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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Post [Story]Ehre und Eifer einer Entflohenen

    II

    Fünf Jahre vor dem Fall der Barriere von Khorinis…

    Kapitel 1

    Knarz…
    Das Knarzen der Bretter hatte sie geweckt.
    Die Luft war immer noch muffig und noch immer war die Aussicht die gleiche: Holz. Holz wohin das Auge nur reichte, obwohl es in diesem engen Raum zugegebenermaßen nicht die Chance hatte allzu weit zu reichen.
    Sie hörte wie sich der Mann in dem engen Raum neben ihr gegen die Wand lehnte. Das Holz knarzte als wolle es unter der Last brechen.
    Sie waren offensichtlich immer noch auf See, zumindest schaukelte es noch. Sie befand sich in einem der einzigen beiden Räume, die es in diesem kleinen Segelboot gab. Die Nussschale hatte nur in der Spitze des Schiffes zwei kleine enge Kammern, in denen sie weder aufrecht sitzen noch sich hinlegen konnte.
    So saß sie hier unbequem eingepfercht, die Hände zusammengekettet. Ihr Nachbar musste sich ein wenig gedreht haben, zumindest drang wieder ein Knarzen von dieser Seite an ihr Ohr.
    Sie kannte den Mann nicht, doch war sie sich ziemlich sicher, dass ihn das gleiche Schicksal erwartete wie sie. Sie hatte ihm aber nicht viel Beachtung schenken können, da man sie zu dritt festgehalten hatte, als sie aufs Schiff gebracht worden war.
    Vorher hatte sie ihn noch nie gesehen, doch er war der einzige an Bord, der kein Milizsoldat war.
    Doch was machte es schon aus, ob Tausend oder, wie es gegenwärtig der Fall war, nur drei Milizionäre da waren, die sie bewachten. Mehr als diese fünf Menschen gab es zwar nicht auf der Nussschale, doch reichte es wohl um sie an ihren Bestimmungsort zu bringen.
    Mit ihren aneinander geketteten Händen konnte sie in ihrem engen Verschlag eh nichts ausrichten.
    Unwillkürlich musste sie an Ramona denken, die sich nun gewiss ins Fäustchen lachte. Ihre Schwester hatte ja nun das alleinige Kommando über das Flüchtlingslager im Wald.
    Die Erinnerungen an ihre Schwester wurden von denen an ihre Festnahme verdrängt. Peinlich war es gewesen. Hatte sie sich doch tatsächlich so weit gehen lassen, dass sie am Ende stockbesoffen in der Gasse gelegen hatte und den Soldaten Beleidigungen hinterher gebrüllt hatte.
    Natürlich hatte es da nicht lange gedauert bis sie sie erst mitgenommen und letztendlich identifiziert hatten. Das erste woran sie sich dann wieder erinnern konnte, war ihr Erwachen in der dreckigen Zelle, wo sie drei Tage von einem trockenen Brot gelebt hatte.
    Doch sie wusste nicht, ob ihr es in der Zelle nicht doch besser ergangen war. Dort hatte sie sich immerhin ausstrecken können.
    Das Geknarze der morschen Bretter ging ihr allmählich wirklich auf die Nerven. Es würde sie nicht wundern, wenn das Wasser durch sie hindurch sickern würde.
    Hass auf die Miliz pulste durch ihre Adern.
    Sie hatte keine Lust in die Barriere geworfen zu werden und dort für den Rest ihres Lebens für den reichen Sack Erz zu schürfen.
    Gehässig dachte sie daran, wie sie den einen Milizsoldaten bei ihrer Überführung aufs Schiff ins Wasser gestoßen hatte. Hoffentlich bekam der jetzt eine Lungenentzündung und starb.
    „Der Hafen von Khorinis ist in Sicht, Leute!“, kam eine Stimme dumpf durchs Holz. Sicher einer von der Miliz.
    „Dann können wir die beiden Halunken endlich Lord Garond übergeben und sind aus dem Schneider“, erwiderte eine andere, ebenso dumpf zu vernehmende Stimme.
    Sie hatte sich entschieden.
    Sie würde ausbrechen.
    Sie fuhr sich mit ihren aneinander geketteten Händen durchs Haar und fand schnell, was sie gesucht hatte.
    Sie zog ein stabiles Stück Draht aus ihrem Schopf hervor. Wie sie es sich gedacht hatte, war keiner auf die Idee gekommen, dass dort etwas Wichtiges versteckt sein könnte.
    Es war ziemlich schwierig mit gefesselten Händen ein Schloss zu brechen, das ungefähr auf Höhe der Handgelenke war, doch nach einigen Versuchen traf sie das Schloss.
    Nun musste sie es nur noch öffnen, doch das war leichter gesagt als getan. Viel Bewegungsfreiheit hatte sie mit ihren Händen nicht und nur schwer konnte sie das nötige Feingefühl in die Bewegung einbringen.
    Doch schließlich klackte das Schloss. Schnell schüttelte sie die Ketten ab, wobei sie darauf achtete, dass sie nicht zu laut klirrten. Verstohlen auf die Luke vor ihr lugend, schob sie ihren Draht zurück ins Haar, nur für den Fall.
    Sie schüttelte ihre Hände, auf denen man deutlich die Abdrücke ihrer Fesseln erkennen konnte.
    Egal, entschied sie und überlegte wie es jetzt weiter gehen sollte. Einfach die Luke aufbrechen und aufs Boot stürmen war nicht drin. Sie war unbewaffnet und draußen warteten drei Milizsoldaten auf sie.
    Sie musste sich etwas einfallen lassen. In diesem Moment knarzten die Bretter noch einmal. Dieses Mal war das Geräusch mehr als hilfreich, sie hatte eine Idee.
    So leise wie möglich wickelte sie ihre rechte Faust in die Eisenkette und hoffte inständig, dass das Boot so morsch war, wie es sich anhörte.
    Nun kam es drauf an, einen zweiten Versuch hatte sie nicht.
    Mit voller Kraft schlug sie gegen die Außenwand des Bootes. Die getroffenen Bretter knirschten und splitterten, brachen jedoch nicht ab. Wasser drang ein und von oben schallte die unvermeidliche Reaktion herüber: „Was war das gerade für ein Krach da unten?“
    Verzweiflung umkrallte sie, doch dann flammte noch einmal eine Art Trotz in ihr hoch. Sie wollte nicht in die Barriere!
    Krack!
    Bei dem zweiten Schlag war ihre Faust glatt durchs Holz geschmettert.
    Schnell brach sie das Loch noch ein wenig größer, das Wasser strömte nun ungehindert hinein, allerdings war ihre Zelle anscheinend nur bis zur Hälfte unterm Meeressspiegel.
    Doch sie hatte keine Zeit für sowas. Sie musste weg. Schnell!
    Und ohne noch groß zu überlegen sprang sie ins Wasser und tauchte tief hinab. Sie hoffte, dass man sie nun von oben nicht sehen konnte. Sie musste schnell ans Ufer schwimmen, ohne dass sie den Milizsoldaten noch einmal unter die Augen kam.
    Es war jedoch unmöglich so weit zu tauchen. Sie musste kurz Luft holen.
    Nur einen Sekundenbruchteil war sie an der Oberfläche, doch ihre Jäger schienen sie bemerkt zu haben, jedenfalls schlug ein Bolzen in das Wasser neben ihr ein.
    Sie hatte es geschafft. Sie hatte keine Ahnung wie, aber sie war nach weiteren langen Sekunden direkt neben einem Steg wieder aufgetaucht. Sie zog sich hoch und warf einen Blick über die Schulter.
    Die Milizionäre waren noch weit weg und hatten genug damit zu tun, den Gefangenen aus seiner Zelle zu zerren und das sinkende Schiff zu verlassen.
    Doch sie störte das nicht mehr.
    Sie rannte. Rannte den Steg hoch und war frei.
    Sie hatte es geschafft, Cassia war der Miliz entwischt!
    Geändert von MiMo (28.03.2017 um 22:44 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kapitel 2

    Cassia rannte durch die engen Gassen des Hafenviertels. Sie war noch nie hier gewesen, doch war es gewiss besser sich in dem Gewirr aus Gängen zu verlaufen als von der Miliz gefasst zu werden.
    Als sie dachte weit genug vom Hafenbecken weg zu sein, verlangsamte sie ihre Schritte und sah sich um.
    Vor ihr war eine hohe Backsteinmauer, die offensichtlich einen anderen Teil der Stadt abgrenzte, und zu ihrer Linken war eine kleine, eingezäunte Fläche, in der Schafe müde hin und her trabten. Vor der gegenüberliegenden Hütte stand ein blutverschmierter Tisch.
    Doch Blut ließ Cassia kalt. Davon hatte sie schon in früher Kindheit so viel gesehen, dass sie diese rote Flüssigkeit vollkommen emotionslos betrachten konnte.
    Was im Moment viel wichtiger war, war ein gutes Versteck zu finden. Irgendwo musste sie sich vor der Miliz verstecken, die schon sehr bald nach ihr suchen würde. Sie fragte sich, ob die Besatzung des Boots inzwischen angekommen war, doch sie wagte es nicht sich dem Hafenbecken zu nähern.
    Als sie ein wenig weitergegangen war, fand sie zu ihrer Rechten eine trostlose Hütte. Die Tür lag platt auf dem Boden und drinnen waren abgesehen von kaputten Möbeln und Spinnweben wohl nur Ratten.
    Trotz des ungemütlichen Eindrucks trat sie ein und begutachtete die herumliegenden Trümmer. Nichts davon war mehr zu gebrauchen, doch fand sie, dass die Hütte ein ganz gutes Versteck darstellte, weshalb sie beschloss die nächsten Stunden hier zu verweilen.

    Es war Nacht geworden.
    Cassia schreckte hoch. Sie hatte gar nicht einschlafen wollen, hatte es aber nicht verhindern können. Wie spät es wohl war? Ob die örtliche Miliz sie schon suchte? Sicherlich.
    Ihr Magen machte sich mit einem Knurren bemerkbar. Sie brauchte erst einmal etwas zu essen.
    Das hier schien das Viertel für die ärmere Bevölkerung zu sein. Sie vermutete außerdem, dass sie hier am sichersten sein würde. Welche Miliz machte sich schon die Mühe im Viertel der Besitzlosen Wache zu gehen?
    Ächzend erhob sie sich von dem staubigen Boden. Sie war offenbar in eine Ecke gelehnt eingenickt. Die Rückenschmerzen von der unbequemen Überfahrt waren noch nicht ganz abgeklungen.
    Als Cassia nun wieder vor die Tür trat, war sie viel ruhiger. Die Nacht passte einfach besser zu ihr. Sie nahm sich viel mehr Zeit die einzelnen Häuser und Ecke zu mustern und merkte sich dieses Mal auch ihren Weg, damit sie zu der Hütte zurückfand.
    Nach ein paar Minuten kam sie an einen breiten Trampelpfad, der offenbar eine Art Hauptweg darstellte. Das eine Ende mündete in den Hafenkai, das andere endete offensichtlich in einem anderen Viertel der Stadt.
    Schnell huschte Cassia hinüber, um sich dort gleich wieder in den Schatten der Häuser drängen zu können.
    Plötzlich schrie jemand.
    Cassia wirbelte herum. War sie entdeckt worden? War deshalb geschrien worden? Aber die Bewohner von Khorinis konnten sie doch unmöglich kennen! Oder war ihr zweifelhafter Ruf doch schon bis hierher vorgedrungen?
    Doch sie machte sich zu viele Sorgen. Eine Frau, die gerade von einem Mann umgeschubst worden war, hatte den Schrei ausgestoßen.
    Der Mann, dessen schwarzes, in einem Pferdeschwanz endendem Haar, im Mondlicht glänzte, klaubte mit seinen Händen Gegenstände von einer Auslage.
    Die Frau hatte sich aufgesetzt und flehte den Mann an: „Nicht! Das ist alles was mir geblieben ist! Ich hab doch sonst nichts!“
    Die Frau klang verzweifelt. Cassia wurde wütend. Typisch Mann. Immer mussten sie mit Frauen so grob umgehen, behandelten sie wie Dreck!
    Cassia bückte sich und hob einen schweren, knüppelartigen Ast vom Boden auf. Dann sprang sie mit weiten, schnellen Schritten hinter den Mann, der sich nicht einmal verdutzt umdrehen konnte, bevor der Ast auf seinen Schädel niedersauste.
    Der Mann stürzte zu Boden, regte sich jedoch. Nur ein kleines Rinnsal Blut lief aus seinen Haaren heraus.
    „Lass dein Gold hier!“, befahl sie ihm, einer plötzlichen Eingebung folgend.
    Entsetzt musste der Mann feststellen, dass es eine Frau gewesen war, die ihn niedergeknüppelt hatte. Welch Schmach!
    Er schmiss ihr ein paar Goldstücke vor die Füße und verschwand dann so schnell er konnte.
    Cassia wandte sich zu der am Boden liegenden Frau um. Diese starrte sie mit fast noch größeren Augen an.
    „Danke“, stammelte sie vollkommen perplex, als Cassia ihr auch noch die Hand hinhielt. Die Frau ergriff sie und ließ sich hochhelfen.
    „Wir Frauen müssen gegen diese barbarischen Typen doch zusammenhalten“, empfing Cassia den Dank mit einem schnippischen Kommentar. Das Gold ließ sie dabei in ihre Tasche gleiten. Um die fünfzig Goldstücke waren es, wenn sie richtig gezählt hatte.
    „Ach, wenn das so einfach wäre“, jammerte die Frau und bückte sich nach einem Apfel, den der Dieb runter geworfen hatte, „Hier wimmelt es doch nur so von Dieben.“
    „Warum hattest du überhaupt noch auf, es ist doch längst Nacht!“
    „Es ist noch nicht mal Mitternacht, da sind unten in der Kneipe noch ein paar Kerle. Und das Geschäft läuft schlecht, da muss ich so viele Möglichkeiten wie möglich nutzen, auch wenn es sehr riskante Möglichkeiten sind“, die Frau hatte den Apfel wieder auf den Stand gelegt und sammelte nun ein abgegrabbelt aussehendes Kraut auf, „Was wäre nur gewesen, wenn du nicht gekommen wärst? Kann ich dir irgendwie danken?“
    „Danke, ...äh“, machte Cassia.
    „Fenia“, half die Frau ihr schnell weiter.
    „Danke, Fenia. Aber ich glaube du kannst mir nicht…“, in diesem Moment unterbrach Cassias knurrender Magen das Gespräch. „Oder doch. Ich hab ziemlichen Hunger!“
    Wehleidig beäugte Fenia ihren Apfel, ihr Kraut und die drei Kartoffeln, die alles waren, was sie auf ihrem Stand anbot.
    „Mach dir nichts draus“, wehrte Cassia ab, die die Frau irgendwie mochte, „Ich find schon woanders was zu essen.“
    „Pah“, erwiderte Fenia, „Du bist hier in Khorinis. Wer hier im Hafenviertel landet verhungert über kurz oder lang. Aber…“
    „Aber?“, wollte Cassia ihr auf die Sprünge helfen. Vielleicht hatte sie ja doch etwas zu essen für sie.
    „Aber ich könnte dich zu Halvor bringen. Er fängt zwar jeden Tag einige Fische, verkauft aber nur sehr wenige, da bleibt einiges über! Folg mir einfach.“
    Fenia steckte ihre wenige Ware in ihre ausgeleierten Taschen und tauchte dann zwischen zwei Häusern in einen der für dieses Viertel üblich dunklen Gänge ein.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:49 Uhr)

