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    Auserwählter Avatar von alibombali
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    Post [Story]Brüchiger Friede

    Hey Leute!
    Ich bin ganz neu hier im Story-Forum und auch erst seit kurzem bei World Of Gothic angemeldet.
    Ich wollte heute damit anfangen, meine erste Story zu posten. Über Kommentare, konstruktive Kritik und Rezensionen würde ich mich sehr freuen. Ihr könnt mir entweder Private Nachrichten schicken oder alles in einen speziellen Thread dafür posten. Diesen Thread werde ich erstellen, wenn die gesamte Story hochgeladen ist, also wenn vorher was ist, PN's an mich.
    Ich werde die Story kapitelweise posten, und da jene sehr unterschiedlich lang sind, werden die Zeitabstände der Posts ebenfalls variieren.
    Nun aber genug geschwafelt.
    Wie gesagt, es ist meine erste Story, also wertet sie milde
    Ich danke schon jetzt allen, die meine Story lesen wollen
    Liebe Grüße, alibombali

    EDIT: ich konnte es nicht abwarten und habe den Diskussionsthread doch schon eröffnet Hier ist er: Diskussionsthread
    Geändert von MiMo (31.03.2017 um 19:32 Uhr)

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    Auserwählter Avatar von alibombali
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    Es wütet der Krieg,
    zerstört das Mittelland.
    Männer! Für geringsten Sieg,
    nehmt euer Schwert zur Hand.
    Zieht blind in die Schlacht,
    sterbt für eures Königs Macht!
    Der euch insgeheim doch nur verlacht.


    (Von einem unbekannten Dichter des Waldläufervolkes)





    Prolog

    Als die Armeen der Orks einst wieder in Nordmar einmarschierten, begann für die Midlands der zweite Orkkrieg. Im ersten Orkkrieg konnte König Rhobar II. die Angreifer vernichtend schlagen, doch nun waren sie stärker als je zuvor.
    Zuerst kämpften die Nordmarer Krieger allein, um ihre große Erzschmelze zu sichern; doch als König Rhobar II. die Erzlieferungen für Myrtana gefährdet sah, schickte er den Nordmar-Kriegern Truppen zur Unterstützung.
    Aus dem Konflikt um Nordmar wurde ein Krieg, der die ganzen Midlands betraf, und der ungefähr ein Jahrzehnt andauerte.
    Für die Völker der Midlands war der Krieg eine schreckliche Zeit voller Grausamkeit, Unterdrückung und Tod.
    Der namenlose Entscheider war es schließlich, der mit einem Schiff von Khorinis kam, den Krieg beendete, und das Reich einte.

    Die folgende Erzählung schildert die Erlebnisse des jungen Hergor, während der Zeit des Krieges, der Besatzung und der Befreiung. Sie berichtet von Hoffnung, Enttäuschung und der schieren Unmöglichkeit, in einer solchen Zeit nicht Partei zu ergreifen.
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 20:34 Uhr)

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    Kapitel I
    Ein unglaublich begabter Junge



    Hergor war ein Junge aus Silden, der zu der Zeit, als der Entscheider über das Meer nach Myrtana kam, sein siebzehntes Lebensjahr erreichte.
    Als er noch ein Kind war, nahm sein Vater Geribald ihn oft mit auf die Jagd und erzählte ihm Geschichten von Heldentaten längst vergessener Zeiten.
    Hergor wusste, dass ein Großteil dieser Geschichten der blühenden Fantasie seines Vaters entsprang, doch das war ihm egal; er liebte seinen Vater sehr.
    Ab und zu, wenn sein Vater keine Zeit für ihn hatte, besuchte er die alte Fischerin Margot, die wie eine Großmutter für alle Kinder des Dorfes war.
    Eine Mutter hatte Hergor schon lange nicht mehr.
    Sie sei sehr früh verstorben, pflegte Geribald zu sagen.
    Bei den Ausflügen, die Vater und Sohn fast täglich unternahmen, sprachen sie auch oft von Großvater Petigor.
    Hergor hatte ihn nie kennen gelernt, doch wusste er von seinem Vater, dass er ein edler Kämpfer im Dienste des Königs gewesen war. Auch wie Petigor ausgesehen hatte, wusste Hergor nur vage, von einer schönen Zeichnung, die seinen Großvater mit einem großen, weißen Pferd zeigte.
    „Der König hätte ihn sicher eines Tages zum Paladin ernannt...“, sprach der Vater und seine Miene verfinsterte sich, „...wenn die Orks nicht gewesen wären!“
    Ja, die Orks. Vater hasste die Orks.
    „Sie reden von Ehre, haben den großen Petigor aber feige niedergemetzelt, in erbarmungsloser Überzahl! Ich wette, er nahm Dutzende von ihnen mit in den Tod!“, hörte Hergor seinen Vater einmal trunken prahlen.
    Doch Prahlen und Trinken erlaubte sich der Vater nur in friedlichen Zeiten, und als der Krieg gegen die Orks entflammte, ging auch er zur Armee.
    In Silden war Geribald als Jäger berühmt und so kam es, dass sein schwarzer Waldläuferbogen auch im Kampf ständig an seiner Seite war.
    In den ersten Monaten des Krieges, als König Rhobar II sich noch zuversichtlich zeigte, war Geribald im kalten Nordmar stationiert, um die Orks von der großen Erz-Schmelze fernzuhalten.
    Für Hergor waren es einsame Monate ohne seinen Vater, in denen ihn die Scavengerjagd mit Freunden aus dem Dorf am Leben hielt.
    Doch Geribald, im eisigen Norden, schloss eine tiefe Freundschaft mit dem Nordmann Branskar vom Feuerclan, als diese sich während eines Scharmützels mehrmals gegenseitig das Leben retteten.
    Als ein Pfeil Geribald schließlich im Bein traf, bestand Branskar darauf seinen verletzten Freund auf dem Weg zurück nach Silden zu begleiten.
    So trafen Vater und Sohn sich wieder und Hergor lernte Branskar kennen, der auch ihm ein guter Freund wurde.
    Bevor Branskar zu seinem Clan in Nordmar zurückkehrte, blieb er noch einige Tage in Silden. Das milde Klima, die Flüsse und Seen und der grüne Laubwald faszinierten ihn.
    Hergor hingegen war fasziniert von Branskars riesiger Streitaxt, die dieser ständig auf dem Rücken trug. Schließlich kannte er von seinem Vater nur den Umgang mit dem Bogen, den er selbst bereits annähernd perfekt beherrschte.
    „Der Name dieser Axt ist 'Trollfaust'“, erklärte Branskar einmal lächelnd. „In Nordmar gibt es viele Trolle, sogar einige der gefürchteten Schwarzen Riesentrolle...“
    Immer, wenn Branskar seine Geschichten erzählte, hörte Hergor gebannt zu, und einmal, kurz vor Branskars Abreise, gingen sie zusammen auf die Jagd.
    Geribald blieb in seiner Hütte in Silden und schonte sein Bein, doch er wusste, mit dem Hünen aus Nordmar an seiner Seite war sein Sohn sicher.
    Hergor zeigte Branskar die ganze Umgebung Sildens und lange betrachteten sie die Überreste der alten Paladinsfeste auf dem großen See, die einst darin versank.
    Die beiden streunten den ganzen Tag durch die Gegend, zeitweise orientierungslos, und fanden sich einmal plötzlich vor den Stadtmauern von Geldern wieder.
    Doch den stolzen Barbaren interessierte die Natur, nicht die Stadt.
    Und so gingen sie weiter, bis sie kurz vor Sonnenuntergang ein kleines Rudel Snapper vor sich sahen.
    Die großen zweibeinigen Echsen hatten sie noch nicht gewittert, als Branskar sagte: „Es sind vier Tiere; die schnappen wir uns!“
    „Aber das sind Snapper!“, erwiderte Hergor verdutzt. „Ich habe noch nie einen Snapp...“
    „Dann wirst du eben heute einen Snapper erlegen.“, unterbrach ihn Branskar bestimmend. „Jetzt nur nicht ängstlich sein. Ich bin da – und die Trollfaust auch.“ Er legte Hergor die Hand auf die Schulter. „Jetzt leg einen Pfeil an und zeig mir, was du kannst...“
    Und wie es das Schicksal so wollte, erlegte Hergor an diesem Tag seinen ersten Snapper – im Alter von nur vierzehn Jahren.
    Den Rest des Rudels machte Branskar mit der Axt nieder. Er wollte den Jungen keiner Gefahr aussetzen.
    Als Geribald davon erfuhr, war er stolz, aber auch besorgt.
    „Das hast du gut gemacht, mein Sohn, aber merke: Übermut tut selten gut!“
    „Ich weiß, Vater, ich weiß...“, lachte Hergor, dann sagte er euphorisch:
    „Du solltest dir auch so eine Axt suchen, wie Branskar sie hat. Damit hat er den Snappern der Reihe nach die Schädel gespalten!“
    Die beiden Männer lachten laut auf und Branskar sagte: „Junge, in Nordmar habe ich versucht, deinem Vater den Axtkampf beizubringen – aber es schien hoffnungslos...“
    Wieder lachten die Männer laut auf, doch dann fügte Branskar hinzu: „Nein, im Ernst, Junge: Dein Vater ist ein Meister des Bogens, so wie ich ein Meister der Axt bin; und dein Vater würde, mit einer Axt bewaffnet, in der Schlacht ebenso schnell niedergemacht werden, wie ich mit einem Bogen. – Riskiere nicht dein Leben, nur um dir vorzugaukeln, du wärest Meister in allen Dingen. Dein Vater hat schon recht: Übermut tut selten gut.“
    Der Barbar aus dem Norden wirkte sehr weise, wenn er sprach, und Hergor sah, dass selbst Geribald ihn verwundert ansah.
    Spät in der Nacht hörte Hergor die beiden Männer noch reden:
    „Weißt du, Geribald, dass dein Sohn ein großer Schütze ist?“, fragte Branskar leise.
    „Er hat mir von seinen Fortschritten erzählt, doch mit meinem Bein konnte ich noch nicht wieder mit ihm auf die Jagd gehen, um es selbst zu sehen.“, antwortete Geribald.
    „Der Pfeil ging dem Snapper glatt durch den Hals und landete im Baum dahinter.“, berichtete Branskar darauf und wartete die Reaktion seines Freundes ab.
    Geribald sagte darauf nichts, doch es war ein anerkennendes Schweigen; ein Schweigen vor Staunen.
    Wenige Tage später reiste Branskar wieder zu seinem Clan.
    „Mit geballter Trollfaust, für Innos!“, rief er fröhlich, bevor er verschwand.

    Geribald hatte noch einige Monate Zeit, bevor er wieder zur Streitmacht Rhobars II berufen wurde und diese Zeit verbrachte er mit Hergor.
    Oft gingen sie zusammen auf die Jagd und Geribald zeigte seinem Sohn die letzten Tricks und Feinheiten, die dieser noch nicht beherrschte.
    Die Verletzung aus dem Krieg hatte beiden, Vater und Sohn, klargemacht, dass immer die Gefahr bestand, sich nach einer Schlacht nicht wiederzusehen, obwohl Geribald ein Schütze war und nicht in der ersten Reihe kämpfte. Der nächste verirrte Pfeil könnte Geribald unglücklicher treffen, als im Bein.
    So verbrachten sie die meiste freie Zeit miteinander und als Geribald wieder nach Nordmar gerufen wurde, war er sich sicher, dass Hergor fähig war, allein klarzukommen – zur Not für immer.
    „Solltest du trotzdem in Geldnot kommen, Hergor, dann verkaufe diesen alten Goldkelch.“
    „Aber es ist doch ein Erbstück von Großvater! Wer weiß, was die feinen Runen darauf bedeuten und was sie mit ihm zu tun hatten?“
    „Das weiß ich auch nicht, aber solltest du in Not geraten, verkaufe das Ding. Du musst dich am Leben halten!“
    Diese Worte stimmten Hergor traurig, denn Vater schien besorgt, und schon bald müsste er wieder kämpfen, in diesem schrecklichen Krieg.
    Alles, woran Hergor sich gewöhnt hatte, schien im Wandel zu sein. Und irgendwie spürte er auch, dass er den goldenen Kelch seines Großvaters bald verlieren würde.
    Geribald zog wieder nach Nordmar und fand Branskar schnell wieder. In jeden Kampf zogen sie gemeinsam, doch kämpften sie nur selten Seite an Seite, da Branskar mit seiner Trollfaust in vorderster Reihe stand und Geribald mit seinem Bogen in hinterster.
    Hergor, in Silden, fühlte sich wieder einsam und ging viel jagen. Manchmal besuchte er auch Margot.
    Als eines Tages ein Bote der Armee kam und ihm einen Brief überreichte, befürchtete er, etwas Schreckliches sei geschehen. Deshalb freute es ihn umso mehr, als er in dem Brief die Handschrift seines Vaters erkannte.

