihen.”
    “Wieviele Ruderer wurden pro Riemen eingesetzt?”
    “Einer.”
    Melchior setzte seine Befragung fort. Das Spiel begann, Sabatha Spaß zu machen, und ihr Respekt gegenüber ihrem Lehrer wuchs, angesichts seiner Kenntnis einer in Biblur doch eigentlich nur wenig beachteten Wissenschaft. Melchior kam vom technischen Aufbau der historischen Kriegsschiffe zu deren Rolle und Bedeutung im jharkendarischen Imperium, berührte die antike Schifffahrt im allgemeinen und kehrte schließlich zu dem konkreten Modell zurück, auf dem sie sich gerade befanden.
    “Bärli”, beantwortete sie die Frage nach dem Namen des Schiffes.
    “Wann wurde sie gebaut?”
    “Die Bestandteile wurden im Jahre 856 unter Königin Sabatha I gebaut. Es war als Geschenk für General Rhademes von der Kriegerkaste Jharkendars gedacht, zur Ehrung seiner ausstehenden Ernennung zum Anführer seiner Kaste. Es sollte Stück für Stück nach Jharkendar gebracht und dort aufgebaut werden, aber der Bürgerkrieg zwischen den Kasten kam dem zuvor. Es ist seither das einzige Schiff, das unsere Marine noch hat, aber weil wir keinen schiffbaren Küstenabschnitt haben, konnte es nie zu Wasser gelassen werden. Stattdessen wurde es hier im nautischen Museum aufgebaut.”
    Melchior nickte anerkennend. “Sie haben gut geantwortet”, sagte er.
    Sabatha war stolz auf sich. “Glauben Sie mir nun, dass ich hier nicht gespielt habe?”
    Melchior lächelte spöttisch. “Nein. Zuweilen aber liegen Spiel und das, was wir Gelehrten als Bildung bezeichnen, näher als man denken mag.”


    Im Gegensatz zu den unerquicklichen Niederungen der Politik zauberte der Gedanke an ihre erste Begegnung mit dem nunmehr alten Professor Melchior ein Lächeln auf ihr Gesicht. Es war ein schicksalhafter Tag gewesen, damals, vor beinahe dreißig Jahren. Er hatte den Grundstein für ihre spätere, politische Tätigkeit gelegt, denn Melchior Candidus hatte ihre natürliche Neugierde genutzt, um sie für Wissenschaft und Forschung zu begeistern. Kein gekröntes Haupt vor ihr hatte sich in so hohem Maße für Bildung und Forschung eingesetzt, wie sie - und keines hatte Bildung und Forschung in so hohem Maße für die Staatskunst zu nutzen gewusst: Ob es nun um systematischen Städtebau, die Entwicklung der Landwirtschaft, Reformen des Lehrplanes oder die Regulierung des Straßenverkehrs ging, in allen Bereichen setzte sie den Politikern Gelehrte zur Seite, auf das diese mit ihrer Expertise die Effektivität aller Maßnahmen gewährleisten könnten.
    Doch von allen ihren Projekten lag ihr keines so sehr am Herzen, wie der Wiederaufbau des Seefahrtsministeriums. Jahrhunderte lang hatte es nichts anderes getan, als sich selbst zu verwalten. Sabatha aber hatte eine Forschungsabteilung daraus gemacht. Sie, und ihr Lehrer Melchior…

    “Aber diese Konstruktion ist doch vollkommen unsinnig”, kommentierte Sabatha Melchiors Entwurf und rümpfte die Nase. Sie fand, dass das Modell ausgesprochen komisch aussah. “Ach? Und wieso, wenn ich fragen darf?” Melchior hatte die Brauen erwartungsvoll gehoben.
    “Es fehlen doch vollkommen die Ruderbänke.”
    “Das ist richtig”, entgegnete Melchior, “doch hat es dafür drei große Masten und mehr als das fünffache der Segelfläche der jharkendarischen Triremen.”
    Sabatha winkte ab, “ja, was die Stabilität beträchtlich reduziert, da der Schwerpunkt viel weiter oben liegt. Und außerdem: Was macht die Mannschaft denn bei Windstille?”
    Melchior lächelte. “Der Rumpf ist wesentlich größer und schwerer, der Kiel des Schiffes ausgeprägter, so dass es sicherer im Wasser liegt. Vor allem aber braucht es nicht zweihundert Ruderer zusätzlich zu weiterer Besatzung, sondern kann stattdessen Ladung oder Geschütze tragen.”
    Ich glaube trotzdem nicht, dass es für die Seefahrt tauglich ist. Es sieht doch ganz anders aus, als die Schiffe, wie wir sie aus den Archiven kennen.”
    “Und? Das bedeutet doch nicht, dass es untauglich ist. Ohne empirischen Test wäre es wohl kaum statthaft, den Entwurf bloßer Vorurteile wegen zu verwerfen.”
    Sabatha schnaubte verächtlich. “Wie entgegenkommend, dass dies nicht möglich ist!”
    Melchiors Augen blitzen auf. “Wieso sollte das denn nicht möglich sein?”


    Sie hatten ihrem Vater den Vorschlag gemeinsam vorgetragen, und dieser hatte sich sofort dafür einnehmen lassen. Schon immer hatte der König den Traum gehabt, Biblur wieder mit der Außenwelt zu vereinen, die engen Grenzen des Reiches zu sprengen, und all jene Wunder zu erkunden, die es dort draußen geben mochte. Er war es gewesen, der jene Sehnsucht nach fernen Ufern in ihr geweckt hatte, und so hatte ihn die Idee, Becken anzulegen, um Maßstabsgetreue Modelle von Schiffentwürfen systematisch zu testen, auf Anhieb begeistert.
    Sabathas strenge Mutter jedoch war der Meinung gewesen, dass dies eitle Spielerei und Unsinn sei, und hatte ihrem Mann diese Idee ausgeredet. Sabatha hatte weitere siebzehn Jahre warten müssen, bevor sie ihrem Vater auf den Thron folgen und ihre Pläne umsetzen konnte: Unter dem Dach des Seefahrtministeriums wurden Materialen auf ihre Tauglichkeit untersucht, unterschiedliche Formen von Schiffsrümpfen erprobt und mit diversen Takelagen experimentiert - alles in verkleinerten Versionen, denn richtige Schiffe konnten sie nicht zu Wasser lassen, vor allem aber deren Bau aufgrund der begrenzten Waldbestände im Reich nicht riskieren. Holz war ein zu wertvolles Gut, als dass es für derlei unwägbare Projekte ausgegeben werden konnte, das erkannte Sabatha selbst in all ihrer Begeisterung.
    Doch ihre Forschungen hatten bereits Früchte getragen! Auf den wenigen Gebirgsseen fuhren in den Sommermonaten Binnenschiffe, und Landsegler erfreuten sich entlang der windigen, bythanischen Küste immer größerer Beliebtheit zu sportlichem Zeitvertreib.
    Doch nun debattierte man über das Ende von all dem. Alleine der Gedanke an diesen anmaßend respektlosen Umgang mit ihrem Lebenswerk erregte den Drang in ihr, jemanden anzubrüllen.
    Doch einstweilen musste sie sich zurückhalten. Sollten diese Schwätzer ruhig reden und ihre albernen Phrasen vortragen! Sie hatte sich ihre Strategie bereits zurechtgelegt und würde ihr Parlament schon nach ihrer Pfeife tanzen lassen, sobald…
    …was war das? Sabathas Blick richtete sich auf das Wasserglas vor ihr. Hatte sie es sich bloß eingebildet? Doch nein: Erneut kräuselte sich die Wasseroberfläche, als werde der Tisch, auf dem es Stand, erschüttert. Doch der war in den Boden des Parlamentssaals eingelassen. Er KONNTE sich also gar nicht bewegen, es sei denn… “Ein Erdbeben?”, stieß Sabatha erschrocken vor.
    Dann brach das Chaos aus.

    Das Erdbeben, welches das Königreich Biblur am 9. Khardimon des Jahres 1856 nach biblurscher Zeitrechnung erschütterte, erzeugte mehr Panik als ernsthaften Schaden, und das Reich kam außerordentlich glimpflich davon. Doch schnell erkannten die Goblins, dass dieses Beben nur der Anfang gewesen war: In den Folgewochen wurde Biblur immer wieder von vereinzelten Beben erschüttert. Das eigentlich besorgniserregende aber war, dass diese immer stärker zu werden schienen, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis diese ernsthaften Schaden anrichten würden.
    Einige Priester waren der Meinung, man müsse sich auf alte, religiöse Tugenden zurückbesinnen. Ein Krisenstab erarbeitete umgehend einen Notfallplan für den Fall, dass die Infrastruktur des Reiches ernsthaften Schaden litte, und man sich des Volkes annehmen müsse. Dessen Stimmung wiederum verschlechterte sich zusehends, während Nervosität und immer unverhohlener auch Angst wuchsen.
    Doch als ihre Berater ihr Ergebnisse über die Untersuchung von Ursache und Ursprung der Beben vorlegten, ergriff von Sabatha so etwas wie freudige Erregung Besitz.
    “Wie Sie dem Bericht also entnehmen können, kommen diese Beben nicht nur aus dem Gebiet des alten Jharkendar, sondern sie werden außerdem auf magischem Wege erzeugt. Darin sind sich sowohl unsere Morgradologen, als auch die Experimentaltheologen einig.”
    Sie blickte in die Gesichter der Runde, ihres versammelten Kabinetts. Die meisten hatten den wissenschaftlichen Erläuterungen nicht recht folgen können, die Quintessenz jedoch hatten sie begriffen.
    Und daher würden sie einsehen, dass es keine andere Möglichkeit gab - und Sabatha würde endlich ihre lang gehegten Träume wahr machen können: Unter Sabatha I war Biblur vor tausend Jahren in die Isolation gefallen. Nun, unter ihrer Regentschaft, unter Sabatha II, würde diese Isolation durchbrochen.
    Es war ihr keineswegs entgangen, dass sich die Katastrophe von Jharkendar in diesem Jahr zum tausendsten Male jährte.
    Wenige Wochen später waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, und unter der Führung des Höhlenforschers Stravisaul Jaklob und des Historikers und Philologen Dr. Dr. Garnau Klaufen brach am 3. Tenkel 1856 eine Forschungsexpedition in Richtung Jharkendar auf - sie sollten die ersten Goblins sein, welche die Grenzen Biblurs seit tausend Jahren überqueren würden.


    Jharkendar, den 17ten Tenkel 1856.
    Ihrer königlichen Majestät gehorsamer Diener,
    Professor Dr. Dr. Garnau Klaufen


    Zu senden Ihrer königlichen Majestät,
    Sabatha II., Königin von Biblur


    Gnädige Herrin!

    Wie Ihre Majestät vor Begin unserer Expedition gefordert hatten, sei Ihrer Majestät hiermit persönlich Bericht über den Fortgang unserer Reise erstattet. Alle Expeditionsteilnehmer befinden sich wohl; desweiteren seien die ehrerbietigen Grüße des Ihrer Majestät wohl bekannten Dr. Albinor entboten, dessen Empfehlung durch Ihre Majestät sich als richtig erwies, waren Ihrer Majestät Lobpreisungen von den vorzüglichen Befähigkeiten des Doktors doch mitnichten übertrieben; Dr. Albinor offenbarte sich als eine ebenso charmante wie fachkundige Begleiterin, deren umfassende Bildung Anlaß zu allerlei erquicklicher Konversation bot.

    Nachdem wir also am 3ten Tenkel mit unseren Tiefenschaben (die Ihre Majestät großzügigerweise aus den königlichen Stallungen zu entbehren sich bereit erklärt hatten) von der Hauptstadt aufgebrochen waren, kamen wir hinlänglich rasch an die Grenzen Biblurs, die wir flugs überquerten, indem wir uns in die Tiefen des Höhlensystems begaben, davon Biblur umgeben ist. Der werte Herr Jaklob vermochte uns mit seinen in früheren Entdeckungsreisen gewonnenen morgradographischen Kenntnissen sicher durch die Tunnel zu geleiten, die dem Morgradologen unserer Gruppe, dem Herrn Dr. Arg (Ihrer Majestät wohl wenigstens dem Namen nach bekannt, hat er sich doch um die morgradologischen Wissenschaften im Reiche sehr verdient gemacht, indem er insbesondere durch präzise Analysetechniken des Gesteins den Bergbau erheblich zu fördern wusste), allerlei interessante Proben zur Untersuchung stellten. Die Tiefenschaben jener Gefilde vertrugen sich prächtig mit unseren Reit- und Packtieren und stellten eine nur geringe Gefahr dar.
    Dr. Arg konnte die Antizipationen der Morgradologen bestätigen: Die Regionen nördlich und nordwestlich des Reiches wurden kürzlich Opfer einer Reihe von Beben, welche das Tunnelsystem innerhalb des Gebirges umgeformt haben. Eine seismologische Erklärung vermochte Dr. Arg nicht zu finden, womit der Verdacht unserer Magierschaft, die Quelle der Beben sei magisch, erhärtet wurde.
    Dennoch konnte Herr Jaklob einige der alten, uns noch aus den Archiven bekannten Stollen, wieder finden und uns sicher in das eigentliche Expeditionsgebiet führen, welches auch das Epizentrum besagter Beben ausmacht. Die dortigen Gebirge sind mit allerlei Erzadern durchzogen, deren bisherige Kartographisierung Ihrer Majestät mit der diesem Bericht beigelegten Karte zugesandt wird.

    Nach 12 Tagen (also am 15ten Tenkel) erreichten wir also die Ausläufer des westlichen Gebirges und vermochten durch einige Stollen der Tiefenschaben die Oberfläche zu erreichen. Den morgradographischen Berechnungen des Herrn Jaklob zufolge hatten wir das nordwestliche Tal unserer Insel, darin einst die untergegangene Nackthautstadt Jharkendar blühte, sicher erreicht, indem wir die östlichen Bereiche der Stadt, den Stollen folgend, südlich umlaufen hatten. Wir verließen die Stollen durch einen Ausgang, der in eine der Schluchten führte, welche den südwestlichen Teil Jharkendars heutzutage zu prägen scheinen. Wenngleich unsere Tiefenschaben die Stollen nur unwillig verließen, konnten wir mit ihnen doch die Felswände erklimmen, und schließlich das einst glorreiche Jharkendar in aller noch verbliebenen Pracht erblicken: Wie wir erwartet hatten machte die Stadt zunächst einen leeren und angemessen ruinösen Eindruck, der von der einstigen Dekadenz der Nackthäute zeugte.
    Dieser Eindruck jedoch, wie wir bald feststellten, mag durchaus trügerisch sein.

    Wir richteten unser Lager in einem großen, gut erhaltenen Pyramidenbau ein, der über der Schlucht emporragt und sich seinerseits an eine der Felswände schmiegt, welche das Tal an den meisten Stellen zu umgrenzen scheinen. Im Innern des Baus, der offenbar sakrale Funktionen hatte, konnte ich sogleich mit meiner Arbeit beginnen, einige der Inschriften zu transskribieren, welche die Wände öffentlicher Jharkendarbauten, Hieroglyphen gleich, zu zieren pflegen. Es muss sich offenbar um eine Art Gildehaus einer Kaste von Ahnen- oder Totenwächtern gehandelt haben, sofern mich meine altphilologischen Kenntnisse nicht trügen.
    Im Innern konnten wir Spuren eines offenbar nicht allzu weit zurückliegenden Kampfes entdecken; es fanden sich einige zum Teil schon stark verwesende Leichen. Obwohl sie mit dem überaus schwülen Klima in der Stadt nicht vertraut ist, also keinerlei genaue Daten über dessen Auswirkungen auf den Verwesungsprozess besitzt, vermutet Dr. Albinor, dass der Kampf einige Wochen zurückliegen dürfte. Es handelte sich offensichtlich um Nackthautleichen, ein jeder beinahe doppelt so groß, wie ein ausgewachsener Mann. Dr. Albinor sezierte einige der Kadaver und stellte Spuren von Hieb- und Stichwaffenverletzungen fest, die offenbar tödlich waren.

    Diesen Spuren nach zu schließen scheint die Stadt also noch bewohnt zu sein. In den letzten beiden Tagen haben wir vor allem das Lager eingerichtet und uns häuslich gemacht. Der Tempelbau bietet mehr als ausreichend Platz, auch für unsere Schaben, und die Umgebung weist eine üppige Vegetation auf, welche Dr. Albinor zu erkunden sich kaum mehr bezähmen kann. Von der Fauna vermochten wir noch nicht allzu viel zu erblicken, doch dem Lärmpegel nach zu schließen, der das Tal allenthalben erfüllt, muss diese gleichermaßen üppig sein. In den kommenden Tagen werden wir die Gegend zu erkunden beginnen, und mit den eigentlichen archäologischen Ausgrabungen und sonstigen naturwissenschaftlichen Untersuchungen beginnen. Sollte die Stadt tatsächlich noch einander bekämpfende Nachfahren der ursprünglichen Jharkendar beherbergen, werden wir, ob der möglichen Aggressivität dieser Barbaren, umso umsichtiger vorzugehen uns gezwungen sehen.

    Ich werde diesen Brief zweien unserer Helfer mitgeben, welche gemeinsam nach Biblur zurückkehren, und dabei unsere bisherigen Skizzen und Gesteinsproben mitnehmen werden. Anbei liegt zudem eine Liste weiter Bedarfsgüter, welche ich Ihre Majestät uns zu entsenden erbitte; gemeinsam mit adäquatem Ersatz für besagte Boten, auf dass unser Kontakt zu Ihrer Majestät Reich nicht abbreche.

    So schließe ich nunmehr diesen meinen ersten Bericht mit besten Grüßen und tiefster Verehrung,

    Ihrer Majestät getreuer Untertan,

    Prof. Dr. Dr. Garnau Klaufen.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (04.05.2014 um 10:55 Uhr)

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    Falsche Rücksicht



    Andre klappte die Ledermappe zu, lehnte sich mit einem Seufzen in seinem Sessel zurück und legte die Hände vors Gesicht. Eine Weile verharrte er mit geschlossenen Augen in dieser Position, bevor er die Hände auf die Lehnen legte und seinen Blick wieder auf die Mappe richtete. “Agenda zur vollständigen Eingliederung der Insel Khorinis in das politische und gesellschaftliche System des Königreiches Biblur auf Anweisung ihrer königlichen Majestät, Sabatha II, Königin von Biblur und Herrscherin von Khorinis.” Es handelte sich um ein Zwölfpunkteprogramm, welches sich mit irgendwelchen politischen Belangen befasste, die einigermaßen zu verstehen Andre ein Wenig schockierte: Was war nur aus ihm geworden?
    Ein Großteil der Punkte hatte zum Ziel, im von Menschen bewohnten Teil der Insel politische Infrastrukturen und Institutionen zu schaffen, die dem Staatswesen Biblurs entsprachen.
    Andre beschloss, erstmal einmal Pause zu machen.

    Vereinzelte Schneeflocken fielen vom Himmel, und beim Ausatmen bildeten sich kleine Wölkchen. Glücklicherweise jedoch war es nicht allzu kalt, und so schmolz der Schnee, sobald er den Boden berührte. Andre war weitaus Schlimmeres gewohnt: In seiner Heimat nahe Geldern, obgleich bei Weitem südlicher gelegen, pflegte es im Winter sehr viel kälter zu werden, als im milden Klima entlang der myrtanischen Küste oder hier auf Khorinis.
    Andre schlenderte die Straße entlang dem Ausgang des oberen Viertels entgegen. Er kam am ehemaligen Haus der Ritter vorbei. Nachdem die meisten seiner Ordensbrüder in das Minental aufgebrochen waren, hatte es zunächst leer gestanden, bis es den Goblins aus Biblur als Botschaft zur Verfügung gestellt worden war. Nun aber war auch dies nicht weiter vonnöten. Man hatte überlegt, es als Gildehaus der Erzhändler von Khorinis wieder seinem Ursprünglichen Zweck zuzuführen. Jedoch hatte man feststellen müssen, dass das Ausbleiben der Erzlieferungen aus dem Minental die Gilde und die meisten ihrer Mitglieder in den Ruin getrieben hatte: Zu viel Vertrauen hatte man in den Erzhandel gehabt, und einer platzenden Blase gleich hatten sich die fetten Handelsgesellschaften von einem Tag zum andern praktisch in Nichts aufgelöst. Zwar kamen mittlerweile wieder Erzlieferungen aus Biblur, doch kam diese neue Quelle für die meisten der einst reichen Kaufmänner zu spät, zumal der Schiffsverkehr sich erheblich reduziert hatte. Die Erzhändler hatten größtenteils nicht nur ihre Einnahmequelle verloren, sondern auch bedeutende Teile ihres Eigentums: Ihre Schiffsflotten waren entweder vom König für den Krieg konfisziert oder von den Orks versenkt worden (oder beides), und ihre Kontore auf dem Festland waren allenfalls noch theoretisches Eigentum, über das sie angesichts der Kriegswirren jedoch praktisch nicht verfügen konnten.
    Das Naheliegendste war wohl, das Gebäude dem orkischen Abgesandten zu übereignen, sobald der endlich eintraf.
    Andre setzte seinen Weg die prunkvollen aber zusehends vernachlässigten Anwesen des oberen Viertels entlang fort. Kurz vor dem Tor zur Unterstadt bog er links zum letzten Anwesen ein, ein hübscher Bau mit adrettem Vorgarten, über dessen Eingangstörchen in metallenen Lettern “Gerbrandt” stand. Andre wusste, dass dieses Anwesen jüngst eine ähnlich wechselhafte Geschichte wie das ehemalige Gildehaus der Erzhändler durchlaufen hatte: Hatte es bis kurz nach dem Fall der Barriere noch einem gewissen Gerbrandt gehört, so war es kurz darauf in den Besitz eines Kerls namens Diego übergegangen, der jedoch vor beinahe drei Jahren verschwunden war. Seither hatte es leer gestanden - bis der ehemalige Botschafter aus Biblur sich darin eingerichtet hatte.
    Andre klopfte an die Tür, die kurz darauf geöffnet wurde. “Hallo Andre”, empfing ihn Garnau, und machte eine einladende Geste, “schön, dass Ihr mich besucht. Ich ordne gerade mein Material für eine Abhandlung über die myrtanische Sprache. Der systematische Teil über das moderne Myrtanisch sollte in Biblur großen Anklang finden, während Eure Gelehrten wohl der sprachgeschichtliche Teil besonders interessieren dürfte. Ich habe festgestellt, dass…”
    Andre unterbrach den begeisterten Sermon des Goblins und winkte ab: “Bitte nicht! Ich verstehe nichts von solchem Kram”
    Garnau zuckte mit Achseln und winkte seinen Gast herein. “Wie wäre es mit etwas Tee und Gebäck?”, fragte er, als er die Tür hinter Andre geschlossen hatte, und führte seinen Gast in den Salon.
    Andre hatte Garnau schon einige Male in dessen neuer Residenz besucht, doch hatte sich das Innere der Behausung seit seinem letzten Besuch beträchtlich geändert: Garnau hatte zwar nicht alles, aber doch einen Großteil der Einrichtung ausgetauscht. Die meisten Sessel, Stühle und Tische, Kommoden und Ablagen waren mittlerweile an Goblingröße angepasst. Lediglich die Bücherregale hatten sich nicht verändert, sondern waren nur zahlreicher geworden. Um auch an die höher gelegenen Bücher zu kommen benutzte Garnau eine mit Rollen ausgestatte Leiter, die an einem der Regale lehnte.
    “Setzt Euch doch”, sagte Garnau und deutete auf einen von zwei Sesseln vor dem Kamin, dessen Feuer den Raum behaglich erwärmte, “ich mache derweil etwas Tee.”
    Andre nickte nur und sah sich im Raum um.
    Sonderbar. In einer Ecke des Raumes stand ein großer Tannenbaum, geschmückt mit allerlei Tand in Form von Kugeln, Herzchen, Glocken und kleinen Engelsfigürchen, von denen einige Menschen, andere Goblins und wiederum andere Orks darstellten. Andre hatte gewusst, dass auch die Goblins Weihnachten feierten, immerhin hatten diese sich an der Organisation des diesjährigen Weihnachtsfestes in der Stadt mit großem Eifer beteiligt. Doch dass deren Gebräuche denen der Menschen so ähnlich waren, hätte er nicht erwartet. Andre trat an die Krippe heran, und beschaute sich die Figürchen. Er hätte erwartet, dass alle Figuren Goblins darstellen würden, stattdessen war das Innoskind in der Wiege so menschlich, wie in allen myrtanischen Krippen. Doch nicht alle Figuren waren Menschen. Andre nahm eines der Figürchen und betrachtete die kunstvolle und bemalte Schnitzerei.
    “Gefallen sie Euch?”, fragte sein Gastgeber. Andre fuhr herum. Garnau trug ein volles Tablett zu einem kleinen Tischchen, das bei den Sesseln stand, und stellte seine Last ab.
    “Ich habe bemerkt, dass manche der Figuren Goblins darstellen, aber nicht alle”, antwortete Andre.
    “Das mag daran liegen”, entgegnete Garnau, “dass manche Beteiligten Goblins waren, andere hingegen nicht. Ich habe festgestellt, dass Eure Version der Weihnachtsgeschichte nicht ganz zutreffend ist. Interessant, wie dieser Mythos sich in Myrtana entwickelt hat, und als Ausdruck nationaler Zusammengehörigkeit vereinnahmt wurde. Die drei Magier etwa wurden nicht nur zu Menschen, sondern außerdem allesamt zu Feuermagiern. Folglich wurde die Weihnachtsgeschichte in viel stärkerer Weise mit der Innoskirche und damit der myrtanischen Staatskirche verbunden, und dient somit als eine Art Gründungsmythos von sowohl Eurer Religion, als auch Eurer Nation, was sowohl weltliche als auch geistliche Herrschaft göttlich legitimiert. Faszinierend.”
    Andre gefiel nicht, was er hörte. Doch hatte er sich an die trockenen Ausführungen Garnaus gewöhnt, der es sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, in Andre Zweifel an allem zu sähen, woran er glaubte.
    “Soll das hier einer Magier sein?”, fragte Andre. Garnau nickte. “Natürlich. Blaue Robe. Das ist der Wassermagier.”
    “Ich weiß, dass die Wassermagier die Weihnachtsgeschichte auf ähnliche Weise erzählen: Bei ihrer Version waren die drei Magier aus dem Südland jeweils Vertreter eines der drei Kreise der Magie. Allerdings ist das natürlich Unsinn. Dass ein Wassermagier vertreten gewesen sei, das mag ja noch angehen. Aber ein Schwarzmagier? Warum sollte ein Diener Beliars wohl zur Geburt des Leibhaftigen Innos erscheinen, es sei denn, um diesen zu ermorden?”
    Garnau hob belustigt die Brauen. “Gegenfrage: Warum sollte die Zahl der Magier mit der der Götter übereinstimmen, wenn nicht um jeden der Götter zu vertreten? Anders ergäbe die Weihnachtsgeschichte doch einfach keinen Sinn.”
    Andres Blick fiel auf eine weitere Figur. “Ist das ein Ork?”, fragte er. Garnau nickte: “Allerdings. Das ist der Schwarzmagier und Vertreter Beliars. Ein menschlicher Feuermagier, ein Wassermagier der Goblins und ein Schamane der Orks. So wurde diese Geschichte bereits damals, im alten Jharkendar erzählt. Unseren Hypothesen zufolge beschreibt die Weihnachtsgeschichte die Entstehung der tritheistischen Religion, wie wir sie heute kennen. In den Zeiten vor Erscheinen des Messias waren die drei uns heute bekannten Götter bloß Bestandteile der polytheistischen Pantheons der jeweiligen Völker. Der Messias brachte den Sterblichen die Offenbarung der wahren Götter, und stiftete damit nicht nur eine neue, sondern außerdem auch eine allen zivilisierten Völkern gemeinsame Religion, die nun bloß noch drei Götter umfasste, einen aus dem früheren Pantheon jedes der drei Völker. Wir haben zum Teil Quellen über die ursprünglichen Bilder, die sich die jeweiligen Völker über den jeweiligen Gott gemacht haben, insbesondere die Ursprünge des Adanosglaubens sind in Biblur recht gut erforscht. Ich kann Euch gerne entsprechende Fachliteratur zukommen lassen.”
    Andre legte das Figürchen zu den andern zurück. Jedes mal, wenn diese Goblins über Geschichte oder Religion sprachen, bereitete ihm dies ein mulmiges Gefühl, vor allem dann, wenn sie genau das Gegenteil von dem sagten, was er bislang für wahr gehalten hatte. Das lag weniger daran, WAS sie sagten, denn vieles davon kannte Andre bereits von den Wassermagiern und der Adanoskirche. Es lag eher daran, WIE sie es sagten: In vollkommen fester, doch gänzlich emotionsloser Überzeugung, nüchtern und ohne jeden Eifer. Die Wassermagier sprachen in derselben Weise, wie die Feuermagier, deren Kirche Andre verpflichtet war. Ihre Ausführungen waren prinzipiell denen der Feuermagier nicht vorzuziehen, und so verblieben die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Kirchen eine Frage des Glaubens. Damit konnte Andre umgehen. Doch der Ton der Goblins war ein gänzlich anderer: Was sie sagten, wirkte stets so plausibel.
    “Nein danke, lasst gut sein!”, entgegnete er Garnaus Angebot, “lasst uns lieber Tee trinken. Oh, und außerdem brauche ich Eure Hilfe in Bezug auf ein paar Punkte aus dem Eingliederungsprogramm.”
    'In Bezug auf ein paar Punkte'... Andre stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er bereits wie ein Beamter sprach!
    Garnau verzog das pelzige Gesicht zu einem leidenden Ausdruck. Doch wusste Andre, dass der ehemalige Botschafter sich nicht weigern würde: Er hatte Andre versichert, dass der sich jederzeit rat- und hilfesuchend an ihn wenden könne - ein Angebot, von dem Gebrauch zu machen Andre sich nicht einmal dann hätte bezähmen wollen, wenn er es gekonnt hätte.

    Was Andre die meisten Verständnisschwierigkeiten bereitete, war die Idee der Repräsentation, die offenbar alle Bereiche der biblurschen Politik durchwirkte. Zwar hatten die Goblins eine regierende Königin, doch reichte ihnen eine Monarchin samt Kronrat offenbar nicht aus. Stattdessen leisteten sie sich eine ominöse Einrichtung namens “Parlament”, von dem man Andre gesagt hatte, es diene der Vertretung aller Schichten des Volkes und gewähre somit die dauerhafte Legitimität des Staates.
    Den absurden Gedanke, der hinter einer solchen Staatsverfassung steckte, hatte Andre rasch begriffen: Die Goblins verstanden ihren Staat offenbar nicht als Ausdruck der göttlichen Ordnung und des göttlichen Willens, sondern als Ausdruck des Willens aller Bürger ihres Volkes.
    Aber wie sollte das gehen?
    Andre war nun einmal der Vasall und Stellvertreter einer Monarchin, der er zu Treue verpflichtet war. Das war einfach, verständlich und vernünftig.
    Die Vorstellung aber, dass er den Willen jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes in Khorinis vertrat, war vollkommen absurd. Dafür waren die Interessen der einzelnen Menschen doch viel zu unterschiedlich! Einer der Hauptpunkte der anstehenden Agenda bestand etwa in der Einrichtung eines öffentlichen Schulsystems. Andre wusste natürlich, dass eine gute, schulische Bildung für Angehörige des Handwerksstandes und des gehobenen Bürgertums von unerlässlicher Wichtigkeit war.
    Anders sah es jedoch bei einfachen Tagelöhnern, Knechten oder Bauern aus: Wie sollten die denn die Arbeitskraft ihrer Söhne und Töchter entbehren, nur damit die Dinge lernten, die für das Bestellen eines Feldes gar keinen Nutzen brachten?
    “Die zureichende Bildung sämtlicher Reichsbürger ist schon vom Standpunkte der Möglichkeit zureichender Repräsentation erforderlich, da diese in Form sinnvoller, parlamentarischer Tätigkeit ohne jene doch gar nicht denkbar wäre”, hatte Jannaleik Andres Einwände beantwortet. Das war natürlich grandios: Jetzt sollten die Bauern nicht nur der Arbeitskraft ihrer Sprösslinge entbehren, sondern sich außerdem noch um Politik kümmern. Angesichts derart absurder und inkonsequenter Aufgabenverteilungen war es wahrlich kein Wunder, dass die Goblins sich seit tausend Jahren buchstäblich nicht von der Stelle gerührt hatten. Auf Andres ernsthafte Frage, ob denn Minister und Adel gelegentlich Felder bestellen müssten, hatte er bloß verständnislose Blicke geerntet.