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    Kapitel 3

    Inzwischen war es sicher Mitternacht, dachte Cassia sich, während sie sich immer noch fragte, warum die Frau es nicht unhöflich fand so spät noch diesen Halvor zu besuchen.
    „Das ist sein Stand“, tönte Fenia, als sie aus der von maroden Brettern gesäumten Gasse heraustraten und ihnen ein penetranter Fischgestank entgegen schlug.
    Fenia schien dieser nichts auszumachen, wohingegen Cassia das Gesicht verzog und sich die Nase zuhielt. Die Sümpfe in ihrer Heimat hatten zwar auch bestialisch gestunken, doch das war eine andere Art von Gestank gewesen. Diesen hier empfand sie als deutlich widerwärtiger.
    Doch bemühte sie sich, sich nichts mehr anmerken zu lassen und schloss wieder zu Fenia auf, die inzwischen im Türrahmen der Hütte hinter dem Stand war.
    „Halvor, hast du mal kurz Zeit für mich?“, fragte Fenia in den Innenraum der Hütte.
    Schlief dieser Mann etwa gar nicht? Cassia kam die Sache irgendwie immer seltsamer vor.
    Es wurde plötzlich noch dunkler, als es ohnehin schon gewesen war. Eine Wolke hatte sich vor den strahlenden Vollmond geschoben.
    Doch wenn Cassias Augen sie nicht täuschten war Fenia ein hoch gewachsener Mann entgegen getreten. Cassia kam noch einen Schritt näher, um die Umrisse in der Dunkelheit besser ausmachen zu können.
    „Was machst du denn um diese Uhrzeit noch bei mir, Fenia?“, fragte der Mann, jedoch gar nicht ungehalten, viel eher wohlwollend, erfreut sogar.
    Die Wolke verzog sich wieder und endlich konnte Cassia klar die Umrisse eines nackten, jedoch ziemlich uninteressanten Oberkörpers von bleicher Hautfarbe erkennen, dessen dazugehörige Beine in einer zerschlissenen Stoffhose steckten. Die Füße waren nackt und der Kopf von den halblangen, schmutzigen Haaren umrahmt.
    Es war offensichtlich, dass der Mann schon geschlafen hatte.
    „Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte der Mann, der wie Cassia grade kombinierte Halvor sein musste. Erst jetzt fiel Cassia auf, dass er einen Arm um Fenia gelegt hatte. Plötzlich wurde alles klarer. Deshalb hatte sie es nicht für unhöflich gehalten.
    „Das ist meine Retterin“, verkündete Fenia ziemlich dick auftragend, „Sie hat einen Dieb verjagt, der sich meine Sachen unter den Nagel reißen wollte!“
    Cassia tauschte einen flüchtigen Blick mit Halvor. Sofort war ihr klar, dass Halvor gerade innerlich die Augen verdrehte, weil seine Frau sich so über den Diebstahl von drei Kartoffeln aufregte.
    Cassia versuchte immerhin noch Verständnis dafür zu haben. Schließlich war das Fenias einziger Besitz.
    „Und sie meinte, dass sie Hunger hatte. Da dachte ich, dass ich ihr doch helfen könnte, was zu essen zu finden“, erzählte Fenia weiter und warf einen glühenden Blick auf Halvor.
    Dieser wurde rot und nahm seinen Arm von ihrer Schulter, bevor er sich umwandte und ins Haus ging: „Na gut. Dann kommt mal rein.“
    Fenia war ihm auch ohne Aufforderung gefolgt. Cassia zögerte erst, kam dann jedoch hinterher. Alles war besser als der Fischgestank.
    Zu ihrem Missfallen stank es drinnen noch heftiger nach dem Meerestier. Fast hätte sie wieder das Gesicht verzogen. Männer konnten echte Schweine sein.
    Halvor wühlte ein wenig in einem Korb, der in der hinteren Ecke stand und prallgefüllt mit Fisch war. Er zog einen aus dem Berg heraus und hielt ihn Cassia hin. „Hier, ist von heute Morgen.“
    Cassia wollte ihn erst auf gestern korrigieren, doch wollte sie nicht kleinkariert wirken. Sie nahm also kommentarlos den Fisch entgegen. Ein „Danke“ kam ihr in dieser Situation überhaupt nicht in den Sinn.
    Fenia fing an Halvor über Belanglosigkeiten auszuquetschen, wovon Fragen wie „Wie war dein Tag?“ und „Was hast du heute alles verkauft?“ noch die interessantesten waren.
    Cassia hielt es für sinnvoller ihren Fisch auf die Gräten zu reduzieren als dem Gespräch zu folgen. Bis sie sich doch betroffen fühlte: „Und dann hat sie dem Dieb sogar sein Gold abgenommen! Sie ist eine wirklich mutige Frau!“
    „Wer ist sie eigentlich, hast du sie das mal gefragt?“
    Halvor nickte zu Cassia herüber. Cassia schluckte schnell ihren letzten Bissen Fisch hinunter, verschluckte sich jedoch und hustete.
    „Ich weiß es nicht. Über so etwas haben wir noch gar nicht gesprochen“, musste Fenia zugeben. Nun schaute auch sie fragend zu Cassia hinüber, die endlich fertig mit Husten war, jedoch fast wünschte, immer noch eine so vortreffliche Ausrede zum Schweigen zu haben.
    Sie wusste nicht, wie viel sie ihnen erzählen sollte. Fenia war ihr sehr sympathisch und Halvor hatte ihr ohne auch nur ein Danke zu fordern einen Fisch gegeben.
    Andererseits wurde sie sicherlich noch in der ganzen Stadt gesucht und wenn sie zu viel über sie wüssten, konnten sie in Schwierigkeiten kommen. Oder waren sie das sogar schon?
    Sie war aus dem Hafenviertel noch nicht schlau geworden. Es schien ein Ort für Verbrecher zu sein, doch wirkten Fenia und Halvor nicht wie solche und immerhin befand sie sich in Khorinis! Der reichen Handelsstadt mit dem extraordinären oberen Viertel und den monatlichen Besuchen der Paladine, die die Erzlieferungen aus dem Minental abholten. Eine dynamische Stadt im Aufschwung – und dann das.
    Aber das hätte sie sich denken können. In solchen Fällen pflegten die Minnesänger sich über die Schattenseiten auszuschweigen.
    Cassia hatte beschlossen ihnen zumindest einen Großteil der Wahrheit anzuvertrauen. Ihren Namen wandelte sie jedoch lieber ab, da dieser auf den Fahndungsplakaten stehen würde.
    „Ich bin Aissa“, log sie und schaffte reibungslos den Bogen zur Wahrheit, „Ich komme von den südlichen Inseln und…“
    „Shht!“, machte Halvor plötzlich.
    Cassia war empört. Nun hatte sie endlich angefangen zu reden, da wurde sie auch schon unterbrochen!
    Doch Cassias Atem blieb stehen, als sie die Stimmen hörte, die unweit der Hütte ihre Körper haben mussten.
    „Warum ist die Miliz hier?“, fragte Fenia leise, doch keiner antwortete ihr.
    Die Stimmen von draußen kamen immer näher.
    Die Cassia ist entkommen?! Ich dachte die Überfahrt wäre seit Wochen vorbereitet worden, weil sie doch angeblich so eine gefährliche Frau sein soll.“
    „Gefährlich ist sie, nicht umsonst waren drüben auf den südlichen Inseln 1500 Gold auf ihren Kopf ausgesetzt. Und leider spricht für sie, dass sie entkommen konnte.“
    „So viel Gold war auf ihren Kopf ausgesetzt?“
    „Das ist jetzt egal. Wir haben die Aufgabe sie zu finden und in die Kaserne zu bringen, damit sie endlich ihrer gerechten Strafe zugeführt wird.“
    „Der Weg zur Innenstadt wird von Peck beaufsichtigt, da kommt sie nicht durch. Also müssen wir sie jetzt nur noch finden und überwältigen!“
    „Das zweite könnte sich schwierig gestalten. Die hat was auf dem Kasten…“
    Cassia war weiß geworden.
    Fenia und Halvor starrten sie an, als ahnten sie, wen sie vor sich hatten.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:52 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kapitel 4

    Cassia wusste nicht was sie tun sollte. Hier bleiben oder wegrennen? Draußen lief sie vielleicht sofort der Miliz in die Arme und sie wusste nicht, ob Fenia und Halvor ihr nun immer noch so hilfsbereit zur Seite standen. Andererseits saß sie hier drin in der Falle.
    Die Schockstarre fiel von ihr, Adrenalin pulste durch ihren Körper und machte derlei Ängste unwirksam. Ohne auf Fenia und Halvor zu achten rannte sie aus der Tür und verschwand so schnell sie konnte in der schmalen Gasse, aus der sie auch gekommen war.
    Hatten die Milizionäre sie gesehen? Sie wusste es nicht. Zu schnell rannte sie durch die Hüttenschlucht und sprang über den herumliegenden Schrott, als dass sie sich auch noch umwenden konnte.
    Dabei musste sie sich auch noch auf den richtigen Weg besinnen. Sie wollte zu der leerstehenden Hütte zurück und sich dort verstecken. Wenn sie Glück hatte waren sie dort schon gewesen und schauten so schnell nicht wieder nach.
    Sie hatte Fenias Stand erreicht, doch presste sie sich nun noch enger in die Schatten der Hütten. Sie hatte einen Milizsoldaten entdeckt, der am Ende des ausufernden Weges breitbeinig Wache schob.
    Von der anderen Seite kamen nun noch zwei Wachen. Ob es die gleichen wie bei Halvor waren, wusste sie nicht, sie hatte sie ja nicht gesehen.
    Sie beschloss, dass es zu gefährlich war die breite Straße zu passieren. Sie zog sich zurück und wählte eine Gasse, die sie so weit wie möglich von der breiten Straße wegbrachte.
    Doch sie hielt inne.
    Wieso kniff sie? Die unbekannte Umgebung hatte sie wohl verschreckt. Es war an der Zeit wieder das Ruder in die Hand zu nehmen. Sie war Cassia und hatte sich noch nie etwas von diesen Testosteron-Junkies sagen lassen.
    Es ging ums Prinzip.
    Sie grinste leicht, voller Freude auf die Action. Sie nahm den herumliegenden Schrott genauer unter die Lupe. Ein abgebrochenes, aber nur leicht angerostetes Schwert, von dem nur noch zwei Drittel der Klinge vorhanden war. Ein Glückstreffer, fand sie und steckte es in eine Laschen an ihrer Hüfte.
    Außerdem fand sie eine kleine Schleuder, dessen Band gerissen war. Ein Kind hatte sie wohl gebaut, dann aber weggeworfen, als sie kaputt gegangen war.
    Cassia reparierte die kleine Fernkampfwaffe und sammelte noch ein paar Steine, die sie in einen kleinen Lederbeutel steckte, den sie ebenfalls gefunden hatte.
    So müsste es ihr möglich sein, die Straße zu überqueren.
    Sie schlich sich wieder zurück zu Fenias Stand, die Ohren gespitzt. Ihr kroch das wohlige Gefühl eines bevorstehenden Risikos den Nacken hinauf.
    Sie nahm die Zwille in die linke und einen Stein in die rechte Hand. Augenblicke des Zielens folgten auf das Anlegen.
    Wenn ihre Augen das richtig sahen, war hinter dieser lästigen Wache eine Schmiede, wo an einer Wand gelehnt ein paar Schmiederohlinge standen.
    Sie zielte auf einen von ihnen.
    Mit lautem Geschepper traf der Stein sein Ziel und kippte es zur Seite, sodass es auch noch seine Gesellen umstieß. Mit einem nahezu ohrenbetäubendem Lärm krachten die Metallgebilde zu Boden.
    Das Scheppern hatte die Wache, wenn sie sich recht erinnerte hieß sie Peck, aufgeschreckt. Sofort hatte Peck sich zur Schmiede umgedreht und nervös in die dazugehörigen Schatten gespäht.
    Diese Zeit hatte Cassia schon längst dazu gereicht herüber zu huschen.
    Das war geradezu leicht gewesen. Die Miliz hier schien nicht viel drauf zu haben. Oder, und das machte sie fast schon wieder wütend, sie unterschätzten sie nur.
    Nun schlich sie jedenfalls langsam und aufmerksam durch die Gassen, sie wollte diesen Miliztypen ja nicht noch eine Gelegenheit geben.
    Schon war sie wieder bei der Hütte, die sie einfach in Beschlag genommen hatte, ließ noch einmal kurz einen Blick über die Schafe schweifen, die wohl nur darauf warteten geschlachtet zu werden, und trat dann ein.
    Sie setzte sich an genau die gleiche Stelle, wo sie vorhin auch schon geschlafen hatte, denn dort konnte sie nur gesehen werden, wenn jemand die Hütte betrat. Und warum sollte das schon jemand tun?
    Sie hoffte, dass ihre geschärften Sinne sie wecken würden, wenn doch mal Gefahr drohte. So hoffte sie jetzt ein paar ruhige Stunden Schlaf zu bekommen…
    …doch draußen knackte etwas. Dann blökten die Schafe wild durcheinander, ein besonders Panisches stach heraus.
    Was war da los? Waren das die Milizsoldaten? Sie biss sich auf die Unterlippe. Wer sonst war zu so später Stunde in diesem zwielichtigem Viertel unterwegs?
    Leise fluchend stand Cassia wieder auf und packte vorsichtshalber den Knauf ihres abgebrochenen Schwertes. Dicht an den Türrahmen gedrückt, der eigentlich nur aus den abgesägten Enden von Holzbrettern bestand, spähte sie heraus.
    Sie beobachtete, wie ein Mann zwischen den hektisch im Gehege umherspringenden Schafen stand und eines offenbar versuchte unter den Arm zu klemmen.
    „Jetzt halt endlich still du Miststück!“, fauchte der Mann in Panik. Ihm war offensichtlich bewusst, dass er viel Lärm verursacht hatte.
    „Was wird das hier!?“, kam der wütende Ruf aus der Hütte des Fleischers, der passenderweise sein Arbeitsgerät in der Hand wog, „Weg von meinen Schafen du Lump! Dir werd ich…“
    Doch weiter kam er nicht, denn als der Mann hektisch über den Zaun gesprungen war, hatte er die einzelne Latte mit sich gerissen. Die aufgescheuchten Schafe hatten panisch die Gelegenheit zur Flucht ergriffen.
    Ein halbes Dutzend Schafe hüpfte aus dem Gehege und verteilte sich in den Gassen des Hafenviertels.
    „Du Mistkerl!“, schrie der Fleischer und warf sein Fleischermesser nach dem Mann. Um Haaresbreite ging es an ihm vorbei, schlug gegen die Stadtmauer und prallte hell klingend ab.
    Warum sie sich dieses Mal entschied dem Dieb und nicht dem Opfer zu helfen, wusste sie nicht, jedenfalls packte sie ihre Schleuder und legte immer noch im Inneren der Hütte an.
    Der Fleischer war nun jedoch um die Ecke gegangen, so dass sie ihn nicht mehr erreichen konnte. Gespannt wartete Cassia ab, was als nächstes geschah.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:54 Uhr)

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    Kapitel 5

    Cassia wartete noch einige Zeit, doch nichts Bemerkenswertes geschah. Keiner der beiden, weder der Fleischer noch der gescheiterte Schafsdieb, tauchte wieder auf.
    Cassias angeborene Neugier siegte über ihre ohnehin nicht allzu sehr ausgeprägte Vorsicht. Langsam stahl sie sich aus ihrer Hütte heraus und kam der Ecke immer näher, hinter der die beiden verschwunden waren.
    Den Atem anhaltend trat sie nur mit den Zehenspitzen auf.
    Und was sie sah, verdutzte sie doch. Der Fleischer war weg, wahrscheinlich seinen entlaufenen Schafen hinterher, und am Fuße der Stadtmauer lag zusammengesunken und geschunden eine ärmlich aussehende Gestalt.
    Es dauerte ein wenig, bis Cassia kapierte, dass dieser Mann der Schafsdieb war.
    Sie näherte sich ihm langsam, obwohl keine Regung von ihm zu erwarten war. Hatte der Fleischer ihn etwa umgebracht?
    Plötzlich ruckte der Kopf des Mannes doch noch hoch. Das schwarze Haar fiel ihm strähnig übers zerschundene und blutige Gesicht. Die Augen blickten sie stumpf an, sie strahlten Hoffnungslosigkeit aus.
    Und auf einmal traf Cassia der Schlag: Sie kannte den Mann, oder besser gesagt, hatte sie ihn schon einmal gesehen. Nervös griff sie ihre Tasche und umklammerte das Gold.
    „Du?“, brachte der Mann schwach hervor. Seine Beine zuckten als wolle er aufstehen, doch er schaffte es nicht.
    „Bleib liegen“, befahl Cassia ihm fast. Sie erschrak beinahe selbst darüber, dass sie Mitleid mit dem Mann hatte. Aber er saß da so fertig, ohne Hoffnung…
    Ein wenig erinnerte er sie an sich selbst, als sie noch klein gewesen war. Sie hatte auch den ganzen Tag regungslos am Straßenrand gekauert, während allerlei Leute an ihr vorbei liefen und sie missbilligend mit einem Blick streiften. Damals hatte sie sich nur gewundert, dass sie noch nicht verhungert war.
    „Wozu liegen bleiben?“, ächzte der Mann und richtete sich ein Stück weit auf, was ihm sichtlich Schmerzen bereitete, „Damit du mir noch eine Abreibung geben kannst, wie vorhin?“
    Cassia gegenüber lag der Mann, der Fenia bestohlen hatte, oder es zumindest versucht hatte. Der Mann, dem sie das Gold abgenommen hatte, das nun in ihrer Tasche lag.
    „Tut‘s sehr weh?“
    Wie peinlich. Jetzt hatte sie tatsächlich so eine gefühlsduselige Frage gestellt.
    „Was willst du? Du solltest am besten wissen, dass ich kein Gold mehr habe, dass du mir abnehmen könnest“, erwiderte der Mann barsch.
    „Ich bin mindestens genauso schlecht dran wie du, also hör auf zu jammern“, stieß Cassia hervor.
    „Pah, als wärst du schlecht…“
    Womm.
    Sie hatte ihn geschlagen, mitten ins Gesicht.
    „Natürlich bin ich schlecht dran, du Hornochse!“, fauchte Cassia wütend, „Ich wurde von meiner Heimat weg gerissen, von meinen Gefährten, von meinem Leben! Hier kenne ich mich nicht mal aus! Ich hab keine Ahnung wie es in dieser Stadt zugeht, ich hab keine Ahnung wie ich wo auch immer hinkomme! Ich werde von der Miliz gesucht, ohne dass ich weiß, wie gefährlich sie wirklich ist! Und das auch noch, obwohl ich hier noch nicht einmal etwas anderes getan habe, als einer armen Frau zu helfen!“
    Cassias Brust hob und senkte sich, während sie mit wildem Blick auf den Mann hinabstierte, den sie bis eben noch ansatzweise bemitleidet hatte.
    Der Mann sah sie interessiert an. Blut lief ihm nach dem letzten Schlag auch noch aus dem rechten Mundwinkel. Er wischte es energisch weg. „Du bist Cassia, stimmt‘s?“
    Sie stutzte. „Woher kennst du meinen Namen?“
    „Die Miliz war tagelang dabei die Eskortierung ins Minental vorzubereiten, damit sie dich sofort aus der Stadt bringen können. Sie hatten gelinde gesagt Respekt vor dir“, erzählte der Mann ihr in lässigem Tonfall, „Und jetzt bist du ihnen auch noch entwischt. So wie ich diese Gerechtigkeitsnarren einschätze, sind mindestens die Hälfte ihrer Männer auf der Suche nach dir.“
    „Woher weißt du, was die Miliz vorbereitet?“, fragte Cassia nun ruhig. Er schien ein richtiger Volltreffer zu sein.
    „Man muss einfach nur den Milizen zuhören, die hier mal vorbeischauen. Borka hat manchmal auch interessante Neuigkeiten. Diese Stadtwachen gehen sich ja gerne mal bei seinem Chef amüsieren.“
    „Wer ist dieser Borka?“ Cassia brannten Hunderte von Fragen unter den Nägeln. Sie musste so viel wie möglich herausfinden, wenn sie sich nicht schnappen lassen wollte.
    „Borka ist Borka“, antwortete der Mann grinsend, „Süchtig nach Sumpfkraut wie sonst kaum jemand, er ist der bekannteste Händler im Hafenviertel. Nebenbei ist er noch Türsteher des Bordells und bekommt dort eine Menge mit.“
    Cassia runzelte die Stirn. Der ständig dichte Türsteher eines Bordells wollte ihr nicht grade als Hauptinformationsquelle gefallen.
    „Doch wenn du wirklich hören willst, was in der Stadt abgeht, musst du bis morgen früh warten. Dann bist du hier genau richtig“, fuhr der Mann fort. Er hatte einen Stängel Sumpfkraut aus seiner Tasche geholt und steckte ihn zwischen die Zähne.
    „Ich muss weiter, hab ja noch immer keine Beute“, meinte er und richtete sich vorsichtig auf.
    Cassia überlegte kurz, dann griff sie in ihre Tasche und holte das Gold heraus. „Hier, das ist ein angemessener Preis für die Informationen.“
    „Du gibst mir mein Gold wieder?“, fragte er und beäugte die Hand misstrauisch.
    „Jetzt nimm es schon, bevor ich es mir anders überlege!“
    „Okay“, er grinste schmierig und grapschte das ganze Geld auf einmal aus der Hand, die ihm hingehalten wurde.
    Da fiel Cassia noch eine letzte, banale Frage ein: „Wer bist du eigentlich?“
    Er wandte sich noch einmal um und grinste: „Ich bin Ramirez.“
    Dann ging er weiter.
    Cassia sah ihm nach und ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was er gesagt hatte. Ob dieser Borka auch ihr Informationen geben würde?
    Aber sie sollte sich wohl eher nicht in der Nähe des Bordells blicken lassen, wenn es dort so von Milizen wimmelte.
    Und was hatte er noch gesagt?
    „Doch wenn du wirklich hören willst, was in der Stadt abgeht, musst du bis morgen früh warten. Dann bist du hier genau richtig.“
    Sie hatte ganz vergessen ihn zu fragen, was er damit gemeint hatte. Egal.
    Sie gähnte.
    Jetzt brauchte sie erst einmal Schlaf.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:58 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kapitel 6