    Mein lieber Sohn,
    ich hoffe, du bist wohlauf!
    Branskar und ich leben, und sind unverletzt.
    Doch das kann sich schnell ändern, denn es steht schlecht um den Krieg:
    Wir verlieren immer mehr Stützpunkte und jeden Tag fallen mehr Männer.
    Außerdem stockt der Erzabbau.
    Es wird nicht mehr lange dauern, und der Krieg tobt auch in Myrtana.
    Ich schreibe dir dies, damit du dich vorbereiten kannst,
    auf eine ungewisse Zukunft.
    Das göttliche Gleichgewicht bricht auseinander.
    Beliar ist über uns gekommen, mein Junge!
    In Liebe, dein Vater


    Hergor dachte lange über die Worte seines Vaters nach. Silden war schlecht befestigt und nicht weit entfernt gab es einen Pass nach Nordmar. Sollten die Orks kommen, würde Silden zuerst fallen.

    Jahre zogen dahin und Hergor verdiente durch die Jagd so gut, dass er eines Tages nach Geldern ging und seinen alten Bogen gegen einen nagelneuen Wolfsfetzer eintauschte.
    Gegen die Orks wollte er nicht kämpfen, denn er hasste den Krieg, aber er wollte sich in jedem Fall verteidigen können.
    Als er wieder bei seiner Hütte in Silden ankam, erlebte er eine freudige Überraschung, denn sein Vater war wieder da.
    Sie begrüßten sich herzlich, doch dann fragte Hergor erschrocken:
    „Wo ist Branskar?“ Geribald lächelte: „Keine Sorge, er lebt. Bald kommt er nach... Ich bin froh, wieder hier zu sein. Wenigstens hier scheint der Wahnsinn noch nicht ausgebrochen zu sein.“
    „Du siehst trotz des Wahnsinns noch ganz gut aus.“, bemerkte Hergor. Geribalds Lächeln ermattete.
    „Ja, man sieht es mir nicht an, aber ich bin müde...“
    Wenige Tage später erreichte auch Branskar das Fischerdorf.
    „Ahh! Es ist schön, mal wieder hier zu sein!“, sagte er mit lauter, freudiger Stimme. Dann fragte er: „Wann geht’s wieder auf die Jagd, Hergor?“
    „Wann immer Ihr wollt, edler Nordmann!“
    Irgendwie war es eine friedliche Zeit, obwohl die Bedrohung aus dem Norden allgegenwärtig war.

    Hergor wurde bald siebzehn Jahre alt, als er eines Tages nachts allein von einer Reise in die Stadt Montera, südöstlich von Silden, heimkehrte.
    Die Wälder waren dunkel und unheimlich, deshalb ging Hergor Umwege, die ihm weniger gefährlich schienen.
    Vor Räubern fürchtete er sich nicht, sondern eher vor den Wesen der Nacht: Untote, Gargoyles und Dämonen.
    Die Pfade, die er ging, lagen trotz allem noch sehr nah am Wald, und er ging sehr schnell.
    Er hätte abwarten sollen, bis das Tageslicht wiederkehrte, doch die Vorzeichen des Krieges mehrten sich und er wollte bei seinem Vater und bei Branskar sein, wenn die Orks kommen sollten.
    Branskar war nun schon über einen Monat bei ihnen zu Gast, denn die Verbindungswege nach Nordmar waren besetzt und viel zu gefährlich für einen einzelnen Mann.
    Selbst, wenn dieser Mann Branskar vom Feuerclan war.
    Ein unheilvolles, lautes Knurren riss Hergor aus seinen Gedanken. Er legte einen Pfeil an den Bogen, doch dann – Ein weiteres Knurren, ein Aufheulen, und der Wolf war tot.
    Hergor bekam es mit der Angst zu tun.
    Jemand tötet leise Wölfe...
    Er rannte weiter; weg vom Waldrand.
    Dann hörte er wieder etwas: Ein rennender Wolf kam in seine Richtung. Noch ehe Hergor ihn erlegen konnte, war der Wolf auch schon an ihm vorbeigerannt, als ob er panisch vor etwas flüchtete.
    Mit einer grausigen Vorahnung sah Hergor in die Richtung des Waldes.
    Es war nicht mehr, als eine klitzekleine Bewegung in weiter Ferne, die er vernahm. Er fing an zu schwitzen, spannte den Bogen...
    Wieder eine Bewegung, diesmal näher.
    Aufgrund der Dunkelheit erkannte Hergor nichts genaueres...
    Ein leises Rascheln, ganz in seiner Nähe, und –
    Die Bestie sprang mit Riesensätzen auf ihn zu und ihre Zähne schimmerten leicht in dem riesigen Maul.
    Hergor schoss vor Schreck seinen Pfeil ab, der einen der vier Füße der Kreatur traf. Diese heulte auf, ließ sich jedoch nicht von ihrem Kurs abbringen.
    Während Hergor einige Meter von ihr wegrannte, legte er einen neuen Pfeil an und schoss ihn, im Lauf, über seine Schulter hinweg ab. Er traf die Seite des Biests, das nur noch aggressiver wurde.
    Hergor spürte, dass er nur noch eine letzte Chance hatte. Er spannte den Bogen, stellte sich der Kreatur entgegen, zielte genau und schoss, als sie ihren letzten großen Satz in seine Richtung machte.
    Durch das vor Gier geöffnete Maul des Untiers, drang der Pfeil tief in das Innere des Wesens vor, und tötete es auf der Stelle, so dass es Hergor mit einem letzten Schnauben vor die Füße fiel.
    Bisher hatte der Junge nur in den Geschichten seines Vaters von solchen Tieren gehört, doch er erkannte es sofort:
    Es war ein Schattenläufer.
    Ein Tier, dem einige Leute magische Fähigkeiten nachsagten.
    Sein Herz raste noch immer vor Schreck, doch schnell fasste er wieder klare Gedanken: Er brauchte einen Beweis für seinen Triumph über das majestätische Raubtier.
    Also zückte er ein Messer und ging auf den toten Körper zu. Er hatte keine Zeit, ihm das komplette wertvolle Fell abzuziehen, da noch andere Bestien in der Nähe sein konnten. Doch allgemein waren Schattenläufer Einzelgänger.
    Er wählte deshalb das Horn auf dem monströsen Schädel als Trophäe aus.
    Es war schwer anzuschneiden, da es sehr hart war. Deshalb suchte Hergor sich einen Knüppel und schlug damit solange dagegen, bis es brach.
    Mit dem Schattenläuferhorn im Gepäck ging Hergor den Rest seines Weges zurück nach Silden.
    Geribald und Branskar saßen am Feuer, als Hergor die Hütte betrat. Sie unterbrachen ihr Gespräch, das wahrscheinlich vom Krieg handelte, und empfingen ihn herzlich.
    Mit den Worten: „Seht, was ich erlegt habe!“, zog Hergor das Horn aus der Tasche.
    „Bei Innos!“, entfuhr es den beiden gläubigen Männern gleichzeitig.
    Gerade wollte Geribald sich das Horn etwas näher ansehen und seinem Sohn das größte Lob aussprechen, da ertönte laut die Stimme des Marktschreiers:
    „Männer, zu den Waffen! Die Orks kommen! Die Orks kommen!“
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 20:41 Uhr)

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    Kapitel II
    Die Zeit der Besatzung


    „Du musst fliehen, Hergor! Verstecke dich im Wald! Ich will nicht auch noch meinen Sohn an die Orks verlieren.“
    Das waren die letzten Worte, die Hergor von seinem Vater hörte, bevor dieser mit Branskar in den Kampf um Silden zog.
    Zuerst wollte Hergor die beiden Männer nicht verlassen, doch dann befolgte er den Wunsch seinen Vaters.
    Er eilte in die ihm vertrauten Laubwälder um Silden, die er so gut kannte, dass er sich darin sicher fühlen konnte.
    Dies war die schrecklichste Nacht in Hergors Leben: Er sah Silden brennen und er hörte schreckliche Schreie des Schmerzes und des Todes, sowohl von Menschen, als auch von Orks.
    Doch das schlimmste war, dass sein Vater und Branskar mittendrin waren.
    Die Kämpfe dauerten mehrere Tage an und kosteten viele Leben, denn als die Sildener Truppen schon geschlagen waren, griffen weitere Kompanien des Königs die von den Orks besetzte Stadt an.
    Erst, als der Wille der Menschen gebrochen, und die orkischen Besatzer akzeptiert waren, kehrte wieder Ruhe in Silden ein.
    Doch die Orks gingen grob mit den Menschen um und versklavten sie. Einigermaßen respektiert wurden nur die Männer, die sich als Söldner der Sache der Orks anschlossen.
    Neue Verwalter von Silden wurden ein Ork-Feldherr namens Umbrak und sein Schamane Grompel. Es dauerte nicht lange, und Umbrak verbot den Menschen sogar, zum Fischen auf den See hinauszufahren.
    Lange sah man vor Silden keine Boote treiben, wofür das Dorf der Jäger und Fischer doch eigentlich bekannt war. Die menschliche, versklavte Bevölkerung litt zunehmend an Hunger.
    Die Orks zwangen die Menschen, neben anderen schweren Arbeiten, auch zur Beseitigung der Leichen vor und in der Stadt.
    Das bedeutete Massengräber für Menschen und ehrenvolle Bestattungen für die gefallenen Orks.
    Wer noch immer Widerstand leistete, wurde gefoltert, getötet und öffentlich im Dorf zur Schau gestellt – Es war eine Terrorherrschaft.
    Trotzdem – oder gerade deswegen – gab es immer wieder Menschen, die sich gegen die Orks stellten. Anfangs waren sie noch unorganisiert, doch schon bald vereinten sich die Rebellen und Königstreuen und führten gut geplante Gegenschläge durch.
    Die Orks konnten nur vermuten, dass sich ihre Lager in irgendeinem der umliegenden Wälder befanden.
    Es war ein hartes Leben für die Menschen, auch für Hergor.
    Seit dem Tag des Angriffs lebte er im Wald, denn er wollte nicht versklavt werden. Und der Angriff war mittlerweile fast zwei Monate her.
    Hergor wirkte heruntergekommen, sah wie ein Landstreicher aus. Nur durch sein enormes Jagdtalent konnte er überhaupt überleben, doch das Jagen machte ihm keine große Freude mehr: Die Wälder hatten sich zu sehr verändert.
    Fast jeden Tag stolperte er irgendwo über eine menschliche Leiche und jedes Mal hatte er Angst, dass es sein Vater oder Branskar sein könnten.
    Hergor ging davon aus, dass beide tot waren – von Orks ermordet – doch trotz seiner Befürchtungen fand er die Leichen nicht.
    Dafür stieß er einmal auf die verwesende Leiche eines ausgewachsenen Ork-Kriegers. Es war das erste Mal, dass Hergor einen Ork sah, und er war erleichtert, dass dieser tot war.
    Ab und zu traf er aber auch lebende Menschen, die Vogelfreie waren, genau wie er. Meist waren es Rebellen, die die großen Wälder für Orks unsicher machten und gelegentlich ganze Gruppen oder Kompanien von ihnen überfielen.
    Wahrscheinlich bestraften die Orks dafür ihre Sklaven umso brutaler.
    Von einem jener Rebellen, der ebenfalls ein Jäger war, erfuhr Hergor, dass die Orks kurz davor waren, die Verteidigung der Stadt Geldern zu brechen. Die Expansion der Orks über ganz Myrtana schien unausweichlich.
    In einer nassen und kalten Nacht, die Hergor zum Schutz vor wilden Tieren auf einem Baum verbrachte, erinnerte er sich an seine Hütte in Silden, wo er einst sorglose Nächte verbrachte.
    In der Wildnis konnte er nie richtig schlafen, denn auch der vertrauteste Wald kann voller unvertrauter Gefahren sein.
    Bei diesen Gedanken fiel Hergor plötzlich auch wieder der Goldkelch seines Großvaters ein.
    Immer, wenn Geribald aus dem Krieg heimkehrte, war Hergor stolz gewesen, dass er den Kelch nicht verkaufen musste; und jetzt, beim Angriff der Orks, hatte er ihn in der Aufregung einfach vergessen.
    Er wollte sich selbst ohrfeigen, doch das hätte auch nichts gebracht. In dieser ganzen, schlaflosen Nacht dachte Hergor über das Vergangene und über seine derzeitige Situation nach.
    Er war es leid, dass er im Wald leben musste;
    Er war es leid, sein ganzes Eigentum in den Händen der Orks zu wissen;
    Und er war es leid, dass über alle Dinge der Schatten der Ungewissheit lag. Deshalb fasste er den trotzigen Entschluss in der darauf folgenden Nacht nach Silden zurückzukehren und sich – trotz der orkischen Besatzer – über die Lage seines Heimatdorfes zu informieren. Denn die Informationen, die er von anderen Vogelfreien bekam, reichten Hergor nicht mehr aus; und vielleicht würde er ja sogar etwas über Geribald und Branskar erfahren.
    Also machte Hergor sich am nächsten Tag während der Abenddämmerung auf nach Silden.
    Über die Gefahren dieses Unternehmens war er sich im klaren, doch er würde sich nicht gefangen nehmen lassen. Eher würde er sterben.