    “Diese Wahl der Abgeordneten gefällt mir nicht”, teilte er Garnau mit, nachdem er an seinem dampfenden Tee genippt hatte. “Es ist ja schön und gut, wenn Kirche, Adel und Zünfte ihre Vertreter schicken können. Aber dass das gemeine Volk sich in völlig gleicher Weise an den Wahlen beteiligen kann, ist gefährlich.”
    Garnau runzelte die Stirn. “Inwiefern sollte das gefährlich sein? Die Wahlen laufen nach einem fairen Verfahren ab, und am Ende ist sichergestellt, dass auch ‘das gemeine Volk’, wie Ihr sagt, angemessen Gehör findet.”
    “Das Volk ist doch überhaupt nicht dazu in der Lage, einzusehen, was gut für es ist und was nicht. Das kann man doch hier hervorragend sehen: Sowohl Stadt- als auch Landbevölkerung dürfen ihre Abgeordneten zu Eurem komischen Parlament nach Biblur schicken. Schön und gut. Und wer hat die besten Chancen, zu gewinnen? So, wie es aussieht, sind das Onar für die Land- und Lehmar für die Stadtbevölkerung. Der Großbauer und der Wucherer. Toll! Zwei Leute, denen nicht im Traum einfallen würde, die ‘Interessen des Volkes’, wie Ihr das immer so schön sagt, zu vertreten. Die wollen beide doch nur Macht und Einfluss.”
    Garnau zuckte mit den Schultern. “Wenn sie ihre Aufgabe nicht ordentlich ausführen, werden sie beim nächsten Mal eben abgewählt.”
    “Trotzdem! Musste es wirklich nötig sein, Onars Wahlkampf auch noch zu fördern?”
    Das war es letztlich, was Andre am meisten irritiert und geärgert hatte: Jannaleik hatte bewusst die Nähe des Großbauern gesucht, ihn zu der Teilnahme ermuntert, ihn beraten und ihm geholfen - eine Eigenmacht, die Andre erneut von Jannaleiks Treulosigkeit überzeugt hatte.
    “Ihr mögt den Großbauern nicht?”, fragte Garnau.
    “Nein”, antwortete Andre, “er ist ein fetter, reicher Sack, der nur noch reicher und fetter werden will.”
    Garnau nickte: “Das stimmt. Und er ist ein gefährlicher Mann. Er ist willensstark, manipulativ und ehrgeizig. Und vor allen Dingen: Mächtig. Onar würde sich so oder so in die khorinische Politik einmischen. Und mit den Söldnern verfügt er über eine gewisse, militärische Stärke, die nicht hinnehmbar ist.”
    “Warum unterstützt Jannaleik ihn dann?”
    “Weil er ihn neutralisieren will. Jannaleik hält Euch den Rücken frei, indem er dafür sorgt, dass einer der wichtigsten und gefährlichsten, politischen Akteure ins Abseits gedrängt wird.”
    “Ins Abseits? Ich dachte, Euer Parlament sei so wichtig!”
    Garnau grinste: “Natürlich ist es das. Es ist ein Gremium, ohne das viele politische Entscheidungen nicht getroffen werden können. Aber wie viele Abgeordnete werdet alleine Ihr Menschen dorthin entsenden?”
    Andre runzelte die Stirn. “Fünf: Je ein Vertreter für die Kreise des Feuers und des Wassers, einer für die Landbevölkerung und zwei Abgeordneten aus der Stadt.”
    Garnau nickte: “Damit stünde alleine in dieser Konstellation Onars Stimme vier anderen Stimmen gegenüber. Aber das Parlament in Biblur ist noch sehr viel größer. Wieviel Einfluss wird Onar da wohl noch nehmen können? Gleichzeitig entfernen wir ihn damit aus seinem unmittelbaren Einflussbereich: Hier, bei Euch Menschen, ist Onar ein wichtiger Mann. Alle kennen ihn, alle fürchten ihn. In Biblur wird er einfach nur irgendeine Nackthaut sein. Ein Bisschen kurios, aber mehr auch nicht. Dort wird er keinen Einfluss haben, er hat dort keine Beziehungen, kein Vermögen, nichts. Er wird lediglich eine Stimme haben. Und während er als Abgeordneter in Biblur weilt, wird er sich in die khoriner Lokalpolitik nicht einmischen können.”
    Andre dachte eine Weile über das Gesagte nach. So betrachtet schien Jannaleiks Vorgehen durchaus vernünftig. Trotzdem: “Wenn es hierbei darum geht, mir einen lästigen Gegenspieler vom Hals zu schaffen, warum SAGT mir das dann niemand?”
    Garnau schaute Andre einige Augenblicke geradezu in die Augen, bevor er antwortete: “Findest Du, dass dieses Vorgehen Onar gegenüber hinterlistig ist?”
    Andre stutzte einen Augenblick angesichts der plötzlichen Vertrautheit der Anrede, bevor er antwortete: "Was für eine Frage! Ja, natürlich ist es das!”
    “Würdest DU gern hinterlistige Entscheidungen treffen?”
    Andre verstand, was Garnau meinte. Und doch: Er wollte sich nicht derart bevormunden lassen. Diese Goblins wollten ihn als Gouverneur ihrer neuen Besitzungen? Gut, wenn es denn sein musste! Doch wenn er diese unerträgliche Aufgabe nun ausführen sollte, so würder er es zu SEINEN Bedingungen tun!
    "Danke, Garnau", sagte er, "Du hast mir sehr geholfen. Wenn Du mich jetzt entschuldigen würdest... ich habe ein paar Wörtchen mit meinem Sekretär zu wechseln."
    Geändert von Sir Ewek Emelot (04.05.2014 um 22:29 Uhr)

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    Neuer Lehrbegriff vom Walten der Götter und der damit verknüpften Folgerungen in den Naturwissenschaften, vornehmlich der theoretischen Physik


    Zueignung

    Gnädige Herrin!

    Mit diesen meinen an Eure Majestät gerichteten Sätzen hat es eine sonderbare und zwiefach gespaltene Bewandtnis: Auf der eine Seite erstarren meine alten Finger vor untertäniger Ehrfurcht, mir beinahe ihren Dienst versagend, angesichts der Dreistigkeit, sich so keck und unverwandt jener höchsten, weltlichen Macht, dieser meinen Herrin und Monarchin, aufzudrängen.
    Auf der anderen Seite jedoch festigt sich meiner Hände Griff um die Feder wieder in dem Gedanken daran, gewissermaßen als Advocatus der Vernunft, somit aber der göttlichen Ordnung der Natur selbst, aufzutreten, der gegenüber doch alles Werk von sterblicher Hand und selbst die höchste Macht und Würde in der staatlichen Verfassung vor nichts als Tand und niedriges Blendwerk gelten: Vor der Vernunft sind Bauern und Könige gleich, und dem göttlichen Ratschluss, den Gewalten der Natur, dem ewigen Schicksal und der Zeit - meinen Herren, und Deinen! - sind wir doch beide nichts als ehrfürchtige Beobachter.
    In dieser Eigenschaft nun aber möchte ich mit aller Selbstsicherheit mich rühmen, nicht wenig zur Aufklärung und Erforschung jener erhabenen Kräfte und ihrer Gesetze mit dieser hier vorliegenden, kleinen Schrift beigetragen zu haben, die ich Eurer Majestät ob Eurer anhaltenden Förderung, die Ihr den Wissenschaften in Eurem Reiche allenthalben zu erweisen die Güte habt, untertänigst zuzueignen mir die Ehre gebe.
    So verbleibe ich in der Hoffnung, die Lektüre dieser kleinen Abhandlung möge Eurer Majestät Verstand im selben Maßen erquicken, als ich sie dem Fortschreiten der Wissenschaften förderlich zu sein hoffe, die doch im Ganzen Eurer Majestät so sehr am Herzen liegen.

    Jharkendar
    den 23sten Juni
    934 j.d.F

    Eurer Majestät untertänig-gehorsamer Diener
    Saturas, Meister der Welle etc.



    Vorrede

    Die Geheimnisse der Natur in ihrer Gesamtheit zu ergründen, ist dem menschlichen Verstande (man verzeihe mir hier den Ausdruck - ich benutze ihn im allerweitesten Sinne) nicht vergönnt. Gleichwohl strebt er doch diese Erkenntnis an, darum bemüht, sein Wissen beständig zu erweitern, und was er an Wissen aufzuweisen hat, in ein System unter höchsten Prinzipien zu bringen, welches im Ganzen als Weltweisheit oder Naturwissenschaft bezeichnet werden mag. Allein: Mit diesem Geschäfte kann es niemals zu einem Ende kommen, was doch erfordern würde, die gesamte Natur in ihrem Weltganzen, mit Einschließung aller Götter samt ihres Würkens und so gar ihres Wollens, in einem Momente zu überblicken - eine Gnade, die uns wohl in diesem Leben niemals wird beschieden sein.
    Vielmehr nötiget unsere sterbliche Verfassung uns, zu jenem Behufe allerlei Schnipsel und Fragmente dort, wo sie uns zufallen, zusammenzuklauben, und daraus, mehr schlecht als recht, uns ein behelfsmäßiges Verständnis jenes erhabenen Baus, den wir Welt oder (in einem würdigeren und dem Behufe der Wissenschaft angemesseneren Terminus) Natur nennen, zusammenzuzimmern.
    Hieraus nun folgt, dass, soviel uns neue Steinchen zu unserem Mosaik anheim gefallen, so sehr werden wir deren Anordnung neu zu überdenken haben, welches die Naturwissenschaft zu einem Geschäfte beständiger Anpassung macht.
    In diesem Sinne nun kommen dieser Abhandlung zweierlei Aufgaben zu: Erstens sieht sie sich in der Lage, neuerliche Schnipsel den bisherigen hinzuzufügen, die sie aus der besorglichen und systematischen Beobachtung der Natur hat gewinnen können. Zum Zweiten befasst sie sich mit der Einordnung und Verknüpfung jener neuen Kenntnisse in das größere Bild der Wissenschaften insgesamt, so dass sie in allem einen, wie ich hoffe, nicht geringen Beitrag zur Erweiterung unseres Weltwissens leistet.
    Ausgangspunkt dieser Schrift waren eine Reihe von Beobachtungen auf dem Gebiete des Magnetismus - eines bis zum heutigen Tage der Wissenschaft sehr dunklen und kaum erforschlichen Phänomens. Von den hiesigen Beobachtungen ausgehend schreitet diese Schrift hin zu einem neuen Lehrbegriffe vom bipolaren Walten der Götter in der Welt, welches in der Folge einen neuen Begriff der Materie wird nahe legen, wodurch diese Schrift sich schlüßlich zu einer revisionistischen Erörterung des traditionellen Begriffs der elementaren Weltordnung wird gezwungen sehen.
    An dieser Stelle sei auf die Merkwürdigkeit verwiesen, dass einer Zahl von bloß drei Göttern, durch deren Würken der Weltaufbau ward zustandegebracht, der Elemente deren mindesten fünf, zieht man die Magie selbst in Betracht, so gar sechse entgegengestellt und zugerechnet werden. Wie viel einleuchtender muss da ein Theorem sein, welches der physischen Elemente (oder, welches besser zu sagen ist: Der Elementarkräfte) bloß drei veranschlagt!
    Ein jeder Magus aber, oder Naturforscher, der sich gar zu sehr an jenen traditionellen Theoremen der elementaren Ordnung zu halten genötiget sieht, da diese der Wissenschaft doch so lange so gute Dienste geleistet habe, sei folgendermaßen beruhigt: Der Gang der Wissenschaft hebt bei den äußern Erscheinungen der Dinge an, und schreitet beständig in ihre innere Beschaffenheit vor. Indem sie dieses tut, kann sie durch ihre neu hinzugewonnenen Erkenntnisse jedoch niemals jene Anschauungen widerlegen, von denen sie angehoben, und die doch zu jenen im neuen Lichte scheinbar angeklagten Schlussfolgerungen haben führen müssen. Daraus erhellt nun: Dass wir unsere Erkenntnis wohl erweitern, dabei aber das Wissen der Alten nicht etwa auf die Anklagebank verweisen, sich vor den neuen Kenntnissen zu verteidigen. Denn es wäre gar ungereimt, diesem Wissen Falschheit zu veranschlagen, in Bezug auf Erscheinungen, die doch damalen gar nicht gegeben, mithin auch gar nicht Gegenstand jenes Wissens sein können.
    Jene alten Theorien nun aber in EIN System mit den neuen, auf neue Data sich beziehende zu bringen, das ist jene Vornehmste aller Aufgaben des Theoretikers, zu der diese Schrift einen Ansatz wohl zu liefern sich bemüht, was zu vollenden den Ruhm jedoch einem größeren Geiste, als ich es bin, dereinst zufallen mag.

    Jharkendar, Juni 934





    Rezension über die Schrift “Neuer Lehrbegriff vom Walten der Götter und der damit verknüpften Folgerungen in den Naturwissenschaften, vornehmlich der theoretischen Physik”


    Die vom hochgelahrten Herren Saturas, Magier des Wassers etc. verfasste uns vorliegende Schrift überrascht keineswegs dadurch, gewisse, insbesondere stilistische Merkmale eines gewissen Herrn Fleddelig aufzuweisen, dessen jüngst erschienenes Werk “Über die Magie der Runen” von der Koautorenschaft unseres hiesigen Verfassers mitnichten Hehl machte. Was Wunder, dass selbiger von seinem Kollegus nunmehr Revanche fordert!
    Mit weit größerer Überraschung aber haben wir bei der Lektüre namentlicher Schrift eine beträchtliche, geistige Unabhängigkeit des Verfassers vom Herrn Fleddelig feststellen können. Weit gefehlt also das Vorurteil, dass da ein arrivierter und wohlbekannter Gelehrter, der in der Wissenschaft sich seine Meriten lange schon erworben habe, einem ‘homo novus’, der da unter seine Fittiche gekommen, gnädige Hilfe hat zukommen lassen! Dass jener Neue indes sich im Stile vom alten Hasen wohl belehren lasse, da er doch von den mitunter dunklen und gar allzu verworrenen Gepflogenheiten unserer akademischen Welt nicht viel wissen kann, dies sei ihm ohne Weiteres zugestanden: In der Sache jedoch, da hat er schon eigne Leistung zu erbringen: Und fürwahr! Dies ist ihm hier in glänzender Weise gelungen.
    Im ersten Hauptstücke seiner Schrift räumt der Verfasser mit altbekannten Auffassungen vom Walten der Götter auf Erden gehörig auf, wobei sich dem geneigten Publikum aus unserm schönen Biblur insbesondere interessante Einblicke in die theologischen Auffassungen der Nackthäute eröffnen. Sodann stellt der Verfasser aus einigen Vorbeobachtungen und unter Rückgriff auf unsere jüngere Physik (die in der wenigen ihm seit der Entdeckung Jharkendars zur Verfügung gestandenen Zeit in so vorzüglicher Weise aufgefasst zu haben durchaus bemerkenswert ist) einen neuen Begriff der Materie auf. Wohlan denn, wie es scheint, haben nicht nur wir alle, sondern auch alle Denker vor uns sich gehörig geirrt: Nicht etwa undurchdringliche Ausgedehntheit sei das vorzügliche Merkmal der Materie, sondern Kräfte, genauer: Kräfte der An- sowie der Abstoßung, womit der Begriff mathematischer durch einen solchen der dynamischen Raumerfüllung ersetzt werde, und überdies die Lehre von den Elementen auf eine grundlegendere Theorie zurückgeführt wird.
    Diesem dynamischen, durch zweierlei einander widerstreitende Kräfte geprägten Materiebegriff folgt die daraus sich ergebende Deduktion eines bipolaren, göttlichen Waltens in der Welt, welches sodann an neuen Beobachtungen aus dem Bereiche magnetischer Phänomene fürderhin bewährt wird.
    Während man nun jene neuen Beobachtungen - deren Exaktheit übrigens jeden Zweifel an der wissenschaftlichen Methodensicherheit des Verfassers auszuräumen weiß - getrost als dem Fortgange der experimentellen, praktischen Physik förderlich ansehen kann, und durchaus sehr neue Erkenntnisse auf nämlichem Gebiete darstellen, so erzwingt doch der neue Begriff der Materie nicht weniger, als eine Revolution metaphysischer Denkungsart selbst, und eröffnet uns nicht etwa bloß neue Kenntnis (wie es der empirische Teil in seinem Bereiche getan), sondern vielmehr einen gänzlich neuen Blickwinkel.
    Die vom Verfasser erbrachten Ausführungen erfreuen den Leser also mit einigem Reichtum an scharfsinnigem Aufschluss, und dürften somit jene Zweifler und Zauderer, die da wider einen Wissensaustausch mit den Nackthäuten warnen, endgültig dem öffentlichen Spotte aussetzen. Der Verfasser der vorliegenden Schrift indes hat sich mit derselben ein warmes Willkommen unter den Gelehrten Biblurs redlich verdient.
    So verbleibt uns, die wir diese Schrift zu lesen das Vergnügen hatten, bloß, auf weitere Werke jenes geistreichen Mannes zu harren, der in der Tat keines “größeren Geistes” (wie er selbst in aller Bescheidenheit sich auszudrücken pflegte) bedarf. Allen andern aber sei die Lektüre dieses vorzüglichen Schriftwerks wärmstens anempfohlen!

    Biblur, den 3ten Sabathon 1859
    Hordan Setrius Gramlich



    Biblur, den 6ten Sabathon 1859
    Von Götter Gnaden Sabatha II., Königin von Biblur
    etc. etc.


    Zuförderst sei unserm lieben und getreuen, hochgelahrten Meister Saturas der allergnädigste und wohlwollendste Gruß unserer höchsten Person entboten!
    Sodann möchten wir unserer Freude über die artige Zueignung jener Ihrer neuen Schrift Ausdruck verleihen, die wir mit großem Vergnügen zur Kenntnis genommen, wogegen wir letztere mit umso größerem Interesse studiert haben.
    In der Tat, eine Zueignung! Für uns! Ob es nun schickliche Scheu sei, an uns, die wir Königin sind, geradezu das Wort zu richten, oder falsche Bescheidenheit was die Werke betrifft, so mussten wir doch zu unserm Leidwesen feststellen, dass kaum je eine solche persönliche Zueignung uns vergönnt ward. Dem Minister für Bildung? Ja, durchaus! Manchem Geheimrat oder Staatssekretär? Allerdings! Dem ein oder andern aus dem hohen Adel, der sich als Mäzen der Wissenschaften hervorgetan? Ganz gewiss! Doch uns, ach schade!, uns nicht. Welch Überraschung also, und welch Freude, dass endlich jemand auf die Gepflogenheiten pfeift! Zwar mag es dem ein oder anderen wohl als allzu schmeichlerischer und dem Königshause in unziemlicher Weise anschmiegsame Handlung erscheinen, allein: Wir mögen Schmeicheleien doch so gern!
    Was nun jene Schrift selbst angeht, so sei Ihnen unser herzlicher Glückwunsch angesichts der nicht bloß wohlwollenden, sondern in der Tat höchst interessierten Kenntnisnahme unserer Gelehrten entboten! Insbesondere aber beglückwünschen wir Sie ob der Aufnahme in unsere Akademie der Wissenschaften sowie zur Verleihung der Doktorwürde, die uns angesichts der Vorzüglichkeit Ihres Werkes mitnichten überraschen konnte (anders, als die Vorzüglichkeit jenes Werkes selbst).
    Wir freuen uns zudem, bereits an dieser Stelle auf die beigefügten Erlasse zu verweisen: Nicht nur haben wir der Übereignung des von Ihrem Orden beantragten Klostergrundes zugestimmt, und Ihnen dabei einen Anteil von 20% aus den Erträgen der angrenzenden Goldminen zugesprochen. Sondern wir beauftragen Sie, lieber Saturas, zudem noch mit der Begründung einer allgemeinen Bildungseinrichtung in unserm schönen, neuen Jharkendar, welche, so hoffen wir, unsern beiden Völkern viele kluge Köpfe bescheren möge. Der Ehre der damit einhergehende Ernennung zum Oberwissensrat dürfte sich zudem noch die Freude eines kleinen Salärs von 300 monatlichen Gulden beigesellen. Aber mehr von diesen amtlichen Dingen in den beigefügten Dokumenten!
    Hier, lieber Saturas, stattdessen Ausdruck unserer kaum zu zähmenden Ungeduld, Sie endlich persönlich kennen zu lernen: Spätestens, wenn wir unsere Bereisung der neuen Besitzungen unsres Reiches endlich antreten!

    Ihnen in Gnade gewogen,
    Sabatha II. R. etc. etc.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (02.09.2013 um 23:38 Uhr)

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    Sonderbare Waffen



    “Ein Kunstwerk?”, wunderte sich Garnau, und strich über das gusseiserne Rohr.
    “Ganz genau”, antwortete Wulfgar und verschränkte die Arme vor der Brust. Offensichtlich interessierte er sich nicht besonders für den Gegenstand, der Garnaus Interesse so sehr geweckt hatte, und hätte sich lieber wieder dem eigentlichen Grund ihres Hierseins oder aber seinen sonstigen Aufgaben gewidmet.
    Die Goblins aber, so schien es, wollten sich damit noch nicht zufrieden geben.
    “Was soll es denn darstellen?”, fragte Jannaleik. Andre seufzte. Zwar hatte auch er sich einige Male über dieses sonderbare Gebilde gewundert, es hatte ihn allerdings niemals so sehr interessiert, dass er danach gefragt hatte. Es war eben immer da gewesen, auf der windumtosten Terrasse der Milizkaserne mit Blick auf das Hafenviertel und die dahinter liegenden Weiten des Meeres.
    “Weiß ich nicht”, antwortete Wulfgar. Er hatte offenbar erkannt, dass die Gesandten aus Biblur ohnehin keine Ruhe geben würden, und fuhr von sich aus fort: “In der Blütezeit des Erzhandels wurde das Ding von einem reichen khoriner Händler aus seinen Fernreisen mitgebracht. Angeblich will er es im fernen Lande Afterfloor erworben haben. Er behauptete, dass es sich um eine afterfloorische Waffe handelt, und machte sie der Stadtmiliz zum Geschenk, um seine Position im Stadtrat zu verbessern. Hat sich aber als Quatsch herausgestellt. Wie man sehen kann, handelt es sich nicht um eine Waffe. Es ist nur ein großes Eisenrohr auf einem Holzgestell mit Rädern. Der Kerl hat sich wohl übers Ohr hauen lassen oder irgendwas missverstanden, vermutlich ist es nur irgendso komische, moderne Kunst oder sowas.”
    Garnau brummte leise, derweil er das Gebilde inspizierte.
    “Bei meinen Spaziergängen um die Stadt herum ist mir aufgefallen, dass genau so ein Ding auch auf einem Plateau in der Nähe dieses faszinierenden Magierturms im Süden der Stadt steht.”
    Wulfgar nickte: “Der Händler wollte partout darauf bestehen, dass das ne Waffe ist, und hat die Alchemisten der Stadt beauftragt, sie ans Laufen zu bringen. Bei dem Kram, den die Alchemisten probiert haben, hat der Stadtrat angeordnet, die Experimente außerhalb durchzuführen. Das Plateau im Süden war gut geeignet: Abgelegen, und die Höhlen in der Nähe gute Lagerorte für das ganze, gefährliche Zeugs, was die Alchemisten ausprobiert haben.”
    “Und?”, fragte Garnau gespannt.
    “Na, nichts und. Hat nicht geklappt. Was sollte da auch klappen? Das einzige, was man damit machen könnte, wäre, es als Rammbock zu benutzen.”
    “Wenn es ein Kunstwerk ist, dann vielleicht eine stilisierte, phallische Plastik?”, mutmaßte Garnau.
    “Phawas?”, fragte Wulfgar.
    “Ein erregtes Gemächt”, warf Andre ein, worauf Wulfgar bloß mit den Schultern zuckte.
    “Die Rollen machen mich ein Bisschen skeptisch. Normalerweise sind Skulpturen nicht zum ständigen Transport gedacht”, überlegte Garnau, “möglicherweise hat es einen kultischen Wert, und wird in Prozessionen eingesetzt. Möglicherweise bei Fruchtbarkeitsfesten.”
    “Oder aber”, sagte Andre, aus Langeweile und um überhaupt etwas zu sagen, “es ist ein Abfalleimer. Darum das Loch am Ende.”
    "Wo liegt denn eigentlich dieses Afterfloor?", wollte Jannaleik wissen.
    "Recht weit im Westen des Kontinents", antwortete Andre, "es ist auf dem südlichen Seeweg oder über ein paar Pässe des westlichen Gebirges zu erreichen. Man weiß aber nur wenig darüber."
    Andre konnte sich denken, dass Garnau nur zu gerne dieses ferne Land besucht und seine Menschen studiert hätte. Über die Blicke der Goblins hinweg, die zwischen ihnen standen und weiter das Eisenrohr betrachteten, wechselte er einen genervten Blick mit Wulfgar, der die Augen verdrehte. Andre zuckte mit den Schultern.
    "Können wir dann?", unterbrach Wulfgar die Kontemplation der Goblins.
    Die entzogen dem interessanten Kunstgegenstand nur unwillig ihre Aufmerksamkeit, um sie auf das Hafenviertel zu lenken, welches sich vor der kleinen Gruppe erstreckte. Jannaleik hatte gemeint, dass die unmittelbare Anschauung eine bessere Grundlage sei, zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen, als das abstrakte Sinnieren aus der Amtsstube heraus. Und kein Ort bot eine bessere Anschauung des Hafenviertels, als dieser hier: Von hier aus konnte man den Verlauf der vielen, engen Gassen verfolgen, die eng gebauten Häuserzeilen, aus denen kaum je ein Gebäude herausragte. Lediglich einige der Handelskontore und Lagerhäuser, die direkt beim Hafen lagen, stachen aus dem verwirrenden Häusermeer hervor, und die Hauptsraße zur Unterstadt war breit und gut befestigt, da auf ihr all die Waren transportiert werden mussten, welche die Insel ein- oder ausfuhr.
    "Da habt Ihr Euch wirklich was ausgedacht", knurrte Wulfgar und spuckte aus, "ich sage Euch, das ist ein Höllenloch. Wir können froh sein, wenn wir Hafen und Hauptsraße ordentlich bewachen können. Aber den Rest des Viertels? Bah! Das Lumpenpack hat den Schutz der Miliz gar nicht verdient und braucht ihn auch nicht. Zeitverschwendung, sag ich Euch! Die lösen ihre Probleme selbst und gut is."
    Andre kannte die Position des obersten Stadtgardisten, der es als seine Aufgabe ansah, den Reichtum der Unterstadt und des oberen Viertels vor dem Pack aus dem Hafenviertel zu bewahren, nicht aber die Räuber und Halsabschneider voreinander. Andre verstand diese Position sogar, denn in der Tat war es kaum möglich, die Ordnung des Gesetzes in den zahlreichen Gassen aufrecht zu halten. Dennoch: In dieser Angelegenheit fanden die Bestrebungen der Goblins sein volles Einverständnis.
    Es könne nicht sein, so hatte Jannaleik argumentiert, dass ein beträchtlicher Teil der Stadt außerhalb des königlichen Gesetzes existieren solle. Es handle sich bei den Bewohnern schließlich genauso sehr um Untertanen der Krone, wie bei allen anderen Bewohnern der Insel auch.
    Damit hatte der ehemalige Großadmiral Andre aus der Seele gesprochen. Innos' feuriges Antlitz strahlte schließlich auf alle Menschen gleichermaßen herab, und so sollte auch seine Gerechtigkeit das Leben aller Menschen bestimmen. Als Paladin war es seine Pflicht, diese Gerechtigkeit auch den Menschen des Hafenviertels zu bringen.
    Nur wie?
    "Wenn man Euch so reden hört, glaubt man kaum, dass Ihr der oberste Gesetzeshüter der Stadt seid", entgegnete Jannaleik. Wulfgar beantwortete den Einwand bloß mit einem Schulterzucken.
    "Es stimmt schon", schaltete sich Andre ein, "unsere Pflicht besteht darin, das Gesetz für ALLE Menschen durchzusetzen."
    Wulfgar schnaubte verächtlich: "Wenn ich die Ordnung im Hafenviertel aufrechterhalten will, brauche ich entweder mehr Männer, oder ich muss Männer von anderen Positionen abziehen. Damit werden weder die Handwerker noch die Pinkel aus dem oberen Viertel einverstanden sein", er nahm die Goblins ins Auge, "oder wie würde es Euch gefallen, wenn Eure Anwesen plötzlich nicht mehr von meinen Leuten bewacht wären, he?"
    Jannaleik wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite: "Das obere Viertel ist hinlänglich ruhig und sicher. Meines Erachtens ist die Konzentration an Wachpersonal übertrieben."
    Wulfgar gab ein bellendes Lachen von sich: "Ha! Das werdet Ihr anders sehen, wenn die Diebstähle wieder ansteigen. Wir hatten schonmal Probleme mit sowas."
    "Wieviele zusätzliche Männer brauchst Du?", fragte Andre den Gardisten.
    Wulfgar überlegte eine Weile.
    "Wenn ich regelmäßige Patrouillen losschicken soll, dann brauche ich mindestens zwei Dutzend zusätzliche Milizsoldaten. Besser drei Dutzend. Ich kann die Leute nicht allein losschicken. Sonst werden die mir totgemeuchelt."
    "Ist man nicht IMMER tot, wenn man gemeuchelt wird?", fragte Garnau, runzelte dabei fragend die Stirn, wurde jedoch von Wulfgar ignoriert. Soweit es den Gardisten anging, hatte der Gelehrte hier ohnehin nichts zu suchen. Es war lediglich Zufall gewesen, dass sein Spaziergang den Weg des Statthalters, dessen Sekretärs und des obersten Stadtgardisten gekreuzt und er sich den dreien spontan angeschlossen hatte.
    "Für so viele Männer fehlt der Miliz aber das Geld", fuhr Wulfgar fort, als sei er niemals unterbrochen worden.
    "Das alleine würde wohl ohnehin nicht reichen", meinte Andre, "wir können das Gesetz nicht GEGEN die Bevölkerung durchsetzen. Wir müssen den Leuten klar machen, dass die Gerechtigkeit Innos' zu ihrem Wohl gereicht."
    "Wie viel Geld wäre denn für die Rekrutierung zusätzlicher Ordnungskräfte erforderlich?", fragte Jannaleik. Was Geldmittel anbetraf, so waren die Goblins aus Biblur recht ahnungslos, da sie den Wert myrtanischer Währung nicht einschätzen konnten.
    "Inklusive Sold kostet jeder Soldat etwa fünf Goldmünzen pro Monat. Das macht dann 120 Goldmünzen für alle zusammen."
    Jannaleik wandte sich an Andre: "Ich bin mir sicher, dass Ihre Majestät monatlich 300 Goldmünzen bewilligen wird. Außerdem sollten wir Wachstuben zur Unterbringung der Sicherheitskräfte einrichten. Die Entscheidung, an welche Stellen diese Wachstuben gebaut werden sollen, überlasse ich Euch. Ihr werdet sie gewiss an den strategisch gebotenen Stellen zu positionieren wissen. Schließlich sollten wir außerdem die Infrastruktur im Hafenviertel bedeutend verbessern..."
    Andre lächelte in sich hinein, derweil der adelige Goblin seine umfangreichen Pläne ausbreitete. Nach dem Gespräch mit Garnau hatte er seinen eigenmächtig operierenden Sekretär einberufen und ihn in seine Schranken weisen wollen. Jannaleik hatte sich davon jedoch wenig beeindruckt gezeigt, wusste er doch die Gunst der Königin hinter sich. Außerdem schien Jannaleik Andre als Politiker nicht ernst zu nehmen. Nun, da hatte er zweifellos Recht. Doch nachdem Garnau ihm klar gemacht hatte, wie Jannaleik vorging, hatte Andre seine Einstellung zu diesen Dingen geändert. Als Soldat war er mit Täuschungsmanövern und Finten durchaus vertraut. Zugegebenermaßen war das Terrain der biblurschen Amtsordnung verworren und schwierig, und hatte man sich grob orientiert, so mochten Sondervorschriften und Ausnahmeregelungen das Gelände nur schwer passierbar machen. Doch als Offizier hatte Andre gelernt, die Gegebenheiten zu seinem Vorteil zu nutzen. Dienstanordnungen und Verwaltungsakte mochten sonderbare Waffen sein, doch Andre würde sie zu führen lernen. Jannaleik ahnte noch nichts, doch Andres Angriff stand unmittelbar bevor.
    "Das ist doch alles Irrsinn!", unterbrach Wulfgar den Sermon Jannaleiks, "Ihr werft tausende von Goldstücken für dieses Gesindel aus dem Fenster, und am Ende kommt ja doch nix bei rum!"
    Jannaleik hob die Augenbrauen und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch kam Garnau ihm zuvor: "Die Dinge sind nicht ganz so einfach, wie sie Euch erscheinen mögen, Obergardist", sagte er mit ruhigem Tonfall an Wulfgar gewandt, "Ihr müsst bedenken, dass diese Menschen durch die Stadtgarde nichts gewinnen. Sie haben nichts, das es zu beschützen gäbe. Stattdessen werden von ihren niedrigen Einkommen noch Steuern eingezogen, um damit die Milizsoldaten zu bezahlen, die ihnen doch nichts bringen. Gruben hat also Recht: Wenn Ihr dafür sorgt, dass sie etwas zu verlieren haben, dann werden sie die Stadtwache willkommen heißen."
    Wulfgar schien nicht überzeugt, widersprach jedoch nicht weiter. Andre wusste, dass er jede Anweisung getreulich ausführen würde. Doch was die Finanzierung anging...
    "Über welche Geldmittel verfügt Biblur eigentlich?", fragte er seinen Sekretär. Jannaleik ließ sein selbstsicheres Lächeln aufblitzen: "Ich fürchte, dass ich Euch diese Frage nicht vollends beantworten kann, Mylord. Lasst es mich so ausdrücken", Jannaleiks Lächeln wurde noch eine Spur breiter, "die Krone verfügt über so viele Geldmittel, wie sie braucht."
    Geändert von Sir Ewek Emelot (19.01.2015 um 17:46 Uhr)