    Wärmende Sonnenstrahlen beschienen die dünnen Holzdächer des Hafenviertels und ließen den jungen Morgen belanglos und friedlich wirken.
    Doch was Cassia weckte, war der letzte verzweifelte Schrei eines Schafs, dem grade die Kehle aufgeschlitzt wurde.
    Ihre Augen reibend richtete sie sich langsam von ihrem unbequemen Nachtlager auf und versuchte den Gedanken an das eben gehörte zu vertreiben. War ja widerlich von sowas geweckt zu werden! Dass dieser Fleischer auch nicht warten konnte, bis sie wach war.
    Aber vermutlich wollte er das eine Schaf, was er noch wiedergefunden hatte lieber schnell schlachten, bevor es noch einmal weglief.
    Aber warum war sie eigentlich so müde? Und, sie gähnte herzhaft, wie spät war es eigentlich?
    Da fiel ihr die Begegnung mit Ramirez wieder ein. Hastig griff sie in ihre Tasche, um sich zu vergewissern, dass es kein Traum gewesen war.
    Nein, das Gold war weg. Das konnte kein Traum gewesen sein.
    Nun kam ihr auch wieder in den Sinn, dass es jetzt und hier angeblich eine Möglichkeit gab, an Informationen über die Geschehnisse der Stadt zu bekommen. Aber wie, wusste sie immer noch nicht.
    Sie lugte aus der Tür heraus. Der Fleischer war nicht mehr an dem Schlachttisch vor der Tür. Alles sah aus wie gestern auch schon, keine Menschenseele war zu sehen.
    Sie streckte sich noch einmal und verließ dann die Hütte. Sie stand unentschlossen vor der Stadtmauer. Sollte sie noch warten oder lieber nach Ramirez suchen, um ihn zu fragen wie er das gemeint hatte?
    Sie konnte es auch wagen Kontakt mit diesem Borka aufzunehmen, aber da sie seit jeher eine Abneigung gegen Bordells hatte verwarf sie den Gedanken.
    Ein neuer drängelte sich an seine Stelle: Was war, wenn dieser Ramirez sie nur angelogen hatte und wollte, dass sie zu diesem Zeitpunkt hier war? Sie erschrak. Hatte er vor sie an die Miliz zu verpfeifen, die ihr dann nur noch hier auflauern musste? Wollte er einfach nur das Kopfgeld kassieren?
    Das würden sie diesem Dreckskerl sogar zutrauen. Wachsam warf sie einen Blick nach links und rechts. Es war leer. Zu leer? Sie konnte dies noch immer nicht abschätzen, obwohl sie nun fast einen ganzen Tag in diesem gottverdammten Viertel umherstreifte.
    Doch in diesem Moment hörte sie eine laute, kräftige Stimme, die vom oberen Rand der Stadtmauer zu ihr her zu wehen schien.
    „Bürger von Khorinis!“, begann die Stimme schallend eine Rede, die wie auswendig gelernt klang, was sie vermutlich auch war, „Gestern Nachmittag ist die gefährliche Diebin Cassia entwischt. Vermutungen zufolge, hält sie sich in der Stadt auf. Eine Belohnung von 1500 Gold ist auf ihren Kopf ausgesetzt. Hinweise zum Aufenthaltsort dieser gefährlichen Diebin sind unverzüglich an Lord Garond weiter zu leiten!“
    Eine Pause dehnte sich aus.
    Cassia beruhigte sich. Das hatte Ramirez also gemeint.
    „Doch ein weiteres Ereignis hat gestern in den Abendstunden die werten Bürger erschüttert“, begann der Verkünder von neuem, „Der ehrenwerte Feuermagier Agleon ist gestern endlich in die Stadt zurückgekehrt. Er hatte eine kleine Goldstatuette, ein Geschenk des Klosters an die Stadt bei sich. Doch dieses Zeichen für die Verbindung von Stadt und Kloster wurde gestohlen! Es ist nicht auszuschließen, dass Cassia ihre Finger im Spiel hatte, da diese kurz vor dem Überfall auf der Insel ankam. Auf die Wiederbeschaffung dieses Artefakts sind weitere Tausend Goldstücke Belohnung ausgesetzt. Agleon wird noch heute mit einem Großaufgebot an Soldaten die Stadt durchkämmen, um die wichtige Statuette wieder zu beschaffen.“
    Dieses Mal blieb die dröhnende Stimme still.
    Cassia musste erst einmal verdauen, was sie da gehört hatte. Das Kopfgeld, das auf den südlichen Inseln auf sie ausgesetzt gewesen war, war nun auch hier auf sie verhangen worden? Und dann wollte man ihr auch noch den Diebstahl so einer lächerlichen Statuette in die Schuhe schieben! Zu guter Letzt wollte dieser Feuermagier die Stadt durchkämmen, zusätzlich zu den Milizionären, die sie eh noch suchten.
    Allmählich wurde die Situation wirklich interessant. Die ganze Stadt schien sich in Bewegung zu setzen, nur um sie zu finden.
    Sie überlegte, was zu tun war. Entweder benötigte sie ein gutes Versteck innerhalb der Stadt, oder sie verließ diese. Beides würde schwierig werden, doch was sollte sie außerhalb der Stadt? Sie glaubte nicht, dass es dort draußen allzu viele Opfer für ihre Raubzüge gab.
    Das war auch schon der nächste Punkt. Wenn sie heute etwas zu essen haben wollte, dann musste sie sich so langsam Gedanken darum machen. Essen konnte sie sich bei Fenia und Halvor stehlen, aber das wollte sie nach der netten Behandlung nicht.
    Außerdem wusste sie immer noch nicht, wie sie zu ihr standen, seit sie erfahren hatten, wer sie war. Einfach fragen, sie wollte das Wort betteln vermeiden, kam also auch nicht in Frage. Gold stehlen könnte sie wohl von jedem ein paar Münzen, doch was brachte ihr das, wenn sie nirgends etwas kaufen konnte?
    Während sie in ihre Überlegungen vertieft war, spürte sie wie sich eine Gefahr von hinten anschlich. Sie warf einen Blick über die Schulter.
    Urplötzlich war es schon zu spät. Überrascht wie schnell und fast fehlerfrei sich dieser Unbekannte an sie herangeschlichen hatte, konnte sie sich nicht gegen seine starken Arme wehren. Mit einem Arm hielt der Mann ihr ihre Arme auf den Rücken, mit dem anderen hielt er ihr ein Schwert an die Kehle.
    Sein rasselnder Atem war direkt neben ihrem linken Ohr. Sehen konnte sie nur die Stadtmauer. War es einer von der Miliz? Wenn ja, hatte sie diese gehörig unterschätzt.
    „Du gehst jetzt zu dieser Fenia, schnappst dir unauffällig ihre Ware und kommst damit zu mir“, hauchte der Mann in ihr Ohr, „Aber wehe dir folgt jemand! Und wehe du verrätst mich!“
    „Dazu müsste ich erstmal wissen wer du bist“, konterte Cassia.
    Einen Moment lang war der Erpresser verdutzt, dann fasste er sich wieder: „Mich kennt jeder! Auf mich sind 600 Gold ausgesetzt!“
    Cassia musste grinsen. Dann, so schnell dass er gar nicht wusste wie ihm geschah, schlug sie ihm ihren Ellenbogen in die Magengrube, während die andere Hand das Schwert wegdrückte.
    Sie entschlüpfte seinem Griff, zog die Schleuder, zielte auf seine Stirn und schoss. Der Stein traf ihn am Kopf und eine kleine Wunde platzte auf.
    „Bei Beliar, was bist du denn für ein Weib?“, keuchte der Mann.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:55 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kapitel 7

    Eine Pause war entstanden, während Cassia ihre Schleuder gegen ihr Schwert austauschte und der Mann sie ungläubig anstarrte.
    „Was fällt dir eigentlich ein Widerstand gegen mich zu leisten? 600 Gold sind auf meinen Kopf ausgesetzt, ich bin verdammt noch mal gefährlich! Also hol mir jetzt mein Brot, verdammt!“, brüllte der Mann.
    „Und auf mich sind 1500 Gold ausgesetzt“, konterte Cassia, also besorg lieber du mir was zu beißen!“
    „Als würd ich dir diese scheiße glauben!“, entgegnete der Mann und ging zum Angriff über. Cassia parierte den ersten Schlag mit Leichtigkeit, musste jedoch feststellen, dass die Waffe ihres Gegenüber deutlich besser war als die ihre, was zugegebenermaßen kein Wunder war.
    Sie entschied sich also für den schnellen Weg: Schwert zur Seite wegschlagen, ein Schlag mit dem Knauf aufs Handgelenk, sodass er sein Schwert fallen ließ und dann mit genau dem gleichen Ende des Schwertes ein Hieb gegens Kinn.
    Zum zweiten Mal fiel der Fremde vor Cassia in den Staub.
    „Wer bist du?“, fragte der am Boden liegende erstaunt. Noch nie hatte er gegen eine Frau den kürzeren gezogen und diese hier war ihm haushoch überlegen.
    „Ich…“, und sie konnte es nicht unterdrücken zufrieden zu lächeln, „…bin Cassia!“
    Die Augen des Mannes weiteten sich. „Du sollst das sein? Nee… Das glaub ich nicht!“
    „Glaub was du willst“, erwiderte Cassia, „Ich möchte jetzt aber gern wissen wer du bist!“
    „Ich bin Attila, professioneller Raubmörder!“ Attila grinste süffisant, als er seinen selbst erdachten Titel aussprach.
    „Soso. Profiraubmörder“, wiederholte Cassia und verdrehte innerlich die Augen. Doch sie tat gut daran ihre Augen nicht tatsächlich zu verdrehen, denn ansonsten wäre ihr wohl entgangen, was ihr nun nicht entgangen war.
    Sie hob vorsichtshalber Attilas Schwert auf und schritt erst dann zu dem Mann herüber. Etwas glitzerte rechts von ihm auf dem Boden.
    „Was guck…“, wollte Attila fragen, doch er sah selbst, was Cassia ins Auge gefasst hatte. „Das ist meine!“, rief er hastig und schnappte schnell die kleine goldene Statue, die ihm aus der Tasche gefallen war.
    „Du bist also derjenige, der diesen Agleon überfallen hat“, kombinierte Cassia und nahm wieder ein paar Schritte Abstand von ihm.
    „Das war nicht sonderlich schwer. Ich musste ihm einfach nur im Vorbeigehen in die Tasche greifen.“
    „Der Schreihals hat aber von einem Überfall berichtet“, wandte Cassia ein. Sie war sich sicher ihn beim Lügen ertappt zu haben, „Du hast noch Verbündete, oder?“
    Attila keckerte kurz auf: „Nee… warum sollte ich Verbündete haben? Ich schaff alles alleine und es will eh keiner etwas mit einem Profimörder zu tun haben. Mit dem Schreihals meinst du wohl den Herold. Der hat nur das preis gegeben, was ihm aufgetragen wurde. Ein Feuermagier würde sich nie eingestehen einfach ausgeraubt worden zu sein, das wär dem zu peinlich. Und Agleon ist viel zu eitel um überhaupt nur auf die Idee zu kommen, dass er sein Artefakt auch einfach nur verloren haben könnte.“
    „Klingt plausibel“, musste Cassia zugeben, „Jedenfalls sind wir im Moment wohl die beiden Meistgesuchtesten in der ganzen Stadt.“
    „Das können wir schlecht abstreiten“, erwiderte Attila, „Und genau deshalb hätte ich jetzt gerne meine Waffe wieder. Du verstehst sicher, dass ich sie brauche.“
    „Du kannst das hier haben“, Cassia warf ihm die abgebrochene Waffe hinüber, die sie gestern im Schutt gefunden hatte.
    „Ich möchte mein Schwert wieder!“, Attila war gereizt.
    „Und warum sollte ich dir das geben? Du hast mich überfallen. Man legt sich eben nicht ungestraft mit mir an“, kurz überlegte sie, dann wählte sie ihre Worte vorsichtiger. Sie war sich sicher, dass er ihr eine große Hilfe sein konnte.
    „Wir sind beide in derselben Lage. Wir werden von einem Großaufgebot an Milizsoldaten gesucht und haben Hunger. Wenn wir uns zusammentun sind wir zum einen sicherer und können vielleicht auch besser an Essen herankommen.“
    Attila lachte dreckig: „Was für eine blöde Idee! Ich verlasse mich doch nicht auf eine Frau, das ist unter meiner Würde!“
    Cassia hatte große Lust ihm sein eigenes Schwert quer durch den Hals zu stoßen, doch den Impuls unterdrückte sie.
    „Ich werde mit jedem fertig, und an Essen komm ich auch. Ich bin zwar nicht so dumm, dass ich mich auf dem Hauptweg blicken lasse, aber die nächste Frau die ich in meine Gewalt bringe wird wohl kaum wieder so ein Teufelsweib sein wie du.“
    Mit diesen Worten verschwand er lachend zwischen zwei Häusern.
    „Aber ich warn dich vor: eines Tages werden wir uns wiedersehen und ich werde mich an dir rächen!“, war das letzte was sie von ihm hörte, bevor er endgültig verschwunden war.
    Jetzt stand sie mit ihrem Problem Essen zu besorgen also wieder allein da. Allerdings hatte sie nun ein ordentliches Schwert. Es hatte eine schmale, helle Klinge und wirkte dementsprechend elegant. Gerade deshalb gefiel es Cassia.
    Damit würde sie kleinere Scharmützel mit der Miliz ohne einen Kratzer überstehen.
    Sie stellte fest, dass sie nur noch einen Stein für ihre Schleuder hatte. Irgendwie mochte sie diese Waffe, obwohl sie nie zuvor richtig mit so etwas gearbeitet hatte.
    Sie würde sich unterwegs nach neuen Steinen umsehen. Unterwegs? Wohin eigentlich? Ihr Magen erinnerte sie mit einem Knurren an ihr nächstes Ziel. Sie brauchte etwas zu essen.
    Die kleine Fleischerei nebenan bot sich geradezu zum Selbstbedienen an, doch wollte Cassia nicht, dass ihr Nachbar anfing aufmerksam nach Langfingern Ausschau zu halten und dass er sie am Ende noch im Schlaf entdeckte.
    Sie musterte die Stadtmauer als würde diese ihr eine Antwort geben. Da oben gab es sicherlich eine Menge zu essen, doch wimmelte es dort nur so von den Soldaten. Oder…? Wenn die allerdings alle im Hafenviertel nach ihr suchten, waren in der Stadt vielleicht nur noch wenige!
    Aber Agleon suchte auch in diesen Teilen der Stadt nach Attila, weshalb sie beschloss lieber erst einmal das Hafenviertel zu erkunden. Das war dringend nötig.
    Wenn sie wirklich mal in eine brenzlige Situation kam, musste sie sich ja mit den Fluchtmöglichkeiten auskennen. Erstmal wollte sie an der Stadtmauer entlang gehen. Das war eine gute Möglichkeit sich zu orientieren und sich schon mal einen Grundriss vom Hafenviertel im Kopf anzulegen.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 18:01 Uhr)

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    Kapitel 8

    Das Wetter war nicht mehr halb so gut wie zur Zeit des Sonnenaufgangs. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ab und zu kamen schon ein paar Tropfen von oben und landeten plitschend auf der Erde.
    Cassia deprimierte dieses Wetter. Wenn es schon schlechtes Wetter gab, musste auch Nebel dabei sein. Ansonsten hatte sie als jahrelange Sumpfbewohnerin immer das Gefühl, dass etwas fehlte.
    Auf einmal wurde ihr Blick von etwas ganz anderem angezogen. Da waren Leute. Und sie waren keine Milizsoldaten, zumindest trugen sie zerschlissene Klamotten, wie jeder Bewohner dieses Viertels.
    Sie zählte fünf Kerle. Diese hatten sie inzwischen ebenfalls gesehen und stierten ihr gehässig grinsend entgegen. Sie war sich sicher, dass sie sie gar nicht hätten gehen lassen, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber den Gefallen wegzurennen tat sie ihnen nicht. Stattdessen schritt sie hoch erhobenen Hauptes auf sie zu, bis sie kurz vor ihnen stand.
    „Hast dich wohl verlaufen, was?“, fragte einer der schmierigen Typen.
    „Nein“, erwiderte Cassia kalt, „Ich wollte nur fragen, ob ihr wisst, wo es hier was zu essen gibt.“
    Fünf Stimmen lachten sie schallend aus. „Du junges Ding hast ja keine Ahnung von Khorinis. Hier gibt es nichts umsonst!“, schnarrte derjenige von ihnen, der auf einer Kiste saß, „Und du kommst hier eh nicht so schnell wieder weg, das sollte dir klar sein!“
    Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, da war das Lachen der Männer verstummt.
    „Boss!“, schrie einer von ihnen.
    Cassia drückte dem Kerl, der sie so verspottet hatte mit einem Arm den Hals gegen die Holzwand und mit der anderen hielt sie die Schwertspitze ganz nah an die Brust des Mannes.
    „Ich frage noch einmal“, wiederholte Cassia mit betont ruhiger Stimme, „Wo kann man sich hier am besten was zu essen beschaffen?“
    „Nimm deinen Arm vom Boss!“
    „Er kriegt keine Luft mehr!“
    „Du Miststück!“
    „Steck die Waffe weg!“
    Ehe Cassia sich versah, zogen die vier Männer ihre Schwerter und gingen auf sie los. Cassia musste den Mann sogar loslassen, damit sie diesen Angriff abwehren konnte. Blitzschnell wehrte sie alle Schwertstreiche mit einem Hieb ab. Die Männer purzelten alle einen Schritt zurück.
    „Ich habe nicht die Absicht jemanden weh zu tun. Ich will nur eine Antwort“, sagte Cassia noch mal.
    „Jetzt sprichst du eine andere Sprache“, sagte der Mann, den sie an die Wand gedrückt hatte, „Ich bin Alrik und du bist hier in der einzigen Arena der ganzen Stadt. Wenn du Gold hast, kämpfe ich gerne gegen dich.“
    „Ich hab aber kein Gold“, entgegnete Cassia mit zu Schlitzen verengten Augen. So ein Sturkopf.
    Doch wenn dieser sie nun mit den anderen zusammen angriff, konnte es gefährlich werden, da die Schwerter dann aus zwei Richtungen kommen würden.
    „Dann setz dein Schwert ein“, schlug Alrik vor. „Es sieht gut aus. Ich gebe dir die Informationen, die du haben willst, wenn du gegen mich gewinnst. Allerdings muss ich dich warnen. Noch nie hat es eine Frau gewagt gegen mich anzutreten.“
    „Noch nie hat eine Frau in diesem Viertel ordentliches Training absolviert“, konterte Cassia. Sie wusste, dass dieses Schwert die Informationen nicht wert war, weshalb der Handel ziemlich unfair war, doch fürchtete sie keine Niederlage.
    Alrik schien allerdings auch nichts zu befürchten. Er sah nur die Frau, die zweimal Glück gehabt hatte, in ihr. Wieder wurmte Cassia diese Frauenfeindlichkeit.
    „Ich nehme den Deal an. Ich setze das Schwert für die Informationen ein!“
    „Sehr gut“, lachte Alrik.
    Die anderen Männer entfernten sich ein Stück, sodass Cassia und Alrik den gesamten Platz hinter dem Lagerhaus hatten.
    „Fernkampfwaffen sind verboten. Wer am Boden liegt, hat verloren. Wenn du mich dann noch weiter angreifst, werden meine Jungs dich dafür zur Rechenschaft ziehen!“, verkündete Alrik, während er sein Schwert zog, dass fast so gut aussah wie das von Cassia.
    Sie musste Atilla bei Gelegenheit fragen, wo er das gute Ding eigentlich her hatte. Ach ja. Attila wollte sich ja an ihr rächen, wenn sie sich das nächste Mal sahen. Dann würde er sich wohl keine Zeit nehmen ihre Frage zu beantworten.
    Einer der Männer hob seine Stimme: „Der Kampf… beginnt…JETZT!“
    Alrik stürzte nach vorn und stach sein Schwert wie einen Degen in die Luft, an deren Stelle kurz zuvor noch eine Frau gestanden hatte. Diese Frau schwang ihr Schwert nun durch die Luft und streifte dabei fast Alriks Haare.
    Dieser wurde wütend, er glaubte immer noch nur eine Frau vor sich zu haben. Doch dem nächsten Streich von Cassia konnte er kaum noch ausweichen, den danach musste er mit seiner Waffe abwehren.
    Cassia spielte nur mit ihm. Und schon stand Alrik mit dem Rücken zur Wand, stellte dies mit einem erschrockenem Blick fest, machte einen Satz nach vorn bei dem er hart mit dem Schwert ausschlug.
    Der Hieb scheiterte an Cassias Deckung. Und der Konterschlag ließ Alrik auf den staubigen Boden krachen.
    Ramirez, Attila, Alrik…
    Cassia hatte das Gefühl als würde sie nur noch Männer zu Boden strecken.
    Das erschrockene Gemurmel der Männer hinter ihr ignorierte sie. Waren eh nur frauenfeindliche Sprüche.
    „Du-Du hast mich besiegt“, sah der am Boden liegende Alrik seine Niederlage ein, „Du bist verdammt taff!“
    Er grinste aus irgendeinem Grund. „Irgendwie gefällst du mir. Ich werde dir nun also sagen wo du dich hinwenden musst, um hier über die Runden zu kommen.“
    „Das will ich dir auch geraten haben“, frotzelte Cassia.
    „Das Hafenviertel wird wie du sicher weißt durch den Hauptweg in zwei Hälften geteilt. In dieser Hälfte gibt es nur dieses Lagerhaus, einen Kartenzeichner und einen verrückten Kerl, der den ganzen Tag rumhämmert. Natürlich haben wir auch noch den Fleischer und die Kneipe, aber der Fleischer rückt nichts raus und in der Kneipe gibt es wirklich nur Bier, und auch das nicht umsonst. Erst einmal solltest du also die andere Hälfte aufsuchen. Da findest du auch einen Schmied und einen Alchemisten. Wenn du Gold hast, geh zu Fenia oder Halvor, die haben immer ein bisschen da. Wenn du jedoch kein Gold hast, leihst du es dir entweder von Lehmar oder gehst zu Edda. Lehmar nimmt viele Zinsen und setzt seine Schläger auf dich an, wenn du nicht pünktlich zahlst. Du solltest es dir also gut überlegen, wenn du wirklich Geld von ihm haben willst. Deine beste Lösung wird wohl Edda sein. Sie opfert sich für alle anderen Bewohner des Hafenviertels auf und kocht den ganzen Tag für diejenigen, die sonst verhungern würden. Reichen dir diese Informationen?“
    „Natürlich“, erwiderte Cassia zufrieden grinsend. Warum eigentlich nicht gleich so? Naja, Männer mussten nun mal immer den komplizierteren Weg gehen.
    Ihr gefiel es nicht, dass sie schon wieder über den Hauptweg musste und sie bekam das Gefühl sich auf der falschen Hälfte ein Haus gesucht zu haben, aber das war jetzt auch egal. Wie es ihr schien, wusste sie endlich wo sie etwas zu essen herbekommen konnte.
    Sie verabschiedete sich also dankbar von Alrik und machte sich auf den Weg zu Edda.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 18:38 Uhr)