    Die Fackeln um Silden brannten schon und die orkischen Torwachen blickten wachsam auf die Wälder. Auf diesem direkten Wege konnte Hergor die Stadt nicht betreten. Er schlich sich – in weiter Entfernung zur Stadt – an das Ufer des großen Sees, in dessen Mitte die alte Paladinsfeste einst versank, und schwamm auf die Stadt zu, die direkt an dem See angelegt war.
    Das Wasser war kalt, also schwamm Hergor umso schneller und versteckte sich dann in dem dichtem Schilf am Ufer. Dort verweilte er kurz und lauschte frierend. Einige Orks, offenbar betrunken, pöbelten durch das Dorf und schüchterten die paar Menschen ein, die noch nicht in ihren Hütten waren: „Wenn es nach mir ginge, wäret ihr Morras jetzt alle tot! Nur leider geht es nie nach mir... Aber das kann sich ja noch ändern!“
    Ein anderer Ork antwortete: „Ja! Umbrak geht viel zu milde mit den Morras um. Du wärest ein besserer Anführer, Pengroll!“
    Darauf zog die Meute weiter, und Hergor verließ sein Versteck.
    Der Anblick Sildens war schrecklich: Viele der Hütten waren zerstört, andere beschädigt und nur oberflächlich repariert. Die Menschen (von den Orks 'Morras' genannt) wurden in den schlechtesten Unterkünften zusammengepfercht und durften diese nachts nicht verlassen, um die Fluchtgefahr zu minimieren.
    Überall lagen Bretter, Steine, Trümmer und vor allem der Müll der Orks herum. In einiger Entfernung hingen Leichen von Menschen an Holzkonstruktionen – von den Orks hingerichtete Rebellen.
    Später wusste Hergor nicht mehr, wie lange er nur so dastand und sich die grausame Verwüstung des einst so idyllischen Dorfes Silden ansah.
    Dann bemerkte er, dass er beobachtet wurde. Aus einer der brüchigen Holzhütten stierte ein im Mondschein glänzendes Augenpaar in seine Richtung. Ängstlich erwiderte er den Blick, dann hörte er die Person leise sagen: „Hergor! Komm her!“
    Es war die ihm wohl bekannte Stimme einer alten Frau.
    Hergors Angst verflog, denn er ahnte, wer sie war. „Margot? Bist du das?“
    „Ja, ich bin es, Hergor! Komm zu mir ans Fenster!“
    Margot war eine stämmige alte Fischerin aus Silden, die eigentlich jeder mochte. Das Gegenteil hätte allerdings auch niemand zugegeben, denn keiner wollte sich mit ihr anlegen. Hergor war froh, dass sie noch lebte.
    „Verdammt Hergor, was machst du hier? Du setzt dein Leben aufs Spiel!“
    „Das weiß ich... Ich hab's draußen einfach nicht mehr ausgehalten.“
    Sie blickte ihn böse an: „Du hältst es draußen nicht aus? Frag doch mal, wie es uns hier drinnen geht! – Ach, egal. Lass dich drücken!“
    Durch das Fenster zog sie ihn, an seinen nassen Klamotten, zu sich heran, und drückte ihm beinahe die Luft ab.
    „Ahh, bin ich froh, dich wieder zu sehen! Ich hatte schon Angst... naja. Jetzt erklärst du mir erstmal, was du in diesem Sklavenlager willst.“
    Erwartungsvoll blickte sie Hergor an.
    „Ich versuche herauszufinden, was mit meinem Vater und mit Branskar passiert ist.“ „Branskar?“
    „Na, du weißt schon... Der Nordmann vom Feuerclan.
    „Ach, dieser Riesenkerl! Hm... Ich hab von beiden nichts wieder gehört, tut mir wirklich Leid. Sie werden wohl in der Schlacht umgekommen sein.“
    Ihr Blick wurde mitleidig. Hergor antwortete:
    „Das denke ich auch... Leider... Aber wie ergeht es euch hier drinnen?“
    „Na, Augen auf, Hergor! Wie du siehst, werden wir wie Dreck behandelt. Die Orks passen nur auf, dass wir nicht abhauen; die ganze Arbeit verrichten wir. Sie benutzen uns sogar für ihre lächerlichen Ausgrabungen. Überall, wo sie Wertgegenstände und antikes Zeugs vermuten, lassen sie uns buddeln; nur gefunden wurde noch nichts.
    Viele Sklaven nutzen den Weg zu den Ausgrabungsstellen, um zu den Rebellen zu flüchten. Aber zur Flucht bin ich wohl leider zu alt...“
    Traurig blickte Margot zu Boden.
    Bei der verzweifelten Lage, in der die alte Frau sich befand, traute Hergor sich nicht, sie nach etwas so unwichtigem, wie dem Kelch seines Großvaters, zu fragen.
    „Dann kommst du eben mit mir, Margot. Noch heute Nacht.“
    Sie lächelte ihn gequält an.
    „Nein Hergor, das geht nicht. Ich bin alt, ich kann nicht im Wald leben, so wie du. Trotzdem vielen Dank.“
    Hergor wollte das nicht verstehen. „Aber jetzt, wo die Orks Geldern belagern, sind sie abgelenkt. Es ist die beste, vielleicht die einzige Möglichkeit!“
    Verdutzt sah Margot ihn an. „Aber Hergor! Die Orks belagern Geldern nicht mehr. Die Stadt ist vor gut einer Woche gefallen!“
    Das war ein Schock für Hergor. Geldern hatte hohe, steinerne Stadtmauern; im Vergleich zu Silden, mit seinen Palisadenwällen, war es eine richtige Festung.
    „Das wusste ich nicht, Margot...“, sagte er traurig und überlegte kurz, dann kam ihm ein Gedanke: „Ich werde den Rebellen-Untergrund suchen! Wenn ich die Lager der Rebellen gefunden habe, komme ich wieder und bringe dich dorthin.“
    „Riskiere für mich nicht dein Leben, Hergor. Ich schaffe das schon so... Und jetzt verlasse Silden! Wenn die Orks oder ihre Söldner dich hier finden, werden sie dich sofort töten! Schließlich bist du bewaffnet.“
    „Wir werden uns wiedersehen, Margot!“, verabschiedete er sich, mit dem festen Vorsatz, die alte Frau aus der Sklaverei zu befreien.
    Bevor Hergor zurückschwamm, riskierte er noch einen kurzen Umweg zu seiner alten Hütte, ganz in der Nähe. Sie stand noch. Durch ein Fenster sah er, dass ein Ork darin schlief. Sein Kelch jedoch war nirgends zu sehen; Sicher hatten die Orks ihn sich unter den Nagel gerissen.
    Etwas enttäuscht verließ Hergor das Rattenloch Silden, sein einstiges Heimatdorf.

    Auf dem Weg zurück in seinen gewohnten Waldabschnitt sammelte Hergor Äste, die er als Feuerholz benutzen konnte. Seine Kleidung war vom Wasser des Sees durchnässt und er fror fürchterlich. In einiger Entfernung hörte Hergor einen Scavenger kreischen. Wenn er diesen schießen konnte, hätte er seine nächsten Mahlzeiten gesichert, denn die großen, flugunfähigen Vögel waren sehr nahrhaft.
    Er ging in die Richtung, aus der der Schrei kam, doch ihn überkam plötzlich ein seltsames Gefühl: Eine Kälte umfing ihn, die nicht von seiner nassen Kleidung her rührte...
    Hergor rannte weiter und versuchte, sein Unwohlsein zu verdrängen, doch mit jedem Schritt wurde es schlimmer.
    Dann sah er einen toten Mann vor sich auf dem Boden liegen. Er hielt an, und entdeckte noch zwei weitere Leichen. Sie rochen fürchterlich; wahrscheinlich waren sie in der großen Schlacht vor zwei Monaten gestorben.
    Hergor überkam das dringende Bedürfnis, weiter zu laufen; weit weg von den toten Männern. Er fragte sich, woher dieser Wunsch rührte, schließlich hatte er schon viele tote Männer gesehen. Doch er hörte auf sein Bauchgefühl und rannte weiter.
    Dann ertönte ein Schrei: „AARGHH!“
    Hergor hielt inne. Der Schrei klang nicht menschlich; es war ein Ork. Hergor fuhr zusammen, als er weitere Leichen in seiner Umgebung sah.
    Hat der da gerade seinen Arm bewegt?
    Nein, das war unmöglich.
    „Dreckige tote Morras! Ich hack' euch in Stücke!“, schrie der Ork. Es folgte das hässliche Geräusch einer Axt, die einen Körper traf.
    Der tote Kerl da zuckt doch, oder?
    Dann kam Hergor die grauenhafte Erkenntnis...
    Er wollte zurücklaufen, doch hinter ihm hatten sich schon einige der toten Männer aufgerichtet und kamen auf ihn zu...
    Hergor geriet in Panik, griff aber instinktiv nach seinem Bogen.
    Der erste Pfeil traf einen der Untoten mitten im Gesicht und riss ihn von den Füßen – doch er zuckte noch immer und kroch auf allen vieren weiter...
    „Da ist ja noch so ein toter Morra!“, hörte Hergor den Ork jetzt ganz in der Nähe schreien, dann brach er aus einem Gebüsch hervor und wollte Hergor erschlagen. Dieser wich der riesigen Ork-Axt knapp aus und schrie:
    „Ich bin kein Zombie! Ich kämpfe auf deiner Seite!“
    Der Ork sah Hergor kurz an. Hergor vermutete, dass er nicht auf ihn hören und ihn töten würde.
    Dann holte der Ork mit seiner Axt aus, und...
    ...schlug einem Zombie den Kopf ab, der sich leise von hinten an Hergor angeschlichen hatte, und ihn mit einem Schwert ins Reich Beliars befördern wollte.
    Hergor wunderte sich, dass er noch lebte.
    Dann nahm er das Schwert des –jetzt endgültig– toten Angreifers, und rannte dem Ork hinterher, der sich einer großen Überzahl an Zombies entgegenstellte.
    Die seelenlosen Körper entwickelten, trotz ihrer Vermoderung, ein vielfaches der Körperkraft eines lebenden Menschen. Sie sprangen den Ork an, krallten sich fest, und er konnte sie einfach nicht wieder abschütteln.
    Mit seinem neuen Schwert versuchte Hergor, dem Ork zu helfen, und als die Zombies merkten, dass da noch jemand auf sie einprügelte, ließen zwei von ihnen den Ork in Ruhe und gingen auf Hergor los.
    Jetzt sah er sie von Angesicht zu Angesicht im hellen Mondschein: Sie hatten viele offene Wunden, die voller Dreck und Erde waren. Ihr Blick war ausdruckslos, da die Augen fehlten oder bis zur Unkenntlichkeit vergammelt waren. Mit gebeugtem, humpelndem Schritt kamen sie auf Hergor zu – Langsam, aber bedrohlich...
    „Jetzt nehmt das, feige Schimmel-Morras!“, schrie der Ork, der sich befreit hatte, und spaltete weiter Zombies.
    Auch Hergor ging in die Offensive und schlug nach dem Hals des ersten Untoten. Obwohl der Schlag hart war, schaffte er es nicht, ihn ganz zu durchtrennen. Trotzdem ging der Zombie zu Boden und räkelte sich dort widerlich im Matsch.
    Der zweite Zombie schlug mit einem Knüppel nach Hergor, doch Hergor zerschlug diesen mit seinem Schwert. Jetzt ging der Untote mit seinen bloßen, verschimmelten Armen auf ihn los; sein Mund war zum Beißen geöffnet und die Zähne waren verfault.
    Mit einem wütenden Kampfschrei stürzte Hergor sich auf ihn und rammte ihm das Schwert durch den geöffneten Mund, so dass es durch den kompletten Schädel ging und in einem Baum, hinter dem Zombie, steckenblieb.
    Es war ein schrecklicher Anblick, wie der Zombie mit einem Schwert durch den Kopf an einem Baum genagelt, versuchte, sich zu befreien. Immerhin war es der Körper eines Menschen, auch wenn die Seele ihn längst verlassen hatte.
    Hergor blickte hinüber zu dem Ork, welcher gerade seinen letzten Angreifer niedergestreckt hatte. Ihre Blicke kreuzten sich und der Ork rief: „Komm her, Morra!“
    Doch irgendetwas war da noch hinter dem Ork... Ein Leuchten, wie von Magie...
    Hergor sah genauer hin und das Leuchten wurde stärker, färbte sich rot... Ein schwebender, grinsender Totenkopf mit einer Kapuze –
    „PASS AUF!“, schrie Hergor und deutete auf das magische Wesen.
    Der Ork drehte sich erschrocken um, wich dem Feuerzauber des Skelettes knapp aus und warf sich zu Boden.
    Hergor, der mit seinem Bogen unschlagbar schnell war, hatte seinen letzten Pfeil schon angelegt –die anderen sind ihm im Kampf aus dem Köcher geschleudert worden– und schoss.
    Mit einem lauten Krachen ließ der Pfeil den Schädel des Feuerbälle werfenden Skelettes zersplittern – und das Schimmern seiner Magie erlosch.
    Der Ork, der noch immer auf dem Boden lag, sah Hergor verblüfft an, dann stand er auf und kam in seine Richtung.
    „Du bist ein tapferer Morra!“, sagte er schließlich, mit einem Blick auf den Zombie, den Hergor mit seinem Schwert an den Baum genagelt hatte und der noch immer versuchte sich zu befreien.
    Der Ork war weit über zwei Meter groß, seine Rüstung war zerrissen und zerschlagen und er blutete aus einigen Wunden. Er sah Hergor tief in die Augen und sagte: „Ja, ein sehr tapferer Morra. Ohne deine Hilfe hätten diese stinkenden Kletten mich sicher getötet... Bist du ein Ork-Söldner?“
    Nein!“, antwortete Hergor laut und energisch. Der Ork lachte; dann nahm er seine Axt und trennte mit einem Schlag Kopf und Körper des zappelnden Zombies voneinander. Der fahle, bläuliche Körper sackte zu Boden.
    „Dein Schwert steckt noch im Baum, Morra. Hast du einen Namen?“
    „Mein Name ist Hergor. Ich komme aus Silden.“ antwortete er und nahm sich die verrostete Klinge des Zombies zurück. Der Kopf hing noch immer daran.
    „Ein Flüchtiger also? Wir Orks schätzen die Stärke. Und du bist ein starker Krieger; vor allem mit deinem Bogen. Mein Name ist Korr-Pak.“
    Hergor sah sich die Berge von zerhackten Zombies an, die in seiner Nähe herumlagen. „Wo kommen all diese Höllenkreaturen her? Habt ihr Orks sie mit aus dem Norden gebracht, als ihr hier einfielt?“
    „Die toten Morras meinst du? Ha! Nein... Das sind alles Männer aus dieser Gegend hier...“
    Mit großen Schritten ging Korr-Pak in die Richtung des magischen Skelettes, vor dem Hergor ihn gerettet hatte.
    „Hier war eines der Massengräber für die getöteten Morras nach den großen Kämpfen. Ich wette, dieses magische Gerippe hat sie alle zu Zombies gemacht.“, sagte er, und deutete auf das Skelett in dem schwarzen Umhang. Hergor sah, dass das Skelett keinen Unterleib hatte.
    „Und wo kommt diese Kreatur Beliars dann her? Wandelnde Skelette hat es früher in dieser Gegend nicht gegeben.“
    Korr-Pak grinste ihn schief an. „Vielleicht kommt es ja von diesem Dämonenbeschwörer, der uns Orks zum Sieg verholfen hat.“
    „Wer?“, fragte Hergor verwirrt.
    „Seinen Namen habe ich vergessen. Er ist ein Morra; jedenfalls sieht er so aus. Er hat euch verraten und euren Magiern und Paladinen die Magie geraubt. Ein sehr mächtiger Mann – ein Diener Beliars!“
    Hergor war geschockt: Ein Mensch war für den Sieg der Orks verantwortlich?
    „Davon habe ich in Silden gar nichts mitbekommen... Kannst du mir noch mehr erzählen, Korr-Pak?“
    Der Ork lächelte grimmig. „Nicht hier. Dieser Ort ist verflucht. Lass uns zurück ins Dorf gehen.“
    „Du weißt doch, dass ich nicht zurück ins Dorf kann. Schließlich bin ich ein flüchtiger Morra.“
    Korr-Pak sah Hergor mit strenger, orkischer Miene an, dann sagte er voller Ernst: „Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot; wir haben Seite an Seite gekämpft; wir sind Brüder!“
    Hergor fehlten die Worte; der Ork sprach weiter.
    „Die Orks in Silden werden dich respektieren, weil ich dich respektiere. Und es kommt nicht oft vor, dass ein Ork einem Morra viel Respekt entgegenbringt. Also folge mir nach Silden, Hergor.“
    Die Worte des Orks klangen ehrlich und Hergor vertraute ihm.
    Was in dieser Nacht geschehen war, hätte er sich nie träumen lassen: Er hatte einem Ork das Leben gerettet – und dieser Ork nannte ihn nun 'Bruder'.

