Trollnovelle


„Hallo, liebe Novizen!“ Ulthars heisere Stimme hatte es schwer, sich gegen eine ganze Kirche voller junger Magier durchzusetzen. „Dürfte ich um Ruhe bitten?“
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis das Geflüster und Getuschel nachgelassen hatte. Das hatte nicht bloß damit zu tun, dass einige der Anwesenden Ulthars Ansprache tatsächlich nicht bemerkt hatten, sondern war auch ein Zeichen der allgemeinen Nervosität und Aufgeregtheit, die in diesen Tagen im Kloster von Khorinis herrschte.
„Meinst du, er verteilt heute die Aufgaben?“, nuschelte Babo seinem Kumpel Garwig zu, während sich Ulthar in einem ausgedehnten Hustenanfall erging. „Was meinst du? Hmm?“
Garwig rieb sich gelangweilt die Augen und suchte vergeblich nach einem Teil der Holzbank, an den er sich anlehnen konnte. „Mir egal... bei mir ist es ja doch bloß wieder das gleiche.“
„Du bist eben sehr gut darin, die heiligen Artefakte zu bewachen“, versuchte Babo seinen Freund aufzumuntern. „Das ist doch etwas Schönes!“
„Schlafen is' was Schönes...“, brummte Garwig. „Ich hätte mich einfach ins Bett legen sollen, weißte? Jetzt wo mich endlich mal kurz einer abgelöst hat. Aber nee, ich Depp geh natürlich zu dieser blöden Versammlung...“
„Aber deswegen wurdest du doch überhaupt erst abgelöst!“, empörte sich Babo. „Sag mal, was ist eigentlich in letzter Zeit los mit dir? Du bist ständig so...unzufrieden.“
„Ich bin nich' unzufrieden. Nur...hrrrrmmmm...müde.“
„Still jetzt!“, murrte Opolos und puffte Garwig in die Seite, der dadurch beinahe von der Bank gekippt wäre. „Ich glaube, Ulthar hat aufgehört zu husten.“
Tatsächlich begann der hohe Magier nun von Neuem seine Ansprache, und diesmal konnte er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner jungen Glaubensgenossen erfreuen.
„Bevor ich zum wesentlichen Anlass unserer heutigen Versammlung komme, möchte ich kurz eine Beschwerde zur Sprache bringen, die mich von verschiedenen Seiten erreicht hat“, sagte Ulthar. „Offenbar sind in den letzten Tagen mehrere Schatullen voller frisch gebackener Weihnachtsplätzchen abhanden gekommen. Sollte sich jemand von euch der Plätzchen bemächtigt haben, dann möchte ich diese Person im Sinne aller bitten, sie, falls möglich, aus Anstand wieder herauszurücken. Im Teilen liegt eine große Kraft!“
Ulthar sammelte sich noch ein wenig, während die Novizen unschuldig verwunderte Blicke untereinander austauschten.
„Wie ihr alle wisst, nähern wir uns mit großen Schritten dem Weihnachtsfest. Vor vielen, vielen Jahren schenkte uns Innos die Kraft seiner Tränen, die es seinen Streitern ermöglichte, jedem noch so gewaltigen und erschreckenden Feind mit hohem Mut entgegenzutreten und erfolgreich zu überwinden. Innos lehrte uns, dass der rechte Glaube uns jeder Aufgabe, sei sie auch auf den ersten Blick nicht zu bewältigen, gewachsen sein lässt. Zum Andenken an diese wichtige Lektion wollen wir das heilige Weihnachtsfest auch in diesem Jahr wieder mit allem angemessenen Prunk gemeinsam mit unseren Freunden im oberen Viertel von Khorinis zelebrieren. Erneut wird dabei jeder von euch Novizen eine ganz spezielle Aufgabe zugeteilt bekommen, um euren Mut und eure Entschlossenheit auf die Probe zu stellen!“
„Na sicher“, murmelte Opolos. „Ich musste wirklich all meinen Mut aufbringen, um letztes Jahr das Rathaus zu putzen.“
„Sei froh, dass du keine Scavenger häuten musstest!“, flüsterte Babo, am scheintoten Garwig vorbei, zurück.
„Wir kriegen immer die Drecksarbeit ab“, resümierte der missgelaunte Schafhirtennovize, „und was ist mit Marwin? Der musste bloß ein paar Tassen Tee kochen – und selbst das hat ihm dann noch Neoras abgenommen!“
„Hat Marwin eigentlich schon mal irgendwas selber gemacht?“, ätzte Babo. „Das einzige, was der alleine hinkriegt, ist doch das Einschleimen bei den Magiern!“
„Selbst da wär ich mir nicht so sicher. Die meisten mögen ihn doch nur, weil er ständig in Begleitung von Siggi dem Flöter aufkreuzt.“
„Hör mir mit dem auf!“ Babo machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der ist doch genauso ein Schleimbeutel wie Marwin – wundert mich kein bisschen, dass die beiden sich so gut verstehen!“
Ulthar hatte sich derweil kurz geräuspert, anschließend noch einmal etwas länger. Dann hatte er einen Schluck Wasser aus seinem Kelch getrunken. Er hatte sich schließlich erneut geräuspert, und nun hustete er gerade noch ein bisschen, bevor er fortfuhr.
„Wenn ihr gleich den Umschlag mit eurer diesjährigen Aufgabe öffnen werdet, dann mag es sein, dass euch der Auftrag, der euch zugewiesen wurde, sehr schwierig erscheint. Ihr werdet möglicherweise daran zweifeln, dass ihr diesen Auftrag überhaupt zu bewältigen imstande seid. Erinnert euch dann einfach an das Vorbild der alten Streiter Innos' und seid gewiss, dass mit dem Segen Innos' jeder von euch Großes vollbringen kann. Und unter dem Segen Innos' steht ihr alle, dessen könnt ihr euch sicher sein! Beschwerden möchte ich nicht hören – vertraut auf euch und auf die inspirierende Kraft Innos'!“ Ulthar machte eine kurze Pause, damit die Novizen seine weisen Worte auf sich wirken lassen konnten. „Gorax wird euch nun die Umschläge bringen. Ich wünsche euch viel Erfolg und vertraue voll und ganz auf eure Fähigkeiten.“
Gespannt wartete die versammelte Novizenschaft darauf, dass sich irgendwo Gorax sehen ließ, doch von dem fehlte weit und breit jede Spur.
Entsprechend verwirrt blickte auch Ulthar aus der Wäsche und guckte etwas hilflos zu den Stühlen seiner Ratsbrüder hinüber – die waren jedoch außer Haus und konnten ihm nicht beistehen.
„Hm.“ Erneut nahm Ulthar einen Schluck Wasser, während das Gemurmel um ihn herum dramatisch zunahm. „Könnte vielleicht jemand nachsehen, wo Gorax steckt?“
Einige Novizen verließen die Kirche, andere waren aufgestanden, und jeder war plötzlich in die angeregteste Plauderei verwickelt. Gorax jedoch war nirgendwo zu finden, und schließlich musste Ulthar einsehen, dass weiteres Warten keinen Sinn hatte.
„Nun gut. Verschieben wir das Ganze auf morgen. Ich wünsche euch allen einen ertragreichen Tag. Innos zum Gruße!“
„Na großartig“, seufzte Opolos. „Die Organisation war hier aber auch schon mal besser.“
Babo zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Gehen wir, mein Kräutergarten will auch im Winter gepflegt werden. Garwig, aufwachen!“


Nach dem Verlassen der Kirche, das sich wegen Garwig noch eine Weile hinzog, dauerte es keine zehn Sekunden, bis die drei Novizen auf einen abgehetzt wirkenden Gorax trafen, der sich direkt vor ihre Nase teleportierte.