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    Kapitel 9

    Sie lehnte im Schatten einer der vielen Holzhütten des Viertels. Sie setzte auf die undurchdringbare Schwärze dieses Schattens, denn eine kleine Gruppe von Milizsoldaten marschierte soeben an ihr vorbei.
    Sie war wieder an dem breiten Hauptweg und musste sich wieder einmal etwas einfallen lassen, um ungesehen herüberzukommen. Wenn sie sich hier erwischen ließ war schneller die ganze Stadt hinter ihr her als wenn sie nackt auf dem Rathaus tanzen würde. Naja, vielleicht doch nicht…
    Jedenfalls hatte sie schon mal Glück gehabt: Die Gruppe war an ihr vorbei gegangen ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Sie bog ab und war außer Sichtweite. Nun war nur noch Peck am Ende des Weges, der wie üblich Wache hielt.
    Doch Cassia wagte es zu bezweifeln, dass er sie auf diese Entfernung rechtzeitig erkennen würde. Das Risiko wollte sie trotzdem nicht eingehen. Sie hielt sich immer vor Augen, dass der größte Fehler, der ihr geschehen konnte, war, den Feind zu unterschätzen.
    Sie war in dieser Stadt der Barriere des Minentals sehr nahe. Wenn sie hier gefasst wurde, hatte sie vermutlich keine Gelegenheit mehr zu entkommen, bevor sie in dieses endgültige Gefängnis geworfen würde.
    Sie mochte gar nicht daran denken. Damit ihr nicht der gleiche Fehler wie in ihrer Heimat geschah, hatte sie sogar aufgehört zu trinken und zu rauchen. Was vielleicht auch daran liegen konnte, dass sie schlicht und einfach keine Gelegenheit dazu bekommen hatte.
    Und wieder streckte ihr das Glück die Hand hilfsbereit entgegen.
    In diesem Moment ging Peck seine Notdurft verrichten und Cassia huschte flink auf die andere Seite des Hafenviertels. Hier war sie erst einmal gewesen, weshalb sie sich hier mit den Gängen noch weniger auskannte als auf der anderen Seite, wo sie allmählich glaubte sich einigermaßen zurecht zu finden.
    Ihre Instinkte brachten sie urplötzlich in Alarmbereitschaft. Kurz darauf hörte sie wie zwei Schwerter aneinander krachten.
    Cassia lauschte aufmerksam und als der nächste Aufprall erklang war sie sich vollkommen sicher von wo die Kampfgeräusche kamen.
    Sie schlich sich durch die Gänge, unentschlossen, ob sie die Schleuder oder das Schwert bereit halten sollte. Das Schwert war in diesen engen Gängen kaum einzusetzen, doch die Schleuder war nicht sonderlich gefährlich.
    Ehe sie sich entschieden hatte, spähte sie um eine Ecke und sah die in einem kleinen Hinterhof Kämpfenden. Auf der einen Seite, mit dem Rücken zu ihr, kämpfte ein muskulöser Milizsoldat. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte ein Mann Schwierigkeiten seinen Stand zu verteidigen.
    Kein Wunder bei der abgebrochenen Waffe, die er benutzte. Es war Attila.
    Irgendwie fühlte Cassia sich schon schuldig, dass er jetzt in dieser Klemme steckte, denn mit seinem alten Schwert wäre ihm der Kampf deutlich leichter gefallen.
    Cassia seufzte leise und verfluchte ihr gefühlsduseliges Herz, nahm ihre Schleuder in die Hand und zielte. Immerhin hatte sie es nicht versäumt neue Steine zu sammeln. Mehr als diesen einen würde sie aber auch nicht brauchen, da vertraute sie Attila.
    Dieser wurde gerade Schritt für Schritt zurückgedrängt, steckte wahrlich in Schwierigkeiten. Doch schon schoss der rettende Stein an den Kopf des Milizionärs. Dieser hielt einen Moment überrascht inne, wollte sich verdutzt umdrehen. Doch drehen tat sich letztendlich nur sein Kopf als dieser mit einem kraftvollen Hieb von den Schultern gelöst wurde und durch die Luft trudelte.
    Während die beiden Teile des Soldaten zu Boden stürzten und Blut verspritzten sah Atilla sich wachsam um.
    Cassia bewunderte ihn kurz dafür, dass er den Kopf mit einem nahezu stumpfen Schwert mit einem Hieb abgetrennt hatte.
    „Du?“, bemerkte Atilla Cassia, als diese in den kleinen Hinterhof trat.
    „Nicht mal ein Danke?“, konterte Cassia schnippisch, „Außerdem dachte ich, dass du dich bei unserer nächsten Begegnung rächen wolltest. Stattdessen lässt du dich von mir retten!“
    „Ich hätte deine Hilfe nicht gebraucht“, murrte Atilla und grinste schief, „Mit diesem scheiß Schwert hab ich schon zwei dieser Wichtigtuer erledigt. Der hier war lediglich ein wenig hartnäckig.“
    Cassia freute sich insgeheim, dass sie so viel mehr Glück gehabt hatte. Sie war tatsächlich noch keinem der Milizsoldaten begegnet.
    „Was willst du denn noch?“, blaffte Atilla sie an, „Hab keinen Bock, dass die Milizen uns zusammen sehen und noch denken ich würde mit dir gemeinsame Sache machen. Nachher stecken die mich auch noch in die scheiß Barriere.“
    „Mir wird der Diebstahl der Statuette in die Schuhe geschoben, also halt den Rand“, erwiderte Cassia kühl, „Aber wie ich sehe hattest du Schwierigkeiten.“
    „Ja und?“, giftete Atilla, „Meine Rache hab ich nur auf einen unbekannten Zeitpunkt verschoben. Red‘ also nur so weiter, dann kriegst du sie eher als du willst.“
    „Sie kann mir gar nicht früh genug kommen“, stichelte Cassia, „Aber eigentlich wollte ich noch einmal mein Angebot wiederholen. Ich hab das gute Schwert, du kennst dich hier aus. Wir sind beide exzellente Kämpfer und können der Miliz trotzen, wenn wir unsere Kräfte vereinen.“
    „Mal nicht so voreilig“, entgegnete Atilla gelassen und warf das schlechte Schwert weg, „Jetzt habe ich auch wieder ein gutes Schwert!“
    Er bückte sich und hob das Schwert des Milizionärs auf. Es war baugleich mit dem Schwert, das Cassia im Moment benutzte.
    „Du hast dieses Schwert seiner Zeit also auch einem Soldaten aus der Hand gerissen?“, fragte sie.
    „Klar“, erwiderte Atilla lässig.
    „Du hast vorhin gesagt, dass du mit dem schlechten Schwert schon zwei Soldaten erledigt hast. Warum hast du denen nicht ihre Schwerter abgenommen?“
    Atilla lief rot an. Cassia schmunzelte. Irgendwie hatte sie schon geahnt, dass er auch nicht auf mehr Milizen getroffen war als sie.
    „Lassen wir das“, wehrte er ab, „Wir waren bei deinem Angebot stehen geblieben. Ich glaube ich kann für eine kurze Zeit mit dir kooperieren. Du hast mich schließlich im letzten Kampf geschlagen, bist es also würdig. Und das, obwohl du eine Frau bist.“
    Cassia zog eine Augenbraue hoch. Testosteron-Junkie.
    „Sobald ich meine Rache an dir genommen habe, bin ich wieder weg. Aber bis dahin wirst du mich nicht mehr los.“
    „Gut“, erwiderte Cassia, „Und wann willst du deine tolle Rache nehmen?“
    „Wenn ich wieder bei Kräften bin. Ich hab immer noch nichts zu essen bekommen.“
    „Ach? Hatten die beiden Milizionäre, die du erschlagen hast, nichts dabei?“
    „Was?“, schnappte Atilla abermals ertappt, „Ähh… Nein, hatten sie nicht!“
    „Dann gucken wir doch mal, ob der hier was dabei hat!“
    Cassia hatte kaum angefangen zu suchen, da fand sie ein Stück Käse, einen Fisch und den Rest eines Leibes Brot in seinen Taschen. Dazu noch eine Flasche Wasser.
    Kaum hatten sie es gefunden schlugen sie auch schon zu. Es dauerte nicht lange bis sie fertig waren und sich endlich einmal wieder satt zurücklehnen konnten.
    Cassia hatte schon ganz vergessen, wie gut ein voller Magen tat.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 18:44 Uhr)

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    Kapitel 10

    „Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Atilla, nachdem sie sich eine Weile faul hingesetzt hatten, um das Essen zu verdauen.
    „Irgendwohin, wo wir nicht entdeckt werden“, antwortete Cassia als wäre das selbstverständlich, „Wir brauchen eine Art Unterschlupf!“
    „Pah“, machte Atilla, „Wir werden mit den Kerlen schon fertig und mal ganz abgesehen davon, gibt es so einen Ort nicht in diesem Viertel.“
    „Wies sollte es hier keine guten Verstecke geben?“, fragte Cassia, beinahe sauer darüber, wie lustlos Atilla über dieses elementare Thema redete.
    „Weil es so ist. Die Miliz geht kreuz und quer durch die Gassen des Hafenviertels und durchsucht alle Häuser. Nur der großen Vielzahl an kleinen Gassen haben wir es zu verdanken nicht ununterbrochen auf der Flucht zu sein. Das Hafenviertel ist wie ein Labyrinth. Aber wenn du dich hier auskennst, gewinnst du jede Verfolgungsjagd.“
    „Und wo gehen wir dann jetzt deiner Meinung nach hin?“
    „Weiß nicht. Wohin wolltest du, als du mich gefunden hast?“
    „Zu Edda. Man hat mir gesagt, dass sie Essen an diejenigen austeilt, die es brauchen. Aber jetzt haben wir schon etwas gegessen.“
    Plötzlich spitzten sich ihre Sinne. Atilla sprang leise auf, hatte ebenfalls etwas bemerkt.
    Cassia tat es ihm schnell gleich. Jemand kam durch die Gassen. Ohne ein Geräusch zu verursachen zog Atilla sein Schwert. Perfekt leise, eine Fähigkeit, um die ihn jeder Meuchelmörder beneiden würde.
    Und dann kam einer um die Ecke. Ein Milizsoldat.
    Atillas Klinge sauste todbringend hinunter, traf den Mann an der Schulter. Blutend fiel er zu Boden, doch noch bevor Atilla ihm den Gnadenstoß versetzen konnte, schoss ein Feuerball auf ihn zu, dem er nur knapp entrinnen konnte.
    „Was war das?“, keuchte Atilla entsetzt. Cassia hatte ihr Schwert gezogen: „Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind wir direkt an Agleon geraten!“
    Atillas Augen verengten sich, er fletschte sogar leicht seine Zähne: „Agleon…“
    Ein Feuermagier war mit aufgeladenem Feuerball aus der Gasse getreten.
    Er hatte langes weißes Haar, das ihm über seine prachtvolle rote Robe hinabfiel. Seine Augen strahlten einen unglaublichen Zorn aus, als er die beiden erblickte.
    „Cassia, die gestern entflohene Diebin von den südlichen Inseln“, sprach der Magier leise, „Und Atilla, hier schon für so manche Straftat verantwortlich gemacht, jedoch nie geschnappt worden. Ihr kooperiert nun also?“
    „Das kannst du Beliar fragen, wenn ich dich zu ihm geschickt habe!“, schrie Atilla und sprang mit einem riesigen Satz nach vorn. Sein Schwert schnellte im Sonnenlicht kurz aufblitzend auf den ungeschützten Hals des Magiers zu.
    Doch plötzlich wurde Atilla von einem Feuerball erfasst und mitgerissen. Ächzend schlug er am Boden neben Cassia auf, sein Schwert war ihm aus der Hand gefallen und knapp hinter ihm gelandet.
    Dort wo der Feuerball seinen Oberkörper erwischt hatte, war die komplette Kleidung weg gebrannt. Die Statuette, die dort in einer Tasche gelagert worden war, fiel heraus und kullerte über die verbrannten Stellen von Atillas Körper.
    Agleon wirkte nun im höchsten Grade entsetzt. „Du räudiger Hund hast es also gewagt Hand an dieses heilige Zeichen der Verbundenheit zu legen? Dafür wirst du büßen!“
    Schnell schnappte Atilla die Statuette und verstaute sie in einer anderen Tasche. Dann griff er sein Schwert und richtete sich wieder kampfbereit auf.
    Die nackte Haut seines Oberkörpers war rot und schwoll an. Von seinem schmutzigen Hemd und der dünnen Jacke war nicht viel mehr übrig als der Teil am Rücken.
    Ein Glimmen glühte in Atillas Augen. Cassia wusste nicht, was sie tun sollten. Dem Magier waren sie womöglich unterlegen, doch würde Atilla es akzeptieren wegzurennen? Und wollte sie selbst sich das überhaupt bieten lassen?
    „Ihr werdet beide in die Barriere des Minentals geworfen werden um dort für den Rest eures Lebens für eure Verbrechen zu büßen!“, verkündete Agleon und plötzlich traten aus jedem der vier Gänge, die in diesen beengenden Hof mündeten, ein Milizsoldat mit gezücktem Schwert heraus.
    „Ich brauch eine Pause“, keuchte Atilla Cassia zu.
    Wao, der kann ja auch mal seine Schwächen zeigen, dachte Cassia, war jedoch ganz froh darüber. Andererseits zeigte dies auch wie schlimm es ihn wirklich erwischte hatte.
    „Hinten rechts?“
    „Okay!“
    Cassia wirbelte herum und griff den Soldaten an, der den Weg hinter ihnen versperrte. Doch das war nur ein Ablenkungsmanöver, denn Atilla war schon von links heran geschlichen und stach dem Mann nun kaltblütig das lange Schwert durch den Magen.
    Ohne sich noch einmal umzusehen rannten die beiden in den engen Gang. Hinter ihnen hörten sie wie die Soldaten umherrannten. Dann schoss ein Feuerball über ihre Köpfe hinweg: Agleon war nur wenige Meter hinter ihnen.
    Hier hatten sie keine Chance seinen Projektilen auszuweichen, weshalb Cassia in eine andere Gasse abbog. Ein Milizsoldat stand ihr fies grinsend im Weg. Breit genug um an ihm vorbeizukommen war die Gasse bei weitem nicht, weshalb Cassia schnell sein musste.
    Sie tötete ihn mit dem ersten Streich und trampelte dann über seine Leiche hinweg. Atilla war ihr dicht auf den Fersen, doch auch Agleon bog nun in diese Seitengasse ein, einen Feuerball bereit in der Handfläche.
    Wieder bogen Cassia und Atilla ab, dieses Mal war der Gang leer.
    Plötzlich hörten sie das Rauschen eines Feuerballs hinter ihr. Viel schneller als sie damit gerechnet hatte, war Agleon um die Ecke gerannt und hatte die verheerende Feuerkugel abgeschossen.
    Entsetzt warf sie einen Blick nach hinten. Es gab keinen Platz um auszuweichen. Doch plötzlich fuhr ein Ruck durch ihren Körper. Sie kippte seitlich in einen Hütteneingang und der Feuerball verfehlte sie um Haaresbreite.
    Atilla stand keuchend neben ihr. Er hatte sie hier herein gezerrt.
    Erst wollte sie ihm danken, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie hier in der Falle saßen.
    „Wir sitzen hier in der Falle“, bemerkte Atilla ironischerweise, „Draußen würden wir sofort von dem Feuerball gegrillt werden…“
    „…und hier drin können wir nur darauf warten, dass Agleon zu uns kommt. Der Kampf ist nun unumgänglich“, vollendete Cassia die Ausführung Atillas.
    Atilla beeilte sich seinen Oberkörper frei von den letzten Fetzen Kleidung zu machen, die ihn beim Kampf sicher nur behindert hätten.
    Ein Knistern und Knacken war nun zu hören. Erst war es nur leise, doch dann wurde es immer lauter und allumfassender.
    „Die Hütte brennt!“, schrie Atilla und Cassia musste ihm zustimmen. Feuer fraß sich durch die dünnen Bretterwände und in dem lichterloh brennendem Eingang stand Agleon.
    „Jetzt sitzt ihr in der Falle, Gesocks!“, warf er ihnen entgegen. Ein neuer Feuerball entfaltete sich in seinen Händen.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:38 Uhr)