    Auf dem Weg nach Silden erfuhr Hergor noch einige Fakten über den Krieg, die ihn schockierten: Am schlimmsten erschien ihm, dass die Menschen aus dem südlichen Wüstenreich Varant zum größten Teil mit den Orks kooperierten. So wurde Myrtana aus dem Norden von den Orks, und aus dem Süden von den Assassinen bedroht.
    Doch das war kein Wunder, denn die Assassinen beteten, genau wie die Orks, den finsteren Gott Beliar an.
    Der Sage nach war Innos der Gott des Lichts und des Lebens, und Beliar der Gott der Verwüstung und des Todes. Zwischen ihnen stand Adanos, der für ein Gleichgewicht im göttlichen Gefüge sorgen sollte.
    Dieses Gleichgewicht ist, wie Geribald es einst in seinem Brief ankündigte, zerstört worden – durch die Tücke Beliars.
    Hergor und Korr-Pak erreichten Silden im Morgengrauen. Viele Orks waren schon auf den Beinen; die Sklaven sowieso. Die orkischen Torwachen sahen Hergor misstrauisch an, sagten jedoch nichts, da er in orkischer Begleitung war.
    In der Stadt wurde Hergor von den meisten Orks ignoriert. Sie hielten ihn anscheinend für einen ihrer Söldner.
    Korr-Pak wies Hergor eine freie, marode Hütte zu. Trotz der vielen Orks draußen, schlief Hergor darin sofort ein.
    Als er wieder erwachte, lag neue, stabile Kleidung für ihn bereit. Es war eine leicht gepanzerte Kluft der Orksöldner. Hergor zog sich an und verließ die Hütte.
    Ein kahl rasierter Mann mit einer Axt auf dem Rücken rief ihm zu:
    „Bist wohl jetzt einer von uns, Kleiner, was?“
    Hergor grüßte den Orksöldner, dachte jedoch insgeheim: Niemals werde ich einer von euch sein!
    Hergor konnte sich nicht an die Orks gewöhnen, obwohl Korr-Pak schon fast wie ein Freund für ihn war.
    Geribald und Branskar waren aller Wahrscheinlichkeit nach tot und die Orks waren dafür verantwortlich.
    Korr-Pak kam plötzlich aus einer Gasse. Hergor erkannte ihn sofort, obwohl die Orks sich, in seinen Augen, alle ähnelten.
    „Na? Passen dir die Sachen? Wir haben sie extra für die –“
    „KORR-PAK!“, schrie plötzlich ein anderer, noch größerer Ork-Krieger. Hergor hatte ihn schon einmal gesehen: Es war der pöbelnde Ork, den er in der letzten Nacht unfreiwillig belauscht hatte.
    „Wer ist das, dem du da eine unserer Rüstungen gegeben hast?“, brüllte er; doch Korr-Pak ließ sich nicht einschüchtern.
    „Sein Name ist Hergor. Dieser Morra hat mir das Leben gerettet. Du kannst ihm vertrauen.“, sagte er und blickte dem Krieger dabei die ganze Zeit über in die Augen. Sie standen fast Nase an Nase voreinander und sahen sich böse an. Es bildete sich eine schweigende Menge um die beiden Orks.
    „Hergor... so,so...“, sagte der Krieger schließlich. „Du siehst mir aus, wie ein Schwächling, der mit den Frauen und Kindern getürmt ist, als wir euer Dorf angegriffen haben!“
    „Mein Vater hat mir befohlen –“, begann Hergor, doch der Ork unterbrach ihn. „Du hast also nicht gekämpft?“
    „Nein.“
    Die Menge der Orks begann höhnisch zu lachen.
    „Dieser Morra hat dir also das Leben gerettet, Korr-Pak? Wovor denn eigentlich? Vor einer Riesenratte?“
    „Nein, vor Untoten.“, erwiderte Korr-Pak laut. „Er hat mit Ehre gekämpft.“ Hasserfüllt sah der fremde Orkkrieger Hergor an.
    „Wenn er nicht aufpasst, ist er selbst bald untot...“, sagte er und ging weiter. Einige Orks folgten ihm.
    „Das war Pengroll.“, sagte Korr-Pak schließlich. „Seit er im Kampf angeblich zehn von euch Morras erschlagen hat, führt er sich auf, als wäre er unser Feldherr. Aber er ist nur ein ehrloser Aufschneider.“
    ...zehn von euch Morras erschlagen... wiederholte Hergor wütend in seinen Gedanken... Wie viele hat Korr-Pak wohl getötet?, fragte er sich dann.
    Andererseits hatten Geribald und Branskar auch unzählige Orks getötet...
    „Ich bringe dich durch meine Anwesenheit in Gefahr, Korr Pak. Ich werde Silden wieder verlassen.“
    „Das ist deine Entscheidung.“, antwortete Korr-Pak mit seiner tiefen Ork-Stimme. „Werden wir uns wiedersehen, Hergor von Silden?“
    „Ja, Korr-Pak, das werden wir.“

    Hergor hielt sich nordwestlich von Silden, nah an einem Fluss. Nach seinem nächtigen Erlebnis mit den Untoten, traute er sich nicht in den Wald hinein, obwohl es ein ganz anderer, weit entfernter Waldabschnitt war.
    Es war Nachmittag, er saß auf dem Gras einer Wiese, sah sich den Fluss an und dachte über das Vergangene nach: Er hatte sich mit einem Ork angefreundet; einen anderen Ork hatte er sich dadurch zum Feind gemacht; und alle Orks in Silden hielten ihn für einen Feigling. Das war keine gute Entwicklung.
    Hätte Hergor gewusst, dass dies noch lange nicht das Ende seiner seltsamen Erlebnisse war, wäre er vermutlich verzweifelt, denn plötzlich...
    „Jetzt, Jungs! Schnappt ihn euch!“
    Fünf bewaffnete Männer kamen aus dem Wald hinter ihm; drei von ihnen visierten ihn mit ihren Bögen an, die anderen beiden drohten ihm mit Schwertern. Einer von ihnen ergriff das Wort:
    „Leg deine Waffen ab, Junge! Hiermit bist du ein Gefangener der königstreuen Rebellen Sildens. Versuchst du zu fliehen, töten wir dich; greifst du uns an, töten wir dich; stellt sich nachher heraus, dass du wirklich ein Orksöldner bist, töten wir dich.“
    Hergor wollte sich gerade rechtfertigen, da verband man ihm Mund und Augen. Seine Hände fesselten sie ihm auf dem Rücken. Dann zogen die Männer ihn mit sich, dem Geruch nach zu urteilen, tief in den Wald. Keiner sprach ein Wort. Eine halbe Stunde folgte Hergor den Männern blind, die ihn mit sich zogen. Dann hörte er plötzlich um sich herum Stimmen: Männer, die sich unterhielten; ab und zu auch Frauen. Er musste die Rebellenlager erreicht haben. Dann blieben seine Wächter plötzlich stehen.
    „Das ist der Kerl, den wir gestern mit dem Ork beobachtet haben, Hauptmann Anog.“
    Jemand nahm Hergor die Augenbinde ab; es dauerte lange, bis er sich wieder an das Sonnenlicht gewöhnte.
    Vor ihm stand der Hauptmann der hiesigen Rebellen, Anog, und musterte ihn skeptisch.
    „Er trägt die Kleidung der Orksöldner.“, bemerkte der Mann, der Hergor hergebracht hatte.
    „Das heißt noch garnichts.“, sagte Anog ruhig. „Bringt ihn in mein Zelt. Ich werde ihn verhören.“
    „Jawohl, Hauptmann!“
    Das Verhör dauerte knapp zwei Stunden und die Fragen wiederholten sich immer und immer wieder:
    Wie war dein Name doch gleich?
    Was hast du die letzten Monate getrieben?
    Wo genau hast du die Kleidung noch her?
    Warum warst du noch mit dem Ork unterwegs?

    Hergor beantwortete alle Fragen ehrlich, und als er Geribald und Branskar erwähnte, horchte Anog auf.
    Als Hergor total fertig war, beendete Anog das Verhör und verließ das Zelt. Dank Hergors guten Jägerohren, konnte er ein Gespräch mithören.
    Anog sagte: „Seine Geschichte klingt sehr wirr. Er erzählt von Untoten, und dass er den Ork angeblich gerettet hätte. Andererseits behauptet er, keiner ihrer Söldner zu sein.“
    Ein anderer Mann fragte: „Sollen wir ihn aufhängen?“
    „Nein.“, antwortete Anog zu Hergors Erleichterung. „Seine Geschichte mag verworren klingen, aber ich glaube ihm. Und jetzt lasst Branskar holen.“
    Hergor wäre, trotz seiner Fesseln, fast aufgesprungen, als er das hörte.
    ...lasst Branskar holen...
    Eine Weile später hörte er Anog wieder: „Branskar, bitte gehe in mein Zelt und verrate mir, ob du den Jungen darin kennst.“
    „Ein Junge?“, fragte der Nordmann, als hätte er sich verhört.
    „Ja, ein Junge.“, erwiderte Anog.
    Der Eingang des Zeltes öffnete sich...
    HERGOR!“, schrie Branskar vor Freude, dass es in den Ohren wehtat. „Ich dachte, du wärest tot!“
    „Dasselbe dachte ich von dir, Branskar. Ich bin froh, dass es nicht so ist.“
    Der Nordmann löste Hergors Fesseln und umarmte ihn, dass Hergor die Luft wegblieb. Als er wieder Luft bekam, fragte Hergor:
    „Was ist mit meinem Vater geschehen?“
    „Ich weiß es nicht.“, sagte Branskar. „In der Schlacht wurden wir voneinander getrennt.“ Der Hüne blickte nun sehr traurig.
    „Die Herren kennen sich anscheinend wirklich.“, sagte Anog, der plötzlich im Eingang des Zeltes stand. „Du musst verzeihen, Hergor, dass wir so misstrauisch sind. Die derzeitige Lage des Krieges verpflichtet uns eben dazu.“
    „Wie steht es denn um den Krieg?“, fragte Hergor.
    „Die Orks überrennen eine Stadt nach der anderen... Kürzlich erreichte uns die Kunde, dass auch Montera gefallen sei, von Dörfern wie Ardea oder Kap-Dun mal ganz zu schweigen.
    Die Orks stehen jetzt vor Trelis, aber es sieht wirklich schlecht für die Stadt aus. Nur Gotha, die Festung der Paladine, setzt sich erfolgreich zur Wehr. Von unserer Hauptstadt Vengard haben wir noch nichts gehört.“
    „Bei Innos...“, stöhnte Hergor, als ihm das Ausmaß dieses Krieges klar wurde. „Und ich habe einem von ihnen das Leben gerettet!“
    „Du hast was?!“, fragte Branskar.
    „Du sollst seine Geschichte später erfahren, Branskar. Hört erst meinen Auftrag für euch: Branskar, du begleitest Hergor zurück nach Silden. Er kennt den Weg noch nicht. Dann wartest du, bis Hergor zurückkehrt.
    Hergor, du betrittst das Dorf und nimmst Kontakt zu dem Orksöldner Inog auf; er ist mein Bruder und unser Spion bei den Orks. Gib ihm dieses Schreiben von mir.“ Anog hielt Hergor einen versiegelten Brief hin.
    „Der Inhalt dieses Briefes ist brisant und sehr gefährlich für euch beide. Lasst euch also von niemandem damit sehen oder belauschen.“
    Hergor nahm den Brief. „Okay, ich mache es.“
    „Gut, dann beeilt euch nun.“
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 20:46 Uhr)