„Ihr drei da!“, schrie er den jungen Männern, offenbar etwas orientierungslos, aus nächster Nähe ins Gesicht. „Was macht ihr hier draußen? Ihr solltet alle längst in der Kirche sein!“
Babo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wir waren alle schon längst in der Kirche. Die Frage ist eher, wo Ihr wart.“
„In Orlans Taverne. Rein geschäftlich natürlich!“, beteuerte der Lagerverwalter des Klosters schnell. „Ich hätte wissen müssen, dass Ulthar zu früh anfangen würde.“
„Eigentlich hat er sogar etwas später – “
„Nun, Kinder, ich habe nicht den ganzen Tag für euch Zeit!“, wimmelte sie Gorax ab. „Ich muss noch den Lagerbericht für diesen Monat schreiben, und die Schriftrolle für Marwin habe ich auch noch nicht angefertigt. Also dann, Innos zum Gruße!“
„Einen Moment mal“, knurrte Opolos. „Welche Schriftrolle für Marwin denn bitteschön? Bekommt er die etwa geschenkt?“
„Wieso nicht?“, blaffte Gorax zurück. „Weihnachten ist doch das Fest der Geschenke, und ich bin mir sicher, dass ihm der Zauber bei seiner Aufgabe gut behilflich sein wird.“
„Ach ja? Und was ist mit unseren Aufgaben?“, empörte sich Opolos, während Babo etwas zaghaft die Andeutung eines zustimmenden Nickens machte. „Marwin bekommt jedes Jahr die lachhafteste Aufgabe überhaupt zugesteckt, und jedes Mal greift ihr Magier ihm dabei auch noch unter die Arme! Womit genau hat er sich das eigentlich verdient?“
„Naja...“ Gorax wirkte jetzt tatsächlich ein wenig verunsichert und wippte unruhig auf den Füßen hin und her. „Er ist eben nett. Nichts desto trotz, deine Vorwürfe sind völlig haltlos. Wir achten natürlich sehr genau darauf, dass eure Aufgaben allesamt gleichwertig sind, und behandeln auch ansonsten jeden von euch absolut gleich! Du hast zum Beispiel letzte Woche die doppelte Portion Schafswurst bekommen, erinnerst du dich?“
„Dafür musste ich die vorher auch monatelang füttern!“
„Und hat Meister Neoras dir, Babo, nicht kürzlich erst sein Buch über Kräuterkunde geschenkt?“
„Schon... aber erst, nachdem er ausversehen eine Kanne Lurkerblut drübergekippt hatte.“
„Nicht so undankbar! Garwig, du wirst dich wohl auch nicht beschweren wollen, oder? Immerhin wurde dir eine der wichtigsten Aufgaben innerhalb unserer heiligen Hallen anvertraut. Eine große Ehre!“
„Hrrrmmm...?“
„Wie dem auch sei: Ihr seht selbst, dass ihr nicht anders behandelt werdet, als Marwin und jeder andere Novize auch. Bitte haltet mich jetzt nicht länger auf, ich werde noch ein ernstes Wörtchen mit Ulthar sprechen müssen. Innos zum Gruße!“
„Innos zum Gruße“, murmelten die drei Novizen mäßig begeistert und sahen Gorax auf seinem Weg in die Kirche hinterher.
„Warum finden Marwin eigentlich alle Magier so nett?“ Verständnislos schüttelte Babo mit dem Kopf. „Er ist doch gar nicht so besonders sympathisch.“
„Angeblich soll er doch eine 'schwere Kindheit' gehabt haben“, schnaufte Opolos, der nach dem Gespräch mit Gorax aufgebrachter denn je war. „Was der eben so schwer findet! Wahrscheinlich musste er seiner Mutter mal'n Brot mitbringen, ohne dass ihm das gleich einer abgenommen hat. So einen wie Marwin traumatisiert das bestimmt ganz schön.“
„Tja, sieht wohl so aus, als käme er dieses Jahr wieder mit einer dieser Schmalspuraufgaben davon“, seufzte Babo. „Manche Dinge ändern sich eben nie.“
„Vielleicht schon“, entgegnete Opolos. In seiner verbitterten Miene war nun ganz deutlich die Entschlossenheit zu erkennen, die Ulthar vorhin auf feierliche Weise von ihnen gefordert hatte. „Man müsste nur ein bisschen nachhelfen.“
Babo schwante Übles. „Was...soll das denn heißen?“
„Los, kommt mit!“
„Warte mal, was – “
„Was'n los...?“
„Kommt mit, wir haben nicht viel Zeit!“


„Hast du völlig den Verstand verloren?“, zischte Babo und zerrte verzweifelt am Arm seines Freundes. „Wir verschwinden jetzt auf der Stelle, hast du verstanden? Er kann jeden Augenblick zurückkommen!“
Der junge Kräuterzüchter konnte es immer noch nicht fassen, dass er Opolos bei seinem wahnwitzigen Einbruch in Gorax' Kammer tatsächlich gefolgt war. Dass es ein Leichtes war, in verschlossene Klosterzimmer einzudringen, war ein offenes Geheimnis: Dazu genügte es bereits, den Türgriff ein wenig anzuheben und gleichzeitig an der richtigen Stelle Druck auszuüben. Es gab jedoch einen guten Grund, weshalb es trotzdem niemand wagte, unerlaubt in die Zimmer der Magier einzudringen, und dieser Grund hörte auf den Namen Rauswurf.
„Stell dich nicht so an“, sagte Opolos, der gerade damit beschäftigt war, die Schränke und Schubladen des Magiers zu durchsuchen. „Du weißt doch, wie lange das dauern kann, wenn sich Gorax und Ulthar in die Haare kriegen. So schnell taucht der schon nicht auf.“
Babo musste seinem Freund insgeheim zustimmen: Jedes Gespräch mit Ulthar dauerte ewig. Außerdem hielt Garwig vor der Tür Wache, und darin machte ihm normalerweise keiner etwas vor. Normalerweise.
„Da haben wir sie ja!“ Triumphierend zog Opolos ein zugeschnürtes Bündel aus lauter kleinen, roten Umschlägen aus einer der Schubladen hervor und legte es an einer freien Stelle auf Gorax' Schreibtisch ab. „Jetzt müssen wir nur noch den richtigen finden...“
„Beeil dich!“, drängte Babo, dessen nervöser Blick ständig zwischen Opolos und der Tür hin- und herpendelte. „Wenn uns einer dabei erwischt, haben wir größere Probleme als ein paar unfair verteilte Aufgaben!“
Der Schafeversteher indes hatte den Knoten der Schnur bereits gelöst und war eifrig dabei, die rückwärtig angebrachten Namensschildchen an den Umschlägen zu studieren. Es dauerte nicht lang, bis er das gesuchte Kuvert mit der liebevoll verzierten Aufschrift „Marwin“ gefunden und mit flinken Fingern geöffnet hatte.
Hilf Cornelius dabei, die Einladungskarten für das Fest anzufertigen“, las Opolos wutschnaubend den Text auf dem ebenfalls rötlichen Papier, das er aus dem Umschlag gezogen und rasch entfaltet hatte. „Diesmal haben sie ihm schon direkt in die Aufgabenstellung geschrieben, wer ihm die Arbeit abnehmen wird! Der reinste Witz ist das doch!“
„Du hast ja recht, aber wir sollten jetzt wirklich –“
„Willst du ihn etwa damit davonkommen lassen? Vergiss es!“ Suchend wanderte Opolos' Blick über den Schreibtisch, bis er ein unbeschriebenes Stückchen Papier eben jener Sorte entdeckte, die Gorax für die Anfertigung der Aufgabenzettel verwendet hatte. „Wenn es sonst niemand tut, dann werden wir jetzt eben dafür sorgen, dass sich Marwin ausnahmsweise mal ein bisschen anstrengen muss.“
„Was hast du vor?“, wisperte Babo mit zitternder Stimme. So nervös war er nicht einmal gewesen, als ihn Parlan damals vor zwei Jahren während des Unterrichts plötzlich aufgefordert hatte, den Fleischwanzenverwandlungszauber auszuprobieren.
„Na, was wohl?“, grinste Opolos, der von seinem riskanten Plan sehr überzeugt schien. „Wir denken uns eine angemessen schwierige Aufgabenstellung aus, schreiben sie auf diesen Zettel hier...ja, und den Rest kannst du dir hoffentlich denken!“
„Das wird nicht hinhauen! Marwin rennt doch sofort zu Parlan oder Ulthar oder sonst wem, und dann fliegt sofort alles auf. Lass uns einfach verschwinden, los jetzt!“
„Ulthar hat selbst gesagt, dass er keine Beschwerden will“, erinnerte ihn Opolos, der sich schon Gorax' Schreibfeder unter den Nagel gerissen hatte. „Nach der Rede traut sich Marwin bestimmt nicht, direkt zu Ulthar zu laufen.“
„Aber – “
„Reiß dich zusammen und sag mir lieber, was ich schreiben könnte! Es muss was richtig Schwieriges sein, ach was – unmöglich muss es sein, und außerdem müssen wir irgendwie verhindern, dass er sich schon wieder helfen lässt... Warte mal, wie wär's mit...“
Das Herz stand Babo still, als ein leises, aber umso erschütternderes Klicken das Herunterdrücken des Türgriffs ankündigte. Einige panische Augenblicke lang suchte Babo erfolglos nach einem Ausweg, nach einem Versteck – dann schwang die Tür auf und herein trat...
„Garwig? Was – was machst du hier drin?“, keuchte der nervenschwache Novize und schloss die Tür, so schnell er konnte. „Du solltest doch Wache halten!“
„Hab' die Schnauze voll vom...Wache halten...“, schnodderte der frustrierte Reliquienwächter drauf los und stolperte wie ein einbeiniger Untoter in den Raum hinein. „Will jetz' lieber...hrrmm...schlaaafen...“
„Bleib weg von Gorax' Bett, verdammt!“ Erschrocken stellte Babo fest, dass er laut gesprochen, ja beinahe geschrien hatte – jetzt konnte er nur noch dafür beten, dass niemand in der Nähe war, der seine Stimme hatte hören können. Fragte sich bloß, ob sich Innos nicht eher auf die Seite eines hochrangigen Magiers als einiger schwächlicher Novizen stellte, die sich nicht einmal an die Klosterregeln hielten.