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    Kapitel 11

    Jetzt durften sie nicht zögern. Agleon stand da, würde sie jeden Moment rösten, wenn sie nicht vorher von dem einstürzenden Dach erschlagen wurden.
    Seite an Seite griffen Cassia und Atilla an. Doch Agleon ließ sein Feuer den Boden zwischen ihm und seinen Opfern zerfressen und hoch auflodern. Die Feuerwand war für Cassia und Atilla undurchdringlich.
    „Was machen wir jetzt?“, fragte Cassia, der der Schweiß schon längst über den Körper strömte.
    „Ich hab keine Ahnung“, erwiderte Atilla, dessen nackter Oberkörper vor Schweiß glänzte.
    Gehässig grinsend sah Agleon ihnen dabei zu wie sie verzweifelt Schutz vor den immer näher kommenden Flammen suchten.
    Ein Brett brach aus der Decke und krachte Funken versprühend zu Boden. Überall waren Flammen.
    Da packte Atilla Cassia um die Taille und riss sie mit sich.
    Cassias Denken wurde weggebrannt. Zu heiß war es.
    Kalte Luft schlug ihrem Körper entgegen, sie rang nach Luft. Ein lautes Krachen brachte sie wieder zur Besinnung. Sie schlug die Augen auf. Ihr ganzer Körper schmerzte. Atilla lag bewusstlos neben ihr am Boden.
    Aber sie hatten es irgendwie geschafft aus der Hütte zu entkommen, die nun als ein brennender Haufen Holz vor ihnen lag. Cassia begriff langsam, dass Atilla sie gepackt hatte und dann mit ihr durch die brennende Rückwand des Hauses gesprungen war.
    Kokelnde Holzsplitter lagen hier noch überall verteilt. An ihrem Körper flammten überall rote Brandwunden auf. Und um das brennende Haus herum, kam Agleon auf sie zu.
    Er lächelte nicht mehr.
    „Warum sträubt ihr euch so dagegen noch einmal von Nutzen sein zu können? Warum wählt ihr lieber den sicheren Tod als ein Leben unter euresgleichen in der Strafkolonie?“
    „Halt den Rand, du Pseudo-Prediger“, fauchte Cassia und erhob sich. Innos sei Dank hatte sie ihr Schwert noch in der Hand. Sie erinnerte sich noch dunkel daran, dass sie sich in der brennenden Hütte an es geklammert hatte, als könne es ihr helfen.
    Doch letztendlich war es Atilla gewesen der ihr geholfen hatte. Und der lag nun regungslos hinter ihr. Dass er bewusstlos war, hoffte sie nur. Sein ganzer Oberkörper war rot und auch seine Hose offenbarte durch Brandlöcher wunde Stellen.
    Er hatte sie eben gerettet, jetzt war sie dran ihn zu retten. Schließlich hatten sie ein Bündnis geschlossen. Zehn Meter trennten sie von dem fies grinsenden Feuermagier.
    Cassia hatte seine Visage satt. Jetzt ging es dem Kerl ans Leder!
    Und sie stürmte los. Kaum hatte sie einen Schritt getan, kam ihr schon der erste Feuerball entgegen, dem sie mit einem Seitwärtsschritt auswich, auch an dem nächsten Feuerball kam sie um Haaresbreite vorbei.
    Agleon konnte nur mit immer größer werdenden Augen zusehen wie Cassia immer näher kam, einem Feuerball nach dem anderen auswich. Sie war schon immer flink gewesen. Und heute würde Agleon dank dieser Flinkheit sterben.
    Der letzte Feuerball rauschte an ihrem Ohr vorbei. Sie war kurz vor ihm. Cassia griff auch mit der zweiten Hand nach ihrem Schwert um auch ja genug Kraft zu haben – dann riss sie ihre Waffe hoch.
    Das Schwert schnitt durch die Robe und den dahinterliegenden Körper wie durch Butter und teilte das Kinn des entsetzt wirkenden Mannes. Er kippte nach hinten, stieß ein letztes gurgelndes Geräusch aus, bevor er von dem immer noch brennenden Haus verschlungen wurde.
    Cassia keuchte und konnte ihre Augen nicht von dem schwärzer werdenden Körper losreißen. Plötzlich machte sich Erschöpfung in ihrem Körper breit. Ihre Knie zitterten und ihre Hände schafften es gerade noch das Schwert wieder an ihrer Hüfte fest zu machen.
    Sie torkelte zu Atilla hinüber und ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. Sein Köper wurde von den Flammen schaurig beschienen, vor allem da der Himmel sich in den letzten Minuten verdunkelt hatte und kaum noch Licht hergab.
    Nach einigen Sekunden legte Cassia zwei ihrer Finger an den Hals ihres Gefährten. Hoffentlich lebte er noch.
    Sie hätte vielleicht einen freudigen Schrei ausgestoßen, als sie den Puls fühlte, doch dazu war sie zu erschöpft.
    Die Brandwunden mussten behandelt werden, doch wer würde ihnen schon helfen? Sie kannte hier doch keinen! Da kam ihr Edda wieder in den Sinn. Wenn sie sich schon für die Besitzlosen so aufopferte, würde sie sicher auch Verletzten helfen.
    Cassia hievte einen der Arme des Mannes über ihre Schulter und obwohl ihr das Gewicht des kräftigen Körpers fast das Rückgrat brach, entfuhr ihr kein Wort des Leidens.
    Sie schleppte sich so Meter für Meter durch die Gassen, hörte noch wie ein paar Milizionäre bei dem Feuer ankamen und nach ihrem Agleon schrien. Cassia war das nur recht. Wenn sich nun alle beim Feuer versammelten, konnten sie ihnen wenigstens nicht in die Quere kommen.
    Inzwischen war die Rauchfahne schon in beachtliche Ferne gerückt. Hatte sie den schweren Mann wirklich schon so weit geschleppt? Warum war sie eigentlich so in Sorge um ihn? Sie kannte ihn doch kaum. Es war doch nur ein Zweckbündnis gewesen.
    Aber irgendwas in ihr war dem Mann unendlich dankbar dafür, dass er sie aus dem brennenden Haus befreit hatte. Sie waren zwar inzwischen quitt, doch genau wie sie sich auf ihn, sollte er sich auf sie verlassen können. Immerhin war er ihr Partner.
    Als sie nach rechts bog, stieg ihr der Geruch einer leckeren Fischsuppe in die Nase. Sie sah eine dunkle Frau, die tief über einen großen Kessel gebeugt mit kräftigen Schlenkern darin herum rührte. Sie trug ein Kleid, das einst himmelblau und sehr schön gewesen sein musste, doch wie alles in diesem Viertel war es mit der Zeit dreckig und bräunlich geworden.
    Cassia ging langsam auf sie zu – schnell ging mit Atilla auch nicht.
    Die Frau blickte auf, als sie aus der Gasse heraustraten.
    „Bist du Edda?“, fragte Cassia hoffnungsvoll. Ihre Stimme war brüchig. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seit dem Kampf mit den Flammen entsetzlichen Durst hatte.
    „Ja, bin ich. Was ist passiert?“, antwortete die Frau und kam eilig herbei um den Verletzten mit zu stützen.
    In Cassias Hirn fingen ihre arg in Mitleidenschaft gezogenen Denkapparate wieder an zu rattern. Was sollte sie Edda antworten? Sie konnte ihr schlecht sagen, dass sie von Agleon zu dessen Lebzeiten gejagt worden waren und ihn soeben umgebracht hatten.
    „Die Verbrennungen sehen schlimm aus“, bemerkte Edda, griff in ihre Tasche und holte eine kleine Dose mit einer grünen Paste heraus, die aussah als wären einfach wahllos ein paar Gräser in ihr zerstampft worden.
    „Das müssen wir auf die Wunden schmieren, damit sie schneller verheilen. Es wird zwar alles dabei draufgehen, aber macht euch keine Sorgen, die Bestandteile der Paste sind nicht grade schwer zu bekommen“, erklärte sie und tunkte ihre Finger in die Dose. Dann hielt sie sie auch Cassia hin.
    Diese zögerte erst die Pampe anzufassen, doch dann tunkte auch sie ihre Finger beherzt ein.
    Gemeinsam rieben sie Atillas geschundenen Körper ein.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 18:45 Uhr)

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    Kapitel 12

    Regen hatte eingesetzt. Traurig plätscherte er herab und ließ das Feuer in weiter Ferne zu einer dicken Rauchsäule werden. Gewiss hatten die Milizsoldaten dabei tatkräftig mitgeholfen.
    „Du bist ja auch ganz verbrannt!“
    „Ähh…was?“, schreckte Cassia aus ihren Gedanken hoch.
    „Keine Sorge, ein bisschen Salbe ist noch übrig“, meinte Edda und kratzte das letzte bisschen aus der Dose und strich es auf Cassias wunden Stellen.
    „Ihr habt sicher auch Hunger und Durst, hab ich recht?“, fragte die nette Frau nun und schlenderte wieder zu ihrem Kessel hinüber, der genau wie sie selbst durch eine Plane vor dem Regen beschützt wurde.
    Cassia musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Durst verspürte sie schon länger, doch obwohl sie sich grade mal vor zwei Stunden an den Sachen des Milizionärs gelabt hatten, empfand sie schon wieder mächtigen Hunger.
    „Fast fertig“, sagte Edda mehr zu sich selbst als zu ihren Gästen, „Was ist euch denn nun eigentlich passiert? Hat bestimmt etwas mit der brennenden Hütte dort hinten zu tun, oder?“
    Cassia schluckte heftig, dann ließ sie sich schnell etwas einfallen: „Ja, genau, mein Freund hat eine Kerze umgekippt und dann ging alles plötzlich ganz schnell. Auf einmal stand die ganze Hütte in Brand, er hat die Wand durchbrochen und mich dabei mit sich gerissen.“
    „Du scheinst ihm viel zu bedeuten, wenn er sich so um dich gesorgt hat“, bemerkte Edda beiläufig.
    „Was? Nein, so ist das nicht, wir…“, wehrte Cassia ab, doch Edda unterbrach sie, indem sie ihr eine Flasche Wasser hinhielt.
    Dankend nahm Cassia sie entgegen und nahm ein paar kräftige Schlucke. Den Rest stellte sie neben Atillas Kopf. Das sollte für ihn sein, wenn er aufwachte.
    Cassia begann sich allmählich zu fragen, ob die Steckbriefe hier im Hafenviertel überhaupt die Runde machten. Weder Alrik noch Edda hatten sie offensichtlich erkannt.
    Plötzlich regte sich etwas in ihren Augenwinkeln. Schnell wandte sie sich um, konnte aber erfreut feststellen, dass es nur Atilla war, der langsam die Augen öffnete und schon die ersten Versuchte machte sich aufzurichten.
    „Die Hütte… haben wir es geschafft? …wo ist Agleon?“, murmelte er, während er mit einer Hand gegen seine Stirn drückte, als würde diese Schmerzen.
    „Wo bin ich?“, war das nächste was er fragte, kurz nachdem er sich verwirrt umgesehen hatte.
    „Edda hat uns geholfen. Sie hat auch deine Wunden behandelt so gut es ging“, klärte Cassia ihn auf und wies auf die Wasserflasche, „Kannst du austrinken.“
    Ohne eine Erwiderung nahm er die Flasche und setzte sie an. Cassia meinte zu sehen, dass er dabei Edda taxierte, als wolle er sie als eine Gefahr enttarnen.
    Doch diese rührte nur in ihrem Topf und zog nun die prallgefüllte, riesige Kelle daraus hervor. Platschend ließ sie die warme Fischsuppe in eine Schale fallen und ließ einen brüchig aussehenden Holzlöffel hineinfallen: „Willst du schon ein bisschen Suppe?“,
    Atilla schüttelte müde mit dem Kopf, nachdem er die leere Flasche wieder auf den Boden gestellt hatte.
    „Dann nimm du sie“, schlug Edda vor und hielt sie Cassia hin, die kurz darauf damit beschäftigt war die Suppe gierig zu verschlingen.
    Währenddessen stand Atilla auf und lief ein wenig umher.
    Cassia hatte zwar nicht das Gefühl, dass er das schon tun sollte, doch es würde ihn sicher nicht wieder auf den Boden bringen, wenn sie dies aussprach.
    Doch plötzlich hörte sie lautes Waffengeklirr aus Richtung des Hafenbeckens kommen. Cassia verschluckte sich und hustete die Suppe aus, stand hastig auf, wobei sie die Schale zu Boden fallen ließ.
    „Was ist los?“, fragte Edda total verdattert.
    „Danke!“, rief Cassia ihr zu und packte Atilla am Arm.
    „Da kommen Soldaten, wir müssen weg!“, zischte sie ihm ins Ohr.
    „Wo ist mein Schwert?“, erwiderte dieser.
    Cassia wurde schwer zumute. „Das… Das muss noch irgendwo bei der niedergebrannten Hütte liegen, ich hab es nicht mitgenommen.“
    Zornig funkelte Atilla sie an, dann zerrte er sie weiter. „Es ist deine Schuld, wenn wir jetzt gefasst werden!“
    Cassia tat Edda im Moment mehr leid. Die Frau sah ihnen ganz verstört hinterher, wie unhöflich und plötzlich sie einen Abgang machten, doch da bog auch schon ein Soldat um die Ecke, erblickte sie und rannte auf sie zu.
    „Schnell!“, schrie Cassia und rannte Atilla mit sich ziehend in die nächstbeste Gasse.
    Es war echt unmöglich wie sie hier von einer Gefahr in die nächste schlitterten. Insgesamt waren es drei Milizionäre, die sie verfolgten und ihnen immer näher kamen. Atilla konnte noch nicht wieder so schnell.
    Cassia fasste einen Entschluss, stieß ihn in die nächste Gasse, wirbelte herum und zog ihr Schwert: „Renn weg! Ich schaff das schon!“
    Ohne eine Antwort rannte er weiter. Cassia war bewusst, dass Atilla ohne eine Waffe Freiwild für die Soldaten war und sie ihm das eingebrockt hatte. Hiermit wollte sie das wieder gut machen.
    Dank der schmalen Verhältnisse konnte hier sowieso nur ein Milizsoldat auf einmal gegen sie kämpfen. Plötzlich schoss jedoch nicht nur von vorne, sondern auch von links einer auf sie zu. Sie zog sich weiter in den Gang zurück, um mitten auf der kleinen Kreuzung keine allzu große Angriffsfläche zu bieten.
    Erschrocken stellte sie fest, dass nun auch von hinten einer von ihnen angetrabt kam. Cassia war sich nicht sicher wie sie diesen Kampf schaffen sollte. Dann tropfte ein wenig Wasser auf ihre Nasenspitze und sie sah auf, zu dem Ende des Daches, von dem der Tropfen gefallen war.
    Flink griff sie über sich nach den beiden Kanten der nebeneinander stehenden Häuser und zog sich hoch. Sie konnte nur hoffen, dass keines der Dächer brach als sie durch die beginnende Abenddämmerung von Dach zu Dach hüpfte.
    Unter ihr rannten schreiende Milizsoldaten umher. Keiner von ihnen schaffte es mit ihren schweren Rüstungen aufs Dach, was Cassia geradezu übermütig in die Schluchten zwischen den Hütten schauen ließ.
    Sie suchte Atilla, konnte ihn jedoch nirgends… Da! Er stand mit dem Rücken zur Wand in einer Sackgasse, vor ihm ein bedrohlich wirkender Soldat.
    Schnell nahm Cassia es mit der Entfernung auf, überwand sie und landete katzengleich hinter dem Soldaten. Als dieser sich umwandte bekam er ihr Schwert zu spüren.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 18:46 Uhr)

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    Kapitel 13

    Hastig rannten sie weiter durch die Gänge. Noch einer dieser dummen Milizionäre stürzte ihnen aus einem Seitengang in den Weg. Ein kurzer Schlagabtausch – schon lag er am Boden.
    Atilla hatte sich inzwischen ein Schwert von einem der besiegten Milizen besorgt. Trotzdem hatte Cassia kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie ahnte allmählich, dass die Soldaten sie einkreisten, um sie herum schwärmten wie die Fliegen um die verkohlte Leiche Agleons.
    Doch wie viel wussten die Soldaten überhaupt von der Auseinandersetzung mit diesem?
    Für solche Überlegungen war gerade reichlich wenig Zeit, sie mussten schnell ein Versteck finden, wenn sie nicht noch den gesamten Bestand der Kaserne niedermetzeln wollten.
    Sie hörten wie zwei Soldaten sich über die Dächer hinweg Anweisungen zuriefen. Bald würden sie wieder auf zwei von ihnen treffen…