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    Kapitel III
    Der Kampf in der Arena


    Eine halbe Stunde später verließen Branskar und Hergor das Lager der Rebellen. Es war bereits später Nachmittag und zur Abenddämmerung wollte Hergor Silden erreichen.
    Auf dem Weg erzählten sie sich, was sie seit jenem Abend so erlebt hatten, als die Orks das harmonische Dörfchen zerstörten.
    „Du hast also einen von ihnen vor den Zombies gerettet? Du scheinst ein großer Kämpfer geworden zu sein... Erst der Schattenläufer, jetzt die Untoten...“
    „Ich hatte nur Glück; in beiden Fällen.“
    Branskar lachte. „Wie bescheiden du bist!“
    Als die Holzwälle Sildens in Sichtweite kamen, blieb Branskar stehen.
    „Ab hier wirst du alleine weitergehen müssen. Die Orks haben mich in sehr schlechter Erinnerung...“
    „Ist schon in Ordnung.“, sagte Hergor, doch er bekam ein mulmiges Gefühl dabei. „Warte hier auf mich. Ich komme wieder, sobald ich kann.“
    „In Ordnung, Hergor. Viel Glück!“
    Sie verabschiedeten sich und Hergor ging auf das Eingangstor zu.
    „Na, Morra? Wundert mich, dass du dich hier wieder her traust.“, sagte der Ork, der das Tor bewachte.
    „Mich hat es damals auch gewundert, dass ihr euch hergetraut habt.“, erwiderte Hergor; Der Ork lachte dämlich.
    Spöttisch beobachteten sowohl Orks, als auch Söldner, wie Hergor das Dorf betrat.
    Er ging einige der alten, vertrauten Wege entlang und stellte traurig fest, dass sie nicht wiederzuerkennen waren. Er ließ von diesen Gedanken ab, und konzentrierte sich auf seine Aufgabe... Ein Orksöldner namens Inog...
    Es gab viele Orksöldner in Silden. Inog war unter ihnen wahrscheinlich ein Außenseiter geblieben, damit man ihm nicht so schnell auf die Schliche kam.
    Hergor sah einen einzelnen Mann auf einer Bank, der einen Stengel Sumpfkraut rauchte. Er wollte sein Glück versuchen.
    „Hallo. Bist du Inog?“ „Nein.“
    „Weißt du, wo er sich aufhält?“ „Nein. Was willst du von ihm?“
    „Er ist ein Freund von mir und ich möchte, dass er mir hilft, bei euch Söldnern aufgenommen zu werden.“, log Hergor aus dem Stegreif.
    „Hm... Glaube kaum, dass er das kann. Aber da hinten kommt er ja.“, sagte der Söldner und deutete auf einen Mann, der in ihre Richtung kam.
    Inog, mein Freund!“, rief Hergor, rannte auf den Mann zu und umarmte ihn. Dabei flüsterte er dem perplexen Inog zu:
    Mein Name ist Hergor; Anog schickt mich.
    Inog verstand anscheinend sofort:
    Hergor! Schön, dass wir uns wiedersehen!“, sagte er laut. „Ich habe noch etwas zu essen in meiner Hütte. Willst du mir nicht Gesellschaft leisten?
    Hergor folgte Inog in seine Hütte. Inog verriegelte die Tür.
    „Es ist schrecklich, wie meine Hütte platziert ist.“, sagte er leise. „Neben mir wohnt nämlich der orkische Schamane Grompel. Er soll hellseherische Fähigkeiten besitzen. Setz dich ruhig...“
    Hergor und Inog setzten sich an einen kleinen Holztisch.
    „Jetzt sag mir aber, was mein Bruder mir mitzuteilen hat.“
    „Er hat mir einen Brief für dich gegeben.“, sagte Hergor und übergab Inog das Schreiben. Dieser brach das Siegel und las flüsternd vor:

    Mein lieber Bruder Inog,
    wir haben unser Lager im Wald errichtet und überfallen regelmäßig Konvois der Orks. Dennoch denke ich, dass diese Übergriffe nicht viel mehr als unserer eigenen Genugtuung dienen. Es wird Zeit, dass wir den Menschen helfen.
    Ich erteile dir also den Auftrag, heute Nacht eine Gruppe Sklaven zu befreien. Der Junge, der dir diesen Brief übergeben hat, soll dir dabei helfen. Mit Branskar, der vor Silden steht, werdet ihr die Sklaven in unser Lager eskortieren. Er kennt den Weg.
    Solltest du merken, dass in Silden jemand Verdacht schöpft, dann flieh.
    Ich hoffe, dass alles nach Plan verläuft.
    Dein Bruder Anog.


    Inog und Hergor schwiegen eine Minute und dachten nach. Dann sagte Inog: „Gut... dann hab ich hier auch mal was zu tun.“
    Er verbrannte den Brief über einer Fackel.
    „Heute Nacht suchen wir uns eine Gruppe Sklaven, und die lassen wir dann über den großen See schwimmen und führen sie zum Lager.“
    „So einfach stellst du dir das vor?“, fragte Hergor ungläubig.
    „Nein, natürlich wird es nicht einfach werden. Aber so etwas lässt sich nun mal schwer planen: Wir wissen nicht, wo wir Sklaven finden werden, und wir wissen nicht, wo die Orks patrouillieren werden. Wir können nur auf Innos vertrauen... Jetzt lass uns aber erst einmal was essen.“
    Es wurde dunkler und dunkler; die Nacht war herangebrochen.
    „Ich denke, es wird Zeit.“, sagte Inog knapp und nahm seine Ausrüstung zur Hand. „Also: Wir gehen zum See und gucken, ob wir direkt dort einige Sklaven finden, damit wir nicht mit ihnen durch das halbe Dorf rennen müssen. Bist du bereit?“
    „Ja, lass uns gehen.“, antwortete Hergor.
    Auch diese Nacht sah Hergor nur wenige dunkle Gestalten durch das Dorf wandeln und nach einigen Minuten erreichten sie die Stelle am See, an der Hergor einst an Land gekrochen war. Es war erst in der letzten Nacht gewesen, doch es kam ihm vor, als wäre es Ewigkeiten her. Er hatte die alte Frau des Dorfes, Margot, dort getroffen...
    „Ich weiß, wen wir befreien müssen!“, brach es plötzlich aus ihm heraus. Er fühlte sich etwas schlecht, da er nicht schon eher darauf gekommen ist.„Die alte Fischerin Margot ist hier ganz in der Nähe eingesperrt!“
    Inog sah ihn ein bisschen skeptisch an.
    „Ich hatte gehofft, dass wir nirgendwo einbrechen müssten, um unseren Auftrag zu erledigen. Aber gut... Wenn dir diese Frau etwas bedeutet...“
    Hergor führte Inog zu der Hütte, aus der Margot ihn letzte Nacht beobachtet hatte. Vorsichtig klopfte er an den Fensterbeschlag.
    „Margot! Psst! Bist du da?“,
    Drinnen hörte er etwas poltern und wenig später wurde das Fenster geöffnet.
    „Du bist ja schon wieder hier, Hergor! Hab' ich dir nicht befohlen, deinen Arsch zu retten?“
    „Wir haben keine Zeit zu diskutieren, Margot, wir holen dich jetzt da raus. Wie viele seid ihr in der Hütte?“
    „Nur ich und zwei Männer.“, erwiderte die Fischerin.
    „Okay, das sind genug fürs erste.“, sagte Inog. „Ihr steigt jetzt alle durch das Fenster...“
    Kurze Zeit später hatten sie es geschafft, Margot und den anderen beiden aus der Hütte zu helfen, und gingen zum See.
    „Jetzt wirst du schwimmen müssen, Margot.“
    „Das habe ich noch nicht verlernt, mein lieber Junge!“
    Hergor sah, dass Inog über das Temperament der alten Dame grinsen musste. Wenn sie dein Grinsen sehen würde, könntest du aber die Beine in die Hand nehmen..., dachte er nur.
    Als alle schon im Wasser waren, sah Hergor plötzlich, wie ein Ork sich ihnen näherte...
    „Schnell! In Deckung!“, flüsterte er den anderen zu. „Schwimmt los!“
    Der Ork hatte sie noch nicht entdeckt, doch er kam näher. Jetzt erkannte Hergor ihn: Es war Korr-Pak!
    Er beschloss, seinen orkischen Freund abzulenken, damit die anderen entkommen konnten. Außerdem hatte er sowieso noch mit ihm zu reden...
    „Korr-Pak! Hier bin ich!“, sagte Hergor und stieg aus dem Wasser.
    „Hergor?“, fragte der Ork. „Ich dachte, du wolltest Silden verlassen.“
    „Ich muss mit dir reden, Korr-Pak. Von Morra zu Ork.“
    „Wieso bist du so nass, Hergor?“, fragte Korr-Pak verwirrt.
    „Das tut nichts zur Sache! Verdammt, wie weit soll das noch gehen? Ihr überrennt unsere Städte und tötet uns Menschen zu Tausenden! Mein eigener Vater wird seit der Schlacht vermisst und wahrscheinlich ist er tot. Vielleicht war er ja einer der Zombies, die dich angegriffen haben; die aus ihrem dreckigen Massengrab gestiegen sind, dass Sklaven unter Peitschenhieben für sie gegraben haben! Warum, Korr-Pak? Warum das alles?“, Hergor schrie den Ork an. Es war ihm egal, ob andere mithörten.
    Der Ork sah Hergor schweigend an; fast wirkte er traurig.
    „Ich kann verstehen, dass du wütend bist. Aber ich bin nur ein Soldat. Ich führe Befehle aus, weil es Befehle sind. Ich hinterfrage nichts, wenn wir eine Stadt angreifen. Ich bin ein Soldat, wie dein Vater einer war. Sicher ist er ehrenhaft gestorben. Willst du unsere Freundschaft nun beenden, Hergor, weil ich ein Ork bin, und du ein Mensch?
    Hergor überlegte kurz und wollte gerade 'Nein' sagen, da brüllte ein anderer Ork: „Ahh! Der Morra!“
    Hergor drehte sich um; es war Pengroll.
    Der hat mir gerade noch gefehlt...
    „Lass ihn in Ruhe, Pengroll!“, sagte Korr-Pak ganz ruhig.
    „Schnauze, Korr-Pak! Ich bin dein Vorgesetzter und du möchtest doch nicht vor einem Militär-Tribunal landen, oder? Aber wahrscheinlich bist du eh schon auf der Seite der Morras!“
    „Ich habe dir bereits erklärt, warum er mein Freund ist, Pengroll.“, erwiderte Korr-Pak selbstsicher.
    „Ach ja! Er ist ja dein Freund...“, höhnte Pengroll. „Dann frag ihn doch mal, mit wem er hier her gekommen ist, der dreckige kleine Rebell!“
    Korr-Pak sah Hergor verdutzt an. Pengroll lächelte widerlich.
    „Er ist mit dem großen Morra aus dem Norden hierher gekommen. Ich habe ihn gesehen.“
    Niemand sagte mehr etwas. Pengrolls Grinsen wurde noch breiter und noch hässlicher. Dann brach er die Stille: „Und jetzt, Morra, fordere ich dich zum Zweikampf in der Arena – Auf Leben und Tod.“
    Ein Raunen und Flüstern ging durch die Menge der Anwesenden.
    „Nein, Hergor! Tu es nicht!“
    „Schnauze, Korr-Pak!“, rief Pengroll „Also... Hergor... wenn du mich besiegst, bist du ein freier Morra und kannst tun und lassen, was du willst. Wenn ich dich besiege, naja, hat sich die Sache erledigt. – Was sagst du?“
    Hergor überlegte, die Menge schwieg.
    In diesen Zeiten war es vielleicht besser, tot und frei, als lebendig und versklavt zu sein...
    „Ja, ich kämpfe gegen dich.“ Die Menge jubelte.
    „Gut.“, sagte Pengroll zufrieden. „Bringt ihm das beste Morra-Schwert, dass wir haben! In einer Stunde treffen wir uns in der Arena.“