Hektisch zerrte er an Garwigs Robe, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich sein hoffnungslos übermüdeter Freund in Aufbringung seiner letzten Kraftreserven auf Gorax' frisch gemachtes Bett schmiss. Wohlig brummend vergrub Garwig seinen Kopf im flauschigen Kissen des Lagerhalters, während sich Babo wie einer der aufgescheuchten Scavenger gebärdete, die er im letzten Jahr zu Weihnachtsbraten hatte verarbeiten müssen.
„Steh auf, bei Innos!“, flehte er. „Du kannst den ganzen Tag in meinem Bett liegen, wenn du willst – von mir aus die ganze Woche, Hauptsache du stehst jetzt endlich auf!
„Gute Idee“, pflichtete ihm Opolos bei. „Ich bin nämlich fertig hier. Lass uns zusehen, dass wir verschwinden.“
„Sag das nicht mir, sondern Garwig!“
„Den kriegen wir schon hier raus.“ Opolos krempelte die Ärmel hoch. „Los, pack mit an!“


Am nächsten Morgen befand sich der Lärmpegel innerhalb der heiligen Kirche Innos' keinesfalls auf einem niedrigeren Niveau als am Vortag. Zu den Spekulationen über die Art der eigenen Aufgabe kamen nun auch noch Mutmaßungen darüber hinzu, weshalb Gorax am Vortag nicht aufgetaucht war und ob er es heute wohl tun würde. Zumindest auf diese Frage gab es jedoch eine rasche, eindeutige Antwort, denn Gorax hatte die geweihte Halle bereits betreten, bevor Ulthar die zweite Auflage seiner festlichen Rede überhaupt begonnen hatte.
Babo schlug das Herz noch immer bis zum Hals. Er hatte die ganze Nacht hindurch kein Auge zugetan – was nicht nur daran gelegen hatte, dass sein Bett durch Garwig besetzt gewesen war –, doch von Erschöpfung war bei ihm keine Spur. Ständig glaubte er, Gorax' mahnenden Blick auf sich zu wissen. Opolos konnte unmöglich sämtliche Spuren verwischt haben, und Gorax war alles andere als dumm: Wenn er mit seinen Gedanken zurzeit nicht in ganz anderen Sphären schwebte, was natürlich durchaus möglich war, dann musste er einfach etwas mitbekommen haben. Insgeheim verfluchte Babo seinen Freund für dessen wahnsinnigen Plan und die Unverschämtheit, ihn in diesen ganzen Schlamassel auch noch mit hineingezogen zu haben.
„Freut ihr euch auch schon auf Marwins blöde Fresse, wenn er gleich seinen Umschlag aufmacht?“, flüsterte Opolos, dessen Aufregung ganz offensichtlich deutlich positiverer Natur war.
„Ihr hättet mich nich' wecken sollen“, gähnte Garwig. „Nur so'n paar Stunden schlafen, das macht ein'n nur noch müder...“
„Nicht einschlafen, Garwig!“ Erwartungsvoll rieb sich Opolos die Hände. „Es geht los!“
Tatsächlich hatte Ulthar bereits sein Räusperritual vollendet und richtete sein Wort an die verstummenden Novizen: „Erneut hallo, liebe Novizen! Ihr erinnert euch ja sicher noch alle an meine Rede von gestern. Was ich gesagt habe, gilt natürlich weiterhin: Lasst euch auf die gestellte Aufgabe ein und verrichtet sie ohne Klagen und Murren! Der Dienst im Namen Innos' ist nicht immer angenehm und nicht immer leicht, aber stets eine wertvolle Erfahrung. Wie ihr seht, hat uns Gorax heute mit seiner Anwesenheit beehrt und wird euch nun eure Aufgaben zuweisen.“
Während der Magier die Reihen durchschritt und jedem Novizen einen Umschlag in die Hand drückte, reckte Opolos spähend den Kopf nach allen Seiten.
„Wo sitzt Marwin denn überhaupt? Das da vorne ist er, oder? Wir haben ja nichts von seiner blöden Fresse, wenn wir sie nicht sehen können!“
„Hör mir mit Marwin auf“, murmelte Babo. „Lass uns lieber hoffen, dass Gorax nichts mitbekommen hat...“
„Hat er nicht“, behauptete Opolos. „Und selbst wenn, wieso sollte er auf die Idee kommen, dass wir es waren? Naja, gut, das Gespräch gestern liefert ihm vielleicht ein Motiv, aber nachweisen kann er uns überhaupt nichts!“
„Still, da kommt er!“
Gorax trat an ihre Sitzreihe heran und durchblätterte die verbliebenen paar Umschläge, bis er die drei richtigen gefunden hatte.
„Ah ja, da haben wir sie...Opolos, Garwig, und...Babo. Bitteschön.“
Babo atmete erleichtert auf, als ihm Gorax den Umschlag in die Hand gedrückt hatte, ohne ihn in irgendeiner Weise kritisch zu beäugen. Garwig hingegen schien es gar nicht zu bemerken, als ihm der Magier das Briefchen unter den Arm klemmte.
Nun war Opolos an der Reihe, und als Gorax ihm seinen Umschlag überreichte, beugte er sich plötzlich etwas nach vorn und flüsterte: „Hör mal, ich habe nochmal darüber nachgedacht, was du gestern gesagt hast. Vielleicht ist da doch etwas dran, weißt du...Marwin ist einfach ein netter Kerl, und da ist man manchmal wohl ein wenig nachgiebiger. Das soll sich ab jetzt aber ändern, versprochen. Und weißt du was? Als Entschuldigung habe ich dir vorhin Marwins Aufgabe zugesteckt – dann kannst du dich dieses Jahr ein bisschen erholen, und ihm schadet es vielleicht auch nicht, mal gefordert zu werden.“
Opolos' gute Laune war mit einem Schlag verschwunden. „W...was...?“
„Ich gebe das nicht gerne zu, aber auch Magier machen Fehler“, fügte Gorax hinzu. „Und wenn etwas nicht im Sinne Innos' ist, dann ist das Ungerechtigkeit. Ich hoffe, damit ist die Sache aus der Welt geschafft. Innos zum Gruße!“
Gorax ging weiter, und einige Sekunden lang konnte keiner der drei Freunde etwas sagen. Zumindest im Falle Babos und Opolos' änderte sich das allerdings schnell wieder.
„Mach deinen Umschlag auf“, forderte Babo den leichenblassen Opolos auf. „Vielleicht hat er das ja nur so dahergesagt. Eigentlich könnten wir ja gar nicht überprüfen, ob er die Aufgaben wirklich getauscht hat!“
„Bitte, Innos, lass es ihn nur so dahergesagt haben“, flehte Opolos ohne große Hoffnung.
Mit schweißnassen Fingern öffnete er den Umschlag und zog einen kleinen, roten Zettel hervor. Einen nur allzu bekannten kleinen, roten Zettel.
Zitternd entfaltete er ihn und las seine eigenen Worte:
Zähme einen ausgewachsenen Troll, kleide ihn weihnachtlich und bring ihn dazu, besinnliches Liedgut während des großen Festbanketts darzubieten. Wichtig: Du darfst dir dabei unter keinen Umständen von irgendwem helfen lassen! (Auch nicht von Magiern! (Und erst recht nicht von Siggi dem Flöter!)) Erzähle niemandem davon, es soll eine Überraschung werden. Wir zählen alle darauf, dass du das schaffst. Bitte enttäusche uns nicht! Wir wären dir sehr böse! Vermutlich würdest du aus dem Kloster verwiesen. Es hängt also einiges von dieser Aufgabe ab. Fühl dich ruhig ein bisschen unter Druck gesetzt. Aber du schaffst das schon, keine Sorge!“


„Ich habe doch gesagt, keine Beschwerden!“, hustete sich Ulthar gemächlich durch seinen ablehnenden Antwortsatz. „Wenn du dich der Aufgabe nicht gewachsen fühlst, dann suche Stärke und Ermutigung im Gebet zu Innos.“
Verzweifelt wedelte Opolos mit dem Zettel vor der Nase des hohen Magiers herum. „Aber Meister, lest doch erst einmal, was hier steht! Das kann unmöglich eine ernst gemeinte Aufgabe sein!“
„Hmm?“ Ulthar hielt sich blinzelnd das Papier vor die Nase. „Was haben wir denn da? Also schön. Weihnachtlich...besinnlich...Festbankett...das scheint mir alles so seine Richtigkeit zu haben.“
„Dann lest es doch bitte einmal komplett! Habt Ihr die Stelle mit dem Troll bemerkt?“
„Ja, nun...also, ein Troll, wie?“ Ulthar drehte den Zettel etwas und starrte ihn angestrengt an. „Das ist ungewöhnlich, aber ich bin mir sicher, dass sich Gorax etwas dabei gedacht hat. Und nun widme dich bitte deinen täglichen Pflichten und deinem Auftrag, Opolos.“
„Aber...“
Vergeblich suchte Opolos nach den Worten, die den alten Ratsmagier doch noch von der Notwendigkeit eines Aufgabenaustauschs überzeugen konnten. Ulthar war gerade im Begriff, ihn höflich herauszubitten, als mit lautem Rumms die Kirchenpforte aufschwang: In der Pforte stand niemand Geringeres als Pyrokar.
