Eigentlich hatte Gil sich mindestens den Beginn jener neuen, lange herbeigesehnten Arbeit ganz anders vorgestellt. Er verbrachte seit seiner Ankunft in einem zugegeben sehr heruntergekommenen Gebäudeabteil des Zakera Wards daran, irgendwelche schwachsinnigen Unterlagen seines Vorgängers, der vor einer ganzen Generation das letzte Mal hier gewesen sein musste (zumindest erweckte der nicht-archivierte Haufen rückständigen Papieres und das verwahrloste Gebäude die naheliegende Vermutung) zu ordnen, durchzulesen, die wild an den Rand rekritzelten Notizen zu entziffern und sich neue Datenbanken anzulegen. Sekretärinnenarbeit, da stimmte er Cypher zu, als er sich zu Anfang beklagt hatte, nun aber ohne einen Mucks im Nebenraum und eigenem Büro sass und irgendwelche Visitenkarten zusammendruckte, für dessen blosse Kreierung der Halbitaliener keine Zeit verschwenden konnte. Das war ihm klar. Aber er wollte keine anderen Hände diese mittlerweile bröseligen Unterlagen durchsehen lassen. Darunter befanden sich empfindliche Informationen, die den Verlauf und Verbleib der Sparte massivst beeinflussen konnten. Wahrscheinlich war das auch eine der Knackpunkte, weshalb sie sich nicht lange gehalten hatte. Was aber auch damit zu tun haben könnte, dass die Möglichkeiten ins unermessliche stiegen und die Zelle damit ihrem Namen absolut gerecht wurde.
Gil kam bislang noch nicht einmal dazu das Märchen durchzulesen, hatte aber die wage Vermutung, dass sie ziemlich stark auf ihn, seine Schwester und deren Beziehung zu Cerberus anspielen würde, nachdem der Alte bereits im Würfel den ein oder anderen schrägen Kommentar zu der Sache gerissen hatte. Irgendwie reizte ihn alleine deshalb schon nicht, das Buch wirklich in Anspruch zu nehmen. Es lag noch immer auf der Tischkante unter der kleinen, integrierten Schreibtischleuchte. Unmittelbar daneben ein Datapad, dessen Nachricht die darauf versandt wurde nun schon seit einer halben Woche offen stand. Alle zwei Minuten, nach denen Gil ein paar Papiere auf den linken und ein paar weitere auf den rechten Stapel geschmissen hatte und innerlich betete, dass sich der Schredder schräg hinter sich nicht bald vor zerhäckselten Unterlagen übergeben musste als er ihn mit weiteren, uralten Unterlagen fütterte, starrte er zu jenem Datapad hin. Überflog wenige Wörter des dort geschriebenen, dessen Zusammenhang er nun schon lange kannte.
An: Vigilio Gaius Ascaiath (v.g.ascaiath@terrafirma.op.cit)
Von: Gordon Sullivan (gordon_sullivan-ceo.@oneshotindustries.ceo.cit)
Betreff: Re: Zustand
Mister Ascaiath,
die Suche hat viel Zeit in Anspruch genommen, aber wir haben sie finden können. Unten an der Downroad, Industrieviertel, eine kleine Praxis die auf den Namen 'Leif Svensson' angemeldet ist. Greil-Revels-Road 23, Gebäude 7-8-32a. Ihr Zustand scheint kritisch.
| Gordon Sullivan
| (gordon_sullivan-ceo.@oneshotindustries.ceo.cit)
Wie gewöhnlich lenkte ihn schlussendlich das Datapad vollends ab und riss ihn aus seinen Aufräumarbeiten. Er stützte seinen Kopf mittels der grossen Hände auf dem Tisch, strich sich während eines angespannten Seufzen über seinen Nasenrücken und konnte dem Gedanken aus unerfindlichem Grunde nicht stand halten, seine einzige Schwester SO zu verlieren. Auf einem Krankenbett, mit verdammten Siebenunszwanzig Jahren und weiss sonstwer wie vielen, die noch hätten vor ihr liegen können. Allein jener Gedankengang war für sein neu organisiertes Netz aus Informationen viel zu skuril und er musste sich eingestehen, dass er weniger mühe damit hatte sie durch eigener Hand zu töten, wenn es sein Job verlangte, als dabei zuzusehen, wie sie an Maschinen angeschlossen dahinvegetierte wie eine hundertjährige. Auf eine seltsame Art und Weise frass es ihn regelrecht auf und er wurde den Gedanken nicht los ihr wenigstens einen Abschied zu schulden. Wenigstens das.
Monate und Jahre hatte er damit verbracht sich oberflächlich über ihren Verbleib zu erkundigen. Zeigte dabei ungeahnte Geschwistergefühle und einen gewissen verborgenen Beschützerinstinkt, der ihn jedoch nicht wirklich davor bewahren konnte, selbst Jagd auf sie zu machen. Aber je öfter er die Zeilen durchlas, die unweit von ihm neben seinem gravierten Kugelschreiber und dem kleinen Stapel ockerfarbenen Visitenkarten lagen und er seither nie durchgehend sondern immer nur flüchtig betrachten konnte weil er dieses Gefühl in seinem Inneren dabei nicht akzeptieren konnte, desto unruhiger schien er und desto weniger Sinn schien in seiner Aufgabe zu stecken, die Dokumente an die richtigen Orte zu bringen.
Nach weiteren untätigen zwölf Minuten in denen er mit sich rang, schälte er sich aus dem gemütlichen Bürosessel, dessen Gemütlichkeit er bislang jedoch kaum geniessen konnte und trat in den Vorraum zu Donal, der auf einem Stuhl sass, die Füsse auf seinem eigenen, kleineren Schreibtisch verschränkte und sich mit einem Zahnstocher ein paar Resten seines Mittagessens entledigte. Erst als er Gil sah, sah er auf und lies das Stückchen Holz in seiner massigen Hand verschwinden.
"You've made a decision, pal?"
Vigilio nickte leicht. "Ja.", ihm blieb selbst das Englisch im Hals stecken. Er fühlte sich für den Moment furchtbar mürbe, als er in die Umkleide verschwand, einen neuen Anzug anlegte und seinen Hemdkragen und das Jackett richtete. Ein letzter Blick auf seine Haare. Ein prüfender Blick in den Spiegel, ehe er mit seinem eigenartigen Gefühl und einem Abschied in seinem Halse auf den Weg machte und in eines seiner neuen Skycars stieg. Donal folgte. Jedenfalls bis in die nötige Umgebung. Dort drinnen wollte er keine Störung. Er wollte diesen einen einzigen Moment nutzen und sich verabschieden. Ein letztes Mal. Und dann verschwinden und die wenigen Verbindungen kappen, die sie beide noch verband.