    Man brachte Hergor ein schönes, leichtes Langschwert und nahm ihm die alte Rostklinge des Zombies ab.
    „Du sollst doch mit einer hübschen Klinge sterben, Morra!“, sagte der Ork, der ihm das Schwert gab, und lachte dreckig. Dann ließ er Hergor und Korr-Pak alleine.
    „Pengroll ist ein guter Kämpfer, Hergor, obwohl er ein Aufschneider ist, aber du bist kleiner und wendiger. Versuche, ihn müde zu machen, und immer wieder kleinere Treffer zu landen.“
    Hergor hörte seinem orkischen Freund zu, so aufmerksam er konnte; er hatte große Angst vor dem sinnlosen Kampf und konnte sich kaum konzentrieren.
    „...wahrscheinlich wird Pengroll mit einer großen Axt in den Ring steigen. Ein Krush Agash oder ähnliches. Weiche seinen Schlägen aus und schlage selbst schnell hinterher...“
    Hergor schwang sein neues Schwert einige Male hin und her, um sich daran zu gewöhnen. Sein orkischer Freund zeigte ihm noch schnell einige Schlagtechniken. Dann mussten sie sich auch schon auf den Weg machen.
    „Korr-Pak?“
    Der Ork drehte sich um. „Ja?“
    „Du bist wirklich ein guter Freund, obwohl wir uns erst seit der letzten Nacht kennen.“
    Korr-Pak schwieg kurz. „Dasselbe denke ich von dir. Und jetzt gehen wir zur Arena und du machst diesen Mistkerl fertig!“

    Um den runden Kampfplatz Sildens, den die Orks kurz nach der Eroberung bauen ließen, brannten viele Fackeln. Es waren unzählige Schaulustige gekommen; die Nachricht, von einem Kampf auf Leben und Tod, hatte sich schnell herumgesprochen.
    Hergor ließ seinen Blick über die Menge schweifen und stellte schockiert fest, dass auch der orkische Schamane Grompel anwesend war. Hergor hatte ihn zwar vorher noch nie gesehen, aber die Schamanen der Orks erkannte man an ihren weißen, rituellen Gewändern.
    Grompel merkte, dass er angestarrt wurde, und sein Blick traf den von Hergor, der schnell wieder wegsah.
    Pengroll stand bereits im Ring und wartete ungeduldig darauf, dass auch Hergor das Kampffeld betrat.
    „Es ist soweit.“, sagte Korr-Pak. „Viel Glück!“
    Hergor ging hinunter in die Arena, stellte sich Pengroll gegenüber und sah ihm tief in die Augen.
    Der Leiter der Arena, natürlich ein Ork, sagte den Kampf an:
    „Verehrte Krieger! Verehrter Grompel! Und großer Umbrak!...“
    Als seine Stimme ertönte, wurde die ganze Menge plötzlich ruhig.
    „Heute Abend haben wir euch etwas Besonderes zu bieten: Einen Kampf auf Leben und Tod!“
    Die Menge jubelte und applaudierte. Pengroll grinste Hergor verachtend an und nahm seine Axt zur Hand; Hergor zog sein Schwert.
    „Es kämpfen heute bis zum blutigen Ende: Der Morra Hergor!...“
    Mit Hergors Namen ertönten einige Buh-Rufe der Orks.
    „...gegen... den großen Krieger Pengroll!“
    Nun, bei Pengrolls Namen, ertönte tosender Applaus.
    „Der Kampf beginnt jetzt. Da es ein Kampf auf Leben und Tod ist, sind alle Mittel erlaubt.“
    Bei diesen Worten dachte Hergor an seinen Bogen; doch wie sollte er eine Möglichkeit bekommen einen Pfeil aufzulegen und ihn präzise abzufeuern, ohne dabei von der riesigen Ork-Axt zermalmt zu werden?
    „...möge der Stärkere überleben!“ Der Arenaleiter verließ den Kampfplatz und Pengroll erhob sofort die Axt zum ersten Schlag.
    „Ich werde dich in kleine Stücke hacken, Morra!“, sagte er und ließ seine Axt niedersausen. Sie traf die Erde und spaltete den Sand. Hergor wollte die Gelegenheit nutzen, um auf Pengrolls Schädel einzuschlagen, doch der Ork war zu schnell und stand ihm sofort wieder kampfbereit gegenüber.
    „Du bist zu langsam, Morra!“
    Diesmal schlug der Ork mit voller Wucht seitlich und geriet ins Taumeln. Hergor schlug ihm sein Schwert auf den gepanzerten Rücken.
    „Ahh! Du miese kleine Ratte!“, schrie Pengroll und schien in Raserei zu verfallen: Er schlug wild mit der Axt um sich, ohne auf seine Defensive zu achten. Hergor wich einem Schlag nach dem anderen aus, oft nur knapp, und landete schließlich einen eigenen Treffer in der rechten Seite des Orks.
    „Aargh! Du hinterhältiger Morra! Wir hätten dich schon längst versklavt, wenn du nicht so ein Schwächling wärst!“
    Dem nächsten Schlag des Orks konnte Hergor nicht ausweichen; er musste ihn mit seinem Schwert parieren, was ihn von den Füßen riss.
    Pengroll dachte wohl, er könnte seinem am Boden liegenden Gegner jetzt den Todesstoß geben und schlug so fest und so schnell er konnte nach Hergor.
    Dieser rollte sich aber zur Seite weg und stieß dem Ork, als dessen Axt in den Boden drang, sein Schwert in die Schulter.
    „AARGH!“, schrie Pengroll vor Schmerz auf und schmiss seine Axt dabei weg. Hergor verpasste er einen harten Faustschlag, wodurch auch Hergors Waffe weggeschleudert wurde.
    „Jetzt werde ich dich erwürgen!“, schrie der Ork und jagte Hergor hinterher. Dieser dachte panisch nach, bis ihm etwas einfiel...
    Ein Gegenstand in seiner Tasche...
    Hergor blieb stehen. Der Ork kam angerannt und sprang ihn an. Hergor fiel; der Ork fiel neben ihn, legte seine riesigen Hände an Hergors Kehle, um ihn zu erwürgen...
    …und dann rammte Hergor dem Ork das spitze Schattenläuferhorn zwischen die Schulterblätter.
    Der Ork jaulte und gluckste; dabei wälzte er sich am Boden, bis er das Horn aus seinem Körper herausbekommen hatte.
    Es war keine schwere oder gar tödliche Verletzung, doch Hergor gewann durch diesen letzten, verzweifelten Angriff genug Zeit.
    Als Pengroll wieder aufstand, stand Hergor ihm in sicherem Abstand gegenüber; mit gespanntem Bogen zielte er direkt auf den Kopf des Orks.
    Es befriedigte Hergor in den Augen seines Gegners die langsame, schleichende Erkenntnis zu beobachten, dass er verloren hatte und gleich wahrscheinlich sterben würde.
    Lange stand Hergor da und beobachtete nur Pengrolls Augen; die Fackeln brannten hell genug um die Furcht des Orks darin sehen zu können.
    Was für ein tapferer Krieger du doch bist, Pengroll...
    Es war Hergors große Chance, sich endgültig auf die Seite der Rebellen zu schlagen. Er könnte diesen Ork töten und noch Hundert weitere. Er könnte ein Krieger werden, wie Branskar oder Geribald.
    Ja, Geribald... Sein eigener Vater war vermisst und wurde sicher von einem Ork wie Pengroll getötet... oder er wurde von Pengroll getötet...
    Eine kalte Wut breitete sich wie ein Lauffeuer in Hergors Körper aus. Hatte Pengroll nicht damit geprahlt, so viele Menschen... Morras... getötet zu haben?
    Hergor verstand nicht, warum er nicht einfach den Pfeil losließ, der Pengrolls Schädel zerschmettern würde.
    Er hatte schließlich den Kampf auf Leben und Tod gewonnen; er hatte das Recht, diesen Ork auf der Stelle hinzurichten.
    Warum, bei Innos Namen, tue ich es nicht? Pengroll hätte mich auch nicht verschont!, fragte Hergor sich selbst, bis ihm die Antwort kam.
    Die Orks erwarten, dass ich es tue!
    Hergor sah seinem Gegner noch immer in die Augen, dann ließ er den Bogen sinken. „Ich habe dich besiegt, Pengroll, aber ich verschone dich. Tritt mir nie wieder unter die Augen!“
    Vom Publikum ertönten laute Buh-Rufe. Einige Orks bewarfen Hergor mit Essensresten.
    Auch Pengroll wurde wütend: „Wenn du mich jetzt nicht tötest, entehrst du mich! Schieß endlich, Morra!“
    Die Orks auf den Rängen brüllten ebenfalls...
    Töte ihn! Er hätte dich auch eiskalt umgebracht!
    Sei kein Feigling!
    Jetzt schieß schon, Morra!

    „NEIN!“, brüllte Hergor in die Menge, plötzlich tosend vor Wut. „ICH BIN KEINE MARIONETTE IN BELIARS BÖSEM SPIEL! BEHALTET EURE BLUTRÜNSTIGKEIT FÜR EUCH! LASST MICH IN RUHE! LASST MICH EINFACH IN RUHE!“
    Hergor stürmte aus der Arena und rannte zum See. Er setzte sich an sein Ufer und beobachtete den leuchtenden Mond.
    Plötzlich merkte er, wie müde er eigentlich war: er hatte soviel erlebt in den letzten beiden Tagen, und so wenig geschlafen. Nach wenigen Minuten sackte er zusammen und schlief im weichen Schilf ein.

    In dieser Nacht hatte Hergor einen bösen Traum:
    Er stand wieder in der Arena und richtete den Bogen auf Pengroll. Dabei fühlte er wieder den sadistischen Genuss, die Angst des Orks zu spüren. Gleichzeitig schämte er sich für seine Lust an der Qual.
    Hergor wollte weglaufen, als die Scham ihn übermannte, konnte aber die Beine nicht bewegen... Auch seinen Bogen konnte er nicht senken.
    „Schieß!“, flüsterte ihm eine schreckliche Stimme ins Ohr.
    „Nein!“, jammerte Hergor.
    „Auf das Schicksal hast du keinen Einfluss! Weder auf deines, noch auf das deiner Freunde. Alle seid ihr nur Figuren, in meinem bösen Spiel!“
    „NEIN!“, schrie Hergor und ließ den Pfeil los.
    Dieser durchschlug den Kopf des Orkes; überall spritzte Blut...
    Hergor ging auf den toten Ork zu; er wusste nicht warum, aber irgendwas trieb ihn dazu. Seine Beine bewegten sich wie von selbst, obwohl er sie noch kurz zuvor garnicht bewegen konnte.
    Er blickte dem Ork in das tote, durchbohrte Gesicht.
    Dann riss der Ork die Augen auf – Es war Korr-Pak.
    Gequält fing er an, zu sprechen:
    Hergor!...... Hergor!......Hergor!......

    „Hergor! Wach auf!“, rief jemand und schüttelte ihn. Er öffnete die Augen. „Korr-Pak!“, sagte er verwirrt.
    „Schon seit Stunden suche ich dich. Wieso liegst du hier am See? Ich habe dir doch eine Hütte zugeteilt. Hättest du nicht im Schlaf geschrien, als ich hier entlang ging, hätte ich dich nie gefunden.“
    „Achja... Ich bin eingenickt und lag dann wohl die ganze Nacht hier... Warum hast du mich gesucht?“, fragte Hergor.
    „Naja...“, antwortete der Ork. „Es gibt Neuigkeiten, dich betreffend... Das ganze Dorf weiß von deinem Sieg gegen Pengroll. Du polarisierst die Orks.“
    „Ja und? Vorher waren sie schließlich auch gegen mich.“, erwiderte Hergor trotzig.
    „Das ist wahr, aber durch den Sieg gegen Pengroll hast du dir einerseits großen Respekt, andererseits tiefste Verachtung erkämpft.
    Der größte Teil der Orks bewundert deine Tapferkeit, obwohl du Pengroll nicht getötet hast. Dass sie dich trotzdem mit faulem Essen beworfen haben, musst du nicht zu persönlich nehmen...“
    Ein Lächeln quälte sich über Hergors Lippen, Korr-Pak sprach weiter: „Doch eine kleine Gruppe von engen Freunden Pengrolls hasst dich für das, was du geschafft hast: Du hast Pengroll entehrt, indem du ihn verschont hast. Mit dieser Schmach konnte er nicht leben... heute Nacht hat er sich selbst gerichtet.“
    „Pengroll hat sich umgebracht?“, fragte Hergor überrascht, aber keineswegs betrübt.
    „Ja!“, antwortete Korr-Pak. „Er wollte seine Ehre retten. Vorher hat er dich und alle deine Freunde in Beliars Namen verflucht.“
    Skeptisch sah Hergor seinen Freund an. „Und was bedeutet das?“
    Korr-Pak lachte: „Nichts. – Pengroll hatte nicht die Spur von magischen Kräften. Außerdem hatte er nicht die geringste Beziehung zu unserem Gotte Beliar.“
    Hergor erinnerte sich plötzlich wieder an seinen Traum...
    War es möglich, dass... – Nein. Es war nur ein Traum.
    Korr-Pak wurde plötzlich etwas nervös.
    „Eine Nachricht habe ich dir noch zu überbringen... Und es fällt mir nicht leicht, dir das zu sagen...“
    „Raus mit der Sprache!“, sagte Hergor gefasst.
    Korr-Pak sah ihn ernst an.
    „Die Verwalter der Stadt, Grompel und Umbrak, haben dich auch kämpfen sehen. Sie sind sehr beeindruckt von deinem Können... und naja...
    Sie wollen dich als Orksöldner.“
    Eine Zeit lang schwiegen die beiden Freunde.
    „Ich will kein Söldner sein.“, sagte Hergor schließlich.
    „Das habe ich mir gedacht.“, erwiderte Korr-Pak.
    Wieder folgte schweigen.
    „Du kannst aber keine freundschaftliche Geste von Umbrak ablehnen und trotzdem hier in der Stadt bleiben. Das ist zu gefährlich. Außerdem sind da noch die Freunde von Pengroll. Sie werden ihn sicher rächen wollen.“
    „Ich weiß.“, sagte Hergor knapp. „Ich werde Silden wieder verlassen. Jetzt sofort. Wir sehen uns wieder, Korr-Pak!“
    Der Ork legte ihm die Hand auf die Schulter.
    „Ja, das werden wir, mein Freund.“