„Meister Pyrokar!“ Opolos wusste, dass es keine gute Idee war, das Oberhaupt des Magierrates mit Novizenproblemen zu belästigen, doch im Augenblick zählte nur eines: die verdammte Aufgabe schnellstmöglich wieder loszuwerden. „Meister Pyrokar, könntet Ihr mir wohl einen Augenblick Eurer wertvollen Zeit schenken?“
Pyrokar blickte ihn kurz verständnislos an, dann drehte er den Kopf über die linke Schulter und rief: „Serpentes, kümmer dich bitte darum.“
Schockiert musste Opolos mit ansehen, wie das gefürchtetste und unbarmherzigste aller Ratsmitglieder hinter Pyrokar hervortrat und ihn aus eng zusammengekniffenen Schlangenäuglein angiftete.
„Was hast du denn, Junge? Geht’s um das da?“ Schon hatte ihm Serpentes den Zettel aus der Hand gerissen. „So so. Ausgewachsenen Troll zähmen. Schwierige Aufgabe, was?“
„Ähm. Ja, Meister.“
„Zu schwierig für dich, nehme ich an?“
„Könnte schon sein, Meister.“
„Und jetzt kommst du angekrochen, damit ich dir einen neuen Auftrag gebe? Einen, bei dem du dich ja nicht anstrengen musst?“ Mit verkniffener Miene knüllte Serpentes das rote Papier zusammen und stopfte es dem armen Opolos wieder in die Hand. „Hör mir mal gut zu, du Jammerlappen! Als ich so alt war wie du, da wäre das hier noch eine der leichtesten Aufgaben gewesen. Da sind die Leute manchmal reihenweise krepiert, wenn unsere Meister einen schlechten Tag hatten! Und denkst du etwa, irgendwer hätte sich beschwert? Hä?“
„Wahrscheinlich...nicht...Meister?“
„Natürlich nicht!“, keifte Serpentes und besprenkelte Opolos' Gesicht mit einer dünnen, aber umso schmierigeren Speichelschicht. „Das ist das letzte Mal, dass ich irgendeine Beschwerde von dir gehört habe, verstanden?“
„Ver...verstanden, Meister.“
„Gut.“ Serpentes schritt an ihm vorbei auf seinen Ratsstuhl zu, bevor er sich noch einmal kurz umdrehte. „Ich bin übrigens schon sehr gespannt auf die Nummer mit dem Troll. Könnte ja endlich mal eine nicht ganz so lausige Weihnachtsfeier werden wie man es sonst immer gewohnt ist! Innos zum Gruße.“
„Ja...“, stotterte Opolos. „Innos...zum Gruße, Meister.“


Zwei Tage später und einige Meilen entfernt drang ein langer, hölzerner Kampfstab durch das dichte Gebüsch. Begleitet von stetigem Gemurmel und Gefluche wurde das Loch im Gestrüpp größer und größer, bis es schließlich weit genug für drei mies gelaunte junge Novizen war.
„Wir hätten dich das einfach alleine machen sollen!“, schnaubte Babo und zupfte sich einige widerspenstige Disteln von der Robe. „Du hast uns den ganzen Scheiß ja überhaupt erst eingebrockt!“
„Ist ja gut, ich hab's begriffen!“ Opolos' Gesichtsausdruck teilte allerdings etwas anderes mit. „Aber an mir liegt's nicht, dass der Plan schief gelaufen ist. Konnte ich doch auch nicht ahnen, dass Gorax plötzlich einen solchen Sinneswandel durchmacht!“
„Schluss mit den Ausreden, wo steckt denn dein Troll?“, kehrte Babo zum Wesentlichen zurück. „Vergiss nicht, dass ich noch meine eigene Aufgabe zu erledigen habe. Das obere Viertel fegt sich garantiert nicht von selbst!“
Opolos zog ein kleines, ranziges Buch aus seiner Robentasche hervor, das den Titel „Trolle von Khorinis: Die umfassende Enzyklopädie“ trug. Zum Glück war es nicht weiter schwer gewesen, in der Klosterbibliothek den richtigen Ratgeber zum Thema zu finden – wenngleich sich das Werk zum Thema Trollzähmung leider vergleichsweise bedeckt hielt. Immerhin bot es aber eine Karte der Insel, auf der sämtliche einschlägigen Trollverstecke eingetragen waren, und das war ja immerhin ein Anhaltspunkt. Wenn sie den Troll erst einmal getroffen hatten, konnten sie sich immer noch spontan eine Zähmungsmethode einfallen lassen, hoffte Opolos.
„Also, laut Karte müsste die Trollhöhle genau...“ Prüfend lugte der Schafhirte in die Ferne. „...da drüben sein, gleich um die Ecke!“
„Hrmmm...haste da grade 'Decke' gesagt?“, nuschelte Garwig, den auch zwei Tage Schlaf am Stück nicht wesentlich munterer gemacht hatten. „Gib ma' bitte.“
„Garwig, du musst jetzt wirklich wachsam sein“, wies ihn Babo zurecht. „Wir bekommen es gleich mit einem echten Troll zu tun!“
Tatsächlich hatte die enzyklopädische Karte nicht gelogen: Gleich hinter der nächsten Abbiegung in der Wildnis erwartete sie der Eingang einer großen, stinkigen Höhle, die wie geschaffen schien, um einen räudigen Troll zu beherbergen.
„Tja...dann mal rein da, was?“, schlug Babo ein bisschen unsicher vor. „Du solltest aber besser vorgehen. Ich meine, du hast schließlich die Karte.“
„Die kann ich dir gerne abgeben“, zeigte sich Opolos entgegenkommend. Letztlich war jedoch jede Diskussion überflüssig, denn der Eingang war breit genug, um alle drei Novizen gleichzeitig hindurchschreiten zu lassen.
„Zum Glück ist die Höhle gut ausgeleuchtet“, flüsterte Opolos und deutete auf die kleinen Löcher in der Höhlendecke, durch die hier und da ein Lichtkegel das Innere erreichte. „Fragt sich nur, wo der Troll steckt...“
„Vielleicht gibt es ja gar keinen mehr“, wisperte Babo zurück. „Ich meine, das Buch ist schon älter, oder? Wir sollten verschwinden, los!“
„So schnell gebe ich nicht auf! Außerdem – Garwig? Garwig, was soll das? Bleib hier!“
Doch Garwig schien ihn gar nicht richtig zu hören, torkelte stattdessen auf die flauschige Pelzdecke zu, die er am anderen Ende der Höhle ausgemacht hatte. Erst als er es sich darin gemütlich gemacht hatte, wurde ihm bewusst, dass es gemütlichere Schlafgelegenheiten gab: Vor allem solche, die nicht nach fauligem Fleisch stanken.
„Garwig, komm da weg! Ich glaube, das ist der – “
Gewaltig dröhnend richtete sich das Ungetüm auf, schleuderte den hilflosen Novizen mit einer lässigen Bewegung des Hinterteils gegen die Höhlenwand. Das Knacken von Garwigs Nasenrücken war noch bis an den Eingang der Höhle deutlich zu vernehmen, und sein entsetzliches Geschrei im Anschluss daran erst recht. Der Troll aber riss sein großes Maul weit auf, trommelte mit den schweren Fäusten auf den staubigen Boden und funkelte die beiden übrig gebliebenen Novizen aus tiefen, grün leuchtenden Pupillen an.
„Wir müssen weg hier, sofort!“ Babo hatte schon einen Schritt in Richtung Ausgang gemacht, doch Opolos hielt ihn am Ärmel fest.
„Bist du wahnsinnig? Wir können doch Garwig nicht einfach zurücklassen!“
„Dann lass dir was einfallen, aber schnell! Das Vieh kann uns jeden Augenblick zerfleischen!“
„Hmm.“ Opolos, der in den letzten Sekunden verzweifelt die Enzyklopädie nach einem hilfreichen Tipp durchstöbert hatte, hielt nun inne und musterte den Troll. „Sieht eigentlich nicht danach aus, als sei er besonders aggressiv, oder?“
„Wie bitte? Hast du nicht gesehen, was er mit Garwig angestellt hat?“
„Er hat ihn ja auch im Schlaf überrascht. Der Troll hat sich doch bloß erschrocken und ein bisschen überreagiert. Siehst du, ich gehe jetzt ganz langsam auf ihn zu...“
Babo glaubte, die Faust des Trolls bereits auf Opolos' Kopf eintreffen zu sehen, doch diesmal behielt sein Freund recht: Das gewaltige Monstrum machte einen vielmehr neugierigen statt angriffslustigen Eindruck und glotzte den Schafhirten aus großen Augen an.