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    Wenn jemand Greg vor sechs Monaten gesagt hätte, dass er einmal für Goblins arbeiten würde, dann hätte er denjenigen ausgelacht. Natürlich hätte er ihm insbesondere die Klinge in den Wanst gestoßen, die Ringe von den Fingern und den Geldbeutel vom Gürtel geschnitten, ihm die Ketten vom Hals und die Goldzähne aus dem Mund gerissen... aber zuerst hätte er ihn ausgelacht.
    Heute sah die Sache freilich ganz anders aus.
    Für Goblins zu arbeiten war nämlich gar nicht mal so übel.
    Sicherlich: Es war nicht gerade eine ruhmreiche Arbeit. Man wurde dadurch nicht besonders berüchtigt, bekam niemanden vor den Rapier und insgesamt gab es eigentlich nicht viel zu metzeln oder zu morden. Aber so blutrünstig Piraten auch sein mögen, so zeichnen sie sich doch insbesondere durch eine ganz bestimmte und herausragende Eigenschaft aus: Durch Faulheit. Das einzige, was die Faulheit eines Piraten noch übertrifft, ist seine Goldgier. Die Goldgier treibt den Piraten dazu, den Grog zügig auszutrinken, den Arsch vom Korbstuhl oder aus der Hängematte zu heben, die Schiffsplanken zu kalfatern, das Schiff zu takeln, die Wanten zu entern und die Segel zu setzen, um auf die raue See hinauszufahren und zu rauben, was dem Ausguck vors Fernrohr gerät. Erst die Gier macht den Piraten blutrünstig.
    Aus diesem Grund alleine hatte sich bislang auch noch niemand aus Gregs Crew über die neuen Oberherrn beschwert. Denn die pelzigen, kleinen Mistviecher mochten zwar dumm wie Seetang sein und die allerelendsten Landratten obendrein, aber mit Gold waren sie ungemein großzügig.
    Und nicht nur mit Gold. Wenn Greg heute in den Spiegel schauen würde, dann würde er einen schmucken Kerl in schnittiger Jacke sehen, ausgestattet mit goldenen Epauletten, goldenen Streifen und Knöpfen und Troddeln. Jacken nämlich waren die besondere Spezialität dieser Goblins. Von ihnen hatte Greg rote Jacken mit goldenem Lamettakram bekommen, blaue Jacken mit silbernem Gezier, und rot-blaue Jacken mit goldenem und silbernem Zierrat. Zu allem hatte man Greg natürlich auch passende Rüschenhemden gegeben, passende Hosen und passende Stiefel, die offenbar aus den Panzern dieser ekligen Minecrawler gefertigt waren. Lebend mochte er die Viecher nicht leiden, aber als Stiefel wollte er sie nicht mehr missen.
    Und alles das wurde schließlich gekrönt durch die Hüte. Er hatte Runde Hüte und Hüte mit drei Spitzen, Hüte mit breiten Krempen und Hüte ohne Krempen, Hüte mit Federn, bestickte Hüte, bunte Hüte, schwarze Hüte. Er hatte für jeden Wochentag einen Hut, und allesamt waren sie prächtig und unterstrichen seine Position.
    Und am Finger trug er einen dicken Ring aus Gold. Wenn er einen Brief mit Wachs versiegelte und den Ring darauf drückte, dann war das ein offizielles Schreiben, mit dem er sich direkt an die Königin dieser Goblins wenden konnte. Oder vielleicht auch an den privaten Sekretär dieser Königin, das wusste Greg nicht mehr so genau. Es war ihm eigentlich auch scheißegal. Der Ring sah gut aus. Er war groß und protzig, glänzte schön und wenn er mit der Hand wedelte, an der ihn trug, dann kuschten die pelzigen Viecher und gehorchten aufs Wort.
    Das beste von allem war aber, dass er sich nun Admiral Greg nennen durfte.
    Es gab also sehr wohl diverse gute Gründe, diese Goblinschlampe, von der er schon so viel gehört, die er aber noch nie gesehen hatte, als Königin zu akzeptieren.
    Und, wenn Greg ehrlich war - aber daran dachte in der Tat nicht so gerne, weil es ihm als Piratenkapitän doch ein wenig peinlich war -, dann gab es natürlich noch einen recht gewichtigen Grund, auf das Seefahren und Plündern zu verzichten: Er hatte nämlich kein Schiff. Und ohne Schiff ließ es sich schlecht zur See fahren.
    Die Goblins waren also genau zur Rechten Zeit gekommen. Und da Greg selbst gar kein Schiff mehr hatte, die Goblins hingegen gerne welche bauen würden, hatte es sich wunderbar gefügt, dass Greg zwar zufälligerweise wusste, wie Schiffe konstruiert wurden, die Goblins dagegen den Fleiß und Elan hatten, auch tatsächlich eins zu bauen.
    Also ließ Greg die Goblins ihn Admiral nennen und Schiffe bauen - unter seiner Anleitung, natürlich!
    Das beste an dem ganzen bestand indes darin, dass er einen winzigen Geheimparagrafen in den Vertrag mit den Goblins eingeschmuggelt hatte. Natürlich stand der nicht auf dem Papier, das er unterschrieben hatte, dann wäre er ja nicht mehr geheim gewesen! Und dieser Geheimparagraf besagte, dass wenn die Goblins ihr Schiff fertig gebaut hätten, Greg seine Manschaft zusammentrommeln, die Goblins um ihre Eingeweide erleichtern und dann die Segel setzen würde.

    So hatten denn die Goblins ihm ein Schiff gebaut. Seine Crew hatte auf den Befehl gewartet, den geheimen Paragrafen endlich zur Anwendung zu bringen. Und der Befehl war nicht gekommen. Das Schiff war ein jämmerlicher Kahn gewesen, von dem Greg schon auf den ersten Blick gesehen hatte, dass er bei jedem höheren Wellengang kentern würde.
    Also hatten die Goblins ein zweites Schiff gebaut. Obwohl die Goblins blöde und vollkommen seeuntauglich waren, hatten sie doch dazugelernt, und das zweite Schiff war schon wesentlich besser gewesen. Zwar hatte es fast genauso wie das erste ausgesehen - ein unbedarfter Betrachter hätte die feinen aber entscheidenden Unterschiede wohl nicht zu erkennen gewusst, bis zu dem Moment, wo das eine Schiff gesunken wäre, das andere dagegen nicht -, aber mit ihm hätte sich Greg zumindest auf eine kleine Spritztour getraut, wenn auch nicht auf längere Kaperfahrt.
    Das dritte Schiff nun hatte sich wiederum als beträchtliche Verbesserung herausgestellt, und von da an hatten die Goblins etwas getan, was Greg nicht erwartet hätte: Sie hatten eigene Änderungen und Verbesserungsvorschläge eingebracht. Das meiste davon war Möwenmist. Ein Teil war aber erstaunlich klug ausgedacht. Und seither hatte Greg beschlossen, dass er sich nicht mit dem ersten, besten seetüchtigen Schiff würde abspeisen lassen, oh nein! Er würde sich von den Goblins das beste Schiff bauen lassen, das jemals gebaut worden war, und DANN würde er den Geheimparagrafen in Kraft treten lassen!

    Zufrieden mit sich und der Welt, die Melodie des Lieds von den 99 Fässern Grog summend, schlenderte Greg vom ehemaligen Piratenlager und heutigen Marinekommandatur des Biblurschen Reiches den frisch befestigten Weg zum Tempel der Wassermagier entlang, wo man ihn vermutlich schon erwartete. Als Admiral sollte er natürlich zugegen sein, wenn sich die Obermotze der Goblins in Jharkendar trafen, denn er gehörte ja jetzt sozusagen zur Obrigkeit dazu.
    Beim großen Tempelplatz angelangt - er war gerade bei der Strophe mit den 99 Dirnen - wandte er seine Schritte auf das Gebäude zu, in dem die Sitzung stattfinden würde, betrat den alten Bau, der inzwischen von allem Pflanzenwuchs und Dreck gereinigt worden war, der sich in ungefähr tausend Jahren angesammelt hatte, und erreichte endlich den Konferenzraum.
    Wie erwartet waren alle andern schon anwesend, und Gregs Blick schweifte die Anwesenden: Der Wassermagier Saturas, ein dicklicher Goblins namens Michel Trauben, der anscheinend sowas wie ein Oberst war, und mit dem Aufbau der Marine betraut war, und Thorus, der Anführer der Banditen, die sich vor einiger Zeit in der Stadt angesiedelt hatten und sich nun aus ähnlichen Gründen der Herrschaft Biblurs fügten, wie Gregs Piraten. Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke in stillem Einvernehmen: Thorus plante ebensowenig wie Greg, sich dauerhaft in den Dienst von Plüschtierchen zu stellen, und so waren die beiden übereingekommen, sich im richtigen Moment gemeinsam abzusetzen. Thorus würde sich Greg mit zwei Dutzend handverlesener Banditen anschließen, sobald der sich des Goblinschiffes bemächtigen würde. Die zusätzlichen Männer konnte Greg gut gebrauchen. Zwar waren die Banditen nur dumme Landratten, die kaum Grog vertrugen, aber es waren ein paar taugliche Kämpfer dabei, und der Rest würde sich schon mit der Zeit geben. Natürlich gab es auch bei der Vereinbarung mit Thorus eine Geheimklausel, derzufolge Thorus eine tiefere Bekanntschaft mit Gregs Rapier machen würde. Thorus' Männer mochte Greg zwar gebrauchen können, ihn selbst jedoch nicht, erfreute sich der ehemalige Sträfling der Minenkolonie doch einer viel zu großen Achtung bei seinen Leuten, und war überhaupt für Gregs Geschmack viel zu kräftig, kampferprobt, willensstark und schlau, als dass er sich den alten Recken als Rivalen hätte leisten wollen.
    Ob Thorus wohl wusste, was Greg plante? Hatte er gar ähnliche Pläne?
    "Scheißegal", grummelte Greg und setzte sich auf seinen Sessel.
    "Wie bitte?", fragte der Goblin namens Trauben, doch Greg winkte ab.
    "Na, können wir dann?", fragte er in die Runde. Es schadete nicht, wenn die Leute glaubten, er habe zu tun. Das ließ ihn wichtiger erscheinen.
    "Natürlich. Bevor Ihr gekommen seid, werter Admiral, hatten wir gerade über mögliche Holzlieferungen nach Biblur gesprochen."
    "Holzlieferungen?" Was denn für Holzlieferungen? Und wen interessierten Lieferungen von anderen Materialien als Gold und Edelsteinen? Und überhaupt: Wieso hatte man die Sitzung schon ohne ihn begonnen? Und noch wichtiger: Bedeutete das, dass er nun weniger Lange hier ausharren musste?
    "Ja, Holzlieferungen. Wie Ihr ja wisst, ist Holz in Biblur ein kostbares Gut, weil wir nur sehr wenige Waldflächen haben. Aber allzu plötzliche Holzlieferungen könnten die biblursche Wirtschaft beträchtlich beeinträchtigen. Dies ist eine überaus wichtige Angelegenheit für das Reich."
    Greg nickte, als ob er verstanden hätte, worum es ging. Saturas dagegen stellte (wie immer) eine Frage. Der Typ musste sich auch wirklich jedes Mal als gelehrter Labersack aufplustern!
    "Inwiefern kann es der Wirtschaft Biblurs schaden, wenn benötigte Ressourcen die Stadt erreichen?"
    "Das liegt daran, dass eine plötzliche Holzschwemme zu einer Inflation führen könnte."
    Saturas runzelte zweifelnd die Stirn: "Inflation? Durch Holz?"
    "Aber ja", nickte Trauben, "unser Währungssystem basiert auf Holz."
    "Ihr benutzt HOLZ als Geld?", wunderte sich Saturas.
    "Ja", antwortete Trauben, und holte zu weiteren Erklärungen aus, "zu Zeiten Jharkendars war es natürlich so, dass wir Gold benutzt haben. Und Silber. Edelmetalle halt. Wir hatten beachtliche Mengen davon, darauf gründete sich unser Einfluss über die Grenzen der Insel hinaus. Aber nachdem Biblur isoliert worden war, hatte sich Gold als Zahlungsmittel als untauglich erwiesen."
    "Gold soll untauglich sein?", wunderte sich Greg. Wie dumm konnten diese Viecher denn sein?
    "Aber ja. Wir hatten nicht nur unsere eigenen Vorräte, sondern auch Jharkendar selbst hatte einen erheblichen Teil seiner Goldreserven in biblurschen Geldhäusern gelagert. Außerdem haben wir zahlreiche Edelmetalladern. All das führte dazu, dass Gold in so rohen Massen vorhanden war, dass es praktisch keinen Wert mehr hatte. Es kam also zu einer schrecklichen Inflation. In den schlimmsten Zeiten kurz nach der großen Flut soll ein Stück Brot über tausend Goldmünzen gekostet haben. Ihr könnt Euch sicherlich vorstellen, wie unpraktisch das war."
    Saturas nickte verstehend, Greg dagegen musste sich bezähmen, über so viel Blödheit nicht laut loszulachen.
    "Und dann habt Ihr Euch für Holz entschieden?", fragte Saturas weiter.
    "Genau. Die damalige Königin, Sabatha I., hatte eine Reihe von Zahlungsmitteln ausprobiert. Es gibt noch immer unterschiedliche Währungen in Biblur, unter anderem auch Gold, mit unterschiedlichen Wechselkursen. Das allgemein verwendete Zahlungsmittel jedoch ist Holz. Es ist hinlänglich beständig, hinlänglich rar und außerdem ist es wertvoll. Und daher scheuen wir uns jetzt, allzu viel unseres Goldes bei Euch Menschen in Umlauf zu bringen, oder aber im Gegenzug zu viel Holz nach Biblur einzuführen. Auf lange Sicht müssen wir natürlich einen Weg zu einer gemeinsamen Währung finden, um den reibungslosen Warenverkehr zu ermöglichen. Daran wird auch schon gearbeitet. Aber derzeit ist die Situation eben noch etwas schwierig."
    "Soll das heißen", fragte Greg, "dass Ihr mir eigentlich noch viel mehr zahlen könntet?"
    Saturas verdrehte die Augen und seufzte schwer: "Greg", den 'Admiral' bekam der Wassermagier nicht über die Lippen, "Du solltest froh sein, dass unsere Freunde aus Biblur ihre Goldreserven zurückhalten. Andernfalls nämlich würde auch Dein ganzes Gold rasch an Wert verlieren."
    "Pah! Wie soll denn Gold an Wert verlieren?" Greg konnte einfach nicht fassen, was für ausgemachten Unsinn diese Gelehrten manchmal in ihren Schädeln ausbrüteten. Gold war IMMER wertvoll. Denn es war Gold. Es war schön. Es war schwer. Es lag gut in der Hand, oder an der Hand, oder am Ohr oder am Hals, je nach dem, wie es verarbeitet war. Man konnte es betrachten oder es als Münze in der Hand halten. Man konnte damit Grog und Dirnen und eine Crew kaufen.
    Doch selbst Thorus schien den Verstand verloren zu haben: "Nachdem diese verflu..." ein Blick zu Saturas ließ Thorus für einen Augenlblick stocken, "nachdem die verehrten Magier die Barriere errichtet hatten, konnten wir in der Kolonie etwas ganz ähnliches beobachten. Nachdem wir die Goldvorräte der ursprünglichen Erzbarone geplündert hatten, verloren die Goldmünzen allen Wert. Stattdessen haben wir dann Erz als Zahlungsmittel benutzt, weil es sowohl vom Alten als auch vom Neuen Lager gegen wertvolle Waren eingetauscht wurde."
    Greg schnaubte verächtlich. Er hatte von Thorus ganz entschieden mehr Hirn erwartet. Was sollte es schon ausmachen, wenn mehr Gold vorhanden war? Es konnte doch gar nicht genug davon geben! Und selbst wenn: Wo diese Idioten ein Problem sahen, sah Greg eine Chance: Wenn zu viel Gold im Umlauf war, bedeutete dies, dass es auch mehr Gold zu rauben galt. Greg würde alles überschüssige Gold rauben und an sich raffen, bis es wieder so rar wäre, dass er sich damit kaufen könnte, wonach auch immer es ihn gelüstete. Und dann würde er es verprassen und wieder zusammenrauben, verprassen und wieder zusammenrauben. Er lachte laut, ignorierte aber die fragenden Blicke, die ihm die anderen daraufhin zuwarfen.
    An dem langweiligen Gespräch beteiligte er sich nicht mehr, es sei denn, ihm wurden konkrete Fragen gestellt. Viel lieber wollte er sich den glanzvollen Plänen für seine Zukunft widmen und sich den künftigen Ruhm und Reichtum in aller Genauigkeit ausmalen.
    Hin und wieder glitt sein Blick zum Stundenglas. Heute zog sich das Gelaber aber ganz schön in die Länge! Greg überlegte schon, unter welchem Vorwand er die Sitzung vorzeitig verlassen könne, als seine Aufmerksamkeit von einer Bewegung am Eingang erregt wurde: Zwei Goblins in schicker Montur betraten den Raum. Der eine war klein, der andere war sehr klein. Greg erwartete, dass man die Eindringlinge für die unangekündigte Störung rügen würde, stattdessen aber war Trauben aufgesprungen und zog ein Gesicht, als habe er eine barbusige Meermaid mit drei Titten vor sich.
    "Aber das ist doch..." Oberst Trauben schluckte, und sank dann auf ein Knie. Er sagte einige Sätze in der für Greg unverständlichen und völlig bekloppt klingenden Goblinsprache, bevor er sich wieder erhob und an die menschlichen Anwesenden wandte: "Meine Herren, ich darf vorstellen: Seine königliche Hoheit, Selindan, Kronprinz von Biblur!"
    Geändert von Sir Ewek Emelot (08.07.2013 um 16:25 Uhr)

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    Folgenschwere Gerichtsurteile



    "Im Namen der Krone und des Volkes von ganz Biblur ergeht nunmehr folgendes Urteil: Der Angeklagte wird in allen Punkten für schuldig befunden..."
    Als der Richter aus Biblur das Urteil verlas, ging ein Raunen durch den Saal. Andre beobachtete, wie Pepe, Knecht auf Onars Hof, in sich zusammensackte und zu schluchzen begann. Den ganzen Prozess über hatte der Schäfer des Großbauern wie ein Häuflein Elend dagesessen, alle Fragen stotternd beantwortet und alles in allem einen ebenso zerknirschten wie unverständigen Eindruck gemacht, hatte beteuert, dass ihn der Großbauer doch schon bestraft habe und dieser neuerliche Prozess doch ungerecht sei.
    Der Richter fuhr ungerührt fort: "Die Strafe des Angeklagten beläuft sich auf drei Jahre Haft ohne Bewährung sowie einer Entschädigungssumme von einem Jahresgehalt des Geschädigten an ebendenselben..."
    Andres Blick wanderte zur anderen Seite des Raumes, wo die andere Partei, Großbauer Onar, den Richterspruch schweigend zur Kenntnis nahm. Andre konnte nur raten, was im Kopf dieses mächtigen Mannes vorgehen mochte.
    Der Richter unterbrach sich kurz, als das Gemurmel im Publikum allzu lautstark wurde, verschaffte sich durch Einsatz seines Hämmerchens die gebotene Aufmerksamkeit, bevor er zum letzten Teil seines Richterspruches kommen konnte: "Aufgrund der eindeutigen Beweislage, der vielfachen Zeugenaussagen sowie dem Geständnis des Angeklagten selbst, erübrigt sich jede Begründung des Urteils. Die fehlende Reue des Angeklagten zeigt einen derartigen Mangel an Schuldbewusstsein, dass das Gericht im vorliegenden Falle dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine Bewährungsstrafe nicht entsprechen konnte. Gegen das Urteil kann binnen zwei Wochen Berufung eingelegt werden. Die Sitzung ist geschlossen."
    Andre wartete das erneute, diesmal schicksalsschwer in die Stille hallende Pochen ab, bevor er sich erhob und sich zum Ausgang wandte. Er hatte gesehen, was zu sehen war. Was nun in dieser Angelegenheit weiter geschah, ging ihn nichts mehr an.

    Nach diesem höchst denkwürdigen Urteil gab es viel zu tun. Als Andre in seinem Arbeitszimmer ankam, ließ er unverzüglich seinen Gast hereinbitten.
    Andre erhob sich, als der ehemalige General den Raum betrat. Lee hatte auf die Rüstung, nicht jedoch auf das Schwert verzichtet. Die Hand lässig auf das Heft gestützt, trat er näher. Andre hatte Lee einmal getroffen, als der noch General der myrtanischen Armee gewesen war. Damals hatte Lee das Musterbild eines königlichen Offiziers abgegeben: Aufrecht, kraftvoll, diszipliniert. Andre fand, dass die Jahre in der Barriere an Lees Erscheinungsbild nicht viel verändert hatten.
    "Das war ja allerhand", begrüßte der Söldnerhauptmann des Großbauern den königlichen Statthalter.
    "Ja, in der Tat", entgegnete Andre, "Dieses Urteil dürfte das Leben so einiger Menschen verändern. Insbesondere hier im Oberen Viertel."
    In der Tat hatte dieser Prozess einen Präzedenzfall geschaffen, mit dem die Goblins aus Biblur neue juristische Maßstäbe setzen würden. Das Urteil würde gewiss in die Rechtsgeschichte von Khorinis, womöglich gar ganz Myrtanas eingehen. Viel wichtiger waren Andre allerdings die unmittelbaren Folgen für die khoriner Politik.
    "Vor allem aber wird sich dadurch nun auch EUER Leben ändern, nicht wahr?"
    Andre wählte bewusst die förmliche Anrede, obwohl er es, streng genommen, bloß mit einem entlaufenen Sträfling zu tun hatte.
    "Müssen wir wirklich um den heißen Brei rumreden? Komm zum Punkt!"
    Andre setzte sich und bedeutete seinem Gast, ebenfalls Platz zu nehmen.
    "Habt Ihr nun irgendwelche Pläne?", fragte er seinen Gast.
    Der schien einen Augenblick zu überlegen.
    "Glaubst Du, dass wir dieses Urteil so einfach hinnehmen werden? Wir haben einen Vertrag. Also werden wir ihn einlösen. Auch, wenn Du es nicht glauben magst: Wir Söldner wissen, was Loyalität bedeutet. ICH weiß, was Loyalität bedeutet. Du und Deine Goblins, Ihr solltet sehr vorsichtig sein, was Ihr tut!"
    Ein Lächeln umspielte Andres Lippen.
    "Wusstet Ihr, dass ich Euch verehrt habe? Als Kind so sein wollte, wie Ihr?", fragte er, "Ja, wirklich. WIR ALLE wollten so sein, wie Ihr. Ihr wart der größte General des Reiches, ein strahlender Ritter, wie er im Buche steht."
    Lees Mundwinkel verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen.
    "Bis ich die Königin ermordet habe. Was für eine Enttäuschung das doch gewesen sein muss!"
    In Wahrheit hatte Andre niemals an die Schuld General Lees geglaubt. Und damit war Andre nicht allein gewesen. Viele Knappen und junge Ritter hatten es nicht glauben können, nicht glauben wollen, als man den Helden Myrtanas, der sie doch alle so sehr inspiriert hatte, eines feigen Mordes für schuldig befunden hatte.
    "Habt Ihr denn die Königin ermordet?"
    Lee hielt Andres forschendem Blick stand. "Spielt das jetzt noch eine Rolle?"
    "Ja. Für mich schon."
    Der ehemalige General zuckte mit den Achseln: "Nein. Habe ich nicht."
    Andre versuchte, zu ergründen, ob Lee log oder nicht. Gewiss: Andre hatte einen der gewieftesten Strategen seiner Zeit vor sich, und dass der sich auch auf Täuschung verstand, hatte er oft genug bewiesen. Doch gab es überhaupt einen Grund, in dieser Sache noch zu lügen?
    "Einst wart Ihr ein großer General, der dem Reich treu gedient hat. Wie ich. Dieses Reich jedoch gibt es nicht mehr. Oder wenn, dann wird es bald untergehen. Wir sind nun Teil eines anderen Reiches. Wollt Ihr wirklich lieber diesem fetten Onar dienen, als derjenigen, der Eure Loyalität nun wirklich zusteht?"
    Lee lachte bellend: "Willst Du mich abwerben?"
    "Euch und Eure Männer."
    Die Augen des einstigen Generals verengten misstrauisch: "Glaubst Du wirklich, dass ich mich noch einmal an eine Krone binden würde? Ich habe das einmal getan und bitterlich bereut. Bei Onar weiß ich, woran ich bin. Ja, er ist ein fetter, alter Sack, dem es um Geld und um Macht geht. Aber er ist ein Geschäftsmann. Darauf vertraue ich mehr, als auf die angebliche Ehre von Königen und Adel. Wenn das alles ist, was Du mir zu sagen hattest..."
    "Diese Goblins sind anders", fuhr Andre dazwischen, "ich kann Eure Gefühle verstehen. Aber ich habe selbst erlebt, wie anders sie sind. Und Ihr könnt nicht behaupten, dass dieses Urteil unfair gewesen wäre! Die neuen Gesetze sind schon seit Monaten bekannt. Dieses Urteil..."
    "Bedeutet nichts!"
    Andre schüttelte den Kopf: "Im Gegenteil. Es ändert alles. Oder glaubt Ihr, dass in einer Rechtsprechung, die solche Urteile fällt, ein Fall wie der Eure damals möglich gewesen wäre? Gerade dieses Urteil muss Euch doch zeigen, wie sehr sich die Goblins von den Herrschenden in Myrtana unterscheiden - und was für eine Chance sie sind."
    Zweifel trat an die Stelle des Trotzes in Lees Ausdruck. "Aber diese Goblins sind hinterlistig. Das ist allgemein bekannt."
    Andre zuckte mir den Achseln: "Sicher. Aber sie haben Prinzipien. Es stimmt, dass sie sich jeden nur denkbaren Vorteil verschaffen - aber nicht auf Kosten der Gerechtigkeit. Und schließlich gibt es da noch ein anderes, sehr stichhaltiges Argument."
    Andre hielt inne, um die Spannung seines Gegenübers zu erhöhen. Seine Strategie trug Früchte: "Was denn?", fragte Lee endlich.
    "Sie sind klug", fuhr Andre fort, "unglaublich klug. Viel klüger als Rhobar."
    "Und? Warum sollte das ein Argument sein, ihnen zu trauen?"
    Ein triumphierendes Lächeln umspielte Andres Mundwinkel: "Weil sie niemals so dumm wären, ihren besten General zu verbannen."


    Dieser Tag war der schrecklichste in Pepes Leben. Es war alles so plötzlich über ihn gekommen: Zuerst die Wachen der Miliz, die ihn auf Onars Hof aufgegriffen hatten. "Du musst mitkommen, das Gericht will Dich sehen", hatten sie gesagt und mit einem Zettel herumgewedelt, den Pepe nicht lesen konnte. Dann der prunkvolle Gerichtssaal, die strenge Miene des Richters, der trotz seiner geringen Körpergröße und dem Goblinfell die Würde des Gesetzes ausstrahlte. Schließlich die peinlichen Fragen, die Pepe beantworten musste, vor all diesen Menschen, die zum größten Teil hohe Leute aus dem Oberen Viertel waren... und nun das Urteil. Nach der Urteilsverkündung hatte Pepe kaum mehr etwas wahrgenommen. Mehr oder weniger willenlos hatte er dagesessen und im Stillen die Ungerechtigkeit dieser Welt beklagt. Ja, er hatte die Schafe seines Herrn nicht zu hüten gewusst. Es hatte in seiner Verantwortung gelegen, und er hatte versagt. Doch dafür hatte ihn Onar doch angemessen bestraft: Er schauderte bei dem Gedanken an die Schläge, die ihm der zornige Onar verpasst hatte. Dass er nun jedoch auch noch dafür ins Gefängnis sollte, das fand er unfair. Was ging es diesen komischen Richter denn überhaupt an, wo doch schon alles geklärt gewesen war?
    Es dauerte eine Weile, bis Pepe wieder zu sich kam, und sich an derselben Stelle wiederfand, an der er schon den Urteilspruch entgegengenommen hatte. Der Gerichtssaal war leer, niemand war mehr anwesend. Pepe wunderte sich. War denn niemand da, der ihn zum Gefängnis abführen wollte?
    Er erhob sich, wandte sich unschlüssig gen Ausgang.
    War es rechtens, sich zu bewegen, oder würde man ihm das als Fluchtversuch auslegen?
    "Hallo?", rief er zaghaft in die Stille hinein. Keine Antwort.
    Schließlich entschied er, sich doch zum Ausgang zu begeben. Die Flügeltür des großen Saales war offen, und es war niemand da, um ihn aufzuhalten. Lediglich ein älterer Mann in einfachem Arbeitskittel, der offenbar mit der Reinigung des Flurs befasst war.
    "Oh, hallo. Noch immer hier? Du bist dieser Pepe, oder?", fragte ihn der Alte, als der ihn bemerkte.
    "J-ja", antwortete Pepe zaghaft.
    "Na, dann gratuliere! Das war ja mal ein Prozess! Nochmal wird sich keiner dieser feinen Pinkel trauen, einen von uns einfachen Leuten zu schlagen! Hah! Dieser Onar hat vielleicht ein Gesicht gemacht, als die ihn abgeführt haben! Wenn der Dir noch Probleme mit der Entschädigung machen sollte: Komm einfach zu mir, ich kenne einen guten Anwalt, der Dir da helfen kann", ein verschwörerisches Zwinkern, "Du solltest jetzt aber wirklich los, das Gebäude wird in ein paar Stunden abgeschlossen."
    Der Alte widmete sich weiter seinem Fußboden, und derweil Pepe der Aufforderung nachkam und das Gebäude verließ, ging ihm etwas durch den Kopf: Die Männer am Morgen hatten gesagt, er müsse vor das Gericht treten.
    Doch ausdrücklich gesagt, dass er verhaftet sei, hatte niemand.