    „HERGOR! DU LEBST!“, schrie Branskar vor Freude, als Hergor das Rebellenlager im Wald erreichte.
    Die Brüder Inog und Anog standen bei Branskar und waren ebenfalls freudig überrascht. Aus einem Zelt drang die Stimme einer alten Frau:
    „Wo ist der Junge? Ich hab mir verdammt nochmal Sorgen um dich gemacht, du Saubengel!“
    Hergor musste grinsen; Margot kam aus ihrem Zelt.
    „Ich dachte echt, du wärst wegen mir draufgegangen! Bei den Orks verreckt! Und jetzt, lass dich umarmen!...“
    Als die erste Euphorie verflogen war, kam man zu ernsteren Themen. Inog nahm Hergor zur Seite:
    „Hergor, du hast uns gestern Nacht alle gerettet, als du den Ork so gekonnt abgelenkt hast... Aber ich muss dir gestehen, als du ihn mit seinem Namen angesprochen hast, dachte ich, du würdest für ihn arbeiten und uns verraten. Ich stand schon im Wasser des Sees, doch ich nahm meinen Bogen zur Hand, zielte... und war kurz davor, dich zu töten.“
    „Ach was?“, sagte Hergor laut, sarkastisch und wütend. Inog blickte beschämt zu Boden, doch Hergor ließ sich dadurch nicht beschwichtigen.
    „Ist eigentlich ganz Myrtana krank geworden? In Silden wollte ein Ork mich töten, weil ich mit euch in Kontakt stehe; Ihr wollt mich ständig töten, weil ich mit einem Ork in Kontakt stehe! Darf ich mit niemandem mehr reden, um nicht umgebracht zu werden?“
    Eine ganze Menge anderer Rebellen versammelte sich neugierig um Hergor. Nun sprach er sie alle an, und rief in die Runde:
    „So, Leute! Hiermit gebe ich öffentlich bekannt, dass einer der Orks aus Silden mein Freund ist. Ein echter Freund.
    Was wollt ihr jetzt unternehmen? Wollt ihr mich nicht vielleicht aufhängen? So, wie ihr es gestern wolltet, als ihr mich nur mit diesem Ork gesehen habt? VERDAMMT! VIELE VON EUCH SIND KEIN STÜCK BESSER, ALS DIE ORKS!“
    Langsam beruhigte Hergor sich wieder. Einige Männer sahen ihn schuldbewusst, andere mitleidig an.
    Hergor atmete schwer, sein Gesicht war rot und heiß; genau wie in der vorherigen Nacht in der Arena, stand er kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
    Die Erlebnisse der letzten Tage hatten ihn völlig fertig gemacht.
    „Komm in mein Zelt, Hergor.“, sagte Anog schließlich. Er rief auch Inog und den total schockierten Branskar zu sich.
    „Hergor, es tut mir leid, dass du in diese schreckliche Geschichte mit hineingezogen wurdest. Du bist noch viel zu jung für sowas, aber es herrscht nunmal Krieg, und der betrifft uns –“
    Hauptmann Anog! Hauptmann Anog!“, schrie plötzlich jemand von draußen. „Ein Bote aus Vengard hat uns soeben erreicht!

    Anogs Gespräch mit dem Vengarder Boten dauerte sehr lange. Branskar, Inog und Hergor warteten an einem Lagerfeuer auf ihn und aßen eine Fischsuppe, die Margot ihnen zubereitet hatte. Sie waren einerseits gespannt, was der Bote zu berichten hatte, andererseits hatten sie auch Angst. Anog kam mit dem Boten aus seinem Zelt:
    „Bringt ihm zu essen und zu trinken! Dann macht eine Unterkunft für ihn fertig!“, rief er einigen Männern zu. Schließlich kam er ans Lagerfeuer. Hergor bemerkte, wie blass er plötzlich war.
    „Es gibt viele schlechte Neuigkeiten und nur einen geringen Hoffnungsschimmer.“, sagte Anog.
    „Die schlechten Neuigkeiten zuerst.“, erwiderte Branskar erwartungsvoll. „Die Paladinsfeste Gotha ist schließlich doch noch gefallen.“, sagte Anog betrübt. „Die Paladine haben sich wacker geschlagen und die Orks hätten eigentlich keine Chance gehabt, doch dann beschworen ihre Schamanen irgendeine schreckliche Höllenkreatur, die die tapferen Männer, einen nach dem anderen, hinweg fegte.“
    „Eine Kreatur?“, fragte Inog verblüfft.
    „Ja. Genaueres wissen wir noch nicht.“
    „Berichte weiter, Anog.“, sagte Branskar ungeduldig.
    „In Ordnung... Weiter berichtete der Mann von Vengard: Die Lage für die Stadt und für den König schien aussichtslos. Die Orks brachen schon einige Verteidigungsringe. Daraufhin errichteten die Feuermagier der Stadt eine magische Barriere um Vengard, damit das Leben des Königs und natürlich ihr eigenes gesichert ist. Die Barriere ist zu keiner Seite hin durchlässig, das heißt: Die Orks kommen nicht rein und der König kommt nicht raus, solange die Kuppel steht. Na, wenigstens lebt er noch.“
    „Aber wie hat der Bote es dann geschafft hinauszukommen?“, fragte Branskar.
    „Er wurde kurz vor Errichten der Barriere losgeschickt, um alle Königstreuen zu informieren.“, sagte Anog. „Er ist ein mutiger Mann; es ist nicht einfach, durch die Reihen der Orks zu kommen.“
    In der kleinen Runde entstand ein Schweigen.
    „Du erwähntest einen geringen Hoffnungsschimmer.“, sagte Hergor schließlich. Anog sah ihn an.
    „In der Tat. Es kursieren Gerüchte, dass einige Fremde mit einem Schiff vor Ardea gestrandet sind und das gesamte Dorf von den Orks befreit hätten. Angeführt werden sie angeblich von einem Mann, der schon große Heldentaten gegen die Armeen des Bösen vollbracht hat und jetzt durch Myrtana zieht.“
    „Und du glaubst, an dieser Geschichte ist etwas Wahres dran?“, fragte Inog. „Das weiß ich nicht. Vielleicht erfinden die Leute auch nur Geschichten dieser Art, um sich Mut zu machen.“, antwortete Anog. „Ich denke, morgen werde ich einen Kundschafter beauftragen, durch das ganze Land zu reisen und die Lage selbst einzuschätzen.“
    Hergor schwieg und überlegte...

    „Anog? Kann ich dich kurz sprechen?“
    Es war Hergor, der am Abend das Zelt des Hauptmanns betrat.
    „Was gibt es denn, Hergor?“
    „Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht... Ich muss eine Weile weg von diesem Ort; ich muss die Schrecken der letzten Monate verdauen.“
    „Das ist natürlich deine Entscheidung.“, erwiderte Anog.
    „Ich weiß.“, sagte Hergor. „Trotzdem möchte ich dabei nicht nutzlos für euch sein... Ich möchte der Kundschafter sein, den du morgen schicken wolltest, um Myrtana zu erkunden.“
    Anog schwieg eine Weile und dachte nach.
    „Hast du dir das wirklich gut überlegt? Myrtana ist groß und gefährlich.“ „Ja, ich will es tun.“, sagte Hergor überzeugt. Anog seufzte:
    „Gut, dann pack deine Sachen – morgen früh musst du aufbrechen.“

    Am nächsten Morgen war Hergor bereit seine Reise anzutreten. Er hatte sich bereits in der Nacht von Branskar und Margot verabschiedet, die sehr betrübt über Hergors Entscheidung waren.
    Jetzt saß Hergor am Lagerfeuer und wartete auf Anog. Dabei überlegte er, wie lange er wohl für seine Reise brauchen würde, falls nichts dazwischenkommen und er sie überleben würde. Dann riss ihn ein lautes Hufgetrappel aus seinen Gedanken.
    Anog kam auf dem Rücken eines großen weißen Pferdes in Hergors Richtung geritten. Das Pferd war ungewöhnlich schön.
    „Hergor!“, rief Anog vergnügt und stieg ab. „Darf ich vorstellen: Das ist Sonnenschweif. Sie wird dich auf deiner Reise begleiten.“
    „Das Pferd ist für mich?“, fragte Hergor überglücklich und streichelte den Kopf der Stute.
    „Natürlich. Ich kann dich doch nicht zu Fuß loslaufen lassen! Die Wälder und Täler sind voller Gefahren... Banditen und böse Bestien lauern dort!“
    „Danke, Anog!“, sagte Hergor und umarmte den Rebellenhauptmann.
    „Ich habe hier noch etwas für dich.“, sagte dieser dann und zog ein großes Stück Pergament aus der Tasche. „Es ist eine Karte des Königreichs. Du wirst sie vielleicht brauchen, um zu einigen Städten zu finden.“
    „Die wird sicher hilfreich sein.“, antwortete Hergor und steckte die Karte ein. Anog dachte nach:
    „Also gut... deine Waffen hast du? – Ja... bist du mit genügend Pfeilen ausgerüstet? – Ja... Na dann...“
    Jetzt war es Anog, der Hergor umarmte. „Viel Glück! Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“
    Hergor bestieg das Pferd, Sonnenschweif. „Das hoffe ich auch.“, sagte er dann und ritt los, in östliche Richtung.
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 20:51 Uhr)

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    Kapitel IV
    Die Reise durch Myrtana