„Hallo...Troll.“ Opolos atmete tief durch und berührte dann freundschaftlich die rechte Faust des Trolls. „Hast du vielleicht Lust...naja, ein paar Weihnachtslieder zu singen? Auf einer schönen Feier mit einer Menge schick angezogener Leute? Es werden auch viele Magier da sein.“
Der Troll grunzte nur ein bisschen, aber Opolos fasste das einfach mal als Zustimmung auf. „Sehr gut. Ich schätze, wir werden ein bisschen üben müssen, aber das klappt schon.“
„Du willst diesem Troll in gerade einmal zwei Wochen das Singen beibringen?“ Babo war sich nicht einmal ganz sicher, ob der Troll ihnen nicht doch im nächsten Moment den Kopf abbeißen würde. „Das klappt doch nie im Leben!“
„Wahrscheinlich nicht“, gab Opolos zu, „aber das macht auch gar nichts. Ein zahmer Troll in Weihnachtsklamotten ist den meisten Leuten sicher schon spannend genug, da wird keiner mehr nach den Weihnachtsliedern fragen.“
„Und was genau lässt dich glauben, dass der Troll auf der Feier genauso zahm sein wird wie jetzt?“
„Wir haben ja noch zwei Wochen, um auf Nummer Sicher zu gehen.“ Gut gelaunt tätschelte Opolos seinem neuen Freund den haarigen Arm. „Wir beide werden uns jetzt jeden Tag sehen. Na, was sagst du? Freust du dich?“
Der Troll klappte den Kiefer auf und grunzte ein bisschen.
„Na also, sieht doch ganz danach aus!“


Die Tage vergingen, und während Babo tagsüber im oberen Viertel von Khorinis fegte, verbrachte Opolos seine Zeit mit dem Troll. Schon bald bestand für ihn kein Zweifel mehr daran, dass es sich um einen friedfertigen Zeitgenossen handelte, der keiner Menschenseele grundlos etwas zu leide tun würde. Besonders stolz aber war Opolos darauf, dass er es schaffte, den Troll mit ein paar ausgefuchsten Tricks aus dem Troll-Ratgeber zum rhythmischen Grunzen zu bewegen. Mit ein bisschen gutem Willen, so glaubte er, war es durchaus möglich, in den gutturalen Lauten des Goliaths weihnachtliche Melodien auszumachen. An manchen Tagen übernachtete er sogar bei seinem flauschigen Freund, was im Kloster für manchen Aufruhr sorgte: Mehr als einmal war Babo bereits in der festen Überzeugung, die Bestie habe nun doch ihr wahres Gesicht gezeigt, am Morgen zur Trollhöhle gewandert, nur um Opolos dann friedlich Seite an Seite mit dem Troll in dessen Lagerstätte schlafend vorzufinden.


Erst als der Vorabend des Weihnachtsfests gekommen war, wurde Opolos plötzlich bewusst, dass er angesichts des intensiven Trolltrainings ein wichtiges Detail ganz vergessen hatte.
„Weihnachtliche Kleidung!“ Babo wäre fast aus dem Bett gefallen, als Opolos plötzlich mitten in der Nacht in seiner Schlafkammer aufkreuzte. „Bei Innos, ich brauche weihnachtliche Kleidung!“
„Hattest du nich'...genug Zeit dafür...?“, brummelte der passionierte Gärtner schlaftrunken.
„Was meinst du, wie aufwendig es ist, so einen Troll zum Singen zu bringen!“, verteidigte sich Opolos. „Also was ist jetzt, hast du irgendetwas Weihnachtliches da? Eine Hose oder so?“
„In Trollgröße?“ Trotz seiner Müdigkeit musste Babo grinsen. „Du spinnst doch komplett.“
„Es muss doch Kleidungsstücke geben, die auch einem Troll passen!“
„Naja...ich hab da noch diese Krawatte, die mir Vati zum zwölften Geburtstag geschenkt hat. Die ist sogar noch frisch. Und wenn man die Schlaufe beim Knoten ein bisschen weiter macht, müsste sie auch einem Troll passen.“
„Ist sie weihnachtlich?“
„Hm. Sie ist weiß.“
„Mist.“
„Weiß wie der Schnee, der zur Weihnachtszeit – “
„Nein, nein, nein!“ Opolos schüttelte energisch den Kopf, der auch schon einmal sauberer und wohlriechender gewesen war, wie Babo auffiel. Die Tage mit dem Troll hatten ihre Spuren hinterlassen. „Weiß allein ist nicht weihnachtlich. Sie müsste rot sein, oder rot-weiß...Hauptsache, es kommt irgendwie rot drin vor! Rot ist die einzige weihnachtliche Farbe, findest du nicht?“
„Tja, wir könnten sie ja vielleicht färben“, überlegte Babo. „Ich glaube, Neoras hat ein paar Purpurschnecken in seinem Laboratorium. Wenn ich mir eine von denen ausleihe...das müsste eigentlich einen hübschen Rotton ergeben.“
„Klingt eher danach, als würde es einen hübschen Purpurton ergeben.“
„Du könntest ruhig ein bisschen Vertrauen haben“, beschwerte sich Babo in patzigem Tonfall. „Soll ich dir jetzt helfen oder nicht?“
„Schon gut, schon gut...“ Opolos war bereits kurz davor, den Raum zu verlassen, um sich ausnahmsweise mal wieder in sein eigenes Bett zu legen, als ihm etwas einfiel. Er zögerte ein wenig, bevor er das unangenehme Thema zur Sprache brachte. „Ähm... Wie geht es eigentlich Garwig?“
„Ich glaube, er schläft gerade“, betonte Babo das Offensichtliche. „Der wird schon wieder, keine Sorge. Seine Augen sind schon so weit abgeschwollen, dass er wieder ein bisschen sehen kann.“
„Hm. Dann bin ich ja beruhigt“, murmelte Opolos. „Also dann: Kann ich mich darauf verlassen, dass ich bis morgen Abend eine weihnachtliche, rote Krawatte von dir bekomme?“
„Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns dann im oberen Viertel – bring du den Troll mit, ich kümmer mich um die Krawatte.“


Das obere Viertel war zwar ein sehr vornehmer und stilvoller Ort, aber für gewöhnlich auch ein ausgesprochen leerer. So hübsch das Ganze auch gestaltet war, eines musste man dem längst verstorbenen Architekten ankreiden: Er hatte den Anteil der schwerreichen Leute an der khoriner Gesamtbevölkerung klar überschätzt. Heute aber fiel das nicht weiter auf, denn wie jedes Jahr zu Weihnachten war das obere Viertel voller emsig umherlaufender Novizen, ernst guckender Magier und natürlich sämtlicher wohlhabender Bürger und Adliger, die man auf der ganzen Insel hatte auftreiben können. Das war keine besonders schwierige Aufgabe gewesen, denn die meisten von ihnen lebten ohnehin schon im oberen Viertel und trauten sich nicht so recht in den ungemütlicheren Teil der Insel hinein.
Babo war froh, dass er seine Prüfung des Kehrens bereits erfolgreich bewältigt hatte und den Tag nun unbeschwert genießen konnte. Einzig die Sache mit dem Troll bereitete ihm einiges Kopfzerbrechen, denn noch war er längst nicht überzeugt davon, dass das dicke, klobige Untier tatsächlich so harmlos und menschenfreundlich war, wie Opolos ihm einreden wollte. Und dann...ja, dann war da noch die Sache mit der Krawatte.
„Opolos wird sich damit zufrieden geben müssen, findest du nicht auch?“, brachte er das Thema erneut zur Sprache, obwohl er nur zu gut wusste, dass Garwig nicht in Plauderstimmung war. Parlan hatte ihm ein alchemistisches Schmerzmittel verabreicht, sodass der bemitleidenswerte Reliquienwächter einen ähnlich guten Gesprächspartner abgab wie ein paralysierter Zombie.
„Hrrrrmmm...“
„Er soll sich mal bloß nicht beschweren“, fuhr Babo fort. „Ohne seinen beschissenen Plan wäre mir einiger Ärger erspart geblieben! Und, ähm, dir natürlich auch. Warte mal, hast du das gespürt?“
„Hrrrrmmm...?“
Babos sensible Fußsohlen sollten Recht behalten: Wenige Sekunden später spürte die ganze Stadt, wie der Boden unter ihren Füßen erzitterte.
Aufgeregt rannte Babo die Treppe zum oberen Viertel herunter und kam gerade noch rechtzeitig, um einer kleinen Auseinandersetzung zwischen den beiden Torwächtern, Opolos und dem Troll beizuwohnen, bei der sich der Troll glücklicherweise im Hintergrund hielt.
„Das ist völlig unmöglich“, knurrte der ältere der beiden Milizen. „Trolle kommen nicht in die Stadt. Nicht mal mit Passierschein.“
„Sie müssten schon hundert Goldmünzen zahlen, um – “
„Auch dann nicht!“, wies der alte Haudegen seinen jüngeren Kollegen scharf zurecht. „Trolle stören die öffentliche Ordnung. Außerdem passt der hier doch gar nicht durchs Tor.“
„Das werden wir ja sehen“, entgegnete Opolos und kramte seinen Aufgabenzettel hervor. „Seht ihr das hier? Ich habe diese Aufgabe direkt von einem hochrangigen Magier bekommen. Wenn ihr mir nicht glaubt, geht ins obere Viertel und fragt Serpentes oder Ulthar.“
„Sind das welche von den Feuermagiern?“, raunte der jüngere Wachmann seinem Kollegen zu. „Lass mal lieber reinlassen, was?“
„Tja, nun.“ Der Milizenveteran gab den Zettel an Opolos zurück. „Da ist keine Unterschrift drauf. Aber ich kenn dich, du warst schon öfters in der Stadt und hast nie Ärger gemacht.“
„Also dürfen wir hinein?“
Der Wachmann seufzte tief und trat dann einen Schritt zur Seite. „Zumindest könnt ihr's ja mal versuchen.“
Auch Babo war überrascht davon, wie diszipliniert sich der Troll beim vorsichtigen, seitlichen Durchqueren des Stadttors verhielt. Vielleicht hatte Opolos mit seiner Einschätzung, was das Gemüt des Trolls anging, doch nicht ganz daneben gelegen.