    Nachdem General Lee den Raum verlassen hatte, saß Andre eine weile zufrieden da. Die Dinge waren sehr gut verlaufen, und am heutigen Tage hatte er nicht nur seiner Königin, sondern auch sich selbst einen großen Dienst erwiesen: Lee WAR der beste General, den Myrtana gehabt hatte, und seine Verurteilung mochte der entscheidende Faktor gewesen sein, der das Kriegsglück gewendet und den Untergang des Reiches eingeleitet hatte. Nicht nur Lee, sondern sogar noch dessen Söldner für das Königreich Biblur gewonnen zu haben, würde Sabatha gewiss überaus erfreuen.
    Vor allen Dingen aber freute sich Andre darauf, mit Lee zusammenzuarbeiten. Lee war nicht nur Idol und Held aus Andres Knappenzeit gewesen, sondern vor allem, wie er selbst, Soldat und ehemaliger Paladin des Königs.
    Doch so gerne Andre sich seinem kleinen Triumph hingegeben hätte: Der Tag war noch nicht vorbei, und Andre hatte heute noch einiges zu tun. So nahm er sich eine der Mappen auf seinem Schreibtisch zur Hand, und ließ nach seinem Sekretär rufen.
    "Was für Punkte stehen heute noch an?", begrüßte er Jannaleik mit einer Frage, ohne von seiner Mappe aufzuschauen. Im Grunde hatte er in der kurzen Zeit gar nicht die Möglichkeit gehabt, sich tatsächlich mit ihr zu befassen. Doch indem er möglichst geschäftig wirkte, hoffte er, mehr Eindruck erwecken zu können.
    "Die Freifrau von Trollzacken ist von ihrer Reise zurückgekehrt und erbittet Audienz, um ihren Bericht über die kleinen Goblinstämme außerhalb Biblurs und Jharkendars abzugeben, der Händler Matteo hat einen Termin um halb fünf, in dem er einen Vorschlag der Kaufmannsinnung zur gesetzlichen Regelung der Ladenöffnungszeiten besprechen möchte, außerdem müsst Ihr noch den Bericht an Ihre Majestät für diese Woche unterschreiben, bevor ich ihn abschicken kann."
    Andre nickte, wiederum ohne aufzublicken. "Der Bericht der Freifrau ist von großer Bedeutung und sollte in den Brief nach Biblur aufgenommen werden. Schickt sie als nächstes herein!"
    "Sehr wohl."
    "Oh, und übrigens", endlich blickte Andre auf und sah Jannaleik an, "SO entledigt man sich eines politischen Gegners: Im Gefängnis wird Onar erst einmal keinen Einfluss mehr ausüben können, und ganz nebenbei haben wir der strahlenden Gerechtigkeit Innos' noch zu einem kleinen Sieg verholfen."
    Jannaleik neigte ergeben den Kopf.
    "Ich muss gestehen, dass Gefängnis in der Tat besser ist, als der Sitz im Parlament in Biblur. In einer Sache muss ich allerdings widersprechen."
    Andre hob eine Augenbraue: "So?"
    "Ja, allerdings. Die Gerechtigkeit Innos' kann NIEMALS nebenbei erfolgen. Ihr als Paladin solltet das wissen. Ah, und noch etwas. Ihr solltet Eure Mappe lieber umdrehen, da man sonst nicht so recht glauben mag, dass Ihr sie auch lest."
    Lächelnd verließ Jannaleik den Raum und ließ einen verdatterten Andre zurück.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (27.08.2013 um 22:28 Uhr)

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    Königliche Geheimnisse



    Liebe Königin,

    die jämmerlichen Landratten, die mir... na endlich. Gut so. Jedes Wort sollst Du aufschreiben. Habe ich doch gesagt, oder? Wenn ich sage: 'Schreib auf!', dann schreibst Du auf. Schließlich bin ich ja der Admiral und Du nur ein Sesselpupser. Also, wo waren wir? Achja: Die jämmerlichen Landratten, die mir beim Bau Deiner Schiffe ständig dazwischenfuschen, haben jetzt einen weiteren Pott fertig gebaut, der die Bezeichnung 'Schiff' wirklich mal verdient. Es wird Dich also vielleicht freuen, zu hören, dass es keine ganz so hoffnungslose Ansammlung von Treibholz ist, wie die ersten drei Seelenverkäufer. Da Du selbst eine Landratte bist, verschone ich Dich mit den Details, aber die Arbeit war diesmal wirklich ganz ordentlich. Wenn das so weiter geht, dann wird vielleicht endlich mal was dabei rauskommen, das für eine Kaperfahrt geeignet ist. Weil ich es hier aber nur mit Idioten zu tun habe, die außerdem vor Faulheit ihre... ja, ich will, dass Du das genauso aufschreibst. Was soll denn falsch am Wort 'Ärsche' sein, he? Unterbrich mich nicht ständig, sonst verliere ich den Faden. Die Idioten also kriegen ihre Ärsche nicht hoch und darum brauche ich hier mehr Leute. Vor allem brauchen wir aber mehr von diesem tollen Stoff, Du weißt schon, für die Segel.
    Und wenn Du schon dabei bist: Ein Bisschen mehr Gold könnte auch nicht schaden, das kann ich immer gebrauchen.
    Wenn ich das kriege, dann baue ich Dir ein Schiff, wie Du es noch nie gesehen hast. Falls Du überhaupt schonmal ein richtiges Schiff gesehen hast.

    Gezeichnet,
    Der Admiral Deiner Flotte



    Rathan von Hellich beendete mir einem Räuspern seinen Vortrag und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Auch die Reaktionen der restlichen Kabinettsmitglieder hatte Königin Sabatha mit einigem Vergnügen beobachtet. Die etwas unkonventionelle Art ihres Admirals vermochte ihre Minister offenbar in nicht geringem Maße zu schockieren. Sabatha dagegen hatte recht schnell Gefallen an dieser Nackthaut gefunden, die sich in ihren Briefen stets aufs Neue in ihrer ungeschlachten Blumigkeit und brachialen Poesie übertraf. Ja, Sabatha war derlei ganz und gar nicht gewohnt, und darum mochte sie es.
    Sie war gerade im Begriff, Kanzler von Hellich mit einer spöttischen Bemerkung zu bedenken, als es an der Türe pochte.
    In einem ungnädigen Stirnrunzeln drückte Sabatha ihren Unmut über diese Störung aus, und signalisierte mit unwirscher Handbewegung, dass irgendjemand sich der Sache annehmen solle. Von Hellich selbst eilte zur Tür, wechselte einige Worte mit wem auch immer für das Klopfen verantwortlich war, und begab sich sodann in die Runde zurück.
    "Ein Brief", sagte er an Sabatha gewandt, "der Bote behauptete, dass die Nachricht von äußerster Wichtigkeit sei. Wenn Euer Majestät..."
    "Nun geben Sie schon her!", fuhr Sabatha dazwischen und riss dem Kanzler den Umschlag förmlich aus der Hand. Sie betrachtete das Couvert, welches doppelt versiegelt war: Das eine Siegel stammte offenbar vom Lord-Protektor der Hafenstadt Khorinis. Das andere dagegen war ein Dringlichkeitssiegel aus Biblur und stammte von Botschafter Garnau Klaufen. Ohne dieses zweite Siegel hätte man ihr den Brief sicherlich nicht mitten in einer Kabinettssitzung überbracht. Wenn Garnau den Inhalt der Nachricht für so wichtig hielt, dass sie ihr unverzüglich und persönlich auszuhändigen sei, musste der Inhalt wahrlich brisant sein!
    Mit geschickten Bewegungen erbrach Sabatha die Siegel, entnahm das Pergament, entfaltete es und begann zu lesen. Schon nach kurzer Zeit gab Sabatha einen unwilligen Laut von sich, griff nach ihren Augengläsern, die auf dem Konferenztisch auf einem Stapel Papieren lagen, setzte sie sich auf die Nase und setzte ihre Lektüre fort.
    Als sie geendigt war, verharrte sie eine Weile, in stillem Nachdenken, wie es schien. In Wahrheit jedoch hatte eine kaum zu zügelnde Aufregung von Sabatha besitz ergriffen. Endlich! Auf diese Gelegenheit hatte sie gewartet.
    "Dieser Brief kommt direkt von den Nackthäuten", sagte sie schließlich und gab das Dokument an Kanzler von Hellich, "Meine Dame, meine Herren, das wird Sie sicherlich interessieren. Kanzler, lesen Sie vor!"


    Gnädige Herrin!

    Obgleich ich mich scheue, einen treuen Freund und Partner in einen Konflikt zu ziehen, der nicht der seine ist, sehe ich mich doch dazu gezwungen. Da ich bloß ein Ritter und Soldat bin, der nur unzureichend für die Aufgabe geeignet ist, die ihm die Götter zugeteilt haben, bitte ich um Verzeihung, wenn meine Worte nicht so schön und wohlgesetzt sein sollten, wie es Euer Majestät sonst gewöhnt sein wird.
    Folgendes also ist die Situation: Die orkischen Besatzungstruppen an der myrtansichen Küste bereiten das Auslaufen einer größeren Kriegsflotte vor. Zuverlässigen Informanten zufolge besteht der Plan der Orks in einem Seeangriff auf die Stadt Khorinis, um dadurch die gesamte Insel unter ihre Herrschaft zu bringen. Wenn dies geschieht, werde ich mit den wenigen mir verbliebenen Männern ein Blutbad an der khorinischen Bevölkerung nicht verhindern können. Da uns keinerlei eigene Kriegsflotte zur Verfügung steht, um die orkische Armada in einem Seegefecht in die Flucht zu schlagen, stehen wir einem Angriff also vollkommen hilflos gegenüber. Vom Festland ist keine Hilfe zu erwarten.
    Aus diesem Grunde sehe ich mich dazu gezwungen, mich an Euch und an das Volk von Biblur zu wenden. Ich bitte um Eure Hilfe und hoffe, dass diese Bitte nicht allzu anmaßend ist, in Anbetracht der Freundschaft, die in den vergangenen Monaten zwischen unseren Völkern entstanden ist.

    So verbleibe ich in hoffnungsvoller Demut,
    Lord Andre von Schnapperfurt, Lord-Protektor von Khorinis etc.



    Als Sabatha dieses Mal den Blick über die Runde schweifen ließ, erkannte sie in den Mienen ihrer Minister nicht etwa Empörung, sondern Sorge. Diese Nachricht hatte es in der Tat in sich.
    "Also", sagte Sabatha in die Stille hinein, die von Hellichs Vortrag hinterlassen hatte, "irgendwelche Vorschläge?"
    Die von Sabatha erwartete, heftige Diskussion ließ nicht lange auf sich warten. Doch wie erwartet war diese nicht etwa den unterschiedlichen Positionen der einzelnen Minister geschuldet, sondern lediglich deren Profilierungsdrangs. Sabatha achtete nicht allzu sehr auf den Gesprächsverlauf, sondern ging ihren eigenen Überlegungen nach.
    Die plötzliche Wendung, welche die Ereignisse durch den bevorstehenden Angriff der Orks genommen hatten, war für Sabatha keineswegs so plötzlich, wie für die anderen Konferenzmitglieder. Beim Gedanken daran, wie sie schon vor Wochen über die Bemühungen der Orks unterrichtet worden war, konnte sie sich trotz der ernsten Lage das Lächeln nicht verkneifen. Die Zusammenarbeit mit den Wassermagiern hatte wahrlich grandiose Ergebnisse hervorgebracht, und ihren eigenen, privaten Projekten endlich die entscheidenden Anstöße verliehen. Früher oder später würde sie ihren Kanzler und die Minister informieren müssen. Da Sabatha allerdings nicht gern mit offenen Karten spielte, würde sie diesen Augenblick noch ein Weilchen hinauszögern.
    Und nun, endlich, hatte auch Lord Andre, der menschliche Statthalter von Khorinis, von der Bedrohung erfahren. Sabatha war sich nicht völlig sicher gewesen, ob er sie wirklich um Hilfe bitten würde, hatte es jedoch als die wahrscheinlichste Alternative angesehen. Ihre Minister mochten noch debattieren, Sabatha dagegen hatte die Entscheidung schon getroffen. So galt es nur noch, ihre Minister zu überzeugen, die sich bislang im Wesentlichen dafür aussprachen, alle Bürger des Reiches aus dem von Menschen kontrollieren Teil der Insel abzuziehen, bis der Konflikt gelöst und die Lage stabilisiert sei. Schließlich könne es Biblur ja im Grunde völlig gleich sein, ob man nun mit Menschen oder ob man mit Orks verhandelte.
    Sabatha musste einräumen, dass diese Position keineswegs unberechtigt war. Im Gegensatz zu ihren Ministern jedoch sah sie in der aktuellen Krise weniger ein Problem, als eher eine Chance. Und die würde sie nutzen.
    "Als ich um Vorschläge bat", unterbrach die schneidende Stimme der Königin die Konversation, "hatte ich mich möglicherweise nicht völlig klar ausgedrückt. Meine Frage hätte lauten sollen: Wie sollen wir der orkischen Invasion begegnen? Zu Lande, oder bereits zu Wasser?"
    Sabatha nahm die zweifelnden Blicke ungerührt zur Kenntnis.
    "Meine Königin", meldete sich ihr Verteidigungsminister vorsichtig zu Wort, "Sie gedenken, den Nackthäuten von Khorinis in einem bewaffneten Konflikt gegen die Orks beizustehen?"
    Sabathas Mundwinkel zuckten.
    "Sind Sie denn der Ansicht, dass Ihre Soldaten einem solchen Konflikt nicht gewachsen wären?", fragte sie in gespielter Unschuld.
    "Nun, ähm, es ist ja nicht so, als wenn unsere Soldaten keine, ah, tapferen und fähigen Goblins wären. Wir ähm sind hervorragend aufgestellt, jedoch..."
    Sabatha war auf das weitere Lavieren gespannt, doch der Wirtschaftsminister erlöste seinen Kollegen: "Was der Herr Verteidigungsminister auszudrücken versucht, ist, dass ungeachtet der Vorzüglichkeit unserer Armee eine Einmischung in diesen Krieg nicht zielführend zu sein scheint. Oder, um es etwas deutlicher auszudrücken: Was hätten wir davon, die myrtanische Herrschaft über Khorinis zu erhalten?"
    Sabatha legte die Fingerspitzen aneinander und warf ein entzückendes Lächeln in den Raum.
    "Meine Dame, meine Herren, halten Sie mich für dumm?"
    Die Minister schauten ratlos drein.
    "Sind Sie der Meinung, dass ich eine Idiotin sei?"
    Ihr Tonfall schien nichts als ungetrübte Freundlichkeit auszudrücken.
    "Ähm, also, natürlich nicht", fühlte sich der Kanzler nach einer Weile zu sagen bemüßigt.
    "Dann hören Sie auf, mich mit Trivialitäten zu belehren!", fuhr die Königin die Anwesenden scharf an, "selbstverständlich will ich unser Land nicht in einen bewaffneten Konflikt mit einer überlegenen Macht führen! Die Hilfe, die ich den Menschen von Khorinis zugedacht habe, soll auf eine etwas subtilere Weise wirken."
    "Sie möchten Biblur als Vermittler vorschlagen?", fragte der frisch berufene Minister für Äußeres und für Diplomatie, dessen Ressort erst vor wenigen Monaten eingerichtet worden war.
    "So ungefähr", antwortete Sabatha, "aber nicht nur."
    "Es stellt sich nur die Frage", warf die Justizministerin ein, "ob die Orks überhaupt an einer diplomatischen Lösung interessiert sind. In der Vergangenheit waren die Orks nicht gerade dafür bekannt, ihre Konflikte friedlich beizulegen."
    "Das wird wohl davon abhängen, was sie im Gegenzug erhalten", meinte der Wirtschaftsminister.
    "Ganz genau so ist es. Und darum haben wir nicht nur die Möglichkeit, die Orks von ihrem Angriff abzuhalten, sondern es ist sogar nachgerade geboten. Warum, glauben Sie", fragte die Königin in die Runde, "haben diese Orks wohl überhaupt ein Interesse an der Insel Khorinis? Es ist eine relativ kleine Insel, die kaum einen strategischen Wert haben sollte. Oder?"
    Die Kabinettsmitglieder überlegten eine Weile, dann zuckte der Verteidigungsminister mit den Schultern: "Vermutlich, weil man die Insel als Flottenstützpunkt nutzen kann?"
    Sabatha nickte anerkennend. Ganz dumm war die Antwort schließlich nicht.
    "Das ist nicht völlig unsinnig. Nur spielt dies kaum eine Rolle mehr, da allen Berichten zufolge die gesamte myrtanische Küste bereits in orkischer Hand liegt. Die Orks haben die Seehoheit bereits oder brauchen sie nicht mehr, weil die myrtanische Flotte fast vollständig ausgelöscht ist. Eine Eroberung der Insel bloß ihrer strategischen Position wegen erscheint also nicht plausibel, wenn man bedenkt, dass dabei Kräfte von den akuten Konfliktgebieten auf dem Festland abgezogen werden. Was sonst könnte also das Interesse der Orks sein, hm?"
    "Das magische Erz natürlich", beantwortete der Wirtschaftsminister ihre Frage, "es stellt einen wichtigen Kriegsrohstoff dar, und... oho!"
    Die Königin nahm erfreut zur Kenntnis, dass dem Chef ihrer Finanzen offenbar ein Licht aufgegangen war.
    "Sie glauben also, dass Sie den Nackthäuten der Insel die Zusicherung abringen können, ihr Erz nicht den Armeen auf dem Festland zur Verfügung zu stellen, damit im Gegenzug die Orks auf ihre Invasion verzichten?"
    "Warum sollten sie sich darauf einlassen?", fragte der Verteidigungsminister, "schließlich könnten sie die Insel problemlos erobern. Sie könnten das Erz dann selbst nutzen."
    "Erstens", erwiderte Sabatha, "haben die Orks keinerlei Informationen über die Stärke der myrtanischen Truppen in Khorinis. Ein solcher Angriff birgt in jedem Falle das Risiko des Scheiterns. Und zweitens gedenke ich nicht, irgendwelche Zusicherungen über den Einsatz myrtanischer Ressourcen zu machen. Sondern die Erzvorkommen, um die es geht, gehören uns."
    Die erstaunten Mienen zauberten das Lächeln auf Sabathas Antlitz zurück.
    "Der wesentliche Punkt in dieser Angelegenheit ist das Risiko" setzte sie ihre Erklärung fort, "die Orks befinden sich in einer strategisch überlegenen Position. Aber solange die Frage nach der Verfügungsgewalt über das magische Erz nicht endgültig entschieden ist, ist auch der Sieg der Orks über Myrtana ungewiss. Da sie selbst nicht vom Erz abhängig sind, wird es ihnen eher darum gehen, Risiken zu vermeiden, als Chancen zu nutzen. Die sichere Neutralisierung des Erzes werden sie daher einer ungewissen Übernahme vorziehen. An dieser Stelle kommt Biblur ins Spiel: Wir sind keine Partei in diesem Konflikt. Und wir sind die einzige, verfügbare Partei überhaupt, die selbst nicht stark genug wäre, um durch den Gebrauch des Erzes zu einer ernsthaften Bedrohung zu werden. Daher werden die Orks einen Herrschaftsanspruch Biblurs auf Khorinis anerkennen: Es ist die sicherste Option, um den myrtanischen Zugriff auf das magische Erz zu verhindern, und wird es darüber hinaus ersparen, längerfristig Truppen aus den Hauptkonfliktgebieten abzuziehen."
    "Aber warum sollte Myrtana unserer Herrschaft zustimmen? Myrtana kann völlig egal sein, ob nun die Orks auf Khorinis herrschen, oder wir. Ohne das Erz ist der myrtanische Widerstand ohnehin verloren."
    Sabatha bedachte den Einwand mit einem selbstsicheren Lächeln: "Myrtana hat in dieser Angelegenheit nichts zu sagen. Wir haben es hier mit den Menschen von Khorinis selbst zu tun. Mit diesem Lord Andre, und sonst niemandem. Und der hat keine andere Wahl, als unsere Herrschaft zu akzeptieren, wenn er denn die Invasion der Orks abwenden will."
    "Das ist... das ist genial", hauchte der Bildungsminister ehrfürchtig, "wir spielen beide Parteien gegeneinander aus, indem wir einfach dafür sorgen, dass NIEMAND an das Erz kommt."
    Der Wirtschaftsminister schnalzte mit der Zunge: "Im Gegenteil, werter Kollege! Wir spielen beide Parteien gegeneinander aus, und sorgen dafür, dass BEIDE Parteien an das Erz kommen - natürlich zu angemessenen Preisen."
    Ähnliche Gedanken hatte auch Sabatha bereits erwogen, doch galt es, in dieser Angelegenheit Zurückhaltung zu wahren.
    "Ob oder wann wir die Erzvorkommen für den Handel nutzen, will wohlüberlegt sein", wandte sie ein, "zunächst einmal wird es unsere Kontrolle über die Insel zu konsolidieren gelten. Über die Insel und ihre Ackerflächen, ihre Waldbestände und ihre Viehherden."
    "Holz", nahm der Wirtschaftsminister mit begierigem Funkeln in den Augen Sabathas Überlegungen auf, "so viel Holz, wie wir brauchen!"
    Sabatha hatte den Anstoß gegeben, den es bedurft hatte, das Kabinett in die richtige Richtung zu lenken. Zufrieden lehnte sie sich in die Polster ihres Throns zurück und verfolgte die weitere Planung, der sie nur gelegentlich das ein oder andere Detail beisteuern musste. Schließlich blieb ihr nichts mehr zu tun, als die Befehle zu besiegeln und die Sitzung zu beenden. Mit huldvollem Nicken nahm sie die Verabschiedung der Minister entgegen, die nach und nach den Raum verließen.
    "Du kannst jetzt rauskommen", sagte sie in den leeren Raum hinein.
    Ein Schaben und Rascheln ertönte, und aus den schweren Damastvorhängen am Fenster trat ein kleiner Goblin mit schuldbewusstem Blick hervor.
    "Es tut mir Leid, dass ich gelauscht habe, Mama. Bist Du jetzt böse?"
    Sabatha lächelte auf ihren Sohn herab.
    "Das sollte ich wohl, nicht wahr? Selindan, Hast Du verstanden, worüber wir geredet haben?"
    Der junge Prinz überlegte eine Weile, bevor er sich an der Antwort versuchte: "Graf Jannaleik soll zu den Nackthäuten und verhindern, dass sie von den Orks getötet werden, indem er sie zu Deinen Untertanen macht."
    Sabatha selbst hätte es besser nicht zusammenfassen können.
    "Ganz genau. Und nein, ich bin nicht böse auf nicht."
    "Weil ich Deine Frage gut beantwortet habe?"
    "Natürlich."
    Ein spitzbübisches Lächeln stahl sich auf Selindans Lippen.
    "Du wusstest vorher, dass die Orks die Nackthäute töten wollen." Eine Feststellung, keine Frage.
    "Meinst Du?"
    "Ja. Woher wusstest Du das? Eigentlich kannst Du es gar nicht gewusst haben."
    Sabatha stellte mit Zufriedenheit fest, dass der Junge ganz nach ihr kam.
    "Als Königin habe ich so meine Geheimnisse."
    Selindans Mienenspiel zeigte deutlich, dass er sich nur ungern mit dieser Antwort begnügte, doch er wusste, dass aus seiner Mutter nichts mehr herauszubekommen war, und so fragte er nicht weiter nach. Stattdessen wechselte er das Thema: "Werden wir auch einmal an diese Orte reisen? Nach Jharkendar und nach Khorinis oder gar nach Myrtana?"
    Die Königin lachte leise. Ihr Sohn empfand dasselbe Fernweh, wie sie selbst.
    "Natürlich werden wir das tun. Sag, möchtest Du jetzt schon mit Graf Jannaleik nach Jharkendar reisen?"
    Das Strahlen des Prinzen machte jede Antwort überflüssig.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (31.08.2013 um 14:14 Uhr)

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    Ein unwiderstehliches Angebot



    Andre fühlte sich ein wenig unwohl in seiner Haut. Nicht etwa, weil die Stube ungemütlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil: Im Kamin brannte ein kleines Feuerchen, das die Frühjahrskälte aus dem Raum vertrieb, an den Wänden hingen Gobelins oder Gemälde, die Fenster waren verglast und mit hübschen Gardinen versehen und auf dem blank gescheuerten Holzboden lagen Teppiche aus. In der Tat gab Onars Wohnstube Zeugnis vom Ordnungssinn ebenso wie vom guten Geschmack und Wohlstand ihres Eigentümers.
    Dass sich Andre also unwohl fühlte, lag viel mehr an der vor ihm sitzenden Person: Maria, die Ehefrau des Großbauern. Zugegebenermaßen war Andres Besuch bislang nicht so schlimm verlaufen, wie er erwartet hatte: Er hatte befürchtet, eine verzweifelte Frau anzutreffen, mit vom Weinen verquollenen Augen, die ihm schwere Vorwürfe machen würde. Stattdessen machte Maria einen durch und durch gefassten Eindruck und strahlte in erster Linie eine gewisse Strenge aus,
    Und dennoch: Ihren Augen meinte Andre Kummer ablesen zu können
    Maria zur Seite standen der Gutsverwalter Wasili und Lee, dessen Männer den Hof mittlerweile größtenteils verlassen hatten. Lee selbst würde der Bäuerin noch einige Tage bei der Übernahme der Geschäfte zur Hand gehen.
    "Was willst Du?", fragte Maria, als Andre Platz genommen hatte, "gibt es vielleicht noch etwas, das wir für Dich tun können? Nachdem Du ja schon meinen Mann und seine Söldner bekommen hast?"
    Andre räusperte sich unbehaglich. Die Frau tat ihm durchaus Leid. Wenn er seine Vorhaben umsetzen wollte, musste er sehr vorsichtig sein und den richtigen Ton treffen. Er warf Jannaleik einen unsicheren Blick zu, der ihm ermutigend zunickte.
    "Ich bin", wandte er sich an Maria, "tatsächlich als Bittsteller hier. Aber lass es mich bitte erklären."
    Andre ließ sich von Jannaleik einen Stapel Papiere reichen.
    "Als Großbäuerin bist Du nun eine der mächtigsten Personen dieser Insel. Entsprechend bist Du eine wichtige Ansprechpartnerin, was die Reformpläne aus Biblur angeht. Zunächst einmal wäre meine Frage, ob Du nun die Kandidatur Deines Mannes übernehmen und ins Parlament in Biblur einziehen willst."
    Maria schnaubte verächtlich: "Und den Hof endgültig alleine lassen, damit Ihr Euch alles unter den Nagel reißen könnt? Meine Elena alleine lassen?"
    Andre machte eine beschwichtigende Geste: "Niemand reißt sich irgendetwas unter den Nagel. Zugegebenermaßen waren wir in der Vergangenheit nicht allzu erfolgreich darin, die Korruption in der Stadtwache einzudämmen und den Amtsmissbrauch durch unbefugte Beschlagnahmungen zu verhindern..."
    "Pah!"
    "...Aber diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei."
    "Es ist ja nicht so, als würdet Ihr nicht immer noch Steuern verlangen!"
    Andre hielt dem Blick der Bäuerin mit Mühe stand.
    "Steuern", entgegnete er, "die zum Wohle des Volkes eingesetzt werden sollen. Auch zu Eurem Wohl. Und wenn Du nicht für das Parlament kandidieren willst, dann wäre es vielleicht angebracht, wenn Du zumindest eine entscheidende Position in der... ähm, kommunalen Politik einnehmen würdest."
    Andre entnahm dem Papierstapel eine Karte.
    "Unsere Freunde aus Biblur sind der Meinung, dass die Insel nicht ausschließlich zentral regiert werden sollte, sondern möchte unterschiedliche Verwaltungsebenen einführen. Da Dein Hof sehr zentral gelegen ist, hier der größte Teil der khoriner Landbevölkerung lebt, und Du als größte Grundbesitzerin außerdem über sehr viel Einfluss verfügst, ist es nur logisch, hier den Sitz einer Kommunalregierung einzurichten, welche die Interessen der umliegenden Bauernschaften vertreten soll."
    "Ich soll also Euer Handlanger sein?"
    Andre war nicht sicher, welche Regung in Marias Miene überwog: Verachtung oder Ungläubigkeit?
    "Nein. Es geht darum, Kompetenzen an eine kommunale Verwaltung abzugeben. Damit würdet Ihr größere Autonomie bekommen. Natürlich nur eingeschränkt. Letztendlich geht es auch ohnehin nur um eine Übergangszeit. Die kommunale Regierung müsste gewählt werden, so ähnlich wie ein Stadtrat. Du würdest uns nur darin behilflich sein, die entsprechenden Strukturen zu schaffen."
    Andre lenkte Marias Aufmerksamkeit auf die Karte und fuhr mit dem Finger der Reihe nach über farbig markierte Gebiete.
    "Damit die einzelnen Bauern auch demokratische Rechte in Anspruch nehmen können, brauchen sie selbst größere Unabhängigkeit von Euch. Aus diesem Grunde planen wir eine Landumverteilung: Die einzelnen Bauern sollen nicht mehr Pächter, sondern Eigentümer sein."
    "Also doch!", fuhr Maria auf, "Ihr wollt uns enteignen!"
    "Nein", widersprach Andre, "es handelt sich hierbei um Pläne, deren Umsetzung Deine Zustimmung erfordert. Und wenn Du zustimmst, wirst Du für den Landverlust natürlich kompensiert. Die Krone ist bereit, Dir das Land abzukaufen."
    Maria runzelte nachdenklich die Stirn.
    "Und dann wollt Ihr, dass es meine bisherigen Pächter aufkaufen?"
    "Nein. Das Land wird ihnen unmittelbar überschrieben."
    "Aber wieso solltet Ihr das machen?", fragte Maria ungläubig, "das ergibt doch keinen Sinn. Was gewinnt Ihr dadurch?"
    "Die Frage ist doch", mischte sich Jannaleik ein, "was wir dadurch verlieren würden. Und die Antwort darauf lautet: Nichts. Wir sind in der Lage, Euch das Land zu einem gutes Preis abzukaufen. Weil wir das Geld haben. Entsprechend machen wir Euch ein großzügiges Angebot."
    Maria lachte auf: "Das ist nicht gerade eine kluge Verhandlungsstrategie. Unter diesen Umständen werdet Ihr schon ein SEHR gutes Angebot machen müssen - vor allem, wenn Ihr das Geld sowieso habt!"
    Andre räusperte sich erneut: "Wir sind nicht hier, um darüber zu verhandeln. Wir werden Dir ein Angebot machen. Dieses Angebot wird großzügig sein. Du kannst es annehmen oder ablehnen. Aber darüber verhandelt wird nicht."
    "Warum sollte ich darauf eingehen? Nach der Verhaftung meines Mannes bin ich nicht gerade geneigt, Euch einen Gefallen zu tun. Ja, in der Tat glaube ich, dass ich Euch einfach so eine Absage erteilen muss, nur um zu verhindern, dass das geschieht, was Ihr anstrebt."
    "Ihr habt ja auch", ein selbstsicheres Grinsen trat auf Jannaleiks Gesicht, "noch nicht das ganze Angebot gehört."
    Andre nahm den Faden auf: "Ginge es nur um Geld, wäre Deine Haltung sehr verständlich. Und dann wäre ich auch gar nicht mit diesem Angebot hergekommen. Ich weiß natürlich, dass Du dadurch an Einfluss verlierst. Aber wir haben ja noch weitere Pläne. Wenn dieser Ort hier zu einem regionalen Zentrum wird, dann werden umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen nötig sein. Maßnahmen, die über Steuergelder finanziert sein werden."
    Jannaleik begann, aufzuzählen: "Der Bau einer Schule für den Nachwuchs der umliegenden Bauern, Tagelöhner und Knechte, der Ausbau der Straßen, kommunale Verwaltungsgebäude, Wachhäuser für Polizei und Feuerwehr sowie eine medizinische Notaufnahmestelle."
    Andre förderte eine weitere Karte derselben Region zutage. Die schmalen Linien, die auf der anderen Karte die Wege angezeigt hatten, waren hier dicker und weiter verzweigt, der kleine Fleck, welcher das Gehöft des Großbauern markierte, hatte einer Reihe ordentlicher Karés Platz gemacht, die eine Siedlung darstellten.
    "Fragliche Ordnungshüter wären natürlich der kommunalen Verwaltung unterstellt, womit es einen Ausgleich für das Verschwinden der Söldner gäbe. Neben polizeilichen Aufgaben würden diese Schutzmänner auch z.B. die Aufgabe haben, die Bauern vor Feldräubern oder anderen, gefährlichen Tieren zu schützen", erklärte Andre.
    Maria beugte sich vor und betrachtete die Karte.
    "Soll mich das beeindrucken?", fragte sie, "ein paar Striche auf einem Blatt Papier?"
    "Der Bauernhof würde an Bedeutung gewinnen, was das Ausbleiben der Pacht zum Teil kompensieren würde", meinte Jannaleik, und Andre fügte hinzu: "Im Übrigen gibt es da aber NOCH etwas. Und das sollte Dein Interesse wahrlich wecken! Jannaleik?"
    Jannaleik nickte und erklärte: "Wir wissen, dass die Feldräuber auf der Insel den Bauern einige Probleme bereiten. Bei diesen Kreaturen handelt es sich um insektoide Geschöpfe, die ihre Nester vor allem in Höhlen und Erdlöchern haben. Unseren Experten zufolge befinden sich die Nester an den folgenden Stellen."
    Andre zeigte auf einige auf der Karte markierte Stellen.
    "Woher wisst Ihr das so genau?", fragte Maria.
    "Wir wissen es, weil wir ganz ähnliche Geschöpfe schon seit über tausend Jahren domestiziert haben und als Nutztiere halten: Die von Euch als, ähm, Minecrawler bezeichneten Kreaturen. Wir kennen das Brutverhalten der Minecrawler sehr genau und nehmen an, dass die Feldräuber ganz ähnliche Eigenschaften aufweisen."
    "Diese Karte hier", Andre nestelte erneut in dem Papierstapel herum, "zeigt die ganze Insel inklusive Biblur und Jharkendar. Hier befindet sich Biblur. Diesen Weg geht es nach Jharkendar, und von dort aus", Andre fuhr die Wege mit dem Finger nach, "so nach Khorinis. Es findet zwar bereits ein reger Austausch von Waren statt, allerdings sind die Handelswege bislang ziemlich schlecht ausgebaut. Außerdem gibt es auf der Insel kaum genug Packtiere, um größere Warenmengen diese Wege entlang zu befördern. Mit einer Ausnahme."
    Mit einem Nicken gab er den Ball an Jannaleik zurück: "Biblur verfügt über eine große Menge dieser edlen Tiere, die vorzügliche Lastenträger, aber auch hervorragende Kämpfer sind. Allerdings ist ihr Einsatz praktisch nur in unterirdischen Tunneln möglich, da sie sich im Freien höchst unwohl fühlen. Die Minecrawler sind hervorragende Tunnelgräber. Es ist unsere Absicht, einen Minecrawler-Tunnel direkt von Jharkendar bis nach Khorinis zu graben. Zu diesem Zweck müssten wir auch Euer Land untergraben, was wir ohne Eure Zustimmung natürlich nicht tun würden."
    "Der Punkt", schaltete sich Andre wieder ein, "ist zum einen der, dass wir Ableger zu diesen Feldräubernester machen müssten, um diese zu vertreiben. Andernfalls würden die möglicherweise den Hauptverkehrstunnel nutzen und damit unsicher machen. Zweitens würde der Haupttunnel direkt unter Eurem Bauernhof hindurchführen, womit sich dieser als Rastplatz anbieten würde. Ihr würdet damit also direkt Waren aus Jharkendar beziehen oder dorthin verkaufen können. Gleichzeitig würde die Verbindung nach Khorinis ebenfalls wesentlich schneller und einfacher. Eure Ländereien wären kleiner, doch die Bedeutung der verbliebenen Ländereien wäre wesentlich größer. Außerdem ließen sich die unterirdischen Kellerräume als Silos oder Nahrungslager nutzen."
    "Das Geld, mit dem wir Euer Land kaufen werden", sagte Jannaleik, "könntet Ihr sogleich investieren. Zum Beispiel für Unterkünfte für Reisende zwischen Biblur und der Hafenstadt, die Euch zusätzliche Einnahmen einbringen würden. Oder um Euch am Warenhandel zu beteiligen, der letztlich auch über die Grenzen der Insel hinaus stattfinden wird. Das wäre unternehmerisch anspruchsvoller als Pachteinnahmen einzutreiben, aber auch wesentlich lukrativer."
    Andre fuhr fort: "Der Vorteil der Krone bestünde darin, dass damit Warenfluss, Handel und Personenverkehr erheblich erleichtert würden. Da die Kaufmannsgilden der Stadt durch den Krieg und den Zusammenbruch der Barriere außerdem am Boden liegen, wären der Krone Eure Investitionen in den Überseehandel überaus recht, natürlich in Erwartung zusätzlicher Steuereinnahmen."
    "Und eines Bedeutungszuwaches der Insel im Ausland. Es würde unsere politische Position stärken, wenn biblurer und khoriner Waren internationale Absatzmärkte erreichen", warf Jannaleik ein.
    "Ich soll also Minecrawler auf mein Land lassen?", fragte Maria skeptisch.
    "Ja", antwortete Jannaleik, "diese wunderbaren und edlen Tiere werden auch Euch von enormem Nutzen sein, Ihr werdet schon sehen!"
    Maria stützte das Kinn auf ihre Faust und dachte eine Weile nach.
    "Wieviel wollt Ihr pro Quadratschritt zahlen?"
    Andre nannte den Preis.