    Verwirrt stellte Cassia fest, dass sie am Boden einer Hütte lag, Atilla neben ihr.
    Vor ihnen war ein recht kleiner Mann damit beschäftigt eine Art Eingang sorgfältig zu verschließen.
    Düster erinnerte sie sich daran, wie sie plötzlich jemand am Arm gepackt und zur Seite weggezogen hatte.
    Doch dort, wo sie in die Hütte gelangt waren, war nun keinerlei Öffnung mehr zu erkennen. Es war eine schlichte Holzwand.
    Stürmisch trampelten zwei Soldaten vorbei. Der kleine Mann grinste und offenbarte dabei angegraute Zähne. Sein Haar war kurz und stand in alle Richtungen ab, sein Bart war bis auf ein paar wenige Bartstoppeln perfekt rasiert und seine Augen ruhten aufmerksam auf seinen Gästen.
    „Raffiniert, nicht wahr?“, begann der Mann zu sprechen, als er Cassias verblüfften Blick bemerkte, „Oben sind seitlich durch die Bretter ein paar lange Nägel gehauen worden, so dass man sie nach innen aufklappen kann. Schiebe ich jetzt von innen den Holzbalken vor, gibt es keinen Eingang mehr und von draußen sieht das hier aus wie eine ganz normale Hütte ohne Tür.“
    Cassia war sprachlos wie selbstverständlich er sie ohne viel Federlesen in seine Hütte gezerrt hatte und ihnen als erstes erklärte wie genial seine Konstruktion war.
    Atilla nahm das nicht so ruhig hin. „Ganz normale Hütte ohne Tür“, äffte er den Mann nach, „Welche normale Hütte hat denn bitteschön keine Tür?! Das ist eine Schnapsidee! Bald werden die Milizen das auch bemerken und dann sitzen wir hier drin in der Falle! Stell dir mal vor die stecken die Hütte an!“
    Cassia musste ihm in manchen Punkten recht geben. Der Kampf gegen Agleon, der erst wenige Stunden her war, steckte auch ihr noch in den Knochen.
    „Beruhig dich mal“, erwiderte der Mann und hob beschwichtigend die Hände, „Wer von denen macht sich schon die Mühe aufmerksam um eine Hütte herumzulaufen? Eben. Gar keiner. Ich konnte mich hier schon immer gut verstecken.“
    Argwöhnisch beäugte Atilla ihn. Cassia entschied sich nun endlich erst mal aufzustehen.
    „Ich bin Jesper und ihr dürftet Cassia und Atilla sein, das meistgesuchteste Duo der Stadt“, fuhr Jesper fort, „Genau wie ihr hab auch ich keine ganz weiße Weste mehr, weshalb ich es einst für praktisch hielt meine Hütte ein wenig zu verbessern.“
    Er ging zu einer Kiste hinüber und hob den Deckel ab. Dort drin war alles Mögliche: Ein Fetzen Pergament, ein Messer, ein brauner Apfel, ein Dietrich und…
    „Hier, sieht aus als könntest du das gebrauchen.“
    Er hielt Atilla ein nur leicht schmutziges Hemd hin.
    „Danke“, meinte Atilla mürrisch und zog sich das Hemd über seinen wunden Oberkörper. Es passte ihm, obwohl er einen Kopf größer war als Jesper.
    Cassia hielt es für richtig, jetzt endlich zu erfahren, was das alles sollte: „Warum hast du uns gerettet? Dir sollte klar sein, dass das Ärger mit der Miliz mit sich ziehen könnte, oder?“
    Jesper ließ den Deckel wieder auf die Kiste sinken und setzte sich dann darauf. „Wie gesagt, auch ich habe meine Probleme mit der Miliz. Auf meinen Kopf sind zwar nur hundert Goldstücke ausgesetzt, aber welcher Soldat würde sich das Gold schon durch die Lappen gehen lassen, wenn er mich wiedererkennt?“
    „Keiner“, antwortete Cassia ihm schnell, damit er weiter erzählte.
    „Siehst du? Leider muss ich zugeben, dass ich neben meiner Spezialisierung auf den Griff in fremde Taschen und das Knacken aller Arten von Schlössern keine Zeit mehr hatte den Umgang mit dem Schwert zu üben. Ich führe zwar einen verdammt guten Degen, bin aber nicht sehr geschickt im Umgang mit ihm.“
    „Und da es hier im Moment nur so von feindlichen Männern wimmelt, dachtest du, dass du ein paar starke Verbündete gut gebrauchen könntest?“, Cassia war ein Licht aufgegangen.
    Jesper sah mit seinen hellblauen ruhigen Augen in die Ihren und lächelte: „Genau das war mein Plan. Ihr sorgt dafür, dass die Miliz mich nicht in die Finger kriegt, und ihr dürft im Gegenzug dieses geradezu perfekte Versteck mitbenutzen.“
    Für Cassia war die Sache klar, doch ehe sie etwas sagen konnte, gab Atilla seine Sicht der Dinge zum Besten: „Wir könnten dich auch einfach hier und jetzt umbringen und dann dieses Versteck benutzen.“
    Jesper rutschte mit erstarrtem Blick von der Kiste. Mit dieser Lösung hatte er offensichtlich nicht gerechnet. „Ihr… Ihr wollt doch nicht etwa…“
    „Nun ja…“, mischte Cassia sich wieder ein, „Du solltest schon dafür sorgen, dass du auch ein wirklich gutes Angebot zu machen hast, bevor du mit zwei Schwerverbrechern wie uns in Kontakt trittst.“
    Cassia genoss den Anblick wie Jespers Poren eine Überdosis Schweiß ausspien.
    „Doch wir wissen es zu schätzen, dass du uns eben gerettet hast“, erlöste Cassia Jesper mit einem Lächeln, „Abgemacht!“
    Jesper griff sich an die Brust und sackte wieder auf die Kiste zurück. „Einen Moment dachte ich echt ihr wollt… naja, ich hab hier nur drei dünne Decken, das muss zum Schlafen reichen.“
    „Wir sind keine Himmelbetten gewohnt“, blaffte Atilla ihn an und ließ sich auf einen knarzenden Hocker fallen.
    Cassia hatte das bestimmte Gefühl, dass Atilla tatsächlich vorgehabt hatte Jesper umzubringen. Doch das entsprach ganz sicher nicht Cassias Art. Sie tötete nur, um ihre Freiheit oder ihr Leben zu retten, für andere Zwecke war ihr dieses Mittel nun wirklich zu krass. Denn obwohl sie schon vielfach gemordet hatte, hatte sie so etwas wie Ideale. Eines davon war ganz klar einen Retter nicht umzubringen.
    Und ehrlich gesagt gefiel ihr dieser Retter. Er war zwar nur hundert Gold wert, ein kleiner Fisch also, doch seine logische Denkweise wusste zu gefallen.
    Sie waren nun also zu dritt. Zu dritt auf der Flucht vor der Miliz.
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    Kapitel 14

    Die Stille der Nacht hatte sich über die Hütten des Hafenviertels gesenkt und nur in der Kneipe und in der roten Laterne spürte man noch, dass das Viertel bewohnt war.
    Cassia lag in der Mitte des Raumes in ihre dünne Decke gewickelt und starrte auf den sichtbaren Teil von Jespers Rücken. Er war einigermaßen muskulös, auch wenn das nichts gegen den von Atilla war.
    Der lag in ihrem Rücken an der Wand in seinem neuen Hemd und schnarchte, dass sich die Balken bogen. Doch da schlug er die Augen auf und setzte sich langsam hin.
    Cassia wandte sich zu ihm um und blickte ihn fragend an. Taten seine Wunden wieder weh? Ihre eigenen waren längst nicht so schlimm wie die seinen, doch auch ihre brannten immer noch.
    Atilla gab ihr nur in einer weitaus vulgäreren Wortwahl zu verstehen, dass er seine Notdurft verrichten wollte. Er schob den Riegel beiseite und klappte ein paar Bretter in den Raum, um dann durch den kleinen Spalt ins Freie zu schlüpfen.
    Cassia fröstelte wegen der kalten Luft, die reinzog und wickelte die Decke eng um ihre Schultern. Dann wandte sie sich wieder Jesper zu und musste feststellen, dass er wach geworden war.
    „Was will er?“, fragte er ein Gähnen unterdrückend.
    Unmissverständlich drang das plätschernde Geräusch, das Atilla gerade verursachte durch die dünnen Holzbretter.
    „Achso“, erwiderte Jesper und legte sich wieder hin. Jesper hatte sein dünnes Hemd im Gegensatz zu Atilla ausgezogen. Er hatte gemeint, dass es ihn eh nicht viel gegen die Kälte helfen würde und so nicht so schnell stank.
    Wieder eine Einstellung, die Cassia nur allzu gut fand. Sie selbst hatte in ihrer Höhle in ihrer Heimat auch immer mit so wenig wie möglich am Körper geschlafen. Doch hier, zwischen den Männern wollte sie das tunlichst vermeiden.
    Jesper hatte seine hellblauen Augen wieder hinter seinen Lidern versteckt.
    Und Cassia tat es ich gleich.

    Der nächste Morgen brach an. Schläfrig grüßten die drei sich.
    „Wir haben gestern mein letztes Essen verputzt. Überlegt schon mal wie wir an neues rankommen, während ich mich mal erfrischen gehe“, Jesper war schon beinahe putzmunter. Ein echter Frühaufsteher, während Atilla dagegen ein echter Morgenmuffel zu sein schien.
    „Bleib liegen“, meinte Cassia zu ihm, „Ich geh und hol uns was.“
    Sie hatte das Gefühl, dass Atilla, der schmatzend wieder eingeschlafen war, sie gar nicht gehört hatte, doch sie verließ die Hütte trotzdem durch den merkwürdigen Eingang.
    Sie lief den Weg zu Edda heute um einiges wachsamer entlang als gestern, als sie Atilla auf dem Rücken gehabt hatte und an Sicherheitsvorkehrungen gar keinen Gedanken verschwendet hatte. Nachdem sie einem den Weg kreuzenden Milizen erfolgreich ausgewichen war, kamen Edda und ihr Kessel endlich in Sicht. Dich irgendetwas stimmte nicht.
    Edda ließ mit einem Platschen ihren Kochlöffel in die Suppe fallen, als sie Cassia kommen sah. Sie schüttelte den Kopf als könne sie es nicht fassen.
    Und als Cassia aus der Gasse heraustrat wusste sie auch warum: Ein halbes Dutzend Soldaten stürmte auf sie los. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte zurück in die Gasse – doch die war von einem Berg Kisten versperrt worden.
    Da hatten die Milizen mal ganze Arbeit geleistet, dachte sie sich und schmiss sich mit voller Kraft gegen den Kistenstapel. Nichts rührte sich und direkt hinter ihr holte ein Soldat zum Schlag aus, während sie noch nicht einmal ihr Schwert gezogen hatte.
    Flink zog sie sich wieder auf die Dächer hoch, froh, dass das ein Weg war, den die Miliz ihr schwerlich versperren konnte.
    Schnell zog sie ihr Schwert… ließ es jedoch wieder fallen, als ein Bolzen sich in ihr Handgelenk bohrte. Sie schrie auf, warf sich auf die Knie um dem Schwert hinterherzukommen, doch es war zu spät. Ihre einzige Waffe war in den Abgrund gerauscht.
    Einzige Waffe? Nein! Sie hatte noch ihre Schleuder, und obwohl sie nicht wusste was diese bringen sollte, nahm sie sie in ihre schmerzende Hand.
    Inzwischen hatte sie drei Armbrustschützen der Miliz ausgemacht, die sie genau beobachteten. Töten wollten sie offensichtlich nicht, sonst hätten sie es schon getan. Es war ihnen wohl wichtig sie als Buddlerin in der Minenkolonie zu haben.
    Cassias Blick wanderte hektisch über die Dächer. Welches gehörte zu Jespers Hütte? Sie brauchte dringend Hilfe, Blut quoll aus ihrem Handgelenk. Ihr Atem blieb fast stehen, als sie sah wie Milizsoldaten eine aus den Kisten gebaute Treppe empor stiegen und auf die Dächer traten.
    Fast im selben Moment spritzte wieder Blut durch die Luft. Ein Bolzen hatte ihren Knöchel gestreift.
    Sie hatte schlicht keine andere Wahl. Sie rannte. Hoffte, dass die Bolzen sie verfehlten, dass sie irgendwo untertauchen konnte, dass Atilla und Jesper ihr zur Hilfe kamen. Mit einem gewagten Sprung tauchte sie wieder in die Gassen ein, um nicht mehr von den Bolzen getroffen werden zu können.
    Plötzlich überquerte sie den breiten Hauptweg des Hafenviertels, doch es scherte sie nicht. Sie musste einfach so weit wie möglich von den Soldaten weg kommen.
    Plötzlich bog einer hinter ihr in ihre Gasse ein. Sie versuchte noch schneller zu rennen, merkte jedoch schnell, dass sie ihr Maximum erreicht hatte. Zudem schmerzte die Wunde an ihrem Knöchel noch und verließ zusammen mit der am Handgelenk in unregelmäßigen Abständen Blutflecken.
    Der Soldat hinter ihr holte auf, doch da kam ein Gehege voller Schafe in Sicht. Der Fleischer hatte sich Nachschub von den Bauern geholt. Mit einem riesigen Satz sprang Cassia über den Zaun und riss dabei wie Ramirez vor wenigen Tagen die Bretter mit sich.
    Aufgeschreckt hüpften die Schafe umher, verwirrten den Soldaten und gaben ihr die Chance zur Flucht.
    Noch ein Soldat tauchte links von ihr auf. Schnell wechselte sie den Weg rannte auf einen hellen Ausschnitt Meer zu. Als sie aus der Anhäufung aneinander gedrängter Hütten herausplatzte riss sie einen Mann um, der soweit sie das mitbekommen hatte seine Karten feil bot.
    Ein entsetzter Blick nach links ließ sie die Meute Soldaten sehen, die sie schon abgehängt hatte. Es wirkte stark entmutigend so viele Männer auf sich zu trampeln zu sehen, doch für solche Gefühle hatte sie jetzt keinen Nerv.
    Sie wandte sich nach rechts, das Ende des Hafenkais kam immer näher. Sie hoffte inständig, dass es dort irgendeinen Weg gab, über den sie entkommen konnte. Gewesen war sie hier noch nie.
    Froh über die Gelegenheit rannte sie einen Weg zu einem kleinen, grünen Plateau hoch, auf dem ein Baum wuchs und dahinter –
    „Scheiße“, murmelte sie als ihr drei geladene Armbrüste entgegen starrten.
    Sie war genau zur Kaserne gelaufen.
    Im Schatten einer Gasse standen Atilla und Jesper, die mit bangen Blicken die Festnahme verfolgten. Ausrichten konnten sie freilich nichts…

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    Kapitel 15

    Wie öde diese dummen Zellen doch waren. Nur einfache Backsteinmauern, deren unterschiedlich dunklen Steine das interessanteste waren. Die aus den Wänden hervor ragenden Eisenringe konnten sie auch nicht recht unterhalten.
    Die Ketten um ihre Handgelenke scheuerten an ihrer Wunde. Der Bolzen der darin gesteckt hatte war von einem Milizsoldat grob herausgerissen worden, was den Umfang der Wunde noch vergrößert hatte.
    Vor ihrer vergitterten Zellentür saß ein Milizsoldat auf einem Hocker, seinen Ellenbogen auf den Tisch hinter sich gestützt. Mit dem Arm stützte er seinen Kopf ab und grinste sie an. Er beobachtete sie, was ihr nicht gefiel.
    Sie starrte lieber auf die träge vor sich hin brennende Kerze auf dem Tisch, als in die vor Wollust glühenden Augen des Soldaten. Sie wartete nur noch darauf, dass er seine Hand in der Hose vergrub.
    Als hätte sie es veranlasst nahm der Milizionär seinen Arm vom Tisch und zog langsam den Handschuh aus. Dann wanderte die Hand unaufhaltbar in Richtung Schritt, wo sich schon eine Wölbung…
    „Sag mal hast du sie noch alle du perverser Klotzkopf?!“, schrie Cassia los, „Wie kann man nur so eingebildet, so ekelhaft, so widerwärtig, so verdammt notgeil sein?! Wie könnt ihr es eigentlich wagen mich hier festzuhalten?! Ihr Halbtrolle schafft es doch eh nicht mich in die Barriere zu schubsen!“
    Der Mann hatte seine Hand wieder zurückgezogen und erhob sich nun mit gehässiger Miene von seinem Hocker.
    Cassias Brust hob und senkte sich. Sie hatte lange nicht mehr in diesem Maße die Beherrschung verloren, aber Männer widerten sie einfach an. Nur Frauen nachgaffen und sie in dunklen Gassen vergewaltigen konnten sie neben dem permanenten Saufen noch. Und wie dieser Kerl sie jetzt ansah, gefiel ihr erst recht nicht.
    „Mach nur weiter so, dann komm ich mal zu dir in die Zelle und zeig dir was ich noch so alles kann“, drohte der Soldat. Sein Blick war furchterregend lüstern.
    Cassias Augen hingegen hätten ganze Armeen zum Rückzug bewogen, wenn sie gerade welche in Reichweite gehabt hätte.
    Der Mann wandte sich wieder um, gab ein kurzes gehässiges „Bin gleich wieder da“ von sich und verschwand. Cassias erster Gedanke war, dass er nur eben in die rote Laterne verschwand. Doch was war, wenn er etwas Schlimmeres vorhatte?
    Von draußen drang die Stimme des Herolds herein, das einzigste, was sich an den dicken Mauerwerken irgendwie vorbeischlich. Verstehen konnte man freilich wenig. Doch sie spürte geradezu wie er von ihrer Ergreifung und baldigen Überführung ins Minental berichtete. Wenn Atilla und Jesper das nur hörten…
    „Haben sie dich also gefasst, was?“
    Cassia schreckte zusammen. Erst hatte sie fest geglaubt, dass Jesper vor ihrer Zelle hockte, doch da war niemand.
    Die Stimme war aus der Nachbarzelle gekommen, wie sie jetzt realisierte. Und kaum hatte sie das bemerkt, konnte sie der Stimme auch einen Namen zuordnen: „Ramirez?“
    „Du erinnerst dich also noch an mich?“, antwortete die Stimme von Ramirez und Cassia war sich sicher, dass er schmunzelte, „Ganz schön vertrackte Situation für uns.“
    „Das kannst du laut sagen“, erwiderte Cassia, „Irgendwelche Ausbruchspläne?“
    Ramirez lachte trocken auf: „Ich hab niemanden mehr, den ich als Freund oder Gefährte bezeichnen könnte. Und mein Vater ist ebenfalls vor drei Jahren von mir gegangen. Da draußen ist niemand, der meinen Namen kennt. Zumindest jetzt, wo du hier drin bist.“
    „Vielleicht kommen zwei Kumpel von mir und retten uns“, versuchte sie ihn aufzuheitern. Doch ihre eigene Stimme zitterte schon. Die ewige Gefangenschaft in der Barriere war so unaufhaltsam vor ihnen, dass ihr tatsächlich Angst und Bange wurde. Sie konnte sich nicht vorstellen den Rest ihres Lebens in diesem öden Landstrich zwischen Mördern und anderem Gesocks zu verbringen. Sie starrte ins Leere.
    Hatte sie nicht noch vor wenigen Minuten herumgetönt, dass niemand es schaffen würde sie in die Barriere zu werfen? Doch plötzlich wurde ihr die Gefahr glasklar bewusst. Die Barriere war kein Gefängnis aus dem man ausbrechen konnte. Man saß nicht den ganzen Tag auf einer schäbigen Bank und bekam ein paar Mal die Woche eine eklige Mahlzeit.
    Die Barriere war ein Überlebensparcour. Entweder man überlebte oder man starb, jeden Tag aufs Neue würde sie sich mit Monstern und Verbrechern schlagen müssen.
    „Zwei schaffen es allein auch nicht uns hier rauszuhauen“, sprach Ramirez die unerbittliche Wahrheit aus, „Wir sind verloren.“
    „Na, habt ihr eure Chance nicht genutzt um auszubrechen? Achja, ihr seid ja angeleint!“, der notgeile Soldat war zurück. Ein zufrieden entspannter Gesichtsausdruck hatte auf seinem Gesicht Platz genommen.
    Cassia war klar, dass sie sich von so etwas nicht in die Barriere werfen lassen wollte.