„Hallo Babo!“, grüßte ihn der ehemalige Schaf- und gegenwärtige Trollhirte gut gelaunt. „Hast du an die Krawatte gedacht?“
„Ja“, sagte Babo und holte den langen Stofflappen etwas zaghaft aus der Robentasche hervor. „Die Farbe ist vielleicht ein bisschen...intensiv...aber...“
Schockiert riss ihm Opolos das grelle Teil aus der Hand. „Das ist...pink! Ich hab dir doch gleich gesagt, dass Purpurschnecken keine gute Idee sind!“
„Ich dachte wirklich, es würde ein schönes Rot ergeben“, murmelte Babo kleinlaut. „Aber sieh mal, Pink ist doch auch eine ziemlich weihnachtliche Farbe.“
„Pink ist die unweihnachtlichste Farbe überhaupt!“, beschwerte sich Opolos und hielt die beinahe schmerzhaft leuchtende Krawatte wie einen widerwärtig fauligen Fisch in beiden Händen. „Soll ich ihm jetzt etwa eine pinke Krawatte anziehen? Ein Troll mit einer pinken Krawatte! Das ist doch lächerlich!“
„Also, ich finde das gar nicht so schlecht“, warf der ältere Torwächter ein.
„Ja, ist mal was Neues“, fügte sein jüngerer Kumpan hinzu.
„Hörst du!“ Babo war sichtlich froh über die unerwartete Unterstützung aus den Reihen der Miliz. „Jetzt zieh sie ihm schon an, etwas anderes wirst du auf die Schnelle sowieso nicht finden. Du solltest froh sein, dass ich dir nach dem ganzen Mist überhaupt noch helfe!“
Opolos wollte es nicht zugeben, sah aber insgeheim ein, dass sein Freund mit seiner letzten Anmerkung nicht ganz unrecht hatte. Unter einigem demonstrativem Murren und Kopfschütteln brachte er den Troll dazu, den Kopf zu ihm herabzusenken, damit er die Krawatte um dessen dicken Hals binden konnte. Der Troll blickte ihn dabei gewohnt treuselig an und gab ein behagliches Grunzen von sich.
„Ihm scheint die Krawatte auch zu gefallen“, meinte Babo grinsend. „Und das ist wohl das wichtigste, er muss sie ja immerhin tragen!“


Opolos' Ärger war schnell verflogen, denn es zeigte sich bald, dass der Troll mit der pinken Krawatte überall im oberen Viertel für Erstaunen und Begeisterung sorgte. Viele der schreckhafteren Adligen zeigten sich zunächst wenig erfreut über die Präsenz eines waschechten Trolls in ihrem Viertel, erkannten dann aber meist den Sensationswert des ungewöhnlichen Besuchers und wagten sich zuweilen verblüffend nah an den haarigen Koloss mit dem fragwürdigen Modegeschmack heran. Unzählige Fragen prasselten auf die drei Novizen und ganz besonders auf den Trollzähmer Opolos ein, und den ganzen Nachmittag hindurch hatte sich auf dem großen Platz eine Menschentraube um das kleine Grüppchen herum gebildet, die einfach nicht kleiner werden wollte. Selbst als es stärker zu schneien begann, zogen es einige Leute vor, draußen beim Troll zu bleiben, anstatt sich schon in den Festsaal zu begeben.
Als es Abend wurde, machten sich die drei Novizen – und mit ihnen auch der Troll und die übrigen Menschen – auf ins festlich geschmückte Rathaus, in dem das große Festbankett stattfinden sollte. Diesmal bollerte der Troll trotz aller bemerkenswerten Vorsicht eine Seite der Tür ein und riss mit dem Schädel eine halbe Holzplanke vom Rahmen. Übel nahm ihm das jedoch niemand, denn die eine oder andere kaputte Tür war vernachlässigbar gegenüber dem außerordentlichen Vergnügen, einen zahmen Troll mit schrulligem Schlips zu bestaunen. Und so kam es, dass das diesjährige Festessen das angeregteste und lauteste Weihnachtsmahl seit Jahren war: Kaum jemand konnte es sich verkneifen, den anderen die eigenen Gedanken über den lustigen Gast mitzuteilen, und wann immer der Troll ein wenig mit dem Fuß aufstampfte oder ein drolliges Grollen hören ließ, gab es am Tisch ein großes Hallo und ein gewaltiges Gelächter brandete auf. Das allgemeine Trollinteresse war bereits so weit angestiegen, dass Opolos seine Enzyklopädie herumreichen musste, um die Neugier derjenigen unter den reichen Leuten zu befriedigen, die gerade nicht ganz nah beim Troll sitzen konnten. Und spätestens, als das Ungetüm auf einen Zuruf Opolos' hin damit begann, seine dumpf dröhnenden Weihnachtslieder zu grunzen, war die Stimmung auf dem absoluten Siedepunkt angelangt.
„Die Leute hier gehen mir ganz schön auf den Keks“, raunte Babo seinen Freunden zu, als sie alle drei ihre Vorspeisen vertilgt hatten. „Langsam sollten sie sich doch mal an den Troll gewöhnt haben, oder?“
„Sei doch froh, dass hier endlich mal was los ist!“, lachte Opolos, der ganz und gar nichts dagegen einzuwenden hatte, gemeinsam mit seinem wuscheligen Begleiter im Mittelpunkt der adeligen Aufmerksamkeit zu stehen.
„Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was wir hier eigentlich machen“, sagte Babo. „Ich meine, sollten wir nicht eigentlich mit den Armen im Hafenviertel speisen? Das wäre irgendwie...religiöser, oder?“
„Na klar doch...große Weihnachtsfeier in der roten Laterne?“ Grinsend klopfte Opolos seinem menschlichen Kumpel auf den Rücken und prostete dem trolligen zu, der darauf mit einem wenig begeisterten Knurren reagierte. „Oder doch lieber in Kardifs ranziger Kneipe? Du kannst den Drogenhändlern da ja gerne einen besinnlichen Besuch abstatten, wenn du möchtest!“
„War ja mehr so ein Gedanke...“, murmelte Babo. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch Opolos hatte sich schon wieder von ihm abgewandt und befand sich im lebhaftesten Gespräch mit dem vermögenden Luxushändler Fernando.
„Trolle sind wahrlich erstaunliche Geschöpfe“, faselte Fernando gerade daher und deutete auf einen Absatz in Opolos' ausgeliehenem Nachschlagewerk. „Ich wusste ja gar nicht, dass sie Winterschlaf halten wie die Bären! Wenn ich mir unser Exemplar beäuge, dann sollte man doch glauben wollen, dass er dem Menschen näher sei als dem gemeinen Vieh.“
„Oh, das ist er auch!“, entgegnete Opolos und hielt sich an der Tischplatte fest, als eine ungewohnt ruppige Bewegung des Trolls den Saal zum Erbeben brachte. „Ich kann mich schon fast richtig mit ihm unterhalten! Hört auf meine Worte, Herr Fernando: Nächstes Jahr um diese Zeit sitzt er hier mit uns am Tisch und plaudert wie ein gebildeter Mann! Da trinke ich einen drauf!“
Babo konnte angesichts seines übermütigen Freundes nur den Kopf schütteln, doch da war noch etwas anderes, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Er ließ sich von Fernando das Buch reichen und schlug die gleiche Seite auf, die dieser zuvor gelesen hatte.
...halten Trolle für gewöhnlich einen drei bis vier Monate langen Winterschlaf, vor dem sie sich eine dicke Fettschicht anfressen. Erstaunlich ist eine Entdeckung, die einige Wassermagier machten, als sie einen Troll versehentlich aus dem Winterschlaf weckten: Entgegen ihrer Erwartungen verhielt sich der so in seiner Ruhe gestörte Troll nach kurzem Schreck außergewöhnlich friedfertig und zutraulich. Den Grund für dieses erstaunliche Verhalten entdeckten die Forscher in der fehlenden Beutegier des Tieres, die ihn seine gewohnten Verhaltensmuster kurzzeitig vergessen ließ. Erst als die Fettschicht aufgebraucht war – ein Prozess, der aufgrund des Winterschlafabbruchs in etwa fünfzehn Tagen, also deutlich schneller als gewöhnlich, vonstatten ging – kehrte der Troll wieder zu seinen üblichen Verhaltensweisen zurück und dezimierte die unvorsichtige Magiergruppe um einen beachtlichen Teil.“
Babo stockte der Atem. Er zögerte keinen Moment, richtete sich auf und schrie: „Ihr müsst alle verschwinden! Alle raus hier, der Troll ist hochgefährlich!“
Ein Raunen ging durch die Menge der Leute, doch keiner machte Anstalten, das Rathaus zu verlassen.
„Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“, schnauzte ihn Opolos an und versuchte vergeblich, ihn mit all seinen Kräften zum Hinsetzen zu bewegen. „Was ist denn in dich gefahren?“
„Du hättest das verdammte Buch auch mal lesen sollen, und nicht nur die beschissene Karte!“, keuchte Babo. „Der Troll war bloß so friedlich, weil er keinen Hunger hatte. Aber das wird sich bald ändern!“
„Wir können ihn ja füttern“, warf einer der anwesenden Adligen schelmisch ein. „Vielleicht gebt Ihr ihm ein Stückchen Eurer Scavengerbrust ab, Meister Novize?“
Erneut erging sich die Masse in schallendem Gelächter, während sich Babo mit den schlimmsten Vorahnungen nach dem Troll umsah. Ein Mann mittleren Alters mit einer großen Flöte in der Hand hatte sich ihm just genähert und knuffte den missgelaunt schnaubenden Troll in die Seite.
„Hey-ho, liebe Leute! Meint ihr, unser Freund, der Troll, möchte mein Flötenspiel begleiten?“
„Nicht auch das noch“, seufzte Babo. „Siggi der Flöter...“
„Na, du Großer?“, lachte der quietschfidele Siggi den zunehmend verstimmteren Troll an. „Wie wär's mit uns beiden? Wenn du ein bisschen mit mir musizieren möchtest, dann brauchst du bloß zu brummen. Und wenn nicht, dann – “
Urplötzlich hatte der Troll sein Maul weit aufgerissen, und ehe sich Siggi versah, riss ihm die Bestie mit einem schnellen Haps den Kopf vom Rumpf.
Wildes Geschrei machte sich im Raum breit, und von einem Moment auf den anderen ging es jedem nur noch darum, so viel Platz wie möglich zwischen das eigene Haupt und das unberechenbare Scheusal zu bringen. In ihrer Panik liefen sich die einflussreichen Beamten, Grundbesitzer und Großhändler gegenseitig über den Haufen, stießen Kerzen um und setzten ganze Tische in Brand. Wer zur Tür gelangte, wurde von einem hereinpreschenden Trupp aus Milizen und Paladinen zur Seite geschubst, die den gemütlich speisenden Troll bei seinem ganz persönlichen Festmahl störten. Es dauerte nicht lange, bis der erste verbeulte Ritter im großen Kandelaber landete, bis die ersten Wachmänner mit den Köpfen in der Decke steckten und auch der eine oder andere Adelige einen Arm oder ein Bein dem Troll zum Präsent machen musste. Dichter Qualm hatte sich im Raum breit gemacht, und kaum jemand wusste noch, wo eigentlich der Ausgang war und wo der Troll – denn aus allen Richtungen schienen die Schreie zu kommen, die Erde schien überall gleich heftig zu erbeben und das scheußliche infernalische Donnergrollen, das aus dem Schlund des Untieres drang, schien jeden Teil des Raums mit der gleichen schauderhaften Intensität auszufüllen.
„Ich wusste von Anfang an, dass dein beschissener Plan schiefgehen würde!“, krächzte Babo, der sich mit einigen anderen Novizen hinter einem umgekippten Tisch in Sicherheit gebracht hatte, und verpasste Opolos in seinem grenzenlosen Zorn einen heftigen Faustschlag mitten ins Gesicht. Wimmernd rieb sich Opolos den dröhnenden Kiefer und spuckte einen Schwall Blut auf den exotischen Teppich.
„Isch...isch konnte doch nisch wisch'n...“, röchelte der Novize. „Er war doch immer scho...scho nett...“
„Er ist ein Troll, du innosverdammtes Sackgesicht! Die werden nicht nett, nur weil man ihnen eine scheiß pinke Krawatte umlegt!“
„Alscho, jetzt schei nisch' ungerescht...dasch mit der Krawatte isch' auf deinen Mischt gewachsch'n!“
„Können wir vielleicht woanners hingeh'n?“, meldete sich Garwig zu Wort. „Hier isses mir'n bisschen laut...“
„Wir gehen nirgendwo hin, bevor wir diesem Terror kein Ende bereitet haben!“, forderte Babo, der sich gerade wie der einzige Mensch auf Erden ohne Sprachfehler vorkam. „Immerhin sind wir – und vor allem du, Opolos! – dafür verantwortlich!“
„Un' wie willsch du ihn aufhalten?“, nuschelte Opolos und sammelte mit wehmütiger Miene einen seiner Schneidezähne vom Boden auf. „Der mascht unsch doch genauscho platt wie die Paladine und unschere Meischter!“
Babo wagte einen kurzen Blick über den Tischrand und musste feststellen, dass Opolos mit seinem Einwand nicht ganz unrecht hatte. Trotz des schwarzen Rauchs um sie herum konnte er deutlich erkennen, wie der berserkerhaft wütende Killertroll Meister Neoras mit dem Kopf voran in den Boden rammte. Anschließend stieß er die Köpfe von Parlan und Hyglas zusammen und verpasste Gorax eine derartig heftige Kopfnuss, dass es ihn bis kurz vor den Tisch schleuderte. Kurzerhand schnappte sich Babo die Beine des Magiers und zog seinen schlaffen Körper hinter die Tischplatte.
„Gorax? Meister Gorax!“ Erfolglos versuchte Babo, den reglosen Magier wachzurütteln. „Er atmet noch, aber so schnell wird der uns auch nicht weiterhelfen können.“
„Wir schollten einfach hier warten“, schlug Opolos vor. „Gleisch kommen Scherpentesch und Pyrokar, und Ulthar schischer auch, dann hat der Troll keine Schansche mehr!“
„Meinst du den Ulthar, der da drüben über dem Kamin baumelt? Auf den würde ich nicht zählen!“
In seiner Ratlosigkeit durchstöberte Babo die Taschen von Gorax' Robe, bis er auf die Runensammlung des ausgeschalteten Magiers stieß.
„Vergisch esch“, murmelte Opolos niedergeschlagen. „Wir kriegen doch schogar schon bei Schriftrollen Schwierigkeiten!“
„Er muss doch irgendwas dabei haben, was uns weiterhelfen kann!“ Verzweifelt schmiss Babo die Runen beiseite und wollte sich erneut an Gorax' Robe zu schaffen machen, als sich mit einem Mal der Holztisch in Bewegung setzte und den drei Novizen in einem Regen aus Splittern in die Gesichter flog.
Die Kraft des Aufpralls schleuderte Babo an die Wand, sekundenlang wurde ihm schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, tastete er mit zitternden Fingern sein höllisch schmerzendes Gesicht ab, fühlte nur warmes, dickflüssiges Blut und kleine Holzstückchen, die ihm tief in der Haut steckten. Schlimmer jedoch war der schlechte Atem, der ihm in die Nase schlug. Das tiefe Schnaufen und Brummen über seinem Kopf. Die blutverschmierte, pinke Krawatte, die seine Nase striff. Die Gewissheit, dass der Troll direkt über ihm war.
Zumindest aber schien er sich gerade mit etwas anderem zu beschäftigen, das sich in seiner Faust befand. Etwas, das der wimmernden Stimme nach zu urteilen ziemlich nach Opolos klang.
Babo riss sich zusammen, gab sich alle Mühe, die aufkeimende Panik in ihm beiseite zu schieben und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste jetzt schleunigst handeln und die richtige Entscheidung treffen. Was wusste er über Trolle?
Groß, dachte er. Trolle sind...groß.
Das war ein Anfang, aber es brachte ihn nicht weiter.
Opolos' Jammern brach ab, als der Troll seine Faust mit aller Kraft in die Wand rammte. Wie ein nasser Sack prallte der blutüberströmte Körper des Novizen neben Babo auf dem Boden auf.
Muss...klaren Gedanken fassen!
Was wusste er noch über Trolle?
Dumm.
Ja, das stimmte wohl. Trolle waren nicht die hellsten Sterne an Innos' leuchtendem Firmament. Aber das hatten sie auch gar nicht nötig, denn wenn sie anderen Leuten erst einmal das Hirn zu Brei gekloppt hatten, war dieses Defizit schnell ausgeglichen.
Sie sind... sie sind...
Endlich kam Babo der rettende Gedanke.
...männlich!
In einer letzten Kraftanstrengung richtete sich Babo halb auf, griff sich Opolos' fallen gelassenen Kampfstab und rammte ihn dem überrumpelten Troll mit aller Macht in die Weichteile.
Aufheulend torkelte der Troll ein paar Schritte zurück, stolperte über seine eigenen Quadratlatschen und kippte unter gewaltigem – und überraschend hohem – Klagegeschrei nach hinten um.
Ächzend rappelte sich Babo auf und versuchte, irgendwo Halt zu finden. Der Festsaal des Rathauses glich einem Schlachtfeld, in dem ungewöhnlich gut betuchte Soldaten gekämpft hatten. Das Feuer hatte sich weiter ausgebreitet und zündelte nun schon die Wände hoch.