    Andre und Jannaleik warteten im Hof des Gutes, derweil Maria sich mit Verwalter Wasili beriet. Lediglich Lee war erlaubt worden, der Beratung beizuwohnen, Andre und Jannaleik hatten den Raum verlassen müssen.
    Endlich wurde die Tür des Gutshauses geöffnet, und Lee trat heraus.
    "Sie hat angenommen", teilte er Andre mit, "das Angebot war wohl einfach zu gut." Lee schüttelte den Kopf, "unglaublich. Erst nehmt Ihr ihr ihren Mann weg, und jetzt das! Ich hätte gewettet, dass sie sich lieber die nächsten zwanzig Jahre von Fleischwanzenragout ernähren würde, als dass sie darauf eingeht!"
    "Fleischwanze ist doch gar nicht schlecht", wunderte sich Andre. Lee lachte: "Friss Du mal monatelang fast täglich von dem Zeug! Naja, wie auch immer. Jetzt seid doch mal ehrlich: Was ist der Haken an der Sache, von dem ihr Maria nichts gesagt habt?"
    "Haken?", fragte Jannaleik.
    "Das sagt man so, wenn eine Sache doch einen Nachteil hat", erklärte Andre und erntete darob einen genervten Blick Jannaleiks.
    "Das weiß ich, danke. So gut beherrsche ich Eure Sprache mittlerweile auch", an Lee gewandt: "Es gibt keinen Haken. Wie ich schon sagte: Wir haben das Geld einfach. Es gibt also keinen Grund, es nicht zum Wohle des Volkes auszugeben. Im Übrigen werden wir damit die Causa 'Großbauer' hoffentlich dauerhaft abgeschlossen und damit den Frieden in diesem Teil der Insel gesichert haben."
    "In diesem Teil?", fragte Lee, "dann nehme ich an, dass Ihr Euer Augenmerk nun einem weiteren Teil zuwenden wollt?"
    "Ohja", stimmte Andre zu.
    "Gehe ich recht in der Annahme, dass in dieser Angelegenheit MIR eine besondere Rolle zugedacht sein wird?", fragte Lee weiter.
    "Allerdings", antwortete Andre.
    "Zunächst einmal werdet Ihr, General Lee, nach Jharkendar beordert, wo Ihr die Wassermagier bei ihren Vorbereitungen unterstützen werdet", sagte Jannaleik, "vor Ankunft des orkischen Botschafters können wir die nächsten Schritte ohnehin nicht einleiten."
    Der orkische Botschafter... Andre war sich nicht sicher, ob er diesem Ereignis entgegenfiebern oder es fürchten sollte. Doch eines war gewiss: Es würde sehr vieles ändern.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (20.01.2015 um 10:00 Uhr)

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    Ein schönes Schiff!



    Als sich von den drei Schiffen, die von Jharkendar aus aufgebrochen waren, um den Menschen von Khorinis gegen die Orks beizustehen, lediglich zwei mit Mühe und Not in den Hafen zurückgeschleppt hatten, war Greg als erstes in Gelächter ausgebrochen. Seine Erheiterung ob der offensichtlichen Unfähigkeit der "Seeleute" aus Biblur war bald der Verwunderung gewichen: Denn die Besatzungen der Schiffe waren erstaunlich guter Dinge, hatte doch das beherzte Eingreifen eines gewissen Lord Andre dafür gesorgt, dass alle Besatzungsmitglieder sicher und wohlbehalten nach Jharkendar zurückkehrten - mit Ausnahme dieses großspurigen Großadmirals Jannaleik, der in Khorinis geblieben war und somit das Kommando über die Flotte wieder an Greg zurückgegeben hatte, richtig so!
    Die Verwunderung wiederum war regelrechter Verblüffung gewichen, als die Goblins damit begonnen hatten, die untauglichen Schiffe Stück für Stück auseinanderzunehmen: Innenausstattung, Masten, Planken, alles wurde fein säuberlich abgebaut. Oberst Trauben hatte auf Gregs ungläubiges Erstaunen erklärt, dass diese Technik aus der Zeit des alten Jharkendar stamme, als man die Schiffe in Biblur zwar entwerfen und konstruieren, nicht jedoch zu Wasser lassen konnte, sondern sie hierzu in Einzelteilen in die Nachbarstadt hatte bringen müssen. In den vergangenen tausend Jahren der Isolation wiederum sei diese Technik angesichts der allzu begrenzten Holzbestände weiter perfektioniert worden, so dass man nun in der Lage sei, Holzkonstruktionen bei Bedarf zu beinahe einhundert Prozent wiederzuverwerten.
    Und so hatte, nach Schadenfreude, Verwunderung und Verblüffung, endlich der Forscherdrang von Greg Besitz ergriffen: Wenn diese Idioten von Goblins ihm das nur früher gesagt hätten! Er hätte sie doch noch wesentlich mehr unterschiedliche Schiffe bauen und ausprobieren lassen!
    Nun aber, da er wusste, dass er die vorliegenden Ressourcen in beliebig vielen Kombinationen nutzen konnte, waren seinem Ideenreichtum keine Grenzen mehr gesetzt gewesen. So hatten die Goblins in den vergangenen Monaten immer ausgefallenere Konstruktionsweisen, Rumpfformen und Takellagen erprobt. Rechnete man die vorigen Versuche dazu, so hatten sie ein Dutzend unterschiedlicher Schiffstypen entworfen, gebaut, zu Wasser gelassen und erprobt.
    Und nun, endlich, war es soweit.
    Als Greg auf das im Hafen liegende Schiff blickte, ergriffen ihn Stolz, Ehrfurcht und Rührung angesichts seiner eigenen Genialität.
    Dieses Schiff, so wusste er, würde die Schifffahrt revolutionieren: Zwar hatte er den myrtanische Holk zum Ausgangspunkt seines Entwurfs genommen, sich dann jedoch erheblich davon entfernt. Indem Greg auf schwere und ausladende Aufbauten weitgehend verzichtet hatte, waren die Segeleigenschaften erheblich verbessert. Die auf den unteren Decks angebrachten, verschließbaren Klappen ermöglichten eine weitaus schwerere Bewaffnung, ohne dadurch den Schwerpunkt nach oben hin zu verlagern und die Seetüchtigkeit des Schiffes einzuschränken, und machten gleichzeitig den Kampf gegen niedrigere Schiffe auch aus der Entfernung möglich - eine Maßnahme, die angesichts der nur begrenzten Truppenstärke Biblurs notwendig war, und auch Gregs eigenen Plänen sehr zupass kam. Wenn ihn nicht alles täuschte, würde dies den Seeschlachten der Zukunft ein völlig neues Gesicht verleihen: Anstelle von Ramm- und Enterkämpfen würde man sich mit schweren Geschützbatterien beschießen.
    Ja, Greg machte sich in der Tat keine Illusionen: Was er hier geschaffen hatte, das würden andere ihm nachmachen.
    Aber bis dahin mochte es ein oder zwei Jahrzehnte dauern, und bis es soweit war, würde er, Greg, das beste Schiff auf der myrtanischen See sein Eigen nennen.
    Natürlich wusste Greg, dass die Goblins noch wesentlich schneller zu ähnlichen Schiffen kommen würde. Aber auch hier hatte Greg soweit vorgesorgt, als möglich war, indem er die Baupläne des Schiffes nachträglich einigen Modifikationen unterzogen hatte. Früher oder später würden die Goblins es bemerken und nach einiger Zeit würde es ihnen mit Sicherheit gelingen, den Entwurf zu rekonstruieren. Aber auch das mochte noch eine Weile dauern, und selbst wenn es gelänge, hätte Biblur ganz einfach nicht die Mittel, eine Flotte zu bauen, die ihm, Greg, und seiner Mannschaft gefährlich werden könnte.
    So galt es nur noch, dieses herrliche Schiff endlich in seinen Besitz zu bringen!


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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    Freund oder Feind?



    Nach Monaten der Warterei war es endlich so weit: Der orkische Botschafter war angekommen.
    Andre stand in bester Ausgehuniform an der Spitze einer Delegation des Stadtrates auf dem Pier und sah der Abordnung der Orks entgegen, wie sie über die Planke von ihrer Galeere aus auf die Wartenden zustrebte. An Andres Seite stand, natürlich, Graf Jannaleik, dem Andre bei den Vorbereitungen des offiziellen Empfangs des Botschafters weitreichende Freiheiten gelassen hatte: Schon einmal hatte Jannaleik mit den Orks aufs Vorzügliche umzugehen gewusst, und Andre selbst erschien die Vorstellung, einem Ork anders als mit dem Schwert in der Hand zu begegnen, allzu befremdlich, so dass er überaus froh war, dem Goblin diese Angelegenheit übertragen zu können.
    Doch nun, beim offiziellen Empfang des Botschafters, würde Andre um einen persönlichen Einsatz nicht herumkommen.
    "Im Namen Ihrer Majestät, Sabatha II, Königin von Biblur und Herrscherin von Khorinis sowie des Parlamentes und Volkes von Biblur und Khorinis, heiße ich Euch in der Hafenstadt Khorinis willkommen", begrüßte Andre die Ankömmlinge, als diese festen Boden erreicht hatten.
    Der Anführer der Orks, der durch Stab und Federschmuck als Schamane zu erkennen war, neigte respektvoll das Haupt.
    "Morr-Kash, Sohn des Geistes, überbringt die Grüße des Hohen Rates und des obersten Kriegsherrn Uruk-Kan", erwiderte der Botschafter in nahezu fehlerfreiem und bloß durch einen leichten Akzent exotisch gefärbten Myrtanisch. Die warme Stimme des Orks wirkte auf Andre überraschend sanft.
    "Ich darf Euch Jannaleik Graf Gruben von Grubemünde zu Bythanien vorstellen, Staatssekretär und Geheimrat Ihrer Majestät", führte Andre die Begrüßung fort, "sowie die Mitglieder des Stadtrates von Khorinis." Der Reihe nach stellte Andre die Anwesenden vor, bevor er dem Botschafter und dessen Begleitern bedeutete, ihm zu folgen.
    "Graf Jannaleik hat die Vorbereitungen zu Eurer Ankunft getroffen", teilte Andre dem Schamanen mit, "wir beginnen mit einer Besichtigung der Stadt, an die sich eine Ballettaufführung auf dem Tempelplatz und schließlich ein abendlicher Empfang im Rathaus anschließen werden."
    Andre konnte sich nur schwer vorstellen, dass sich Orks für Ballet interessierten, doch letztlich war es ihm gleich. Jannaleik hatte es für eine gute Idee gehalten, und die Orks würden schon nicht bloß aus Langeweile einen Eklat anzetteln.
    "Aber wenn Ihr von der Reise müde sein solltet und Euch zu erfrischen wünscht, können wir Euch und Euren Begleitern zunächst Eure Unterkünfte zeigen."
    "Bewegung wird nach der langen Schiffsreise wohltun", entgegnete Morr-Kash, "zeig uns die Stadt!"

    Andre zog den Frack aus, warf ihn auf den Schreibtisch, lockerte seinen Kragen und ließ sich mit einem Seufzen auf seinen Sessel fallen. Endlich! Nach dem vollen Programm des Tages, in denen er Stunde um Stunde den höflichen Gastgeber hatte spielen müssen, war er froh, dem steifen Prozedere der Diplomatie ebenso wie dem Trubel der Öffentlichkeit entkommen zu sein. Er legte das Gesicht in die Handflächen und verharrte eine Weile in stiller Einkehr, bis es an der Tür klopfte.
    "Herein!", rief er, worauf die Tür geöffnet wurde und Jannaleik das Arbeitszimmer betrat.
    "Ich gratuliere Euch zu diesem hervorragend gelungenen Tag", sagte Jannaleik, und an dessen strahlenden Augen konnte Andre sehen, wie viel Spaß es dem Goblin gemacht hatte. Gelegentlich konnte selbst der ruhige und gesetzte Jannaleik die Begeisterung eines Kindes an den Tag legen, und wie es schien, lösten die Orks bei ihm eine ähnliche, leidenschaftliche Neugier aus, wie sie ansonsten Garnau an den Tag legte, wenn es um ihm fremde Völker, Kulturen und Sprachen ging.
    "Diese Orks sind einfach ein fantastisches Volk, findet Ihr nicht?", fragte Jannaleik, "und dieser Botschafter hat wirklich Humor: 'Grush kannock Warr matok', versteht Ihr? Haha, was für eine Pointe!"
    Andre hatte keine Ahnung, wovon Jannaleik sprach, doch dessen Kichern zufolge musste es überaus komisch sein.
    "Ich habe Euch kommen lassen", sagte er, "um etwas mit Euch zu besprechen. Setzt Euch bitte."
    Andres ernster Gesichtsausdruck ließ die Heiterkeit in Jannaleiks Miene sorgenvollen Runzeln weichen.
    "Oh?", fragte der, und nahm auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz, "worum geht es denn?"
    Andre kramte in seinen Akten herum und reichte schließlich ein Papier an Jannaleik, der es mit gerunzelter Stirn studierte.
    "Das kommt überhaupt nicht in Frage!", keuchte Jannaleik schließlich.
    Andre räusperte sich und entgegnete: "Geschätzter Jannaleik, Ihr seid dazu verpflichtet!"
    Andre hatte gelernt, die Mimik der Goblins zu deuten, und Jannaleiks Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er keineswegs zufrieden war. Ganz im Gegenteil: Der Staatssekretär sah entschieden unleidlich aus.
    "Pah! Ich bekleide den Rang eines Staatssekretärs und bin offiziell und auf Weisung Ihrer Majestät an dieser Regierung beteiligt. Ihr könnt mich nicht einfach so wegschicken!"
    Andre lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.
    "Aber natürlich kann ich das: Kapitel 1 Abschnitt 2, Paragraph 37 des Allgemeinen Biblurer Beamtengesetzes verpflichtet Euch dazu, direkte Anweisungen durch Euren Dienstherrn auszuführen."
    Nun wirkte Jannaleik nicht mehr bloß unleidlich, sondern eher ein wenig erschrocken. Doch fasste er sich schnell wieder: "Eine Versetzung kann nach Abschnitt 1, Paragraph 9 allerdings nicht durch den direkten Dienstherrn befohlen werden, wenn der betroffene Beamte auf direkte Weisung Ihrer Majestät eingesetzt wurde."
    "Das ist richtig", nickte Andre, "allerdings erlaubt Kapitel 2, Abschnitt 1 in Paragraph 123 die vorübergehende Zuweisung einer anderen Tätigkeit, wenn dies im dienstlichen oder öffentlichen Interesse liegt. Ob dies der Fall ist, liegt gemäß Zusatz 2 zu ebenjenem Paragraphen im Ermessen des Dienstherrn und muss erst dann von höherer Stelle einer Prüfung unterzogen werden, wenn die neue Tätigkeit länger als sechs Monate andauert. Ihr könnt es drehen und wenden, wie Ihr wollt: Bis Ablauf dieser sechs Monate müsst Ihr euch fügen."
    "Und was glaubt Ihr, damit erreichen zu können?"
    "Zunächst einmal", antwortete Andre, "wird Euch dies klarmachen, dass Ihr niemals wieder eine Entscheidung über meinen Rücken hinweg fällen solltet. Ich bin durchaus in der Lage, selbst Entscheidungen zu treffen und kann diese Stadt auch ohne Euch regieren. Das habe ich früher schon, und ich kann es noch. Bedenkt man die... Eigenmächtigkeiten, die Ihr Euch in der Vergangenheit geleistet habt, so hätte ich auch durchaus empfindlicher reagieren können."
    Jannaleiks Gesichtsausdruck erzeugte bei Andre nicht die erwartete Genugtuung. Vielmehr empfand er so etwas wie Scham. War er wirklich ein so nachtragender und gehässiger Mensch?
    Doch immerhin war Andres kleine Rache nicht der einzige Grund für diese Entscheidung, ja, sie war nicht einmal der wichtigste Grund: "Und zweitens", fuhr er fort, "handelt sich hierbei auch tatsächlich um eine wichtige Angelegenheit. Die Königin hat mehrfach sehr deutlich gemacht, dass ihr das Schicksal der Goblinstämme auf Khorinis sehr am Herzen liegt. Bei der Zuweisung der Reservationsgebiete ist sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt, und man kann das nicht einfach von der Amtsstube aus am Reißbrett machen. Die Berichte der Freifrau von Trollzacken mögen zwar sehr aufschlussreich und detailliert sein, allerdings müsst Ihr vor Ort sein, um den Reaktionen der betroffenen Goblins unmittelbar und angemessen zu begegnen. Gerade WEIL Ihr ein derart hohes Mitglied meiner Regierung seid, habt Ihr die Befugnis und Kompetenz, in dieser Angelegenheit verbindliche Entscheidungen zu treffen."
    Andre nahm die Mappe zur Hand, der er schon das Befehlsschreiben entnommen hatte, und hielt sie Jannaleik hin.
    "Hier drin befindet der vollständige Bericht über die Bergstämme, sowie die bisherigen Planungen, die von Ihrer Majestät abgesegnet wurden. Versucht bitte, nicht allzu stark davon abzuweichen!"
    Jannaleik nahm die Mappe entgegen und durchblätterte den Inhalt. Bei einer Landkarte hielt er inne. Die Karte zeigte die Insel Khorinis und war an mehreren Stellen farbig markiert.
    "Wie kommt es eigentlich", fragte Jannaleik, "dass so viele dieser Gebiete hier keinen Eigentümer haben?"
    "Sie haben Eigentümer", entgegnete Andre, "nur befinden sich diese nicht auf Khorinis, sondern leben größtenteils auf dem Festland. Andere der Gebiete gehören Kaufherren oder Händlern hier auf Khorinis, die aber ihre Ländereien in den vergangenen Jahren haben brachliegen lassen."
    Jannaleik schüttelte ungläubig den Kopf. "So viel Platz, und alles ungenutzt!"
    "In den vergangenen Jahrzehnten hat sich praktisch ganz Khorinis auf den Erzhandel spezialisiert. Die enormen Mengen an magischem Erz, das durch die Sträflinge aus dem Minental gefördert wurden, haben alle anderen Bergbauoperationen unerschwinglich gemacht."
    "Und die Forstwirtschaft?"
    Andre winkte ab: "Die hat sich erst recht nicht gelohnt. Die Gewinne waren im Vergleich zu denen im Erzhandel einfach zu gering, als dass irgendwer sich damit abgegeben hätte. Darum sind gerade die abgelegeneren Gebiete völlig verwahrlost."
    "Ich hatte gehofft, dass ich mich weiter um den Botschafter kümmern könnte", sagte Jannaleik enttäuscht.
    "Ach ja, der orkische Botschafter. Keine Sorge, ich habe ja noch Garnau, der mir notfalls beistehen kann. Außerdem: SO unbedarft bin ich nun auch nicht, was diese Geschöpfe angeht. Immerhin habe ich jahrelang gegen sie kämpfen müssen."
    Jannaleik schnaubte abfällig: "Pha! Gerade darum wäre es besser, wenn ich hier bliebe!"
    Andre schüttelte entschuldigend den Kopf: "Es tut mir Leid, Jannaleik. Die Königin selbst räumt den Goblinstämmen allerhöchste Priorität ein. Sie schreibt, dass es absolut untragbar sei, dass sich Menschen und Goblins in ihrem Reich gegenseitig bekämpfen. Wenn diese ganze Landumverteilung Erfolg hat, wird sich hier vieles bessern."
    In der Tat traf es sich gar nicht schlecht, dass es im den Menschen seit jeher bekannten Teil der Insel diverse kleinere Goblinstämme gab, die vor allem die Bergregionen bewohnten: Wenn diesen die brachliegenden Minen und Forste der Insel zugeteilt würden, könnte dies die Produktivität der Insel erheblich steigern. Zwar wollte Königin Sabatha diesen Stämmen vorerst größere Autonomie belassen, hoffte aber, dass diese sich längerfristig der hegemonialen Macht Biblurs beugen würden, insbesondere dann, wenn sie ihnen respektvoll begegnete und durch die Landschenkungen eine Grundlage für längerfristigen Wohlstand schaffte.
    "Ihr werdet es nicht nur mit dem Botschafter der Orks vom Festland zu tun haben", gab Jannaleik zu bedenken, "wenn Ihr erst unsere Pläne im Minental ausführen wollt."
    Auch darüber hatte sich Andre bereits Gedanken gemacht.
    "Mit etwas Glück wird die Anwesenheit des Botschafters genügen. Und wenn nicht", ein selbstsicheres Lächeln stahl sich auf Andres Gesicht, "dann werde ich diese Angelegenheit so zu regeln wissen, wie ich es als Paladin gewohnt bin. Und glaubt mir, Graf: Wenn es darum geht, gegen die Orks Krieg zu führen, könntet Ihr von mir lernen!"
    Geändert von Sir Ewek Emelot (03.09.2013 um 22:32 Uhr)

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    Kapergang



    Es war eine der großen, weißen Gestalten, die als erstes erschien. Der kristalline Leib blitzte im letzten Strahlen der Abendsonne auf, bevor sich endgültig die Nacht über das Lager der Banditen senkte.
    Das Erscheinen der folgenden Geschöpfe sahen die geblendeten Gardisten nicht. Erst, als es zu spät war, erkannten sie, womit sie es zu tun hatten: Mit einem Angriff.
    Einer der Gardisten wurde von einem milchigen Strahl getroffen, der von dem Golem ausgegangen war, und erstarrte in einer Säule aus Eis. Ein weiterer Gardist wurde von den Zangen eines Minecrawlers gepackt und zu Boden gedrückt, derweil der Reiter der Kreatur - eine ungewöhnlich kleine Gestalt, die frappierende Ähnlichkeit mit einem Goblin zu haben schien - eine bläulich schimmernde Lanze in den Oberschenkel eines weiteren Kameraden bohrte, der darob in die Knie ging.
    Weiße, blaue und rötliche Lichtblitze flackerten in dem schattigen Tal auf und beleuchteten die grauenvolle Szenerie: Gestalten in blauen Roben und mit zu Beschwörungen erhobenen Armen, angst- und schmerzverzerrte Gesichter von Männern in schweren Rüstungen, die ihre Träger jedoch weder vor den Zaubern, noch den Schlägen der Golems oder den Angriffen der Minecrawler schützen konnten, deren Insektenbeine zuckend über die Pflastersteine huschten... Bilder, wie aus einem Albtraum.
    Der Kampf dauerte nicht lange. In nur wenigen Augenblicken waren die Gardisten überwältigt. Derweil die Reiter ihre Minecrawler gen Mine und in den Tempel lenkten, wandten sich die Golems und der Großteil der Blaugewandeten dem restlichen Lager zu. Die Barrieren, welche den Tempelvorplatz absperrten und vom unteren Lager trennten, wurden vom Ansturm der Golems niedergerissen, und bald schon erklangen auch aus den Kehlen der einfachen Banditen Schmerzens- und Entsetzensschreie.
    "Keine Sorge", sagte einer der Robenträger an einen der am Boden liegenden Gardisten gewandt, "es liegt nicht in unserer Absicht, zu töten. Aber Du verstehst sicherlich, dass wir Eure Präsenz auch nicht einfach so hinnehmen konnten. Ihr wart eine Gefahr, der wir uns annehmen mussten. Offen gesagt wundere ich mich, dass Ihr die Teleporterplattform nicht selbst für einen Präventivschlag benutzt habt. Tja, dafür ist es jetzt zu spät."
    Die Gestalt beugte sich zu Thorus herab.
    "Mhm... ich denke, das haben wir gleich", sagte sie, mit Blick auf die Wunde, aus der das Blut hervorquoll, "Riordian, hier ist Dein Typ gefragt!"



    Mit einem unwilligen Laut warf Oberst Trauben, der einstweilige Vertreter der Krone in Jharkendar, einen Blick auf das Ziffernblatt seiner Taschenuhr. Heute ließ dieser Hauptmann Thorus wirklich auf sich warten! Konnten diese Nackthäute eigentlich niemals pünktlich sein? Primitive Barbaren!
    "Wenn der Hauptmann nicht erscheinen will, dann fangen wir eben ohne ihn an", sagte Trauben in die Runde, "ich habe jedenfalls keine Lust, ihm einen weiteren Boten zu schicken. Also, was gibt es heu..."
    Trauben wurde unterbrochen, als jemand zur Türe herein kam, den Konferenztisch umrundete und ihm einen Zettel überreichte. Missmutig studierte Trauben den Zettel, und je länger seine Augen über das Blatt huschten, desto sorgenvoller wurde seine Miene. Schließlich entglitt der Zettel seinen nunmehr kraftlosen Fingern und mit der anderen Hand wischte er sich zitternd über die Stirn.
    "Was ist denn?", fragte Saturas besorgt.
    "Es... es", Trauben stockte, setzte neu an: "Es ist etwas schreckliches geschehen, absolut schrecklich..."
    Die stimme des Goblins überschlug sich beinahe vor Panik. Trauben schloss die Augen, atmete tief durch, sammelte sich. Als er seine Ruhe zurückgefunden hatte, sagte er: "Wie ich soeben erfahren habe, hat Hauptmann Thorus das neueste Schiff der königlichen Flotte mit einer kleinen Gruppe von Getreuen in Beschlag genommen. Er verlangt mehrere Kisten voll Gold, Proviant und freien Abzug mit dem Schiff."
    Admiral Greg brach in hämisches Gelächter aus: "Pah! Dieser lächerliche Thorus und seine Leute wissen doch gar nicht, wie man so ein Schiff führt! Lass uns das Dreckspack einfach ausräuchern!"
    Trauben jedoch schüttelte den Kopf: "Das geht nicht. Es... geht nicht."
    "Aber wieso denn?", fragte Saturas verständnislos.
    "Weil", Trauben schluckte, "weil Thorus die Kinder ihrer Majestät als Geiseln genommen hat. Kronprinz Selindan, Prinzessin Rhademe und Prinz Trelon befinden sich an Bord des Schiffes. Wenn wir seiner Forderung nicht nachkommen, dann wird Thorus einen nach dem anderen ermorden."
    Betretenes Schweigen machte sich in der Runde breit, dann begann die hitzige Diskussion, was zu tun sei.
    "Wir müssen umgehend die geforderten Waren herbeischaffen", sagte Trauben, "es ist absolut undenkbar, dass auch nur einem der Prinzen ein Leid widerfährt!"
    "Wir können die Güter recht schnell organisieren", stimmte Saturas zu, "Thorus weiß über unsere Vorräte Bescheid. Die Frage ist eher, ob er dann auch alle Geiseln freilässt. Er könnte auf die Idee kommen, wenigstens eine zu behalten, um auch in Zukunft noch ein Druckmittel zu haben."
    "Was machen wir nur?", stöhnte Trauben und schlug die Hände vors Gesicht.
    Greg knurrte böse: "Ihr wollt doch diese verräterische Landratte und seinen Lumpenhaufen von Banditen nicht mit MEINEM Schiff davon segeln lassen? Das kommt überhaupt nicht in Frage!"
    "Was sollen wir denn tun? Besser, wir verlieren das Schiff, als das Leben der Prinzen zu riskieren!"
    "Pah!", Greg donnerte die Faust auf den Tisch, "ich hatte Euch gleich gesagt, dass dem Banditenpack nicht zu trauen ist, aber Ihr wolltet ja nicht auf mich hören. Das habt Ihr jetzt davon! Aber keine Sorge, Admiral Greg hat schon einen Plan, wie wir diese Amateure in ihre fetten Ärsche treten. Also, es ist so: Diese Banditen haben keine Ahnung, wie man ein Schiff führt. MEINE Männer dagegen schon. Wir bringen den Klimbim, den dieser Thorus gefordert hat, zum Schiff. Aber nicht nur das. Sondern ich und meine Männer geben außerdem vor, dass wir uns den Arschgeigen in Wirklichkeit anschließen wollen. Dieser Trottel wird sich die... bescheidene Expertise von mir und meinen Leuten ganz sich nicht entgehen lassen. Dann lassen sie uns aufs Schiff, wo wir sie überraschend überwältigen können. Die Prinzlein kommen frei, das Schiff bleibt bei mir... äh, ich meine bei uns, und die Tunichtgute werden ordnungsgemäß aufgeschlitzt, aufgeknüpft oder kielgeholt. Am Ende sind alle glücklich, und wer nicht glücklich ist, ist tot, und damit wenigstens nicht unglücklich."
    Greg verschränkte zufrieden die Arme und schaute triumphierend mit seinem einen Auge in die Runde.
    "Und Du glaubst nicht", fragte Saturas, "dass Thorus misstrauisch werden könnte? Glaubst Du ernsthaft, dass er so dumm ist?"
    Greg wischte die Bemerkung beiseite: "Hah! Die Jahre in der Barriere haben diesem Dösbaddel doch das Hirn verkümmern lassen, als wenn der noch richtig denken könnte! Ich habe schon vor einiger Zeit sowas erwartet!"
    "Echt?", staunte Saturas.
    "Na klar!", rief Greg, "und ob Ihrs glaubt oder nicht: Greg hat vorgesorgt. Einer meiner Männer SOLLTE jetzt eigentlich bei Thorus sein, wenn mich nicht alles täuscht."
    "Ein Spion?", fragte Saturas.
    Greg nickte: "Wir werden ihm über unsere üblichen Schifffahrtssignale den Plan mitteilen. Er wird Thorus sagen, dass wir Euch grüne Scheißer ebenfalls verraten wollen, und dann lässt Thorus uns an Bord. Dann rammen wir ihm und seinem Haufen unsere Säbel in den Wanst und füttern die Haie mit dem, was übrig bleibt. So einfach ist das."
    Hoffnungsfroh blickte Trauben zwischen den beiden Menschen hin und her. Es schien, als wolle er Gregs Plan zustimmen. Saturas dagegen runzelte misstrauisch die Stirn.
    "Also gut", sagte er schließlich, "machen wir es so."
    Greg erhob sich. "Ausgezeichnet. Ich mache mich sofort an die Arbeit."