    Kaum eine geschätzte halbe Stunde später war es dann soweit. Sechs Krieger der Miliz kamen in den kleinen Gefängnistrakt und zogen an jedem aus der Wand ragenden Hebel. Die Gittertüren glitten quietschend hoch.
    Sie wurde grob gepackt, dann wurden hinter ihrem Rücken die Ketten von dem Eisenring in der Wand getrennt. Im nächsten Moment wünschte sie sich wieder in die Zelle zurück.
    Rücksichtslos zerrte der Soldat an ihrer Kette und riss sie hinter sich her. Cassia bemühte sich Schritt zu halten, doch immer wieder riss der Soldat ruckartig an ihrer Kette und ließ sie nach vorn taumeln.
    Zu ihrer Linken zerrten andere Milizen Ramirez aus seiner Zelle, von rechts wurde noch ein Mann herbeigeholt, allerdings hatte sie ihn noch nie gesehen.
    Sie wurde durch den hell erleuchteten Innenhof der Kaserne und das dazugehörige Tor geschleppt. Als sie auf der Treppe waren, sah Cassia schon, wo sie hingebracht werden sollten.
    Ein Wagen mit einem großen Käfig darauf stand bereit mit ihnen gefüllt zu werden. Schaulustige hatten sich um den Wagen versammelt, irgendwo meinte Cassia die für gewöhnlich deutlich vernehmbare Stimme des Herolds zu hören.
    Doch während sie in die hassverzerrten Gesichter der Bürger blickte, wurde ihr kalt und ihre Sinne stumpften ab, wollten sie vor diesen Blicken, diesem Gemurmel, diesen Gesten schützen. Sie realisierte kaum, wie sie in den Käfig gesteckt wurde, gleich gefolgt von Ramirez und dem fremden Mann.
    Cassia hatte sich an die hintere Wand des Käfigs gequetscht, mit den beiden Männern konnte sie sich nicht mehr viel bewegen.
    Etwas rotes zerplatzte an ihrer Schulter und verbreitete üblen Gestank. Es war eine faule Tomate gewesen, die von einer vor Wut schreienden Frau geworfen worden war. Die sollten sie einsperren, dachte Cassia. Die ist doch vollkommen irre.
    „Jetzt noch schnell zum Minental und dann rechtzeitig zum Feierabend wieder hier sein“, sagte einer der Soldaten zu einem anderen, „Danach können wir noch in die Kneipe und unseren Lohn versaufen.“
    „Jau, das wird lustig“, erwiderte der andere.
    Sie waren sich gar nicht bewusst was sie da taten. Wie sie das Leben von Menschen auf ewig in dieses kleine Terrain namens Minental einpferchten, war ihr höchst zuwider.
    Die buhende Menge war inzwischen angeschwollen. Ramirez traf ein matschiger Apfel seitlich am Kopf. Die Spritzer vermischten sich mit denen der Tomate.
    Wenn sie doch nur eine Waffe gehabt hätte. Dann hätte sie mit gebundenen Händen die hölzerne Decke des Käfigs gespalten, hätte sich durch die schreiende Menge gekämpft, sich an ihnen gerächt und wäre ins Hafenviertel entkommen, wo sie sich mit irgendeinem Boot, egal wie klein, auf die Rückreise in ihr Zuhause gemacht hätte.
    Doch nun nahmen zwei der Soldaten die Stange am vorderen Ende des Karrens auf. Die übrigen vier Milizen positionierten sich an den vier Ecken des Käfigs.
    Die Räder begannen sich in Bewegung zu setzen.
    Cassia warf einen wie sie wusste letzten Blick auf die Stadt.
    Und verabschiedete sich von ihr.
    Auf Nimmerwiedersehen.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kapitel 16

    Ihr taten alle Knochen von den Schlaglöchern weh, doch entfuhr ihr kein Laut. Sie regte sich nicht. Sie wollte sich nicht regen. Sie wollte es nicht akzeptieren. Sie wollte nicht in die Minenkolonie.
    In der Ferne kam eine Taverne in Sicht.
    „Holt uns mal ein paar Bier“, rief einer derjenigen, die gerade ziehen mussten.
    „Gute Idee, ich geh uns welches holen, ihr könnt aber schon mal langsam weiter gehen“, einer trennte sich von den anderen.
    „Das macht der doch nur, um jetzt nicht ziehen müssen“, murmelte einer und folgte ihm, offensichtlich mit demselben Hintergedanken.
    „So, die nächsten sind dran“, sagte einer von denen, die sie bisher gezogen hatten. Seufzend schwangen die anderen beiden Soldaten sich vor den Karren und zogen sie langsam weiter.
    „Die Hälfte des Weges liegt hinter uns“, krächzte Ramirez als läge ihm ein Kloß im Hals.
    „Gut zu wissen“, erwiderte Cassia deprimiert.
    „Ob wir noch Rettung erwarten können? Ich glaube nicht“, mutmaßte er hoffnungslos und versenkte das Gesicht in seinen schmutzigen Händen.
    „Ich lasse mich da nicht reinsperren“, flammte Cassias Ehrgeiz jäh wieder auf und dieses Mal war sie fest entschlossen das Feuer hell auflodern zu lassen. „Wenn wir in die Barriere geworfen werden, ist es aus mit unserem Leben. Deshalb werde ich auch alles tun, um hier rauszukommen. Und wenn ich dabei umkomme, ist das eben so. Immer noch besser als für den scheiß König Erz zu hacken!“
    Die Milizen brachen in Gelächter aus und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass diese alles mitgehört hatten. Trotzig starrte sie den nächstbesten von ihnen in die Augen. Zum ersten Mal war Unsicherheit in den Augen des Mannes zu sehen.
    Während Cassias Zorn wieder aufloderte, schoss der notgeile Soldat aus der Kaserne durch ihren Kopf wie das trockene Gras, das ins Feuer geworfen wurde.
    „Das hat sie jawohl nicht ernst gemeint?“, rief einer von ihnen jetzt beinahe entsetzt.
    „Ach komm schon, keiner riskiert sein Leben, nicht mal um seiner Freiheit Willen. Selbst sie hat vor den Armbrüsten gekuscht, als wir diese auf ihr Herz gerichtet haben!“
    Womm!
    Der Schmerz war schlimmer als sie gedacht hatte. Ihr Kopf dröhnte und vor ihren Augen bildeten sich mindestens hundert Milizsoldaten ab. Aber das durfte sie nicht stören, es hatte schon leicht geknackt, vielleicht würde ein weiteres Mal reichen!
    „Was hat die…“, hörte sie die entgeisterte Stimme eines Soldaten.
    Womm!
    Es hatte geknackt, ganz deutlich!
    Ein Rinnsal Blut lief ihr aus den Haaren und über die Stirn. Ihre Augen hatte sie schon längst geschlossen, klar sehen konnte sie eh nicht mehr.
    Womm!
    Sie fiel zu Boden. Sie hatte es nicht geschafft. Dreimal hatte sie ihren Kopf so fest sie konnte gegen die Decke geschlagen, doch mehr als ein lautes Knacken war nicht dabei herausgekommen.
    Sie war verzweifelt. Sie schaffte es nicht aus diesem Käfig rauszukommen. Ihre letzte Chance musste wohl kurz vor dem Wurf in das ewige Gefängnis sein. Hoffentlich hatte ihr Kopf sich bis dahin beruhigt.
    Ihr wurde übel, als sie über eine kleine Steinbrücke fuhren und sie einen Bach plätschern hörte.
    „Meine Güte, was sollte denn die Aktion?“, regte der ihr fremde Mann im Käfig sich nun künstlich auf, „Fast wärste krepiert!“
    „Halt die Klappe“, fauchte Cassia und hob den Kopf, nur um ihn böse anzustieren, „Wenn du dich seelenruhig in die Minenkolonie werfen lassen willst, dann tu das, aber ohne mich!“
    „Ich werde dir helfen wo ich kann“, pflichtete Ramirez ihr bei, „Ich will da doch auch nicht rein.“
    Seine Hand zitterte, als er das aussprach.
    Cassia biss sich auf ihre Lippen um die Tränen der Wut zu unterdrücken.
    Das konnte sie nicht zulassen. Sie musste doch zurück… Ramona!
    „Da, das Tor zum Pass zum Minental ist in Sichtweite“, meldete Ramirez und deutete auf ein Tor, das durch eine Felswand zu führen schien.
    „Gut erkannt, Dieb“, entgegnete einer der Soldaten, „Wo bleibt Corg eigentlich mit unserem Bier? Der müsste uns doch schon längst eingeholt haben!“
    „Und Ilton ist gleich mit ihm abgehauen. Ich wette die finden wir auf dem Rückweg beide hackevoll vor der Taverne wieder.“
    „Dann können die aber was erleben!“

    Er drückte sich noch dichter an den Boden, um ja nicht über das Gebüsch hinweg gesehen zu werden. Sein Begleiter stand ein paar Meter entfernt an einem Baum. Und da kamen ihre Zielpersonen:
    Beide hatten ihre Händel voll Humpen, sodass sie nachher für jeden zwei haben würden. Ihrer leicht geröteten Gesichtsfarbe nach zu urteilen hatten sie sogar schon einige Bier weg.
    Jetzt stapften sie mit ihren dicken Stiefeln an ihm vorbei – ohne ihn zu entdecken. Jetzt wurde es Zeit.
    Sein Begleiter sprang hinter dem Baum hervor. „Ich, Jesper, gesucht für ganze einhundert Gold, werde euch jetzt töten!“, brüllte er theatralisch.
    Die Milizen sahen sich grinsend an, ließen zu ihrem Bedauern die Humpen fallen und zogen ihre Schwerter. Den Moment, in dem die Humpen klirrend auf dem Boden aufschlugen und zerbarsten, nutzte Atilla um ungehört aus dem Gebüsch hervorzuschnellen und dem ersten seine Klinge durch die Brust zu jagen.
    Beide Soldaten hatten sich auf Jesper konzentriert und dabei ihren Rücken ungeschützt gelassen. Auch der zweite fiel Attilas Schwert schnell zum Opfer.
    „Nimm ihnen die Waffen ab, die Gefangenen werden keine haben“, wies Attila Jesper an, „Und jetzt müssen wir uns wirklich beeilen, die sind sicher schon bald am Pass!“
    Nachdem sie gesehen hatten wie zwei Soldaten sich abspalteten hatten sie beschlossen, diesen aufzulauern und so die Streitkraft des Gegners auf vier Soldaten zu verringern, doch hatten sie nicht damit gerechnet, dass dies so viel Zeit in Anspruch nehmen würde.
    Gemeinsam stürmten sie jetzt los, um Cassia noch rechtzeitig zu erreichen.

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    Kapitel 17

    Ein Sonnenstrahl kitzelte ihre makellose Nase mit seiner wundervollen, frühmorgendlichen Wärme. Sie zog die Nase kraus und erwachte langsam. Sich streckend schlug sie die Augen auf und blinzelte in das Licht.
    Heute hatte die Sonne die Nebelfelder aus den Randgebieten des Sumpfes verdrängt. Sie hatte den schlichten Nebel lieber, der jeden Morgen über das Loch in der Decke hinweg waberte.
    Heute beschien das Licht, das durch eben erwähntes Loch in die Höhle schien allerdings die große Erzader, die aus der Wand hervortrat. Sie hatte sich wegen ihr hier häuslich eingerichtet. Nicht weil sie heiß auf den darin steckenden Reichtum war, sondern weil sie unglaublich schön aussah. Besonders jetzt glitzerte der Kristall in allen Farben.
    Sie streckte sich noch einmal und hüpfte dann beschwingt aus dem Bett. Vor dem Eingang der Höhle würde sie von dichtem Nebel erwartet werden, da war sie sich sicher. Das war noch nie anders gewesen.
    Aus irgendeinem Grund gut gelaunt ging sie den Stollen entlang, der sie aus ihrer Behausung in den Hauptschacht brachte.
    Als sie diesen das erste Mal betreten hatte, war ihr der Atem vor Begeisterung stehen geblieben. Doch sie hatte sich schon so an das riesige Loch gewöhnt, dass sie nicht mal mehr die Augen darauf wendete. Der Komplex mit dem riesigen Schacht, von dem in alle Richtungen kleinere Höhlen abzweigten, befand sich in einem Bergvorläufer, der tief in einen Sumpf hinein ragte.
    An den Rändern des Hauptschachtes waren spiralförmig Holzwege angebaut worden, über die man in alle angrenzenden Höhlensysteme gelangen konnte. Oben, hoch über ihrem Kopf war nur ein kleines Loch in der steinernen Decke, durch das an manchen Tagen Regen hereinfloss. Unten, weit unter ihren Füßen, liefen schon die ersten Frauen geschäftig umher.
    Es gab welche, die ihre Stände mit ihrer Ware bestückten, welche die schon in der Hitze der Schmiede schwitzten, welche die mit wieder anderen redeten, die Köchinnen verteilten schon fleißig das Frühstück.
    Unter den ganzen Frauen erkannte sie auch schon ihre Schwester Ramona, die einer Frau zeigte, wie man ein Schwert richtig hielt.
    „Hi Cassia“, wurde sie begrüßt, als sie endlich ihren Weg nach unten beendet hatte.
    „Warum hast du Galea gerade gezeigt wie man ein Schwert hält?“, fragte Cassia ihre Schwester neugierig.
    Ramona hatte lange schwarze Haare, die sie stets offen trug. Sie hatte ein breites Kinn, das zusammen mit ihrer hervorstehenden Stirn ein beunruhigend ernstes Gesicht bildete. Ihr Körper war durch jahrelanges Training geradezu muskulös geworden. Äußerlich hatte sie nicht viel mit ihrer Schwester gemeinsam.
    „Galea wurde letztens als sie im Sumpf ein wenig zu weit rausgelaufen ist von einer Sumpfratte angegriffen. Deshalb will sie jetzt lernen wie sie sich besser verteidigen kann. Vorher hatte sie noch nie eine Waffe in der Hand.“
    „Es ist immer gut, wenn wir schlagkräftiger werden“, erwiderte Cassia und verabschiedete sich mit einer Handbewegung schon wieder.
    Ihr knurrender Magen hatte sie zu Marga getrieben, der dicklichen Frau, die den leckeren Sumpfbrei austeilte. Dieser Brei bestand zu einem Großteil aus Sumpfkraut, doch hatten sie eine Möglichkeit gefunden, die benebelnde Wirkung dieses Krauts durch eine besondere Destillation aufzuheben. In diesem Zustand schmeckte das Kraut einfach nur bombastisch.
    Drei große Schalen schaffte Cassia an diesem Morgen, bevor sie aufgeben musste.
    Es war ein tolles Leben. Niemand konnte ihre Höhle finden. Nur selten kam es vor, dass jemand sich zu ihnen verirrte. Und sie brauchten lediglich jeden Tag genug Sumpfkraut und andere Pflanzen aus der schaurig-schönen Landschaft vor ihrer Höhle holen, um genug zu essen zu haben.
    Natürlich gab es auch einen speziell auf die Jagd trainierten Trupp Jägerinnen, der sich mit dem Fangen und Erledigen von Sumpfratten befasste. So kamen sie auch immer an ein bisschen Fleisch.
    In einem Ableger des Hauptschachts gab es eine klare Quelle, aus der sie so viel Wasser bekamen wie sie konnten.
    Das einzige was Cassia sonst noch liebte, war eine Leidenschaft, die sie mit ihrer Schwester teilte: Stehlen. Sie gingen gern raus in die nächste Stadt und klauten den Männern ihre wertvollen Besitztümer.
    Das Leben war schön…
    Doch dann hatte sie sich auf einer kleinen Diebestour zu einer Flasche Alkohol verleiten lassen. In der Stadt waren sie und Ramona schon weithin bekannt gewesen. So wurde sie von den erstbesten Soldaten erkannt, die sie in einer Gasse liegen sahen.
    Nur wenige Stunden später war sie in einer Zelle aufgewacht. Tage hatte sie mit Nichtstun verbracht. Sie war sorglos gewesen, sich sicher, dass Ramona und ihre Frauen sie da raushauen würden.
    Doch die Tage vergingen ohne dass etwas dergleichen passierte. Cassia war zwar talentiert beim Umgang mit dem Schwert, doch ohne eins konnte sie sich nicht selbst raushauen.
    Als sie sich schließlich im Bauch eines Schiffes wiedergefunden hatte, war ihr die Bedrohung erst richtig bewusst geworden. Sie erinnerte sich noch zu gut, wie ihr die Gefahr die Kehle zugeschnürt hatte, wie sie immer verzweifelter geworden war.
    Verzweiflung schaltete bei Menschen den Gefahreninstinkt aus. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass bewaffnete Soldaten über ihr waren, dass diese Aktion sie selbst hätte ertränken können.
    Und so war es auch jetzt, wo sie mit blutendem Kopf am Boden des Käfigs lag und verzweifelt den Geräuschen der Achsen lauschte, die ihr bestätigten, dass sie der Barriere immer näher kamen.
    Langsam richtete sie sich wieder auf.
    Sie merkte, dass ihr Tränen des Zorns über die Wangen gelaufen waren und wischte sie schnell weg, bevor sie von den anderen falsch verstanden wurden.
    „Du hast dich selbst in die Bewusstlosigkeit geschlagen“, empfing Ramirez sie wieder in der Realität.
    „Warum machst du auch so’n scheiß“, motzte der dritte im Käfig.
    „Halt den Rand“, giftete Cassia wütend zurück. Sie versuchte wieder klar im Kopf zu werden. Schmerzen konnte sie in diesem Moment wirklich nicht gebrauchen.
    Sie richtete ihren Blick an Ramirez‘ Schulter vorbei und sah ihr Ende.
    Die Barriere war groß, blau durchscheinend und glitzernd vor ihnen. Nur noch ein langer, durchgängig grauer Pass trennte sie von diesem ewigen Gefängnis.
    Cassia hatte erwartet, dass ihre Verzweiflung in diesem Moment in Panik umschwingen würde, doch dem war nicht so.
    Sie wurde ruhig, horchte in sich hinein. Nach einer kleinen Idee. Einer noch so verzweifelten.
    Sie spürte wie ihr Körper tonnenweise mit Adrenalin vollgepumpt wurde.
    Und ihr kam ein Gedankenblitz.