Babo sah kurz zu Opolos hinüber: Er wusste nur zu gut, dass in seinem Fall nichts mehr zu retten war. Auch Garwigs Körper entdeckte er wenige Schritte weiter, doch dessen lautes Schnarchen ließ darauf schließen, dass er die Gelegenheit, auf einem außergewöhnlich flauschigen Teppich zu liegen, bloß für ein kurzes Nickerchen genutzt hatte. Babo wollte sich gerade nach dem Ausgang umsehen, der durch den dichten Qualm nach wie vor nicht ohne Weiteres auszumachen war, als sein Blick erneut auf Gorax' Runen fiel. Kurz zögerte er, dann nahm er sie alle in beide Hände und kehrte zu Opolos zurück.
„Das hier...das hier ist ein Heilzauber“, murmelte er halb zu sich selbst, halb zum zermatschten Opolos. „Das sieht doch zumindest nach einem aus. Und damit...werde ich dich heilen, Kumpel...“
Babo schloss die Finger um die Rune und konzentrierte sich. Überraschenderweise war es gar nicht so schwer: Mysteriöse Funken stießen aus dem kleinen Stein hervor und sammelten sich in der Luft um den weggetretenen Novizen herum. Fast glaubte Babo, ein Augenlid im Gesicht seines Freundes zucken zu sehen, als er mit einem Mal von den Füßen gerissen wurde. Etwas hatte ihn am Bein gepackt und hielt ihn kopfüber in der Luft. Im nächsten Augenblick blickte er ins zornige, blutunterlaufene Auge des Trolls.
Der faulige Gestank des Trollmauls schlug ihm gleich einer dritten Faust ins Gesicht, und als der Troll die Zähne fletschte und seine Augen zu winzigen Schlitzen verengte, da war sich Babo bereits sicher, sein Ende sei gekommen. Die Heilungsrune war ihm aus der Hand gefallen, und die meisten übrigen Runensteine ebenso, doch eine einzige Rune war ihm noch geblieben. Er wusste nicht, welcher Zauber das sein konnte, doch er fühlte den kleinen, runden Stein in seiner Hand und sammelte seine letzten magischen Energiereserven, um ihn zu aktivieren.
Der Runenstein wurde wärmer und wärmer, und plötzlich war er beinahe unerträglich heiß, bis ihn Babo nicht mehr halten konnte. Schreiend und kreischend warf er das brennende Ding ins Maul des Trolls. Der wiederum ließ den Novizen erschrocken fallen, strich sich noch einmal verwirrt über die schmuddelige pinke Krawatte und war im nächsten Moment in einem magischen lila Vertexstrudel verschwunden.
Erleichtert rollte sich der restlos erschöpfte Babo auf dem Boden zusammen. Die Bedrohung war endgültig beseitigt, und nun konnte er Garwig plötzlich sehr gut verstehen: Alles was er jetzt wollte, war schlafen.
So bekam er auch nicht mehr mit, wie der gerade zu sich gekommene Gorax zwischen den Verletzten und Erschlagenen herumwankte, an der Stelle, an der sich der Troll soeben in Luft aufgelöst hatte.
„Mein bester Runenstein! Meine schöne Privatdimension, das kannst du doch nicht machen, du verfluchter Novize! Das Werk wochenlanger Arbeit! Ein Troll in meiner Privatdimension – und dann auch noch einer mit so einer furchtbaren pinken Krawatte!“


Drei Wochen später hatte man alles wieder ins Lot gebracht. Der Brand war längst gelöscht, die Leichen bestattet, das Rathaus provisorisch ins Nebengebäude verlegt. Nicht wenigen Bürgern hatte man Wohnrechte im oberen Viertel verliehen, wo plötzlich eine ganze Menge Häuser leer standen, und wiederum nicht wenige Leute aus dem Hafenviertel hatten nun eine hübsche neue Bleibe am Marktplatz oder in der Handwerkergasse. Die Stimmung in Khorinis war also prächtig, und so konnten die drei verstoßenen Novizen nur auffallen, wenn sie notorisch mies gelaunt und noch immer in ihre zerschlissenen Novizenroben gekleidet Tag für Tag durch die Straßen zogen und ihr Elend beklagten.
„Ich habe euch ja gleich gesagt, dass es so enden würde!“ Seufzend stieß Babo mit dem Fuß einen Stein zur Seite und bereute es im gleichen Augenblick schon wieder: Sein lädiertes Bein verkraftete derlei Anstrengungen noch nicht allzu gut.
„Hrrrmmm...?“
„Häääähhh...?“
„Naja, ich hätte vielleicht nicht unbedingt damit gerechnet, dass du als Zombie enden würdest, Opolos“, gab Babo zu, „und ich weiß auch immer noch nicht, was ich mit dem Runenstein falsch gemacht habe, aber ehrlich gesagt...du hast es dir auch nicht anders verdient!“
„Hääähh...?“
„Tu nicht so unschuldig! Du hast uns in die ganze Scheiße doch überhaupt erst reingeritten!“, fauchte der ehemalige Kräuterzüchter, verlor aber bald die Lust an wiederholten Anschuldigungen. „Ach, was soll's...im Kloster wären wir noch jahrelang nur am Schafe züchten, Kräuter ernten und Reliquien am bewachen gewesen, ohne dass man uns jemals irgendwas Spannendes beigebracht hätte. Vielleicht ist es ja besser so, dass wir jetzt die Chance auf einen Neuanfang bekommen. Was meint ihr?“
„Wie wär's, wenn wir uns ma'...hrrmmm...'n bisschen hinlegen?“
„Später“, sagte Babo, dem gerade etwas eingefallen war. „Sag mal, Garwig...“
„Ja...?“
„Welche Aufgabe hattest du eigentlich zugewiesen bekommen?“
„Ohh...hmmm...hab' noch gar nich' nachgeguckt, glaub' ich...“ Gähnend zog Garwig das zerknitterte Kuvert aus irgendeinem Winkel seiner lädierten Robe hervor. „Hmm, ma' seh'n... 'Bewache die heiligen Artefakte Innos'.' War ja klar.“
„Oh, na gut.“ Sie gingen einige Schritte, bis Babo wieder etwas einfiel. „Äh, sag mal...wer bewacht die heiligen Artefakte Innos' denn eigentlich gerade? Hatte dich damals nicht mal irgendwer...kurz abgelöst?“
„Ja sicher“, kam die prompte Antwort Garwigs. „Marwin hat mich abgelöst. Netter Kerl.“
„Marwin?“ Babo wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Der stand die ganze Zeit da unten rum und hat darauf gewartet, dass du zurück kommst?“
„Kann schon sein, ja...steht da wohl auch immer noch. Na und? Wie lang musste ich denn immer da unnen steh'n, hmm?“
„Du hättest ruhig mal was sagen können. Du weißt schon...wegen unserem ganzen Plan und so.“
„Wieso das'n? War was wegen Marwin?“
„Schon gut.“ Babo beschloss, dass es besser war, nicht allzu lange darüber nachzudenken. Seine Zeit als Novize war ein für alle Mal Vergangenheit, und sich ständig an die Ungerechtigkeit seines Rauswurfs und die Sinnlosigkeit des Unterfangens, das dazu geführt hatte, zu erinnern, würde ihm die Umstellung auch nicht leichter machen. Ein neuer Abschnitt seines Lebens hatte begonnen, und der konnte ja im Grunde nur besser werden.
„Eines würde mich aber schon noch interessieren... Wo steckt jetzt wohl gerade unser Troll?“


Genüsslich fraß sich der Troll zum Frühstück durch den Westflügel des Anwesens. Seine hübsche pinke Krawatte krümelte er dabei ein wenig voll, aber das machte nichts: Er würde sie gleich wieder schön sauber lecken.
Der Troll dachte nicht viel über sein Leben nach, aber er wusste trotzdem irgendwie, dass er noch nie so glücklich gewesen war, wie in den letzten Wochen. Erst hatte er diese hervorragende Krawatte bekommen, dann hatte er sich mal wieder so richtig daneben benommen, und jetzt hockte er hier in seinem großen, tollen Haus, das aus dem leckersten Zeug bestand, das er jemals gegessen hatte. Menschenköpfe waren gar nichts dagegen.
Der Troll wusste natürlich auch nicht, dass er sich in der Privatdimension eines Magiers befand, der viel Zeit und Mühe darauf verwendet hatte, sie zur Konstruktion eines gewaltigen Bauwerks aus Knusperwerk zu nutzen, das er am Abend des Weihnachtsfestes stolz hatte präsentieren wollen. Selbst wenn er es gewusst hätte, dann hätte es ihn wohl nicht besonders gekümmert.
Solange er es sich ungestört zwischen all den riesigen Auftürmungen von Plätzchen und Keksen unterschiedlichster Art gemütlich machen konnte, war ihm der ganze Rest egal. Und wenn es stimmt, was man sich heute noch an so manchem eisigen Winterabend vor dem flackernden Kaminfeuer von ihm erzählt, dann sitzt der Troll selbst am heutigen Tage noch dort im weit entfernten Keksschloss und streicht sich zufrieden mit der Faust über seine schöne pinke Krawatte.