    "Willkommen, Thorus", sagte Saturas, "setzt Dich bitte!"
    Thorus fühlte sich grob auf den Stuhl gedrückt, der dem Wassermagier gegenüberstand.
    "Was soll das?", fragte er, "bist Du völlig übergeschnappt? Wir gehören jetzt zur selben Seite! Oder hat's Dir das Hirn weichgespült, dass Du das vergessen hast?"
    Seit dem Angriff der Wassermagier und dieser seltsamen Goblins waren einige Wochen vergangen, und unter Thorus' Kommando hatten sich die Banditen der Autorität Biblurs gefügt. Thorus hatte dies als Glücksfall erkannt, war damit doch die Isolation seiner Leute beendet, und eine Chance gegeben, dereinst wieder ein normales Leben zu führen. Biblur, so dachte er, war ihre Chance auf einen Neuanfang. Myrtana würde seine ehemaligen Häftlinge niemals rehabilitieren, unter Rhobar oder dessen Nachkommen wären sie stets nur entflohene Häftlinge. Doch diesen Goblins war ihre Vergangenheit egal.
    Das Verhalten des Wassermagiers hingegen war für Thorus unbegreiflich.
    "Ich weiß, wer Du bist", sagte Saturas, "ich weiß auch, was Du getan hast. Die Leute aus Biblur wissen es nicht. Sie haben die Zeit in der Kolonie nicht erlebt, wie wir Wassermagier. Glaubst Du ernsthaft, dass ich es vergessen hätte? Wie Ihr unsere Brüder aus dem Kreis des Feuers ermordet habt? Du, und Deine Gardisten, Ihr seid Mörder. Und ich weiß, dass man Euch nicht trauen kann."
    Soso, daher also wehte der Wind. Thorus hätte es wissen müssen.
    Und doch: "Ist das die vielgepriesene Weisheist des großen Meisters Saturas?", fragte er verächtlich, "hast Du nichts besseres zu tun, als in diesen alten Geschichten zu wühlen? Was willst Du jetzt machen? Uns alle töten? Da möchte ich mal sehen, wie Deine kleinen, neuen Freunde darauf reagieren!"
    Saturas grinste boshaft.
    "Oh, natürlich werde ich niemanden töten. Dich nicht, und Deine Leute nicht. Vorerst. Aber Du sollst wissen, dass ich Dich beobachte. Du sollst wissen, dass ich Dir nicht traue. Du sollst wissen, dass so etwas, wie damals im Alten Lager, niemals mehr passieren wird. WIR werden uns nicht hinterrücks meucheln lassen. Und Du sollst wissen, dass wir MÄCHTIG sind!"
    mit diesen Worten erhob sich der Wassermagier und es schien, als würde der ganze Raum in Schatten versinken. Einzig Saturas' Gestalt erstrahlte wie von einem inneren Licht, und schien drohend vor Thorus emporzuwachsen.
    Thorus fühlte Enttäuschung, hatte er doch gehofft, dass das Kämpfen endlich ein Ende finden würde. Doch machte sich noch ein andere Gefühl in ihm breit: Die Wut.


    Es lief alles wie am Schnürchen: Die tölpelhaften Goblins und die blöden Wassermagier waren ihm auf den Leim gegangen! Greg frohlockte über die unendliche Dummheit seiner Gegner. Oder nein, nicht die Dummheit seiner Gegner! Zuweilen vergaß Greg einfach, wie sehr ihn sein eigenes Genie von normalen Menschen abhob, und dann kamen die anderen ihm dumm vor. Aber das war natürlich ein Irrtum. Einer, den man ihm zwar nicht ernsthaft übel nehmen konnte, aber immerhin ein Irrtum.
    Greg frohlockte also nicht über die Dummheit seiner Gegner, sondern über seine eigene Genialität und die Brillanz seines Planes.
    Oh, und nicht nur sein Plan brillierte!
    Seine Männer schleppten die schweren Kisten auf das Schiff zu, Kisten voller Gold. Das war freilich noch nicht alles, was er aus dieser Sache herausschlagen wollte, ganz im Gegenteil! Bevor dieser Tag zuende wäre, würde er wieder Kapitän eines eigenen Schiffes sein, er würde endlich wieder selbst bestimmen können, was er tat, wohin er gehen wollte, würde endlich wieder die frische Seeluft genießen und über die Meere fahren, er würde Angst und Schrecken verbreiten, sich nehmen, was er wollte, er würde frei sein...
    "Ganz schön schwer", murrte Skip, der zusammen mit Garrick eine der Schatztruhen schleppte.
    "Maul halten", knurrte Greg zurück. Was fiel diesem Kerl denn ein, seinen Kapitän in dessen Kontemplation zu stören?
    "Wir sind gleich da", schnaufte Bill, der zusammen mit Owen eine weitere Kiste trug.
    Und in der Tat, schon waren sie am Hafen angekommen und legten schnurstracks den Weg zum Kai ein. Gregs Herz schlug mit jedem Schritt höher, der ihn seinem neuen Stolz näher brachte. Seinem Stolz. Ohja, das wäre wohl ein passender Name für das Schiff gewesen: "Mein Stolz" Oder nein, die Leute würden womöglich nicht wissen, wer "ich" in diesem Falle meinte. "Gregs Stolz", ja, das war es! Das war ein würdiger Name für ein Schiff, das die gesamte myrtanische See unsicher machen würde!
    "So, jetzt nur noch die Planke rauf!", kommandierte Greg seine Leute und ging ihnen voran. Er sah bereits die Gestalten der Banditen, die er bald in seine Mannschaft aufnehmen würde.
    "Da bist Du ja endlich", begrüßte ihn Thorus mit einem Grinsen, "ich hatte schon befürchtet, die Pelzviecher würden Ärger machen."
    Greg lachte lauthals: "Ärger? Von wegen! Der einzige, der hier Ärger macht, das bin ich!"
    Und mit diesen Worten auf den Lippen schritt Greg auf Thorus zu, zog beiläufig seinen Säbel, und stieß ihn dem verdutzen Räuberhauptmann in den Wanst. Greg bohrte noch ein wenig mit dem Säbel in der Wunde, bevor er seinen nunmehr wertlos gewordenen Verbündeten rücklings über die Rehling kippen ließ.
    "Der ehrenwerte Hauptmann Thorus ist für die Leitung eines Schiffes leider nicht geeignet, und wurde daher vorzeitig in den Ruhestand befördert", wandte sich Greg mit erhobener Stimme an die erschrocken dastehenden Banditen, "wenn Ihr dreckigen Landratten also Eure faulen Ärsche von dieser elenden Insel bekommen wollt, wenn Ihr Bäuche aufschlitzen, Schiffe plündern und Reichtümer anhäufen, wenn Ihr saufen und Euer Gold in den Freudenhäusern verprassen, kurz, wenn Ihr ein gutes Leben führen wollt, dann werdet Ihr fortan Kapitän Greg gehorchen! Also?", Greg riss seinen Säbel in die Höhe, "wer folgt Kapitän Greg?"
    Gregs eigene Leute stimmten Jubelgeschrei an und verfielen dann in grölenden Gesang. Zufrieden nahm Greg zur Kenntnis, dass mehr und mehr von Thorus' Leuten sich anschlossen. Zwar fiel es einigen offenkundig schwer, dem Text des Piratenlieds zu folgen, doch stimmten sie immerhin durch lautes Summen ein.
    Greg und sein erster Maat begannen, Befehle zu erteilen, und die Piraten setzten sich flugs in Bewegung, dass Schiff zur Abreise bereit zu machen.
    Eines allerdings war noch zu tun übrig.
    "Wo sind die kleinen Scheißerchen?", fragte Greg einen der Banditen. Der schaute erst blöde, bevor ihm aufging, dass damit wohl die Geiseln gemeint waren, und Greg mitteilte, dass sie in der Kapitänskajüte seien.
    Zufrieden machte sich Greg auf den Weg. Als er die Treppe zu den unteren Decks betrat und den Flur zu seiner neuen Kammer entlang ging, strichen seine Finger über die Holzwände. Fast schien es ihm, als sei das Holz besonders warm, als sei es weich und anschmiegsam. Ja, das Schiff war ihm wohlgesonnen!
    Endlich erreichte er die Tür zu seiner Kajüte. Erst jetzt fiel ihm ein, dass sie wohl abgesperrt sein musste, wenn die Geiseln sich darin aufhielten. Und den Schlüssel, den hatte wohl dieser Thorus bei sich getragen. Verdammt noch mal, er hätte den Mistkerl nicht einfach ins Wasser fallen lassen sollen!
    Wider besseres Wissen drückte Greg die Klinke.
    Und siehe da, die Tür öffnete sich! Ob Thorus die prinzlichen Fellknäuel gefesselt hatte?
    Endlich konnte Greg über die Schwelle treten, doch... was war das?
    "Du?", stieß er hervor und griff nach seinem Säbel.
    Dann traf ihn ein unsichtbarer Schlag und warf ihn zu Boden.

    Saturas war aufgestanden ging und nun einige Schritte auf den am Boden liegenden Piratenkapitän zu. Als der Anstalten machte, sich wieder zu erheben, hob Saturas erneut seine Hand und nagelte Greg mit Geisteskraft fest.
    "Nicht bewegen", sagte Saturas ruhig, "sonst muss ich Dir noch wirklich weh tun."
    Waffenklirren und erschrockene Rufe drangen gedämpft vom Oberdeck herab, bevor ein Knall ertönte und der Kampflärm erstarb.
    "Das sollte es dann wohl gewesen sein. Das hier ist wirklich ein schönes Schiff, nicht wahr? Es wird Biblur sehr von Nutzen sein." Saturas grinste.
    "Woher... wie?", stammelte Greg, wurde von Saturas unterbrochen: "Wir wussten von Anfang an, was Du planst. Die königlichen Hoheiten waren nie an Bord dieses Schiffes. Sie waren niemals ernsthaft in Gefahr."
    "Aber... Thorus!"
    Saturas lachte. "Thorus", sagte er und blickte über Greg hinweg in Richtung Oberdeck. Greg vernahm das Poltern von Schritten und wandte den Kopf um. Zwei Gestalten näherten sich. Die eine war einer der Banditen, die er doch eigentlich seiner Mannschaft einverleibt hatte...
    "Hallo Cronos", begrüßte ihn Saturas.
    ... und die andere war... aber das war doch nicht möglich!
    "Und hallo Thorus. Schön, dass alles wie geplant verlaufen ist."

    Wut machte sich in Thorus Innerem breit. Würde das denn niemals enden? Was wusste dieser dämliche Wassermagier denn schon von ihm und seinen Männern? Wie konnte es dieser Saturas wagen, ihn so zu verurteilen? Dieser selbstgerechte Magier!
    "Jetzt will ich Dir mal was erklären", presste Thorus hervor, "weißt Du, warum ich noch am Leben bin? Weil ich immer zu meinen Leuten loyal war. Ich mag nicht mit allem einverstanden gewesen sein, was die Erzbarone oder was Raven getan haben. Aber ich habe mich an die Regeln gehalten. Das Alte Lager oder das Lager der Banditen hier in Jharkendar haben vielleicht nicht zur Zufriedenheit aller funktioniert, aber sie HABEN funktioniert. Wir waren Banditen. Gesetzlose. Ausgestoßene. Verachtete. Wo immer wir hätten hingehen können, man hätte uns gejagt, eingesperrt und getötet. Lange Zeit dachte ich, dass es keinen Ort für uns gäbe. Bis Du und Deine kleinen Verbündeten uns angegriffen habt."
    Die Härte war aus Saturas' Gesichtsausdruck gewichen, und hatte einer nachdenklichen Miene Platz gemacht. versonnen kraulte sich der alte Wassermagier durch den Bart.
    "Du meinst das Ernst, nicht wahr?", fragte er schließlich. Thorus nickte.
    "Dann habe ich Dich doch nicht völlig falsch eingeschätzt. Thorus, ich habe einen Auftrag für Dich."
    "Ein Auftrag der Goblins?"
    "Nein", Saturas schüttelte den Kopf, "diesen Auftrag bekommst Du von mir, und Du wirst NIEMANDEM davon erzählen. Es geht um die Piraten. Ich traue ihnen nicht. Und ich bin überzeugt, dass sie mir nicht trauen. Bei Dir hingegen könnte das anders sein..."


    Thorus, der Thorus, dem Greg selbst den Bauch durchbohrt, den er mit eigenen Händen getötet hatte, kam überaus lebendig und überraschend unversehrt heran. Noch immer verstand Greg nicht, wie das möglich war.
    Thorus beugte sich zu dem noch immer gelähmten Greg herab, und nahm ihm den Säbel ab.
    Das dämmrige Licht, dass durch die Milchglasfenster von Gregs Kajüte fiel, ließ den sauberen Stahl schimmern.
    Den sauberen Stahl.
    "Meine Illusion hat ganze Arbeit geleistet", sagte der Pirat, den der Magier als 'Cronos' begrüßt hatte, "und der Kampf im Anschluss war schnell entschieden."
    Saturas nickte zufrieden.
    "Ihr könnt den ehemaligen Admiral jetzt in Gewahrsam nehmen, Hauptmann Thorus."
    Geändert von Sir Ewek Emelot (21.01.2015 um 13:33 Uhr)

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    Der widerspenstige Ork



    Andre kam sich ein wenig albern vor, eine Flagge zu benutzen, die ein wolkiges Schaf abbildete, doch war es nicht das erste Mal, dass er dies tat, und er hatte gesehen, wie wirkungsvoll dieses sonderbare Symbol war. General Lee dagegen machte in etwa das Gesicht, von dem Andre glaubte, dass er selbst so ausgesehen hatte, damals, als er die ersten Verhandlungen mit den Orks erlebt hatte.
    "Frag lieber nicht", sagte Andre an Lee gewandt. So langsam zehrte die Warterei an seinen Nerven. Er nahm seine Taschenuhr zur Hand, ein wertvolles Ding aus Biblur, doch beim Versuch, sie aufzuklappen, entglitt sie seinen Fingern.
    "Warum liegt Deine Taschenuhr auf dem Boden?"
    Andre verdrehte die Augen und bückte sich nach seiner Uhr.
    "Weil sie heruntergefallen ist", gab er zur Antwort.
    "Warum ist sie heruntergefallen?"
    Er unterdrückte ein Seufzen. Seit er den ständig irgendwelche Fragen stellenden Garnau heute Morgen entnervt angefahren hatte, hatte sich der darauf verlegt, ihn absichtlich zu reizen. Andre sah den Schalk in Garnaus Augen aufblitzen.
    "Weil ich sie habe fallen lassen", antwortete er und erhob sich wieder.
    "Warum hast Du sie fallen lassen?"
    Lee stöhnte auf. Die Kabbelei zwischen dem Professor und dem königlichen Statthalter ging den anderen offenbar mindestens so auf die Nerven, wie Andre selbst.
    "Weil der Griff meiner Hand zu unsicher war."
    "Warum war der Griff Deiner Hand zu unsicher?"
    "Weil ich unaufmerksam war", die Schärfe in Andres Stimme war nun nicht mehr zu überhören.
    "Warum warst Du unaufmerksam?" Garnaus Stimme dagegen vibrierte vor Belustigung.
    "Weil ich ein fehlbarer Mensch bin."
    "Warum bist Du ein fehlbarer Mensch?"
    Jetzt hatte Andre ihn! "Weil meine Eltern fehlbare Menschen waren."
    "Warum waren Deine Eltern fehlba..." Garnau stockte kurz, hatte es wohl bemerkt, "...re Menschen?"
    "Weil deren Eltern fehlbare Menschen waren." Jetzt lag ein triumphierendes Lächeln auf Andres Lippen, denn nun musste Garnau beliebig oft dieselbe Frage stellen, und Andre könnte immer wieder dieselbe Antwort geben.
    "Seid still jetzt", zischte General Lee und deutete nach vorne, "sie kommen endlich!"
    Andre wandte sich den Neuankömmlingen zu.
    "Du hast das Spiel gewonnen", flüsterte Garnau und widmete sich sodann ebenfalls der sich nähernden Delegation. Andre war sich sicher, dass ihm weitere Fragen auf den Lippen lagen. Ernsthafte Fragen. Die würde Andre allerdings nicht beantworten können.
    Andre, Garnau und Lee zur Seite stand, neben einer kleinen Abteilung von Söldnern sowie Infanteristen aus Biblur, Morr-Kash, der Botschafter der Orks vom Festland.
    Wenn diese Sache gut verlief, würde die Anwesenheit Morr-Kashs den Konflikt im Minental beenden. Wenn nicht... nun, dann würde Andre andere Saiten aufziehen.
    Der Delegation der Minentalorks voran schritten ein Schamane und ein Krieger, der durch seine Rüstung und das mächtige Schwert als Befehlshaber zu erkennen war. Die schweren Schritte der Orks wirbelten Staubwolken auf. Der Pass zum Minental war wahrlich ein trockener und unwirtlicher Ort, und doch wusste Andre, dass dies allenfalls ein Vorgeschmack auf das Tal der Minen selbst war.
    "Sich nähernder Ork ist Garrock, großer Kommandant und guter Freund", teilte Morr-Kash mit, "er führte die Krieger an, die unsere Brüder auf Khorinis unterstützen sollten. Anderer Ork ist Shamane, sein Name ist Hosh-Pak. Er ist ein alter und mächtiger Schamane, sein Rat sehr geachtet, als noch nicht die magische Barriere seinen Stamm verschlossen hat."
    Andre nickte dem Schamanen dankbar zu und widmete sich dann den Genannten.
    "Ich entbiete Euch meine Grüße", sagte er, "mein Name ist Andre, Statthalter Ihrer königlichen Majestät, Sabatha II, Königin von Biblur und Herrscherin von Khorinis. Mir zur Seite steht Lord Lee, General Ihrer Majestät, sowie Professor Dr. Dr. Garnau Klaufen, Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften von Biblur. Eine besondere Freude ist es mir, Euch Morr-Kash vorzustellen, Schamane des hohen Rates und Botschafter der Orks hier auf Khorinis und im Staatsgebiet von Biblur."
    Der fremde Schamane war ob der Anwesenheit seines Artgenossen offensichtlich überrascht, der Krieger dagegen begrüßte Morr-Kash freudig in der Sprache der Orks.
    Andre fuhr fort: "Es ist mir eine Ehre, einen so angesehenen Schamanen wie Euch kennen zu lernen, ehrenwerter Hosh-Pak!"
    Andre war davon überzeugt, dass sein Gesichtsausdruck neutral, seine Stimme respektvoll und die Worte angemessen gewesen waren. Er war überzeugt, keinen Fehler begangen, sondern alle diplomatischen Konventionen eingehalten zu haben.
    Umso mehr überraschte ihn das Verhalten des orkischen Schamanen.
    "Hosh-Pak!", brüllte der Anführer der Orks des Minentals, "Mensch beschmutzt Ehre von Hosh-Pak!"
    Die spitze von Hosh-Paks Zauberstab begann unheilvoll zu glühen. Schon schoss ein Feuerball daraus hervor. Andre wollte dem Geschoss ausweichen, doch da legte sich ein Schatten vor Andres Gesichtsfeld. Er hörte eine Detonation und ein fauchendes Geräusch, eine Rußwolke breitete sich aus und reizte Andres Lunge. Er hörte Lee husten.
    Als sich die Wolke verzogen hatte, machte Andre Morr-Kash aus, der sich schützend vor Andre geworfen und Hosh-Paks Angriff aufgehalten hatte. Der Botschafter hielt seinen eigenen Stab vor sich und knurrte einige Worte in orkischer Sprache. Doch anstelle Hosh-Paks war es der Krieger in dessen Begleitung, der antwortete.
    Morr-Kash gab einen verwunderten Laut von sich.
    "Was haben die gesagt?", fragte Lee.
    "Offensichtlich handelt es sich dort gar nicht um Hosh-Pak", übersetzte Garnau den anwesenden Menschen, "sondern um einen Schamanen namens Ur-Shak."
    "Hosh-Pak getötet durch Bosheit von Menschen!", stieß der Schamane aus dem Minental wütend hervor, "Menschen nicht beschmutzen Ehre von Hosh-Pak durch Spotten über seinen Namen!"
    Andre verstand. "Offensichtlich ist der weise Schamane Hosh-Pak während der Auseinandersetzung im Minental durch die myrtanische Armee umgekommen, und dessen Nachfolger Ur-Shak hier betrachtet diese Verwechslung als eine Beleidigung von Hosh-Paks Andenken", erklärte Garnau das Offensichtliche.
    Andre schlüpfte an Morr-Kash vorbei und verbeugte sich vor dem Schamanen Ur-Shak. "Ich bitte für dieses Missverständnis um Entschuldigung", sagte er und hoffe, auf diese Weise die Wogen zu glätten, "wir wussten nichts vom Tode des ehrenwerten Hosh-Pak. Ähm... ein Bisschen Kretzelbrot?"
    Lee schlug sich die Hand an die Stirn, Garnau dagegen nickte anerkennend, und auch die Haltung Morr-Kashs entspannte sich. Einer der Goblins brachte ein Stück der orkischen Delikatesse herbei. Es handelte sich nicht um die Reste des Laibes, von dem Andre einst auf See gekostet hatte - dieses war schon lange nach Biblur verbracht worden -, sondern es stammte aus dem Vorrat, den Morr-Kash mitgebracht hatte.
    Andre nahm es entgegen, brach ein Stück ab, verzehrte es, und hielt es Ur-Shak hin.
    Der fühlte die Blicke aller Anwesenden auf sich gerichtet. Obgleich ihm anzusehen war, dass sein Zorn keineswegs verraucht war, nahm er das Brot entgegen und kostete ebenfalls davon, reichte es an den Krieger Garrock weiter und verlegte sich sodann darauf, grimmig auszusehen.
    "Was soll denn das nun?", hörte Andre Lees geflüsterte Frage.
    "Jetzt nicht", zischte er zurück und deutete auf eine Gruppe einfacher Klappstühle, die um einen Klapptisch aufgestellt waren.
    "Wir sollten uns vielleicht setzen", sagte Andre.
    Morr-Kash legte umgehend die wenigen Schritte zurück und ließ sich auf einem der Stühle nieder, alle anderen taten es ihm nach und nach gleich. Schließlich schloss sich auch Ur-Shak an und nahm zwischen Garrock und Morr-Kash Platz, direkt gegenüber von Andre.
    "Wir haben natürlich nicht nur diese Sitzgelegenheit für Euch vorbereitet, sondern auch eine kleine Erfrischung", sagte der. Bei der Vorbereitung hatte Garnau gemeint, man müsse Tee auftragen. General Lee dagegen war der Auffassung gewesen, dass Met die bessere Wahl sei. Andre dagegen ließ helles Paladiner auftragen, seine Lieblingsbiersorte. Er hatte angewiesen, eigens ein Fässchen mitzuschleppen, und genoss denn auch einen ordentlichen Schluck aus dem Humpen, den man ihm reichte. Der Orkkrieger an Ur-Shaks Seite schien ebenfalls daran Gefallen zu finden, Ur-Shak selbst jedoch ignorierte den Krug, den man ihm hinstellte.
    "Was Ihr wollen?", fragte er grimmig.
    Andre kramte die Lederhülle mit dem Vertrag hervor, der schon die orkische Flotte zum Einlenken bewegt hatte, und reichte sie dem Schamanen weiter. Ur-Shak studierte das Papier, ließ jedoch ansonsten keine Regung erkennen.
    "Es handelt sich hierbei um eine Kopie des Originalvertrages, unterzeichnet und damit beglaubigt durch Botschafter Morr-Kash. Wir stehen nicht länger unter myrtanischer Flagge, sondern sind nun Untertanen der Krone von Biblur, zu der Ihr Orks durch diesen Vertrag nach altem Recht und durch Eure Ehre zum Frieden verbunden seid. Als direkte, juristische Nachfolger des Bundes von Jharkendar, steht dem Königreich Biblur die Herrschaft über die gesamte Insel zu. Wir sind hier, um über die Hoheitsansprüche über das Minental zu verhandeln. Ihre Majestät Sabatha ist dazu bereit, Eurem Stamm, der seit langer Zeit im Minental ansässig ist, zahlreiche Zugeständnisse zu machen, und Eure Autonomie zu respektieren, sofern die Feindseligkeiten enden, die fremden Orks wieder auf das Festland verlegt werden, und die überlebenden Menschen der einst Myrtana unterstellten Armee Lord Hagens freies Geleit erhalten, um das Tal zu verlassen."
    Ur-Shak blickte zwischen dem Vertrag, Andre, Garnau und Morr-Kash hin und her. Schließlich packte er das Dokument und zerpflückte es in kleine Schnipsel, bellte einige Sätze in Richtung Morr-Kash, bevor er sich schließlich erhob und von Dannen ging.
    Diese Wendung kam für Andre keineswegs unerwartet, hatte man ihn doch über diese Möglichkeit informiert.
    Wenn sich die Orks des Minentals der Autorität des Hohen Rates der Schamanen nicht fügen wollten, musste Andre es mit dem alternativen Plan versuchen.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (19.01.2014 um 22:51 Uhr)

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    Ein ehrenwerter Rückzug



    "Sie kommen immer näher, Käptn!"
    Das sah Iomar doch auch. Nur konnte er nichts, rein gar nichts dagegen tun: Die Henrietta, sein geliebtes Schiff, war schrecklich überladen. Es war einfach nicht dazu gedacht, so viele Flüchtlinge zu beherbergen. Zu allem Überfluss aber bestand der Rest des Konvois aus eher notdürftig zusammengezimmerten Kähnen. Einer der Seelenverkäufer musste gar von der Henrietta geschleppt werden, da er mit dem Rest des Konvois nicht mithalten konnte.
    "Käptn, was sollen wir tun?", fragte der erste Maat wieder. Ja, was nur?
    Derweil die orkischen Kriegsschiffe immer näher kamen, ging Iomar seine Optionen durch: Er konnte freilich die Verbindung zu dem namenlosen Flüchtlingskahn kappen und volle Segel setzen lassen. Mit etwas Glück würden sich die Orks erst um die drei langsameren Schiffe kümmern, so dass die Henrietta entkommen könnte. Doch warum sollten sie dies tun? Wenn er selbst der orkische Kommandant wäre, würde er zuerst die Henrietta verfolgen lassen, um sich dann später um den hilflosen Rest zu kümmern. Wobei: Warum sich nicht aufteilen? Eine einzige Galeere wäre wohl hinreichend, die Flüchtlingsschiffe zu versenken.
    Flucht war also keine Option.
    Die nächste Möglichkeit wäre, ebenfalls die Taue zum im Schlepp befindlichen Boot zu kappen, um eine voll manövrierfähige Henrietta in den Kampf zu schicken. Gleichwohl: Wie sollte Iomar gegen eine orkische Flottille kämpfen? Es handelte sich augenscheinlich um ganze drei Kriegsgaleeren. Die waren nicht nur voll mit orkischen Kriegern, sondern vermutlich mit Katapulten oder anderen Geschützen bewaffnet. Iomar standen lediglich zwei kleine Torsionsgeschütze am Bug zur Verfügung, und die eingeschüchterten Flüchtlinge wären den Orks beim Enterkampf leichte Beute. Iomars Blick wanderte zu Javier, dem ehemaligen Paladin, der gefasst an der Reling stand und die Hand ans Heft seines Schwertes gelegt hatte. Ja, wenn noch mehr Männer dieses Schlages an Bord wären, dann hätte Iomar den Enterkampf gewählt. Doch abgesehen von einigen ehemaligen Soldaten des Königs gab es kaum Bewaffnete an Bord - und selbst wenn: Wer konnte schon mit einer Waffe umgehen?
    Kampf war also auch keine Alternative.
    Die letzte Möglichkeit bestand darin, sich zu ergeben. Er konnte die Segel streichen, abwarten und darauf hoffen, dass die Orks Gnade walten ließen und die Menschen wieder aufs Festland zurückbringen würden. Dort müssten die zwar wohl ein Sklavendasein führen, aber immerhin WÄRE es ein Dasein, sie wären immerhin noch am Leben. Doch Iomar bezweifelte, dass die Orks dieses Mal so nachsichtig wären. Die Henrietta würden sie vielleicht entern, da sie ein ordentliches Schiff war und ihnen noch von Nutzen sein könnte. Dabei würden sie vielleicht tatsächlich Gefangene machen. Doch mit dem Rest würden die Bestien sich gewiss nicht belasten wollen. Sie würden wohl nicht einmal ihre Geschütze bemühen, sondern die kleinen Schiffe einfach mit den Rammspornen zerteilen.
    Kapitulation war folglich ebensowenig ein gangbarer Weg.
    Das einzige, was Iomar blieb, war Abwarten. Nichtstun. Beten. Vielleicht würden die Orks ja von einem Seeungeheuer geholt. Mehr als Hoffnung blieb den Flüchtlingen aus Ardea und Kap Dun nicht, mochte die auch noch so dünn werden. Sie war einzige, das...
    "Was ist denn das dort?", wurde Iomar erneut aus seinen Gedanken gerissen. Sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Maats und blieb an einem schwarzen Punkt hängen, der sich vom Horizont her näherte und beständig größer wurde. Ja, in der Tat: Das war ein weiteres Schiff, und es näherte sich mit großer Geschwindigkeit.

    Ur-Krass unterdrückte ein Gähnen. Diese Menschenjagd war unter seiner Würde! Er hätte sich gewiss gekränkt gefühlt, wenn es nicht ebenso unter der Würde eines jeden anderen Orks gewesen wäre. So hingegen war er einfach nur der Pechvogel, dem diese unangenehme aber leider nunmal auch notwendige Aufgabe zugefallen war. Sie konnten es sich nicht leisten, dass die Bevölkerung des nun beinahe niedergerungenen Myrtana aufbegehrte, und die Flucht eines Sklaven war ganz eindeutig eine Form des Aufbegehrens.
    Gelangweilt blickte Ur-Krass den kümmerlichen Holzhäufchen entgegen, denen die armen Menschen ihre Leben hatten anvertrauen müssen. Müssen? Von wegen! Sie hätten auch einfach still und fügsam bleiben können, statt sich mit Gedanken an ferne und sichere Gestade falsche Hoffnungen zu machen! Tatsächlich mutmaßte Ur-Krass, dass es die Flüchtlinge ohnehin nicht bis Khorinis geschafft hätten. Viel eher wären ihre Schiffe auf dem Weg dahin auseinandergebrochen oder gekentert, oder in einer Windflaute liegen geblieben, so dass die Menschlein elendig verdurstet oder verhungert wären. Dass die Menschen keine Sklaven sein wollten, das konnte Ur-Krass ja schon verstehen. Doch da hieß es eben: Kämpfen bis zum Sieg oder zum Tod! Diese verzweifelt tollkühne Flucht dagegen hatte nichts Ehrenvolles an sich. Sie war sogar noch feiger, als das Leben in Sklaverei zu ertragen, wo doch immerhin noch die Möglichkeit bestanden hätte, sich irgendwann zu erheben und die Eroberer zu vertreiben.
    "Kommandant, sieh nur!"
    Ur-Krass schreckte aus seinen Gedanken hoch.
    "Was denn?", knurrte er seinen ersten Offizier Tangrash an.
    "Dort vorne, da nähert sich was!"
    Tatsächlich: Ein anderes Schiff. Was das wohl zu bedeuten hatte?
    "Abwarten...", murmelte Ur-Krass.