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    Kapitel 18

    Cassia genoss den Augenblick des Geistesblitzes.
    Rennen konnte sie, und das würde gleich entscheidend sein.
    „Na, freut ihr euch schon auf euer neues Zuhause?“, fragte einer der Soldaten hämisch grinsend.
    „Und wie“, erwiderte Cassia genervt.
    Als der Soldat sich wieder umwandte und seinen Blick auf die Barriere vor ihnen fixierte, fuhr sie mit ihrer Hand an ihren Kopf, um endlich zur Tat zu schreiten. Es wurde schließlich höchste Zeit.
    Plötzlich spritzte Blut.
    Der Milizionär, der sie eben noch so spöttisch verhöhnt hatte, stürzte aufschreiend zu Boden. Ein Bolzen steckte in seiner Schulter. Perplex beobachtete Cassia wie der Mann sich schwer verletzt am Boden wälzte. Ihren Plan hatte sie völlig vergessen.
    „Da!“, schrie ein anderer Soldat.
    Weit hinter ihnen stand Atilla, eine Armbrust gezückt, den nächsten Bolzen schon bereit liegend.
    Die Milizen, die den Wagen gezogen hatte, ließen die Stange fallen. Da sie sich nicht die Mühe gemacht hatten die Stützen richtig drunter zu stellen, kippte der Wagen samt Käfig nach vorne.
    Der Käfig purzelte vom Wagen herunter und überschlug sich. Zentimeter vor der Barriere blieb er liegen, die Tür war gegen den Boden gepresst.
    Die Milizen erreichten derweil Atilla.
    Cassias Herz klopfte bis zum Hals. Direkt vor ihrer Nase, in greifbarer Nähe, glitzerte die Barriere. Sie bräuchte nur den Arm auszustrecken. Die Milizen mussten nur noch ein Stück schieben, wenn sie mit Atilla fertig waren.
    Für einen Moment hatte sie gehofft, dass mit Atillas Auftauchen alles geregelt wäre, doch jetzt wurde ihr schlagartig bewusst was für ein Blödsinn das war.
    Ramirez, der nach dem Gepolter auf ihr gelegen hatte, bequemte sich nun endlich von ihr hinunter. Er rieb sich seinen Kopf, den er sich offensichtlich hart angeschlagen hatte. Seine Augenbraue wies einen Riss auf und seine Unterlippe war aufgeplatzt.
    „Seht mal da!“, schrie der ihr immer noch unbekannte Sträfling. Er deutete auf den oberen Rand des Passes. Wölfe streiften dort umher, vom Blutgeruch angelockt.
    „Wir müssen den Käfig so kippen, dass die Tür nicht mehr auf den Boden zeigt“, wies Cassia die anderen an und warf sich gegen die der Barriere abgewandten Seite. Allein konnte sie den Würfel allerdings nicht kippen, solange die beiden Männer nutzlos ihre Arbeit erschwerten.
    „Du willst hier doch wohl nicht raus?!“, fuhr der Sträfling sie an, „Da draußen sind Wölfe, hier drin sind wir sicher!“
    Womm.
    Dieses Mal hatte Cassia ihre Faust benutzt, dieses Mal allerdings um dem Unbekannten eine reinzuhauen. „Spinnst du eigentlich völlig?“, kochte sie hoch, „Das ist die Barriere der Minenkolonie von Khorinis! Wir müssen hier raus!“
    „Pah! Ich, Fingers, bin lieber da drinnen, wo es Erz und wertvolle Schätze in Hülle und Fülle und kein Gesetz gibt, als hier draußen bei den Wölfen. Ich hab ja schließlich keine Waffe!“
    „Deshalb musst du uns doch nicht dein Schicksal aufzwingen!“, kreischte Cassia ihn an.
    Aus ihren Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, wie die Wölfe immer näher kamen und immer mehr Blut um Atilla herum auf die Steine spritzte. Jesper war ihm inzwischen zu Hilfe gekommen, obwohl dieser doch angeblich kaum kämpfen konnte.
    Die Lage spitzte sich immer weiter zu und jetzt meuterte dieser Idiot auch noch!
    Plötzlich warf Ramirez sich mit aller Kraft gegen Cassia. Im ersten Moment wollte Cassia empört aufschreien, doch dann dreht sich alles und der Käfig war umgekippt.
    Wieder waren alle durcheinander gepurzelt.
    „Ich für meinen Teil will hier raus“, meinte Ramirez und grinste sie an, „Wie geht dein Ausbruchsplan jetzt weiter?“
    „Lass mich dahin“, erwiderte sie und schob ihn grob beiseite. Endlich fuhr sie sich ins Haar und zog den kleinen spangenartigen Metallstreifen heraus, der ihr vorhin in einem Geistesblitz wieder eingefallen war.
    Sie streckte ihren Arm heraus und begann mit dem Metall im Schloss rumzustochern.
    Die ersten Wölfe hatten inzwischen die Sohle des Passes erreicht und kamen drohend näher. In dieser Phase des Plans durften die Wölfe sie noch nicht erreichen, sie durften ihr nicht in die Hand beißen, bevor sie das Schloss geknackt hatte!
    Einer der Milizen lag inzwischen tot am Boden und die anderen zwei waren mindestens so zerschunden wie Atilla, der kämpfte wie ein Oger. Er schwang seine Waffe zielgenau und vernichtend durch die Luft, wich flink den meisten Hieben seiner Gegner aus.
    Jesper hatte sich eher zurückgehalten. Mit Entsetzen sah er nun die Wölfe. Er schaffte es dem Kampfgetümmel zu entfliehen, doch einer der verbliebenen zwei Soldaten folgte ihm dicht auf den Fersen.
    Cassia konnte schon fast das Weiße in den Augen des ersten Wolfes sehen. Ihre linke Hand begann heftig zu zittern. Die Rechte, die im Schloss herumstocherte, blieb jedoch vollkommen ruhig.
    Der Wolf setzte zum Sprung an.
    Es machte Klick.
    Der Wolf sprang.
    Cassia zog ihre Hand zurück.
    Nur um wenige Millimeter verfehlte das geifernde Maul des Wolfes ihre Finger.
    Die Tür war offen, doch tummelten sich auf der anderen Seite inzwischen fast ein Dutzend Wölfe.
    Jesper war von dem Soldaten inzwischen in einen Zweikampf verwickelt worden, den er nicht gewinnen konnte. Kurze Zeit nachdem Cassia dies entdeckt hatte, stürzte er zu Boden, sein Schwert verschwand hinter einem dornenbesetzten Gestrüpp.
    Der Soldat scherte sich nicht mehr um den am Boden liegenden Banditen. Stattdessen kam er bedrohlich näher auf den Käfig zu.
    „Dann wollen wir euch doch endlich in euer neues Zuhause bringen“, jauchzte der Soldat und schlitzte einen der Wölfe auf. Seine Artgenossen wichen knurrend vor ihm zurück. Nur wenige von ihnen wagten den Angriff und wurden getötet.
    Der Soldat stand nun direkt vor ihrem Käfig.
    Cassias Herz raste. Die Tür konnten sie jeden Moment öffnen, doch die Meute Wölfe und der direkt davorstehende Milizsoldat würden dieses Unternehmen zu reinem Selbstmord machen. Hätte sie doch nur eine Waffe, das hätte alles geändert!
    Der Milizsoldat begann zu schieben. Knirschend bewegte dich der schwere Käfig langsam über den staubigen Boden. Ramirez‘ Augen weiteten sich. Cassia war wie erstarrt. Ruhe bewahren! Ruhe bewahren! Nichts anderes passte mehr in ihren Kopf!
    „Fang!“, schrie die Stimme Jespers aus der Ferne.
    Der Soldat blickte sich um – und sprang dann mit einem Satz aus dem Weg. Ein Schwert war schillernd durch die Luft geschossen und steckte nun direkt vor der Käfigtür im trockenen Boden.
    Cassia verschwendete keinen Augenblick: Sie riss die Tür auf, schnappte sich das Schwert und schlüpfte aus den Gittern. Als hätte sie dies schon jeden Tag geübt metzelte sie die links und rechts an ihr hochspringenden Wölfe nieder.
    Ramirez kroch gerade hinter ihr aus dem Käfig, als der Milizsoldat wieder vor ihm stand und ihn mit einem Tritt ins Gesicht zurück ins Käfiginnere beförderte.
    Cassia hörte ihn aufheulen, wirbelte herum, wollte zu dem Käfig zurückeilen, doch die Wölfe blockierten ihren Weg und waren inzwischen längst nicht mehr so schüchtern wie vorhin, als sie vor dem Soldaten zurückgewichen waren.
    Cassia vernahm das malmende Geräusch des Käfigs, der über den Boden geschoben wurde. Verzweifelt schlitzte Cassia die Wölfe auf, kam Schritt für Schritt näher.
    Ramirez stürzte sich aus dem Käfig und warf sich dem Soldaten um die Beine, in der Hoffnung ihn so zu Fall zu bringen. Grade noch rechtzeitig. Der Käfig berührte die Barriere schon.
    Blut sprudelte aus Ramirez‘ rechter Schulter, als diese von dem Schwert des Milizsoldaten durchbohrt wurde. Schreiend drehte Ramirez sich auf die Seite, nur noch seine Beine lagen im Käfig.
    Fingers hockte darin und wartete viel lieber auf das Erreichen der Barriere als sich in den Kampf zu stürzen und eine Verletzung zu kassieren.
    Der Soldat verpasste dem Käfig einen letzten Tritt. Der Würfel kippte und stürzte durch die Barriere den Abhang hinunter. Platschend kam er mitsamt Fingers in dem See darunter auf.
    Ramirez hatte Glück gehabt, seine Beine hatten lieber den Käfig verlassen als den Rest des Körpers mitzuziehen.
    „Du hast wohl ein bisschen zu viel Glück, was?“, höhnte der Soldat.
    Ramirez stöhnte nur, war zu gar nichts anderem in der Lage. Blut lief ihm aus der Nase und vor allem aus der Schulter.
    Schmerz durchzuckte Cassias linke Hand. Sie war von dem Geschehen abgelenkt gewesen. Der Wolf, der seine Zähne in ihr Handgelenk versenkt hatte, starb nur Sekunden später.
    Die Reihen der Wölfe lichteten sich, Ramirez musste nur noch kurz durchhalten, dann würde sie bei ihm sein. Doch der Milizsoldat holte zum Tritt aus, Ramirez lag ganz nahe der Kante, die man überqueren musste, um in die Barriere zu fallen.
    Für Cassia blieb die Zeit beinahe stehen. Wie in Zeitlupe sah sie wie dieser Mistkerl seinen Fuß nach vorn schnellen ließ…
    …und dann jede Körperspannung verlor. Ein Schwert war aus seiner Brust hervorgetreten. Der erschlaffte Körper des Milizen fiel vornüber, kippte über den Rand der Klippe und verschwand in der Barriere.
    Jesper stand völlig zerkratzt da, die Hände noch erhoben, als würde er immer noch den Knauf des Schwerts halten. Cassia köpfte den letzten Wolf und lief dann schnell auf ihn zu.
    Er sah so fertig aus, dass sie Angst hatte, dass er das Gleichgewicht verlieren und in die Barriere stürzen würde. Sie zog ihn von der Klippe weg und schleppte auch Ramirez vorsichtig ein paar Meter weiter weg.
    Atilla hatte, wie sie erfreut feststellte, den Kampf gegen seine Gegner gewonnen.
    Sie waren frei. Sie hatten es geschafft. Es gab keine Bedrohung mehr.
    Sie sank zu Boden und stieß einen tiefen Seufzer aus. Atilla kniete vor den Leichen seiner Gegner, zu erschöpft, um etwas anderes zu tun. Ramirez lag ächzend neben Cassia, kämpfte mit den Schmerzen seiner Wunden. Jesper blickte verblüfft auf die Stelle der Barriere, wo der Milizsoldat hindurch gefallen war, auch er war mit Wunden und vor allem Kratzern von dem Dornengestrüpp übersät. Cassia begutachtete angeekelt den Biss an ihrer Hand.
    „Ich… Ich habe ihn doch noch töten können“, murmelte Jesper matt, „Ich habe es tatsächlich geschafft.“
    „Wir müssen Ramirez‘ Wunden mit Heilkräutern einreiben, sonst entzünden sie“, meinte Cassia und versuchte so viel Kraft in ihre Stimme zu legen wie möglich, „Die Wunde sieht schlimm aus, wir müssen sie säubern und die Blutung stoppen, sonst stirbt er uns!“
    „Keine Panik, hab ein bisschen vorgesorgt“, meinte Jesper und zog einen kleinen Heiltrank aus seiner Tasche hervor, „Der wird ihn außer Lebensgefahr bringen, da bin ich mir sicher. Ist mein einziger, hab ihn extra für so einen Ernstfall aufgehoben.“
    Er flößte Ramirez die rote Flüssigkeit ein, die er mühsam schluckte.
    „Was war eigentlich euer Plan? Einfach drauf los kloppen und hoffen, dass ihr es schafft?“, fragte Cassia, obwohl ihre Neugier noch gar nicht wieder an ihren angestammten Platz zurückgekehrt war.
    „Wir hatten noch gar keinen Plan, als ihr die Stadt verlassen habt, weshalb wir euch einfach erstmal hinterher sind“, erzählte Jesper langsam, „An der Taverne haben wir dann gesehen, wie sich zwei der Milizen von der Gruppe getrennt haben. Wir haben ihnen aufgelauert und sie erledigt, so bin ich auch ein Schwert für dich gekommen, aber dann war es schon fast zu spät. Zeit einen Plan auszuarbeiten blieb es kaum. Attila wollte die Milizen ablenken, während ich dich befreie, aber dann ist ja doch noch alles anders gekommen.“
    Er sah fasziniert auf die vielen Kratzer und Schrammen an seinem Körper. Viele von ihnen bluteten. „Ich habe noch nie so einen Kampf gewonnen.“
    „Hauptsache wir sind jetzt in Sicherheit“, sagte Cassia lächelnd. So langsam drang es zu ihr durch. Sie waren frei. Sie hatten es geschafft. Die Milizen waren tot.
    „Und wo gehen wir jetzt hin?“, Attila war zu ihnen gekommen.
    „Weiß nicht“, erwiderte Cassia ahnungslos.
    „Die Frage ist ja, ob wir zurück in die Stadt gehen oder ob wir hier draußen bleiben“, brachte Jesper die Frage auf den Punkt.
    „Hier draußen wären wir außerhalb der Reichweite der Miliz und könnten uns von der Jagd ernähren“, meinte Cassia.
    „Aber nur in der Hafenstadt kommen wir an was anderes als Pflanzen und Fleisch. Und hier draußen würde es mit der Zeit wohl ziemlich einsam und langweilig“, wandte Atilla ein.
    „Im Prinzip würde ich ja auch gern in die Stadt zurück. Aber ich geh da nur wieder hin, wenn wir auch ein wirklich bombensicheres Versteck haben. Ich will nicht noch einmal so etwas durchleben müssen.“
    „Wenn es nur das ist“, mischte Ramirez sich plötzlich ins Gespräch ein. Er hatte sich aufrecht hingesetzt, seine Wunde an der Schulter hatte aufgehört zu bluten.
    Alle drei sahen ihn gebannt und gespannt an.
    „Fingers hat mir in der Kaserne von einem sehr interessanten Unterschlupf erzählt“, berichtete Ramirez, „Die Kanalisation von Khorinis!“
    „Khorinis hat eine Kanalisation?“, unterbrach Jesper ihn verdutzt, „Sorry, aber ich glaube der hat dir da einen Oger aufgebunden.“
    „Nein, nein“, wischte Ramirez die Bedenken beiseite, „Er hat mir erzählt, dass heutzutage kaum einer mehr von ihr weiß. Er ist nur mal zufällig drauf gestoßen. Man kann sie nur übers Meer erreichen. Er selbst soll sich da schon mehrere Male versteckt haben und sein Kopfgeld betrug auch schon siebenhundert Gold. Die Miliz hat also wirklich keine Ahnung von dem Ding, das perfekte Versteck!“
    Stille.
    „Ich bin dafür, dass wir diese Kanalisation nutzen“, rief Cassia und hob ihre Hand. Sofort zog auch Ramirez seine Hand hoch und kurz darauf folgten auch Atilla und Jesper.
    Es war also beschlossene Sachen. Sie würden in die Stadt zurückkehren und dort in einer stinkigen Kanalisation leben. Und dann auch noch mit Männern!
    Der Gedanke gefiel ihr irgendwie, es klang nach Spaß.
    Cassia musste lachen, als sie daran dachte wie ihr noch vor einer Stunde zumute gewesen war.
    Erleichterung war eines der besten Gefühle.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 17:45 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Epilog

    Tropf…
    Tropf…
    Am ersten Tag hatte sie dieses Geräusch tierisch genervt, doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Sie lag auf einem provisorischen Bett und blätterte in einem Stoß Pergamentblätter herum.
    Ein paar der Seiten hatte Jesper Lehmar entwendet, damit sie ihn erpressen konnten. Andere waren Listen von Beobachtungen. Das waren belanglose Dinge wie die Öffnungszeiten der verschiedenen Stände am Marktplatz oder wichtige Dinge wie die routinierten Wachschichten der Miliz.
    Jetzt war ihr ein anderes Blatt in die Hand gefallen.
    Sie musste lächeln als sie die klobige Handschrift des Herolds entzifferte. Ramirez hatte sie als Erinnerungsstück an ihr gefährliches Zusammenkommen gestohlen. Es waren die Notizen, die er sich für seine Rede vor einer Woche gemacht hatte.
    Darin stand unter anderem, dass die drei Verbrecher erfolgreich in die Barriere geworfen worden waren. Die Miliz hatte diese Lüge mit Sicherheit verbreitet, weil sie zum einen nicht ihr Gesicht verlieren wollten und zum anderen nicht daran glaubten, dass sie sich noch in der Stadt blicken lassen würden.
    Ihnen kam das natürlich super zupass. Alle Leute dachten nun, dass sie aus dem Weg wären, hielten nicht mehr Ausschau nach ihnen, ihre Fahndungsplakate waren wie vom Erdboden verschluckt.
    So ließ es sich viel besser leben, als draußen in der Wildnis oder in Jespers kleiner Hütte. Hier unten hatte sich schnell jeder seine eigene Kammer gesucht.
    Die verschachtelte Kanalisation war riesig und an dem Gestank hatte sie sich von Anfang an nicht gestört. Sie mochte ihn sogar ein bisschen, weil er sie an den Geruch des Sumpfes und Ramona erinnerte.
    Sie legte die Pergamente zur Seite und zog sich die dünne Decke bis ans Kinn. Hier unten fühlte sie sich pudelwohl.
    Dabei war sie schon drauf und dran gewesen den Plan abzublasen.
    Sie hatten sich erst einen Tag in der Nähe des Passes ausgeruht, dann waren sie durch einen dunklen Wald voller gefährlicher Viecher, die ihnen nicht nur einmal schwer zu schaffen gemacht hatten, zum Leuchtturm gelangt. Und das alles nur, um das Stadttor zu umgehen.
    Gefolgt hatte ein beschwerlicher Abstieg die gefährlichen Klippen hinunter. Allein das hatte noch einmal einen halben Tag gedauert. Letztendlich hatten sie dann auch noch in das kalte Meer springen müssen, um zu der Tür zu gelangen, deren verrostetes Schloss vergeblich versucht hatte, sie von der Kanalisation fern zu halten.
    Das Meer war ihr an diesem Tag viel kälter vor gekommen, als vor zwei Wochen, als sie aus dem Boot der Miliz entkommen war.
    Zwei Wochen. Erst eine so kurze Zeit war sie auf Khorinis.
    Und sie hatte schon so unglaublich viel erlebt.
    Vor Ewigkeiten, so kam es ihr vor, hatte sie das morsche Holz des Schiffes durchbrochen, um das erste Mal zu entkommen. Wie sie Fenia vor Ramirez gerettet hatte, kurz bei Halvor untergekommen war, das erste Aufeinandertreffen mit Atilla und der kurz darauf folgende und wohl heftigste Kampf ihres Lebens gegen Agleon.
    Wie sie kurz darauf Jesper kennen gelernt hatten und sie letztendlich wieder gefasst wurde.
    Und das war noch nicht mal alles.
    Und obwohl sie Ramona und die anderen vermisste, empfand sie diese Zeit im Nachhinein als unglaublich toll. So viel war nicht mal bei ihren größten Raubzügen je losgewesen.
    Und nun lebte sie tatsächlich mit Männern zusammen in einer Kanalisation.
    Sie streckte sich.
    In ein paar Monaten würde ihr das eh zu viel werden. Dann würde sie sich auf ein Schiff schmuggeln und wieder in den Sumpf zurückkehren.
    Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie gar nicht wieder zurück wollte.
    Denn hier hatte sie echte Freunde gefunden.
    Geändert von MiMo (11.03.2011 um 18:46 Uhr)

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