    Das fremde Schiff kam näher und näher. Mittlerweile waren bereits zahlreiche Einzelheiten zu erkennen, und sicher war: Dieses Schiff war ganz sicher nicht orkischen Ursprungs. Das allerdings bedeutete nicht, dass es nicht unter orkischer Flagge segeln konnte. In den letzten Kriegsjahren waren viele Schiffe in die Hände der Orks gefallen.
    "Bei Adanos, ist das riesig!", staunte Rosa, die zu den Leuten gehört hatte, welche die Flucht organisiert hatten. Iomar hatte die alte Frau in den vergangenen Wochen sehr zu respektieren gelernt: Zu weiten Teilen war es ihrer Besonnenheit und Klugheit zu verdanken, dass die Flüchtlinge so lange zusammengehalten und gemeinsam überlebt hatten. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie es verstanden, mit Iomar einen vertrauenswürdigen Schiffseigner zu finden, der die Flüchtlinge auch wirklich nach Khorinis zu bringen gedachte, dem einzigen Ort der nahe genug lag, und von dem es hieß, dass er noch nicht in den Händen der Orks sei.
    Was das unbekannte Schiff anbetraf, so musste er ihr zustimmen: Es war in der Tat gewaltig. Iomar war auf seine Henrietta immer stolz gewesen. Es war nicht das schnellste und auch nicht das größte Schiff. Mit den großen Kraweelen der königlichen Marine oder den Holks der reichen Kaufmänner konnte seine Kogge nicht konkurrieren. Dennoch war es ein gutes Handelsschiff mit achtbarer Tonnage. Was sich Iomars Blick nun jedoch darbot, das war schlicht überwältigend: Er schätzte, dass das fremde Schiff mindestens eine Länge von 50 Metern hatte, und damit doppelt so groß wie die Henrietta war. Ein so großes Schiff hatte er noch nie gesehen. Selbst die Esmeralda, die er einmal im Hafen von Vengard vor Anker hatte liegen sehen, war mit an die 35 Metern nicht annähernd so groß gewesen.
    "Kannst Du erkennen, unter welcher Flagge das Schiff fährt", fragte er seinen ersten Maat, "ist es myrtanisch?"
    Der Angesprochene schüttelte bloß den Kopf.
    Staunend beobachteten Iomar und der Rest der an Deck befindlichen Flüchtlinge, wie das große Schiff stolz und elegant dahinglitt und sich der orkischen Flottille in den Weg stellte. Wer immer dort das Kommando hatte: Offenbar wollte er nicht, dass Orks und die Flüchtlinge aufeinandertrafen. Würde dieses fremde Schiff den Flüchtlingskonvoi schützen? Iomar hielt unwillkürlich den Atem an. Würde es nun zu einem Kampf kommen?

    "Was sollen wir jetzt tun?", fragte Tangrash, "greifen wir an?"
    Ur-Krass gab seinem ersten Offizier einen Hieb auf den Hinterkopf. Eigentlich war Tangrash ein verlässlicher Offizier. Ur-Krass schätze seine Stärke als Krieger und wusste, dass man ihm militärische Entscheidungen in der Schlacht sehr wohl anvertrauen konnte. Doch gelegentlich hatte sein Stellvertreter einfach einen solchen Rüffel nötig.
    "Wofür war denn das?", grummelte Tangrash und rieb sich den Schädel.
    "Na, was glaubst Du denn? Hast Du keine Augen im Kopf? Willst Du Schande über Dich und Deine Familie bringen? Weißes Schaf auf rotem Grund, Dummkopf!"
    Natürlich kannte jeder Ork die Bedeutung dieses Friedenssymbols. Wer immer unter diesem Banner reiste, musste in Frieden empfangen und angehört werden. Wer es missachtete, indem man er den Träger angriff, oder es gar für einen eigenen, heimtückischen Schlag gegen Nichtsahnende nutzte, brachte die allergrößte Schande über sich selbst und den Klan - und zwar über mehrere Generationen.
    "Pah!", wehrte Tangrash ab, "das ist doch bestimmt nur ein Zufall! Kein Mensch würde dieses Friedensbanner nutzen! Nicht absichtlich."
    Ein weiteres Mal landete Ur-Krass' Handrücken auf Tangrashs Hinterkopf.
    "Idiot! Siehst Du nicht die andere Flagge? Das ist ein Minecrawler!"
    Natürlich hatte Tangrash wieder einmal keine Ahnung. Dabei waren sämtliche Offiziere in der Lagebesprechung letzten Monat umfassend informiert worden. Tangrash interessiert sich jedoch nicht für Dinge abseits des Kampfes. Eigentlich eine löbliche Einstellung für einen Krieger, dennoch hätte sich Ur-Krass einen etwas verständigeren Offizier gewünscht, der über den allzu begrenzten Horizont des kampfwütigen Soldaten hinausblicken konnte.
    "Das ist kein myrtanisches Schiff, sondern es kommt aus Khorinis."
    "Khorinis?", wunderte sich Tangrash, "aber das gehört doch zu..."
    Diesmal schlug Ur-Krass noch etwas fester zu. Das tat ihm leid, aber Tangrash brauchte das.
    "Khorinis gehört zum Königreich Biblur, und das ist mit uns verbündet. Wenn Du bei den Lagebesprechungen nicht immer abwesend wärst, wüsstest Du das!"
    "Aber wir können doch nich..."
    Tangrash verstummte angesichts von Ur-Krass erneut erhobener Hand.
    "Wenn die neuen Herren von Khorinis Anspruch auf diese Menschen erheben wollen, werden wir sie ziehen lassen."
    "Aber... es sind doch UNSERE Sklaven!", empörte sich Tangrash.
    Ur-Krass ließ die Hand sinken. Er konnte Tangrash schlagen, soviel er wollte, der würde es niemals begreifen. Im Prinzip war es nur besser, dass diese Sklaven weg waren. Die Bevölkerung von Myrtana war jetzt schon immer schwerer zu kontrollieren. Jeder Mensch, der Verschwand - egal, wie! -, war ein Mensch weniger, der bei Aufständen gegen die Besatzer kämpfen konnte. Im Übrigen war Ur-Krass froh, dass er um das Gemetzel herumgekommen war, und keiner der Kriegsherrn würde es ihm übel nehmen, dass er unter diesen Umständen einen Kampf vermieden hatte, bei dem keine Ehre zu erringen gewesen wäre.
    "Wir kehren nach Kap Dun zurück", teilte er Tangrash mit, "gib die entsprechenden Befehle und lass die Flotte beidrehen!"
    Es gab freilich noch einen anderen Grund, den Kampf mit dem großen Schiff zu meiden: Ur-Krass war nicht sicher, ob er den Kampf gewinnen würde. Und dass die neuen Herren von Khorinis - Verbündete oder nicht - über ein solches Schiff verfügten, das war mit Sicherheit eine viel zu wichtige Nachricht, als dass er den Tod aller möglichen Überbringer hätte riskieren dürfen.
    Ur-Krass warf einen letzten Blick auf dieses Schiff, bevor sich abwandte und zu seiner Kajüte ging.

    Selindan stand auf der Reling und sah ein wenig enttäuscht den orkischen Schiffen nach, wie sie beidrehten und sich entfernten. Orks. Er hatte noch niemals einen lebendigen Ork gesehen. Im anatomischen Museum in Biblur hatte es ein Exponat gegeben, einen Ork, der weit über die anderen Ausstellungsstücke hinausgeragt hatte. Aber so beeindruckend das auch gewesen war: Es war eben doch nur ein stummes, totes Ding gewesen.
    "Ich denke, das ist genug" sagte der Kapitän und hob den Prinzen herunter.
    "Wo werden die hinfahren?", fragte Selindan.
    "Weiß ich nicht genau. Vermutlich nach Ardea oder Kap Dun, wenn ich ihren Kurs richtig einschätze, auf jeden Fall an die myrtanische Küste."
    Selindan wäre auch gerne nach Myrtana gefahren. Aber natürlich ging das nicht. Es war ja schon schwer genug gewesen, überhaupt auf diese kurze Schifffahrt mitzudürfen. Er hatte Meister Saturas sehr intensiv und ausdauernd in den Ohren liegen müssen, bevor der zugestimmt hatte.
    "Kapitän Co-ord?"
    "Ja, Junge?"
    "Fahren wir jetzt schon wieder nach Hause?"
    "Ja, Junge, wir fahren jetzt nach Hause. Wir haben, weswegen wir hergekommen sind."
    'Junge'! Niemand nannte ihn so. Die meisten Leute in Biblur nannten ihn 'Hoheit' oder 'Mein Prinz'. Diese Menschen jedoch waren da irgendwie anders. Das gefiel ihm. Nach Jharkendar zu reisen war eine großartige Idee gewesen! Und nicht nur er war dieser Meinung, sondern auch seine Geschwister. Dort gab es so viele neue Dinge zu sehen, und abseits des Hofes lebte es sich dort viel freier. Natürlich wusste Selindan, dass es seiner Mutter vor allem darum ging, dass er die Sprache der Menschen lernte. Die Königin hatte zwar schon vor einiger Zeit durchgesetzt, dass an öffentlichen Schulen Myrtanisch, Ardeanisch oder Orkisch unterrichtet werden müsse, und als Prinz hatte er natürlich alle drei Sprachen gelernt, aber das Myrtanisch, das diese Menschen sprachen, war sehr komisch und anfangs kaum zu verstehen gewesen. Mittlerweile hatte sich das allerdings enorm gebessert.
    "Sind diese Menschen da jetzt auch Untertanen meiner Mutter?", fragte Selindan.
    "Ja", antwortete Cord, "wir bringen sie jetzt nach Khorinis, und fahren dann wieder nach Jharkendar zurück."
    Selindans Herz begann höher zu schlagen. Würde er die Hafenstadt sehen? Einige der Menschen in Jharkendar hatten von der großen Stadt erzählt. Die besten Erzählungen aber waren die von Admiral Greg gewesen. Natürlich hatten sich Selindan und seine Geschwister ein wenig vor dem Piraten gefürchtet. Und doch: Wenn der von seinen Abenteuern erzählte, hatten sie ihm an den Lippen gehangen - sehr zum Leidwesen von Meister Saturas, der das gar nicht gern gesehen hatte. Selindan war sehr traurig, dass Greg sein Amt verloren hatte und jetzt irgendwo eingesperrt war.
    "Das war jetzt aber genug an prinzlichem Müßiggang", sagte Cord entschieden, "ich muss mich um das Schiff kümmern."
    Cord wandte sich ab und begann, Befehle zu brüllen. Selindan hätte gerne weitere Fragen gestellt, doch wusste er, dass er den Kapitän jetzt nicht stören sollte. Auf die interessanteste Fragen hätte der aber wohl ohnehin nicht antworten können: Dass sie hier waren und die flüchtigen Menschen nach Khorinis begleiteten, das konnte kein Zufall sein. Wenn es aber kein Zufall war, woher hatte seine Mutter dann eigentlich gewusst, dass Flüchtlinge auf dem Weg nach Khorinis waren?

    Zwar hatte Iomar nicht einordnen können, wo dieses komische Schiff hergekommen war, allerdings hatte die Rettung vor den Orks ihn genügend Vertrauen fassen lassen, den Anweisungen, die ihm über die Signalfahnen mitgeteilt worden waren, Folge zu leisten. Schnell hatte er erkannt, dass man ihn anwies, Kurs auf Khorinis zu nehmen. Da hatten sie ja ohnehin hingewollt.
    Die Flüchtlinge waren in Jubel ausgebrochen, als sie den ersehnten Hafen endlich erblickt hatten. Das große Kriegsschiff war vor der Küste abgedreht, wohin auch immer. Doch weder Iomar noch die anderen Flüchtlinge hatte das zu diesem Zeitpunkt gekümmert, sondern sie hatten den Hafen zügig angelaufen.
    Erleichterung erfasste ihn, als er beobachtete, wie die ersten Flüchtlinge über die Planke den festen Boden des Kais erreichten. Er hatte es geschafft und alle nach Khorinis gebracht. Endlich waren sie in Sicherheit.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (20.01.2014 um 12:33 Uhr)

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    Das Verhalten dieses Ur-Shak war ganz und gar inakzeptabel. Was dachte der eigentlich, wer er war? Nicht nur weigerte sich der Schamane aus dem Minental, die direkten Wünsche des Hohen Rates der Schamanen zu befolgen. Nein, zu allem Überfluss missachtete er Tradition, Gesetz und Ehre, indem er den Menschen und Goblins trotz Friedensbanners jede Audienz verweigerte. Morr-Kash hatte ja Verständnis für die Trauer um den verstorbenen Hosh-Pak. Doch darüber den klaren Blick auf die Gegenwart zu verlieren, war für einen Anführer unverzeihlich. Immerhin war Hosh-Pak im Krieg gestorben, in einem Kampf, und würde somit ehrenvoll vom Dunklen Vater Beliar aufgenommen. Ur-Shaks bitterer Zorn war Morr-Kash daher völlig unverständlich.
    Nachdem die ersten Verhandlungen kläglich gescheitert waren, hatte der Schreibtischkrieger Andre weitere Versuche unternommen, den störrischen Ork an den Verhandlungstisch zu bringen. Bislang war Ur-Shak jedoch nicht wieder erschienen. Stattdessen war Andre von den hochrangigen Kriegern vor Ort vertröstet worden, denen das Verhalten ihres Anführers offensichtlich peinlich war. Jedes Mal war Morr-Kash mit der Delegation zum Pass aufgebrochen, um bei eventuellen Verhandlungen als Beobachter und Vertreter des orkischen Imperiums anwesend zu sein. Jedes Mal hatte er stundenlang warten müssen, ohne dass irgendetwas dabei herumgekommen war. Nun, immerhin hatte es sich Andre zur Gewohnheit gemacht, sich die Warterei bei einem gemütlichen Bier angenehmer zu gestalten, und Morr-Kash hatte an diesem feinen Getränk Gefallen gefunden. Zwar war es sehr sonderbar, mit einem Menschen zu trinken, aber nach ein paar Krügen machte es gar keinen so großen Unterschied mehr.
    Dieses Mal aber hatte Morr-Kash die Schnauze voll!
    "Ich, Morr-Kash, Sohn des Geistes und Mitglied des Hohen Rates verlange, Bruder Ur-Shak zu sprechen. Er wird morgen um diese Zeit hier sein. Sagt ihm das, Krieger!"
    Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen. Wenn Andre heute hier sein Bier trinken wollte, dann musste er es alleine tun.

    Als sie dieses Mal den Weg zum Pass nahmen, gesellten sich weitere Menschen zur Delegation, welche Morr-Kash noch nicht kennen gelernt hatte. Einer davon wurde ihm als Saturas vorgestellt und war offenbar ein mächtiger Schamane des Gottes Adanos. Der andere war ein Krieger namens Thorus. Beide kamen aus der verborgenen Stadt, von der er gehört hatte.
    Als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten, bot sich ihnen auch tatsächlich ein anderer Anblick als sonst: Ur-Shak, von einigen weiteren Schamanen und hochrangigen Kriegern flankiert, war tatsächlich erschienen. Natürlich war es recht billig von Morr-Kash gewesen, seine Autorität als Hoher Schamane in die Waagschale zu werden, um Gespräche zwischen den Minentalorks und den Menschen und Goblins der Insel zu erzwingen. Der Erfolg aber gab ihm Recht, und schließlich bestand ja genau darin seine Aufgabe: Er sollte den Frieden zwischen seinem Volk und dem Königreich Biblur sichern.
    "Was willst Du?", fragte Ur-Shak ohne Umschweife.
    "Ich will wissen, warum Du Dich den Entscheidungen des Rates entziehst. Es steht Dir nicht zu..."
    "Mir steht nicht zu?", fuhr Ur-Shak rüde dazwischen, "mir steht sehr wohl zu, meinen Stamm zu dessen Wohl zu lenken. Wir sind die Herrscher dieses Tals, nicht die Menschen und auch nicht Ihr. Mögt Ihr auch unsere Brüder sein, so habt Ihr hier doch keine Macht."
    Morr-Kash bemerkte am Rande, dass die Unterhaltung zwischen ihm und seinem Amtsbruder von dem Goblin namens Garnau an die Menschen weitergegeben wurde. Er fand es unhöflich, dass Ur-Shak nicht einmal versuchte, sich in einer für alle verständlichen Sprache auszudrücken. Andererseits: Vielleicht war es besser so. Bei dem miserablen Myrtanisch, dass Ur-Shak sprach, hatte Morr-Kash zuletzt ein sonderbares Gefühl von Fremdscham empfunden.
    "Diese Menschen sind jetzt Sklaven der Goblins, mit denen uns alte Verträge verbinden. Solange sie diese Verträge nicht brechen, gebietet die Ehre..."
    "Die Ehre gebietet mir, das Land meiner Väter zu verteidigen. Gegen alle, die meinen Stamm bedrohen und vertreiben wollen. Mich kümmern Eure Absprachen nicht. Dies ist unsere angestammte Heimat. Unser Recht ist nicht schwächer als das dieser Goblins."
    Morr-Kash wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als er von Garnau unterbrochen wurde.
    "Ich muss dem ehrenwerten Schamanen Ur-Shak in dieser Angelegenheit beipflichten. Er hat Recht: Die Orks des Minentals sind aller Wahrscheinlichkeit Nachkommen der Orks, die schon vor über tausend Jahren dem Bund von Jharkendar angehörten. Wie wir sind auch sie die Nachfahren des alten Imperiums."
    Morr-Kash blickte verwundert zu dem Goblin hinüber. Er zweifelte nicht an dessen Worten - dass Garnau über erstaunliche Kenntnisse der älteren Geschichte verfügte, davon hatte er sich schon überzeugen können -, aber dass der Goblin auf diese Weise die Ansprüche seiner Königin auf das Minental in Frage stellte, das wunderte ihn doch. Andererseits war dies durchaus ehrenwerte Ehrlichkeit.
    "Gut", sagte Ur-Shak, "dann werde ich mich jetzt wieder..."
    "Als Mitglied des Bundes von Jharkendar ist Dein Stamm natürlich an bestimmte Gesetze gebunden", unterbrach Garnau den Versuch des Schamanen, sich zu verabschieden, "wenn Du und Dein Stamm nicht der Autorität des Hohen Rates der Schamanen unterworfen seid, dann kommt Euch auch dessen Schutz nicht zu. Und wenn Ihr Eure Rechte als Mitglied des Bundes von Jharkendar geltend macht, dann seid Ihr zusätzlich noch den Entscheidungen des Bundes unterworfen. Damit hat Dein Stamm seine Autonomie verloren."
    Ur-Shak lachte: "Und warum solltet ausgerechnet IHR die Autorität besitzen, Entscheidungen zu treffen? Vielleicht müsst Ihr ja UNS gehorchen?"
    Garnau nickte bedächtig: "In der Tat ist das nicht ganz von der Hand zu weisen. In seinem solchen Streitfall ist es wohl das Angemessenste, wenn wir einfach den Rat der Fünf einberufen. Der ist für Angelegenheiten zuständig, welche die ganze Insel betreffen. Einschränkungen der Freizügigkeit durch Absperrung von Teilgebieten gegen einige Einwohner ist wohl ganz eindeutig ein Fall, der die Insel im Ganzen betrifft."
    "Rat der Fünf?", fragte Ur-Shak.
    "Rat der Fünf", antwortete Garnau, "das ist das wichtigste Entscheidungsorgan für alle Belange, welche über die autonomen Entscheidungen der Stadt Jharkendar, des Königreichs Biblur oder des Orkstammes vom Minental hinausgehen. Der Rat der Fünf wurde vor beinahe zwei Jahrtausenden gegründet, als sich die Menschen, Orks und..."
    "Wir können uns die Geschichte der Insel zu einem anderen Zeitpunkt zu Gemüte führen", stoppte Morr-Kash den Vortrag des kleinen Gelehrten. Er hatte bereits erfahren, dass der zuweilen mit dem Reden gar nicht mehr aufhörte, wenn einmal ein ihm interessantes Thema zur Sprache kam. "Wir sollten uns auf dasjenige konzentrieren, was hier praktisch von Belang ist."
    "Ähm... also gut", räumte Garnau ein, "um es also kurz zu machen: Im Rat der Fünf sind alle drei Parteien des Bundes Vertreten: Biblur, die Orks der Insel und Jharkendar", Garnau warf Morr-Kash einen kurzen Blick zu, "der Vertrag, der Euch uns gegenüber zu Frieden verpflichtet, ist übrigens ein bilateraler Vertrag mit Biblur und betrifft nicht unmittelbar die anderen beiden Bündnismitglieder. Allerdings gab es mit..."
    "Zur Sache!"
    "Verzeihung. Also, wie gesagt, jedes Mitglied des Bundes ist vertreten. Von den Fünf Häusern waren drei ausschließliche Vertreter der Völker der Orks, Menschen und Goblins. Die Kaste der Krieger wurde immer von einem menschlichen Kriegsherrn aus Jharkendar angeführt. Für die Kaste der Gelehrten nahm ein Gesandter aus Biblur den Platz im Rat ein. Und die Kaste der Heiler schließlich wurde von einem Ork des Minentals besetzt. Sie waren es auch, die das magische Portal nach Jharkendar verschlossen, nachdem sie sich aus der Stadt zurückgezogen hatten."
    Morr-Kash beobachtete Ur-Shaks Reaktion. War der sich der Vergangenheit seines Stammes bewusst? Er selbst hatte sich vor seiner Reise umfangreich aus den Überlieferungen seines Volkes informiert, und hatte durchaus Hinweise gefunden, welche die Aussagen des Goblins bestätigten. Jedoch war nichts davon so genau gewesen.
    "Die beiden letzten Kasten, die Totenwächter und die Priester, wurden abwechselnd von einem Ork, einem Menschen oder einem Goblin aus Jharkendar vertreten. Dies sollte sicherstellen, dass nicht nur die unterschiedlichen Parteien auf der Insel, sondern auch die Spezies innerhalb von Jharkendar selbst angemessen vertreten wären. Diese Verfassung war eine Folge des..." Garnau unterbrach sich kurz, angesichts von Morr-Kashs Hüsteln, "jaja, zur Sache, ich weiß. Also gut: Als Oberstes Mitglied der Kaste der Gelehrten rufe ich hiermit den Rat der Fünf zusammen, um über den Konflikt im Minental zu bestimmen!"
    Das nun kam für Morr-Kash unerwartet und, daran ließ seine Reaktion keinen Zweifel, für Ur-Shak ebenso.
    "Diesen Rat der Fünf gibt es doch gar nicht mehr" protestierte der denn auch.
    "Aber ganz im Gegenteil", entgegnete Garnau, "er ist hier sogar vollständig versammelt. Wie gesagt bin ich ja der Oberste der Gelehrten. Und Du, ehrenwerter Ur-Shak, bist der Oberste der Heiler. Wie es der Zufall so will, haben wir dieses Mal aber auch die Anführer der beiden anderen noch existierenden Kasten mitgebracht." Garnau zeigte auf den Krieger namens Thorus: "Hauptmann Thorus wohnt in Jharkendar und ist der Anführer der Kaste der Krieger. Und Meister Saturas hier", der blaugewandete Mensch horchte beim Klang seines Namens auf, ohne aber den restlichen Worten folgen zu können, "ist als höchster Priester des Adanos der Anführer der Priester. Da die Totenwächter seit dem Untergang Jharkendars nicht mehr existieren, ist der Rat vollständig anwesend, und wäre gemäß dem Erlass vom Jahre 455 übrigens ohnehin mit drei Mitgliedern Beschlussfähig."
    Ur-Shaks Grinsen gefiel Morr-Kash nicht, Garnau jedoch wirkte so ruhig wie eh und je, während er Ur-Shaks Antwort entgegennahm: "Dein Rat", sagte der und beugte sich zu dem Goblin herab, "kümmert mich nicht. Ich werde Deiner Heimtücke nicht mehr länger lauschen. Das Minental gehört uns. Und jeder Mensch oder Goblin, den wir darin finden, wird getötet oder versklavt." Ur-Shak richtete sich wieder auf und warf Morr-Kash einen verächtlichen Blick zu. "Da auch Du nichts wichtiges zu sagen hast, werde ich keine weitere Zeit mehr mit Euch verschwenden. Dein Rang im Hohen Rat bedeutet hier nichts. Wir haben seit den ersten Tagen der magischen Barriere ohne Euch überlebt. Wir brauchen Euch nicht."
    Ur-Shak wandte sich zum gehen.
    "Du vergisst die vielen Krieger, welche wir Euch geschickt haben!", wollte Morr-Kash den widerspenstigen Schamanen zurückhalten. Vergeblich. Ohne die Gesandtschaft eines weiteren Blickes zu würdigen verschwand der zwischen den Reihen seiner Krieger.

    "Eure inneren Angelegenheiten sind nicht unser Belang, und daher werden wir uns darin nicht einmischen. Die Orks von Khorinis haben uns den Rücken gekehrt und stehen daher nicht mehr unter unserem Schutz", bestätigte Morr-Kash die Vermutung Garnaus darüber, was diese Wendung der Dinge zu bedeuten habe.
    "Was ist mit den Kriegern vom Festland?", fragte Andre. Damit zeigte er zwar nicht gerade, dass er mehr als nur ein Schreibtischkrieger war, aber immerhin machte es deutlich, dass er ein guter Schreibtischkrieger mit Blick für das Wesentliche war. Morr-Kash konnte das durchaus respektieren.
    "Mit der Ankunft auf der Insel haben sich diese Krieger dem Befehl der hiesigen Kriegsherrn unterworfen. Sie sind bis zum Ende des Waffengangs Teil des Klans von Khorinis. Die Ehre gebietet ihnen Gehorsam."
    Auf der einen Seite machte Ur-Shaks Ungehorsam gegen den Hohen Rat die Sache für Morr-Kash einfach: Er konnte nun die Hände in den Schoß legen und die Bewohner der Insel diese Sache selbst regeln lassen. Andererseits aber sorgte er sich um die Krieger, die der Hohe Rat vom Festland hergeschickt hatte. Morr-Kash war selbst mit einigen dieser Kriegern bekannt, der Oberste Garrock war sogar ein guter Freund von ihm. Außerdem hatte der Hohe Rat den Plan gefasst, die Krieger von Khorinis auf das Festland zurückzurufen, wo sie im Kampf gegen die Reste der myrtanischen Armee, vor allem aber bei der Niederschlagung der immer häufigeren Aufstände dringend gebraucht wurden.
    "Ich kann nur sagen, dass dies nicht nach dem Willen des Hohen Rates ist", versicherte er schließlich dem Schreibtischkrieger, "aber tun kann ich nichts mehr."
    "Dann sei es so. Ab morgen werden wir unsere Offensive beginnen."
    Geändert von Sir Ewek Emelot (22.01.2014 um 21:52 Uhr)

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    Jharkendar, den 21. Kardimon 1859


    Liebe Sabatha,

    wenngleich alle wichtigen Informationen in aller Ausführlichkeit in meinem Bericht enthalten sind, will ich doch nicht verabsäumen, Dir diese persönliche Note beizufügen. So sei denn zuallererst gesagt: Sowohl Stravisaul als auch ich befinden uns ganz wohl. Sicherlich: Die Reise durch die varantinische Wüste ist beschwerlich. Du kannst Dir diese Trockenheit gar nicht vorstellen, die Kargheit und, was das vielleicht Eindrucksvollste ist: Die unendliche Weite! Varant erscheint mir wie ein Pendel, oszilliert zwischen Extremen von sengender Sonne und gleißender Hitze des Tags und der absoluten Schwärze und bitteren Kälte in der Nacht, die übrigens einen unvergleichlich klaren Ausblick auf den Sternenhimmel gewährt, da doch niemals auch nur der Hauch einer Wolke, weder tags noch nachts, die Atmosphäre dieses Landes trübt.
    So wanderten wir denn gute zwei Wochen am nordvarantinischen Gebirgskamm entlang, wo die Wüste größtenteils nicht aus sandigen Dünen, sondern aus kärglichem Fels besteht, aber immerhin feste Landmarken zur Orientierung dienen. Diesen Abschnitt des Wegs hätten wir wohl gar alleine bewältigen können, glaube ich. Als wir uns aber schließlich von dieser Marke abwandten, ins Innere des Landes hinein, da erst wurde uns eigentlich klar, woher die Alten sich des Namens "Wüstenmeer" bedienen, denn in der Tat muten die Täler und Kämme der Dünen wie die Wogen des Meeres an, nur dass die Gezeiten hier langsamer vonstatten gehen. Selbst das Geräusch einer Dünung lässt dieses Sandmeer nicht missen: Ein dumpfes, dunkles Dröhnen, hervorgerufen durch den rieselnden und vom Wind getriebenen Sand.
    In dieser Landschaft nun wurde erstmals deutlich, wie weise doch die Empfehlung unseres Führers durch den guten Saturas war: Cavalorn erwies sich als erfahrener Wüstenwanderer und war wohl in der Lage, uns vor den uns unwägbaren Gefahren zu schützen, die wohl zahlreicher sind, als dass ich sie allesamt hier erwähnen könnte. Es sei nur gesagt, dass selbst ein unachtsamer Schritt schnell zum Tode führen könnte, wenn nicht einmal dem Boden vertrauen geschenkt werden kann, dessen Festigkeit hier doch jederzeit in Frage steht.
    Trotzdem, liebste Freundin: Es würde Dir gefallen! Ich weiß nur zu gut um Deine Sehnsucht, all die Wunder dieser Welt dereinst selbst und mit eigenen Augen zu erblicken, und ich rate Dir nur: Tue es! Du, oder besser gesagt: Wir! haben das Tor zur Welt für unser Volk geöffnet. Lass nicht zu, dass es sich erneut schließt, sondern halte es offen!

    Wie dem auch sei: Eine weitere Woche, und endlich wurden wir fündig. Ich war wirklich überrascht von der anatomischen Ähnlichkeit, welche diese von den Menschen als "Sandcrawler" bezeichneten Wesen mit unsern Tiefenschaben aufweisen, und welche die enge Verwandtschaft beider Arten unmissverständlich anzeigt. Von dieser anatomischen Ähnlichkeit abgesehen aber scheinen beide Arten auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben, leben doch die Tiefenschaben in den Tunneln, die sie in die Berge graben, derweil jene Sandcrawler durch die Wüste wimmeln. Doch siehe da: Einigen dieser Geschöpfen gefolgt, und schon war deutlich, dass die Unterschiede der Lebensweisen so groß gar nicht sind. Denn irgendwie gelingt es diesen findigen Tieren, selbst dem Wüstensand genügend Festigkeit abzutrotzen, um sich darin tiefe Nester einzurichten. Der gute Cavalorn freilich war nicht im Mindestens davon angetan, sich einer ihrer Kolonien so sehr zu nähern, doch bald schon wurde uns klar, dass die Strategien, welch wir im Umgang mit unsern Tiefenschaben pflegen, auch bei deren varantinischen Fettern sehr gut wirken. Die Sozialstrukturen ihrer Staaten scheinen mit ebensolcher Effizienz zu funktionieren, und die sorgfältige Beobachtung entdeckte mir bald schon das System ihrer Bewegungen. Ja, mehr noch: Die Orientierungsfähigkeit der Sandcrawler ist nachgerade unglaublich, wissen sie sich doch meilenweit von ihrer Heimstätte zu entfernen, und den Weg dennoch sicher wieder zurück zu finden. Endlich war es sogar den erstaunlichen Fähigkeiten dieser Tiere geschuldet, dass wir unser Projekt überhaupt so lange als nötig betreiben konnten, da doch erst die Beobachtung der Sandcrawler uns zu den wenigen Wasser- und Nahrungquellen führten, die sporadisch über die endlose Wüste ausgeteilt zu sein scheinen.

    So richteten wir denn unseren Beobachtungsposten ein, und endlich konnte ich meine eigentlichen Studien beginnen. Und es war ein recht glücklicher, wenn auch erschreckender Zufall, der mich bald in die Lage versetzte, den entscheidenden Schritt zu tun: Denn es sind nicht diese Insektoiden alleine, welche die Wüste Varants bewohnen. Am vierten Tage unserer Observation wurden wir Zeugen eines schrecklichen Kampfes, als eine Gruppe von Sandcrawlern, der wir folgten, auf ein fürchterliches, gewaltiges Biest traf, dessen Klauen und fürchterliche Hauer den Crawlern arg zusetzte. Cavalorn identifizierte das Geschöpf als einen sogenannten Wüstenläufer, was wohl eine Abart der auf Khorinis anzutreffenden Schattenläufer ist, und nicht minder Gefährlich. Schließlich vermochten die Sandcrawler das Ungetüm zu töten, und sich seines Kadavers zu bemächtigen, der ihnen zweifellos als gute Nahrung wird dienlich gewesen sein. Wir hingegen gelangten hierüber in den Besitz einiger Kadaver, deren Sektion mir tiefere Einblicke enthüllte. Den Similaritäten mit den Tiefenschaben entsprechend brachte die Untersuchung der Inneren Organe zwar keine große Überraschungen zutage, brachte mich allerdings in die Lage, die chemische Zusammensetzung der Pheromone zu ergründen, mit welchen die Sandcrawler sich verständigen und gegenseitig identifizieren, was, wie Du Dir sicherlich denken kannst, der eigentliche Schlüssel zur Erfüllung unserer Mission war. Nachdem ich einmal einige Proben zu meiner Verfügung hatte, war die Synthetisierung keine Schwierigkeit mehr, und schließlich konnten wir den finalen Schritt unserer Mission tun.

    Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich die Warterei für mich war! Stravisaul, Cavalorn und ein einige weitere Teilnehmer unserer Expedition machten sich endlich auf, das Nest der Kolonie selbst zu betreten. Wenngleich ich so einiges auf meine Fähigkeiten gebe, und mir des Ergebnisses meiner Arbeit doch eigentlicher Sicher war, waren die Zweifel darüber, ob sich die Crawler wirklich täuschen ließen, in den Stunden bis zur Rückkehr der Gefährten die reinste Qual. Da saß ich nun, in meinem behelfsmäßigen Labor inmitten meiner Proben und Notizen, zur Untätigkeit verdammt und in gänzlichem Ungewissen darüber, wie es den andern ergangen war. Oh, und wie groß war die Erleichterung, als sie endlich wieder da waren! (Ich werde darauf verzichten, Dir vom ihm eigentümlichen, verwegenen Lächeln zu berichten, mit dem mir Stravisaul in wenigen Sätzen und geradezu beiläufig berichtete, wie es ihnen ergangen war, ganz, als sei es nichts weiter als ein harmloser Spaziergang gewesen: Da mir ohnehin Deine spöttische Bemerkung dazu in den Ohren klingt, kannst Du sie Dir gerne sparen wie ich mir meine - ich gebe es zu! - etwas lächerliche Schwärmerei.)

    Der Rest ist schnell erzählt: Wir hatten nun bekommen, wofür wir hergekommen waren, wie meine Untersuchung umgehend ergab, und konnten uns endlich auf den Rückweg machen. Das Königinnenei wurde in sicherer Verwahrung transportiert, ebenso wie noch ein halbes Dutzend weiterer Eier, die zu weiteren Forschungen genutzt werden können. Ich bin mir sicher, dass dies unseren Bemühungen von nachhaltigem Nutzen sein wird.

    Was die Rückreise vom Festland angeht: Du weißt sehr wohl, wie unwohl Stravisaul allenthalben wird, wenn er einige Zeit auf diesem Schiff verbringen muss. Dem Ärmsten scheint es von Mal zu Mal schlimmer zu ergehen! Umso verwunderter waren wir darob, dass es bald schon wieder aufs Festland zurückgehen solle! Ich muss gestehen, dass ich ein klein wenig enttäuscht darüber bin, dass ich nicht zu den Wissenschaftlern gehören soll, die meine Entdeckung weiter erforschen sollen!

    Wie dem auch sei: Unsere Expedition, so beschwerlich sie auch oftmals war, war gleichwohl eine ungeheure Bereicherung, und ich hoffe doch sehr, dass unsere nächste Aufgabe nicht minder inspirierend sein wird, obgleich ich es doch ausgesprochen schade empfinde, dass wir die Zivilisation auf dem Festland so gänzlich meiden müssen.

    Auch von Stravisaul entbiete ich Dir liebe Grüße,

    Deine Almina



    Biblur, den 23ten Kardimon 1859

    Liebste Almina,

    der erschöpfenden Genauigkeit Deines offiziellen Berichtes zum Trotze war ich ob der beigefügten, persönlichen Note aufs äußerste erfreut! Ich bin sowohl erleichtert als auch glücklich über Eure gesunde Rückkehr, was übrigens die Zufriedenheit über den Erfolg der Expedition noch bei weitem überwiegt. Endlich muss ich mich dafür entschuldigen, dass sich ein Treffen vorerst nicht einrichten lässt, obwohl doch der von Euch erwiesene Dienst selbst durch allerhöchste Ehren nicht hinlänglich könnte gewürdigt werden, von der Freude einiger gemeinsamen Stunden einmal ganz abgesehen: Zwar sind die Vorbereitungen für meine Reise in die Hafenstadt von Khorinis in vollem Gange, jedoch wird es bis dahin noch ein Weilchen dauern, und Zeit genug für Euch, mich in Biblur zu besuchen, ist leider auch nicht. Denn es stimmt: Du und Stravisaul, ihr werdet sogleich wieder aufs Festland zurückgeschickt. Doch Dein Stravisaul soll ganz beruhigt sein: Diesmal wird ihm die Fahrt mit dem ihm so verhassten Schiff erspart bleiben. Und auch Du wirst Dich darüber freuen, dass die völlige Geheimhaltung Eurer Anwesenheit diesmal nicht mehr nötig sein wird - ganz im Gegenteil! Diesmal werdet Ihr mit dem Flaggschiff selbst segeln, was übrigens der Grund ist, warum Ihr zuerst nach Khorinis zurückkehren musstet: Diesmal nämlich reist Ihr offiziell und in aller Offenheit! (Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass Euer Auftrag ebenso offiziell und publik sein wird.)

    Ihr werdet als offizielle Attachés unseren Botschafter, den wir den Orks des Festlandes entsenden werden, begleiten. Eure eigentliche Aufgabe allerdings wird darin bestehen, Kontakte zu den festländischen Nackthäuten herzustellen. Es handelt sich um eine delikate Angelegenheit, müssen wir uns doch im Dickicht jahrhundertealter Streitereien zwischen diesen ganzen Völkern zurechtzufinden lernen. Ich gebe Dir Recht: Das Tor zur Welt, dass wir, oder sagen wir besser: das Ihr (Garnau, Stravisaul, Dr. Arg und Du) geöffnet habt, das darf sich zu schließen keineswegs erlaubt werden! Umso wichtiger wird es sein, die Neutralität zu wahren und keine Partei zu ergreifen. Ich sage es unumwunden: Du und Stravisaul, Ihr werdet gleichsam auf einem dünnen Seile wandeln, und unsere Aufgabe insgesamt wird sein, alle beteiligten Parteien auf dieses Seil zu ziehen und gemeinschaftlich das Gleichgewicht zu wahren. Heikel, ich weiß. Aber Du kennst mich, und ich kann Dir sagen: Natürlich habe ich meine Pläne! Oh, und ich sage Dir: Diese Pläne werden noch den ein oder andern Ork oder Menschen recht dümmlich dreinblicken lassen!
    Die weiteren Details, liebste Almina, befinden sich natürlich in den Euch zugeschickten Geheimbefehlen. Sei bitte so gut und grüß mir Deinen Stravisaul von mir, und gibt vor allem auf Dich Acht!

    In freundschaftlichster Zuneigung,

    Deine Sabatha
       
    Geändert von Sir Ewek Emelot (20.01.2014 um 12:53 Uhr)

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    Angriff des klobigen Kriegers



    Martok hatte mit der ganzen Sache nicht viel zu tun: Er war sein Leben lang ein einfacher Jäger gewesen, hatte seine Familie gut ernährt, die Ahnen geehrt und die alten Rituale regelmäßig mit dem gebotenen Respekt ausgeführt. Er war ein gutes und respektiertes Mitglied des Stammes gewesen, wenn auch nicht übermäßig beliebt, mit sich und seinem Leben zufrieden.
    Doch dann war diese magische Barriere und mit ihr seine Welt zusammengebrochen: Plötzlich waren die Schamanen in helle Aufregung verfallen, hatten gegen die Menschen gewettert und zum Krieg aufgerufen. Andere Orks waren vom Festland gekommen, und schließlich diese geflügelten Wesen, diese Drachen, die das Tal verändert hatten - verdorben, wie viele Stammesbrüder insgeheim tuschelten.
    Man hatte die Burg der Menschen belagert und erobert, ein myrtanisches Heer geschlagen und das Minental nahezu vollständig zugrunde gerichtet. Heute war Martok kein Jäger mehr, sondern ein Krieger. Zu jagen war ohnehin kaum etwas übrig, und die wenigen Tiere, die es noch gab, waren selbst gefährliche Räuber oder die Relikte der Drachen, die mit ihrer Magie fremde und abscheuliche Ausgeburten in das Tal gebracht hatten.
    Manchmal machte sich Martok Gedanken darüber, wie seine Zukunft aussehen sollte. Würde er den Rest seines Lebens hier am Pass hocken und dafür Sorge tragen, dass die Menschen auf ihrer Seite der Berge blieben?
    In seine Gedanken versunken ließ sich Martok die letzten Strahlen der Abendsonne auf den Bauch scheinen - einer der wenigen Genüsse, die ihm im Krieg gegen die Menschen noch geblieben waren, und die Langeweile des Wachdienstes einigermaßen erträglich machten -, als er einer Bewegung von der anderen Seite des Passes her gewahr wurde: Offenbar kamen sie wieder, diese Menschen mit den Goblins und dem Schamanen vom Festland. Martok seufzte ausgiebig. Lernten die denn nie dazu? Er war es Leid, immer wieder dieselbe Meldung zu machen, um die immer wieder selbe Erwiderung weiterzugeben: Dass der ehrenwerte Schamane Ur-Shak nicht zu sprechen sei.
    Doch es half nichts: Er hatte seine Befehle, und denen musste er Folge leisten. Also erhob er sich schwerfällig und versetzte seinem Kumpanen Grimbar einen leichten Tritt, damit auch der sich erhob. Er wollte ihm gerade bedeuten, dass er Meldung machen solle, als ihm etwas auffiel: Die Delegation der Menschen war heute anders: Es fehlte das Friedensbanner, das bislang zwar keineswegs eine Einigung herbeigeführt, aber immerhin eine offene Konfrontation verhindert hatte. Außerdem waren die Ankömmlinge weitaus zahlreicher, als sonst. Sie führten einige Karren mit sich, die von Ochsen gezogen wurden, allen voran ein großer Planwagen.
    Und als er das Glitzern der Waffen und Rüstungen bemerkte, wurde ihm klar, dass dies keine Delegation war, sondern eine Armee. Die Menschen waren gekommen, das Tal zu erobern.

    In Sichtweite des orkischen Postens ließ Andre seine Truppe halten. Er stellte die Soldaten, hauptsächlich Männer der Miliz und einige ehemalige Banditen aus Jharkendar, zu einer Phalanx auf, während Saturas und der biblursche Gelehrte Fleddelig irgendwelches Gerümpel aus den mitgeführten Karren luden. Lediglich den großen Planwagen ließen sie einstweilen unangetastet.
    Binnen kürzester Zeit war der sonderbarste Kommandostand errichtet, den Andre in seiner langen Dienstzeit als Soldat und Paladin gesehen hatte: Eine Reihe von Goblins hatte es sich vor einigen im Halbkreis aufgestellten Tischen gemütlich gemacht, auf denen Kristalle, Spiegelflächen und mit klarer Flüssigkeit gefüllte Schalen drapiert waren. Die Sprache, in der die Goblins und der hohe Magier des Wassers kommunizierten, erkannte Andre als die Sprache Jharkendars. Nach und nach erwachten die Kristalle zum leben, begannen zu klirren oder zu summen sowie in unterschiedlichen Farben zu schimmern. Einer der Goblins machte eine Handbewegung über eine der Wasserschalen und murmelte etwas, worauf sich das Wasser erst kräuselte und dann blubbernd zu einer Gestalt aufrichtete. Auf den Glasflächen erstanden Schemen, doch von seiner Position aus konnte Andre nicht genau erkennen, was auf ihnen zu sehen war. Nur eines war sicher: Hier war Magie am Werke, und zwar von einer Art, wie sie Andre noch niemals erlebt hatte.
    "Wir wären dann so weit", sagte Saturas in Andres Richtung und zückte eine der Taschenuhren aus Biblur. "In genau siebeneinhalb Minuten geht es los."
    Andre nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Orks zu, die sich offenbar ebenfalls auf eine Konfrontation vorbereiteten. Unter normalen Umständen hätte er angegriffen, solange sich der Feind noch nicht formiert hatte. Doch die Umstände waren nicht normal.
    "Noch fünf Minuten."
    Andre überprüfte ein letztes Mal die Aufstellung seiner Männer, lockerte das eigene Schwert in der Scheide und machte sich für das bereit, was da kommen würde.

    Eigentlich war Ul-Gramok bloß aus Prinzip am Pass. Nachdem die Menschen monatelang keinen Versuch unternommen hatten, das Minental zu betreten, und dann sogar damit begonnen hatten, diplomatische Wege zu beschreiten, hatte niemand ernsthaft mit weiteren Feindseligkeiten gerechnet. Ganz im Gegenteil. Dass sich also von den fünf verbliebenen Schamanen im Minental stets einer bei den Wachposten am Pass aufhielt, lag nur daran, dass im Prinzip ein ausreichend hochrangiger Ork zugegen sein musste, für den Fall, dass die Menschen eine Offensive starteten. Ob der Abgeschiedenheit und damit einhergehenden Unbequemlichkeit des Postens waren die Schamanen übereingekommen, sich gegenseitig abzuwechseln – nun, bis auf den obersten Schamanen Ur-Shak, verstand sich. Der nämlich war sich für die profaneren Pflichten des Schamanentums augenscheinlich zu schade.
    Ul-Gramok jedenfalls hatte damit gerechnet, dass er die Tage bis zu seiner Ablösung in Meditation und Kontemplation, das heißt in dem ärgerlichen Nachsinnen über Ur-Shaks völlig unvermittelten und ungerechten Aufstieg, verbringen würde.
    Und nun das!
    „Hier, ein Warg soll die Nachricht sofort zur Burg bringen!“, befahl er dem Krieger, dem er die soeben abgefasste Botschaft überreichte. Warge waren schnell, ausdauernd und klug, und fanden stets nach Hause, was sie zu hervorragenden Boten machte. Der Krieger nahm den Befehl mit einem Nicken entgegen und entfernte sich in Richtung des Wargzwingers.
    Ul-Gramok widmete sich nun wieder der Organisation der Krieger, mit denen er den Pass zu halten hatte. Bis auf diejenigen, die gerade Wache hielten, verbrachten die meisten ihre Zeit in einigen alten Hütten der Menschen, die diese am einstigen Austauschplatz der Minenkolonie errichtet hatten. Doch angesichts des Aufgebots, mit dem die Menschen erschienen waren, hatte es Ul-Gramok als sinnvoll erachtet, all seine Krieger beim Wachposten in Position zu bringen.
    So ging er denn die Reihen seiner Mannen ab, vergewisserte sich, dass alles seine Richtigkeit hatte, und gab Anweisungen für den Fall, dass die Menschen angriffen.
    Was genau sollte deren plötzliches Erscheinen bezwecken? Zugegeben: Es waren nicht gerade wenige Männer. Ul-Gramok vermutete, dass es sich um eine Heerschar von mehr als hundert Männern handelte, was allerdings nicht leicht einzuschätzen war, da die meisten sich in hinteren Reihen aufhielten, die er in der Enge des Passes nicht einsehen konnte. Doch es war im Grunde egal, mit wievielen Soldaten die Menschen angriffen: Selbst tausende hätten den Pass nicht überwinden können. Ul-Gramok hatte nichts anderes zu tun, als seine Armbrustschützen etwaige Angreifer mit einem Regen aus Bolzen in Empfang nehmen zu lassen. Die Enge der Schlucht machte es unmöglich, ein größeres Heeresaufgebot sinnvoll einzusetzen, und so wäre jede zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes völlig unschädlich. Sollten doch einige Versprengte sich in den Nahkampf retten können, würden diese sogleich in die Klingen von Ul-Gramoks Elitekriegern stolpern, und würde, wider alle Wahrscheinlichkeit, gar einer größeren Gruppe der Durchbruch gelingen, so könnte Ul-Gramok selbst noch seine Magie entfesseln, um die Menschen zu Asche zu verbrennen.
    Und die Menschen wussten all das. Sie mussten es wissen.
    Die einzige Unwägbarkeit war dieser Wagen, dessen Inhalt von einer Plane verdeckt war. Ul-Gramok wusste nicht, was es damit auf sich hatte, doch wenn sich der Feind die Mühe machte, ein so schweres Gefährt herbeizuführen, dann musste es wohl wichtig sein. Ohne irgendeinen Trumpf – davon ging er aus – würden die Menschen kaum angreifen. Und Ul-Gramok ahnte, dass sich dieser in dem Gefährt verbarg.

    „Fokusstein ist aktiv“, vermeldete einer der Goblins.
    „Runenmatrix stabil“, erklang die Meldung eines zweiten.
    „Magieausstoß ist im normalen Rahmen. Alle Zauber funktionieren innerhalb normaler Parameter.“
    Saturas ging die einzelnen Stationen ab und vergewisserte sich selbst. Dann nickte er Fleddelig zu: „Es kann losgehen!“

    Es war nicht einmal so sehr die sichtliche Anspannung unter den Goblin-Magiern, die Andre signalisierte, dass der Zeitpunkt des Angriffs endlich gekommen war. Auch hätte es des offenkundigen Befehls des Meisters Saturas nicht bedurft. Sondern es war das plötzliche, magieschwangere Knistern in der Luft, das Andres Haare zu Berge stehen ließ und ihm den Drang erweckte, sich wie unter einem Schauer zu schütteln.
    Andre spürte, dass die Magie nicht von den Apparaturen auf den Tischen ausging, sondern von dem Planwagen.
    „Es ist an der Zeit“, sagte Saturas, mit mühsam zurückgehaltener Begeisterung. Was immer die Magier sich ausgedacht hatten, Saturas musste mächtig stolz darauf sein.
    „Du, Du und Du, kommt mit“, befahl Andre und legte die wenigen Schritte zu dem Wagen zurück, „löst die Plane. Bei drei ziehen wir das Ding runter. Fertig? Eins, zwei...“
    Das schwere Tuch bauschte sich ein wenig im Wind, bevor es sein Geheimnis endlich lüftete, endlich die große Geheimwaffe der Wassermagier preisgab, jenes verhoffte Wunderwerk, mit dem...
    „Ein Steingolem?“
    Andre traute seinen Augen kaum. Doch egal, wie lange er das Ding anglotzte, es war ein Steingolem. Ein klobiger, plumper, popeliger Steingolem. Zugegeben: Er war groß, vielleicht etwas größer, als die normalen Steingolems, die Andre kannte. Und vielleicht nicht ganz so plump und popelig, sondern etwas schlanker und schöner gearbeitet. Ja, in der Tat: Er sah weitaus schnittiger aus, als die gewöhnlichen Exemplare. Aber es war und blieb ein Steingolem.
    Nun war es nicht etwa so, als hätte Andre derlei Konstrukte bereits hundertfach in Aktion erlebt. Und in der Tat vermochten diese magischen Kreationen ausgesprochen schrecklich in der Schlacht zu wüten. Sie wurden meist mit Bedacht eingesetzt, waren aufwendig in der Erschaffung und daher keineswegs gewöhnlich. Dennoch: Die Geheimniskrämerei, die diese Magier betrieben hatten, rechtfertigte ein solcher Golem keineswegs. Und Andre glaubte nicht, dass ein einzelner Golem die Reihen der Orks durchbrechen konnte. Höchstwahrscheinlich hatten die Orks einen Schamanen in ihren Reihen, der den Golem mit Magie bekämpfen würde, und selbst wenn nicht: Sogar die mächtigen Steingolems waren nicht unverwüstlich, und die Orks führten ihre schweren Streitäxte und Schwerter mit fürchterlicher Kraft. Der Golem würde schwer unter den Orks wüten, aber er würde fallen, da war sich Andre ziemlich sicher.
    „Dies ist kein gewöhnlicher Golem“, sagte Saturas, dem Andres Enttäuschung offenbar nicht entgangen war, „Ihr werdet sehen!“
    Wie zur Bestätigung von Saturas' Worten begannen auf der Oberfläche des Golems, der bislang von einem auf dem Wagen montierten Holzgestell aufrechtgehalten worden war, hellblaue Adern zu leuchten, und mit einem Knirschen straffte sich die Haltung des Ungetüms. Die Goblins in der Tischgruppe begannen noch mehr durcheinanderzuschnattern, als sie es ohnedies die ganze Zeit getan hatten.
    Langsam bewegte sich der Golem, trat aus dem Gestell heraus und machte einen Schritt von dem Karren herunter. Erst jetzt fielen Andre die Metallverstärkungen an dem Gefährt auf, ohne welches dieses seine schwere Last wohl kaum so lange hätte tragen können. Mit einem dumpfen Laut trat der Golem auf, und Andre meinte fast, ein leichtes Erbeben der Erde zu spüren. Mit einem Blick zu den Reihen der Orks, die sich an ihrer Absperrung formiert hatten, stellte Andre die Unruhe fest, die sich der Verteidiger angesichts der neuen Belagerungswaffe der Angreifer bemächtigt hatte.
    Endlich gab Saturas den Befehl zum Angriff, und das Ungetüm setzte sich in Bewegung: In weiten, schweren Schritten, unter denen die Erde nun wahrhaftig erbebte, setzte der Golem auf die Reihen der Orks zu. Andre hatte keine Ahnung, was dieses Ding alles konnte. Doch bei dem Aufhebens, dass Saturas darum machte, musste es schon eine ganze Menge können. Auch die vielen, magischen Apparaturen, mit denen der Golem offenbar gesteuert werden sollten, waren für Andre eine Neuheit: Noch nie hatte er von derartigem gehört.
    Ein dichter Schwall von Bolzen löste sich von der Verteidigungslinie der Orks und bewegte sich geradewegs auf den Golem zu, erbrachte jedoch erwartungsgemäß keinerlei nennenswerten Effekt: Die Geschosse prallten von der steinernen Haut ab. Einige Bolzen splitterten, als der Golem sie in den Staub trat.
    Die Ruhe, mit der sich die orkische Schlachtreihe auf die Ankunft des Golems vorbereitete, erfüllte Andre mit Bewunderung. Doch hatte er dergleichen schon einige Male erlebt: Die Disziplin der orkischen Elitekrieger war legendär. Und so sah sich der Golem einer Phalanx schwer gerüsteter und bewaffneter Krieger gegenüber, in die er geradezu hineinlief. Der Golem traf auf die Reihe der Orks, und...
    Andre klappte der Mund auf.
    Andre hatte erwartet, dass der Ork mit Gewalt durch die Orks brechen würde, dass er sie in den Boden stampfen, zur Seite schleudern und mit mächtigen Hieben zu Boden strecken würde.
    Doch nicht dergleichen geschah.
    Der Golem, die Superwaffe der Wassermagier, blieb auf Armeslänge vor der Orkphalanx stehen, packte den direkt vor ihm stehenden Krieger, und hob diesen mechanisch empor.
    „Soll DAS etwa die geheime Superfähigkeit Eures Kriegsgolems sein?“, stieß Andre hervor.
    Saturas hatte das Schauspiel mit gerunzelter Stirn verfolgt und wandte Andre nun das Gesicht zu: „Wieso Kriegsgolem? Das Ding wurde für Lagerarbeiten konstruiert.“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (22.01.2014 um 23:57 Uhr)

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    Emsig huschten die Minecrawler hin und her, gruben mit den Vorderbeinen in der Erde, knabberten mit den Zangen an Gestein, sonderten ihr Sekret ab, das sich durch die härteren Felsschichten fraß, bevor es aushärtete und damit zugleich auch die Stabilität des Tunnels sicherte.
    Gebannt betrachtete Merdarion das Schauspiel.
    Er wandte sich um und ging den Weg, den die Crawler gegraben hatten, noch einmal ab. Diesmal zählte er die Schritte, es waren einhundertsiebenundvierzig. Einhundertsiebenundvierzig Schritte in nur einer Woche. Ein beeindruckendes Arbeitspensum.
    "Und, was sagt Ihr?", empfing ihn der Vorarbeiter der Bergleute.
    "Erstaunlich! Wirklich erstaunlich! Nur frage ich mich, warum der Stollen nicht gerade gegraben wurde."
    Der Vorarbeiter nickte: "Das ist eine gute Beobachtung. Die Tiefenschaben pflegen schlechter passierbare Erdschichten zu umgehen. Das erschwert natürlich die Orientierung, allerdings haben wir damit einige Erfahrung."
    Merdarion ließ sich die Karten zeigen, welche die Minenarbeiter und ihre treuen Tiere benutzten, um das anvisierte Ziel auch ja nicht zu verpassen. Die ursprünglichen Karten kamen aus Khorinis, waren jedoch von den Goblins durch ein Liniengitter sowie eine Reihe von geometrischen Formen ergänzt worden, von denen man ihm erklärt hatte, dass sie für die präzise Berechnung der Grabungen notwendig seien. Der Vorarbeiter hatte denn auch ständig Stift, Lineal und Zirkel sowie einen Kompass zur Hand, um den weiteren Fortschritt einzutragen, und die Krümmungen und Richtungsänderungen so zu berechnen, dass man am Ende doch am rechten Ziel ankam.
    "Wie lange werden wir noch brauchen?", fragte Merdarion.
    "Das kann ich nicht genau sagen", erwiderte der Goblin, "doch mir scheint, dass wir gut in der Zeit liegen."


    Die Wissenschaftler hatten den Golem in der vergangenen halben Stunde alle möglichen Übungen vollführen lassen. Die Magietheoretikerin und Mathematikerin Dr. Ada Celavelo, die im Wesentlichen für die Handlungsroutinen des Golems verantwortlich zeichnete, war sichtlich zufrieden gewesen: Der Golem konnte zügig und ohne allzu große Verzögerung auf Befehle reagieren. Das war eine Neuerung, geradezu eine Revolution auf dem Gebiete der Golemmagie, denn üblicherweise konnten Golems nur sehr einfache Befehle befolgen, die weder besondere Intelligenz, noch Geschick erfordern durften. Dr. Celavelo dagegen hatte eine Reihe von sogenannten Verhaltensprogrammen entwickelt, deren genaue Vorgaben den Golem zu komplexeren Bewegungsbaläufen befähigten. Da er außerdem je nach Befehl die unterschiedlichen Programme wechseln konnte, sollte der Golem zudem flexibler eingesetzt werden können, als dies bislang in der Regel der Fall gewesen war.
    Überaus zufrieden beobachtete Saturas, wie der Golem eine schwere Kiste von dem Pier aufhob und sich zu dem Lagerhaus umwandte, mit stampfenden Schritten darauf zumarschierte.
    „Das sieht alles sehr gut aus“, lobte Fleddelig die gemeinsame Arbeit des Teams. Der Lagervorsteher, der dem Test des Golems zunächst sehr skeptisch begegnet war, rieb sich angesichts der zügigen Arbeit, die das Konstrukt leistete, zustimmend die Hände.
    „Wo kommt die Kiste hin?“, fragte einer der Goblins, der für die Steuerung des Golems zuständig war, und regelmäßig über einen der magischen Kristalle strich, die für das Experiment aufgestellt worden waren.
    „Erster Stock“, antwortete der Lagervorsteher, „ganz nach hinten.“
    Der Forscher ließ seine haarigen Händchen über den Kristall streifen und murmelte einige Befehle. Saturas sah den Golem in der Öffnung des großen Tors verschwinden.
    „Wann kann ich mit der ersten Lieferung dieser Wunderdinger rechnen?“, fragte der Lagervorsteher und rieb sich die Hände.
    „Also mal langsam!“, antwortete Fleddelig, „das ist doch gerade mal ein Prototyp! Bis zur Serienfertigung, falls es dazu kommen sollte, wird es noch ein Weilchen brauchen.“
    Fleddelig warf Saturas einen fragenden Blick zu.
    „Ja, so ist es“, bestätigte der die Äußerung des gelehrten Geistlichen, „wir stehen gerade erst am Anfang...“
    Saturas kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn ein ohrenbetäubendes Bersten und Krachen drang aus dem Lagerhaus hervor.
    „Adanos!“, entfuhr es Saturas, „was geht da vor?“
    Von Fleddelig und dem Vorsteher begleitet eilte er zum Tor und betrat das Lagerhaus. In dem schummerigen Licht dauerte es eine Weile, bis er die Situation erfasst hatte, dann begann er zu lachen.
    „Das ist gar nicht komisch!“, schrie der Vorsteher, durchaus ein wenig hysterisch, „was gibt es da denn zu lachen!“
    Der Golem, die Kiste immer noch in den klobigen Händen, saß inmitten geborstener Holzbretter auf dem Boden und versuchte offenbar, sich wieder zu erheben. Vergebens.
    „Euer Ding hat mein Lager kaputt gemacht!“, klagte der Vorsteher, „Er hats kaputt gemacht, das blöde Ding!“
    Saturas drängte das Lachen zurück und versuchte sich an einem ernsten Gesichtsausdruck, als er antwortete: „Der Golem hat doch alles richtig gemacht, Herr Vorsteher“, zur Gänze vermochte sich der Wassermagier das Grinsen nicht zu verwehren, „dass Deine Treppe aus brüchigem, morschen Holz besteht, das kann man ihm ja wohl kaum anlasten.“
    Der Vorsteher wollte zu einer geharnischten Erwiderung ansetzen, doch kam ihm Fleddelig zuvor: „Das ist ein Problem“, sagte er, „an das wir hätten denken müssen: So einen schweren Steinkörper kann man nicht überall einsetzen.“
    Saturas fochten derlei Unkenrufe nicht an: Es war das Verhalten des Golems gewesen, dass zu testen sie beabsichtigt hatten, und dieser Test stimmte ihn zuversichtlich. Sicherlich: Noch war nicht alles optimal. Doch Saturas fühlte sich in der Einschätzung über das Potential ihrer Forschung bestätigt.


    Lee, General der königlichen Armee Biblurs, fühlte sich in seiner Haut einigermaßen unwohl. Dies lag zu ganz erheblichen Teilen an dem höchst sonderbaren Kavallerieregiment, das vor ihm Aufstellung genommen hatte. Es handelte sich nämlich um ein Kavallerieregiment aus Biblur, und die Kavallerie von Biblur pflegte nicht Pferde einzusetzen, sondern Minecrawler: Riesige, ameisenähnliche Insektoide geschöpfe, Kreaturen mit einem halben Dutzend ekelhaft dürrer, mehrgliedriger Beine, die in spärlich behaarten Spitzen endeten, mit hin und her tastenden Fühlern, klickenden Zangen. Lee bot sich ein Anblick wie aus einem Albtraum. Oder einer sehr geschmacklosen Fiktion. In jedem Falle ein Anblick, den sich jeder vernünftige Mensch wohl lieber erspart hätte. Lee fand es schon unangenehm, die großen Gliederfüßer in direkter Nähe zu haben, auf ihnen zu reiten erschien ihm nachgerade unmöglich.
    Und doch: Es musste sein. Er verstand schließlich die Vorteile, die diese Tiere boten: Eine schnelle Reisegeschwindigkeit, enorme Ausdauer, sehr hohe Tragkraft und überaus achtenswerte Kampffähigkeiten, waren diese Kreaturen doch durch ihre glatten Panzer geschützt, und in der Lage, mit ihren greiferbewehrten Vorderbeinen und den Zangen am Mund schlimme Wunden zu reißen.
    Kurz: Die Viecher waren eklig, aber für die Armee unschätzbar nützlich.
    Also musste sich Lee an sie gewöhnen.
    Und diese Kreaturen und ihre Reiter, allesamt Goblins, mussten sich an ihn gewöhnen. Daran, seine Befehle zu befolgen, vor allem aber daran, diese überhaupt zu verstehen.
    Lee seufzte schwer, und sah zu Leutnant Anastasia Jaklob, die ihm als Adjutantin zur Seite gestellt worden war und seine Befehle übersetzen sollte.
    „Drittes biblurer Kavallerieregiment ist angetreten“, vermeldete die junge Offizierin zackig.
    Lee nickte, seufzte erneut und machte sich an die Arbeit.

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