    Hergors Reise war lang und beschwerlich, doch Sonnenschweif ließ ihn niemals im Stich. Über Monate hinweg trug sie ihn bei Wind und Wetter durch gefährliche Gebiete.
    Die folgenden Ausführungen beschreiben nur die wichtigsten Stationen seines Abenteuers, dass der Selbstfindung dienen sollte, jedoch schließlich zu einer anderen bedeutenden Entdeckung geführt hat.
    Hergors erstes Ziel während seiner langwierigen Mission war die Festung Gotha, welche angeblich mit einem bösen Fluch belegt war.
    Der Ritt von Silden nach Gotha führte ihn überwiegend durch hügelige Wälder, vorbei an großen Bergen. Nachts entfachte er ein Lagerfeuer, um wilde Tiere abzuschrecken und um sich zu wärmen. Es war nicht leicht für sein Pferd, diese Strecke zu meistern, doch es dauerte nur wenige Tage und sie erreichten am späten Nachmittag einen Pfad zwischen Montera und Gotha. An diesem Pfad lagen viele Bauernhöfe und Felder, auf denen Menschen harte Arbeit verrichteten, während die Orks an Lagerfeuern Bier tranken.
    Die Sklavenwachen waren Orksöldner, also ebenfalls Menschen. Hergor entwickelte einen tiefen Hass gegen diese groben Kerle, die den Orks dabei halfen das eigene Volk zu unterjochen.
    Hergor betrat den Pfad und einige Bauern sahen ihn. Er wusste nicht, ob er sich links oder rechts halten musste, deswegen ging er auf einen der Bauern zu.
    „Guten Tag! In welche Richtung muss ich gehen, um nach Gotha zu gelangen?“
    Der Bauer sah ihn mit einer Mischung aus Furcht und Feindseligkeit an; schließlich trug Hergor die Kleidung der Orksöldner.
    „Siehst du die Stadt dort drüben?“, fragte der Bauer und zeigte in südliche Richtung. „Das ist Montera. Gehe in die entgegengesetzte Richtung, um nach Gotha zu gelangen.“
    Jetzt erinnerte Hergor sich: Er war vor nicht allzu langer Zeit in Montera gewesen; doch damals erreichte er die Stadt über andere Wege.
    „Ich danke dir.“, sagte Hergor und verließ den grimmig dreinblickenden Bauern. Er stieg wieder auf sein Pferd und ritt den Pfad entlang in Richtung Gotha.
    Eine Festung war in dieser Richtung jedoch nirgendwo zu entdecken, doch nach einigen Minuten erreichte Hergor ein Haus mit einem kleinen Turm, das von einer provisorischen Palisade umgeben war. Ringsherum befanden sich Orks. Sie sahen Hergor sehr misstrauisch an, als er sich ihnen näherte.
    Er stieg vom Pferd und einer der Orks ergriff das Wort:
    „Was willst du hier, Morra?“
    „Ich bin hier um zu sehen, was mit der Festung Gotha geschehen ist. Wo finde ich Gotha?“
    Der Ork sah Hergor nun noch misstrauischer an, dann deutete er auf die Bergkette. „Dort in den Bergen ist ein Pass, der hoch nach Gotha führt. Es ist eine Bergfeste, deswegen konnten wir sie nie richtig erobern – bis vor kurzem.“
    „Wie ist das geschehen?“, fragte Hergor.
    „Unsere Schamanen beschworen einen Dämon. Mehr brauch ich dazu wohl nicht zu sagen.“, antwortete der Ork und grinste schief.
    Ein Dämon?“, fragte Hergor geschockt, denn Dämonen waren die schrecklichsten Wesen, die ein durchschnittlicher Schwarzmagier beschwören konnte.
    „Ja, ein Dämon. Der hat die ganze Festung auseinander genommen.“, sagte der Ork.
    „Ich werde mir die Stadt ansehen...“, sagte Hergor knapp, doch der Ork stellte sich ihm in den Weg. „Nein, das wirst du nicht tun!“
    „Warum nicht?“
    „Unsere Schamanen haben den Dämonen nicht wieder unter Kontrolle bekommen.“, sagte der Ork. „Er wütet noch immer dort und hat die toten Morras von Gotha zu Untoten gemacht. Ab und zu greifen sie unseren Stützpunkt hier nachts an.“
    Hergor schwieg kurz, denn diese Nachricht schockte ihn noch mehr: Ein Dämon herrschte nun über die Paladinsfeste.
    „Ich habe genug gehört.“, sagte er schließlich. „Ich werde weiterziehen. Danke für die Auskunft!“
    Hergor wollte diesen Ort verlassen, denn sein Pferd wurde unruhig. Doch schon wieder stellte der Ork sich ihm in den Weg.
    „Nicht so hastig, Morra! Jetzt gibst du mir erst einmal Auskunft! Für wen arbeitest du?“, fragte er.
    „Ich bin ein Orksöldner aus Silden.“, log Hergor. „Umbrak wünscht nähere Informationen zu diesem Fall – “
    Zu den Waffen, Leute!“, rief plötzlich der Ork, der auf dem großen Turm Ausschau hielt. „Die Untoten kommen aus Gotha!

    Alle Orks des Wachpostens griffen zu ihren großen Äxten und Schwertern; einige nahmen zusätzlich Fackeln. Grob geschätzt müssen es an die 30 Orkkrieger gewesen sein.
    Der Ork, mit dem Hergor sich unterhalten hatte, sah ihn grimmig an: „Jetzt kannst du uns beweisen, dass du ein echter Orksöldner bist.“
    Dann nahm auch er seine große Streitaxt zur Hand und rannte los.
    Nicht schon wieder Untote!, dachte Hergor und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich an die bläulich-weißen, verwesenden Gesichter der Zombies erinnerte, die ihn aus toten Augen anstarrten.
    Er ließ Sonnenschweif unangebunden stehen, damit sie im schlimmsten Falle flüchten konnte. Dann zog Hergor ebenfalls sein Schwert und stürzte sich ins Getümmel.
    Die seelenlosen Körper der Bevölkerung Gothas waren überall. Sie fielen die Orks an und diese schlugen mit ihren Waffen auf die Zombies ein. So mancher Zombie wurde auch vom Feuer der Orks erwischt und lief dann als untote Fackel durch die Menge.
    Doch die stinkenden Zombies waren nicht die gefährlichsten Gegner, mit denen Hergor und die Orks es zu tun bekamen: Wandelnde Skelette mit großen Schwertern gingen auf die Orks los und verwickelten sie in gefährliche Zweikämpfe. Die Kampfkunst dieser Kreaturen war sehr gut ausgeprägt; Hergor vermutete, dass sie einmal stolze Paladine gewesen waren. Doch eine große Orkaxt, geführt von einem starken Ork, zerschlägt die meisten Knochengestelle im Handumdrehen; und obwohl einige Orks ihr Leben lassen mussten, bekamen sie diese Armee der Finsternis mit Hergors Hilfe bald unter Kontrolle.
    Hergor hatte vier Zombies den Garaus gemacht. Im Schwertkampf war er zwar immer noch ein Anfänger, aber er verbesserte sich stetig. Einem seiner Gegner stach er direkt in das untote Herz, was eine grauenvolle Szenerie mit sich brachte: Der Untote schrie aus Leibeskräften; dann stürzte er auf die Knie und ein magisches blaues Licht strömte aus all seinen Wunden und Körperöffnungen. Schließlich bäumte er sich ein letztes Mal auf, sah Hergor mit seinem ausdruckslosen Blick tief in die Augen und stürzte dann endgültig zu Boden.
    Nach der Schlacht kam der Ork von vorhin zu Hergor und sagte laut, so dass jeder es hören konnte: „Du bist ein wahrer Orksöldner.“
    Für Hergor war dies kein Kompliment, doch er nickte dem Ork dankend zu. Dann stieg er auf Sonnenschweifs Rücken, die sich wieder beruhigt hatte, und ritt davon.
    Über Gotha brannten rote, dämonische Flammen.

    Ursprünglich hatte Hergor geplant, sich auch die Stadt Montera noch einmal anzusehen. Doch da die Bauernhöfe Monteras alle schon von den Orks kontrolliert wurden, erübrigte sich die Frage, ob die Orks sie schon gänzlich übernommen hatten.
    Deshalb ritt Hergor weiter in östliche Richtung, um die große Stadt Faring zu erreichen. Als er an einem Fluss ankam, sah er die majestätische Stadt schon von weitem. Er schlug sein Nachtlager auf, um die Stadt am nächsten Morgen aufsuchen zu können.
    Faring war ebenfalls eine Stadt, die in einem Gebirge angelegt war. Sie lag auf mehreren Ebenen und von der höchsten Ebene aus konnte man über einen Pass in die Gebirge Nordmars gelangen.
    Schon von weitem wirkte Faring uneinnehmbar und Hergor dachte, dass wenn auch nur eine Stadt noch frei war, es Faring sein musste.
    Also ritt Hergor am nächsten Morgen hinauf in die Stadt und seine Illusionen und Wünsche wurden mit einem Mal zerstört: Orks bewachten den Zugang, der hoch in die Stadt führte; Sklaven verrichteten Reparatur-Arbeiten an allem, was im Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurde.
    „Orksöldner?“, fragte einer der Orks gelangweilt.
    „Ja, ich... –“
    „Hoch in die Stadt mit dir. Da wird man dir sagen, was du zu tun hast.“
    Hergor folgte dem Pfad bergauf, der in die Stadt führen sollte. Auf dem Weg dorthin sah er viele müde aussehende Sklaven, die ihn mit hoffnungslosen Blicken ansahen.
    Um die Sklaven zu 'motivieren', hatten die Orks Aufständische öffentlich gehängt und die Leichen niemals wegräumen lassen. Bei diesem Anblick bekam Hergor Angst, dass jemand ihn als Rebellen durchschauen könnte...
    Wie er so dastand und sich umsah, bemerkte er, dass er beobachtet wurde.
    „Wo kommst du her, Morra?“, rief ein Ork ihm zu.
    „Ich komme aus Silden. Umbrak möchte mehr über den Zustand Farings erfahren. Mein Name ist Hergor.“
    „Naja“, sagte der Ork. „Für mich bist du einfach nur 'Morra'. Ich heiße Gorok. Hast du vor, hier länger zu bleiben?“
    „Das kommt ganz darauf an, ob mir eure Stadt gefällt.“, erwiderte Hergor.
    „Nicht so vorlaut, Morra! Hat man dir keinen Respekt beigebracht?“, fragte Gorok.
    „Entschuldige, werter Gorok.“, sagte Hergor halbherzig. „Erzählst du mir etwas über den Zustand dieser Stadt?“
    Gorok grunzte. „Na gut... Die Kämpfe endeten hier erst vor knapp einer Woche. Die Morras haben klug gekämpft; haben sich überall verschanzt. Jetzt ist diese Stadt die Residenz von Kan persönlich; er ist der Oberbefehlshaber der gesamten Ork-Armee.“
    „Sind die Menschen hier noch widerspenstig, oder gehorchen sie euch?“, fragte Hergor.
    „Widerstand gibt es immer.“, antwortete Gorok. „Die meisten haben sich aber mit ihrem Schicksal abgefunden. Die anderen werden gehängt.“
    Hergor überlegte kurz. „Danke. Ich werde mich dann mal umsehen.“
    Gorok grunzte ihm zu und ging weiter seiner Arbeit nach.
    Die nächsten Tage lebte Hergor als Orksöldner in einem der Wirtshäuser Farings. Sonnenschweif war in einem Stall mit einigen anderen Pferden untergebracht und jeden Tag ritt Hergor mit ihr aus.
    Die Wälder um Faring waren gleichsam schön und gefährlich. Die Bäume waren grün und gesund, es flossen rauschende Gewässer durch das Land und es gab Wild im Überfluss.
    Doch all dies zog nicht nur Menschen wie Hergor an, sondern auch gefährliche Raubtiere und große Monster wie Warge, Gargoyles und riesige Trolle. Ein Jäger aus Faring behauptete sogar, schon einmal eine riesige Urzeit-Echse gesehen zu haben, die aussah wie ein Snapper in der Größe eines Hauses.
    Hergor glaubte jedoch nicht an solche Kreaturen; für ihn waren das Märchengeschichten von verwirrten, alten Jägern, die etwas besonderes zu erzählen brauchten. Andererseits erinnerte es ihn an die Geschichten seines Vaters, die er immer sehr genossen hatte, die aber trotzdem nicht viel Wahres enthielten.
    Bei einem Jagdausflug traf Hergor einen Jäger, der in einer Hütte vor Faring lebte. Sein Name war Tippler und sie freundeten sich flüchtig miteinander an. Tippler hatte das Talent, einen sehr starken Schnaps zu brennen: 'Nordmarer Nebelgeist'.
    Hergor, der keinen Alkohol gewohnt war, kam das Gesöff vor, wie flüssiges Feuer, dass ihm alle Gedärme wegbrannte.
    An Hergors sechstem Abend in Faring, kehrte er sturzbetrunken in die Gaststätte heim. Sein Pech war jedoch, dass der Ork Gorok ihm bereits auflauerte...
    „Das will also ein guter Söldner sein?“, fragte der Ork höhnisch und stieß Hergor zu Boden.
    „Säufst uns hier unseren Schnaps weg und tust nichts dafür, dass endlich Ruhe in die Stadt einkehrt! Heute Morgen wurde ein ermordeter Ork gefunden und wir haben keine Ahnung, wer ihn getötet hat!“
    Hergor lallte: „Ich dachte, die Lage ist – “
    „Schnauze!“, schrie der Ork und trat ihm schmerzhaft in die Seite. „Du verlässt die Stadt jetzt sofort! Du taugst nichts als Söldner und du frisst zuviel!“
    Zwei Gehilfen Goroks kamen und schleppten Hergor vor den Eingang der Stadt. Sonnenschweif scheuchten sie hinterher.
    „Mach's gut, Morra!“, lachte einer der Orks dreckig.
    Hergor richtete sich auf und humpelte vor Schmerz. Mit Sonnenschweif ging er zurück zu Tipplers Hütte, wo er bis zum Morgengrauen ausnüchterte.

    Am nächsten Morgen betrachtete Hergor seine Landkarte.
    „Ich werde jetzt aufbrechen. Vengard ist mein nächstes Ziel.“
    Tippler sah ihn besorgt an. „Du solltest nicht nach Vengard gehen. Um Vengard wird noch gekämpft; die Orks werden dich töten.“
    „Ich muss wissen, ob die Geschichten von einer magischen Barriere um die Stadt wahr sind.“, erwiderte Hergor.
    „Das sind mehr als nur Gerüchte, das kann ich dir gleich sagen! Jeder weiß davon... Es muss also wahr sein.“, antwortete Tippler.
    „Wie gesagt, ich muss mich davon selbst überzeugen. Meine Auftraggeber wollen es so.“
    Hergor stieg auf sein Pferd; ihm war noch etwas schwindelig vom Alkohol und seine Seite schmerzte noch von Goroks Tritt.
    „Danke für die Hilfe, Tippler!“
    „Keine Ursache... Wer sind eigentlich deine Auftraggeber? Orks oder Menschen?“, fragte Tippler neugierig.
    Hergor lächelte mild: „Das solltest du dir schon selber denken können.“

    Hergors Weg führte ihn in südöstliche Richtung, an einem Fluss entlang, an das Küstengebiet. Es war ein halber Tagesritt, den er zurücklegte und die Wälder wurden immer düsterer und unheimlicher. Er ritt schnell, um von wilden Tieren nicht einfach so angefallen werden zu können.
    Am späten Nachmittag erreichte er den Rand des Waldes und sah vor sich eine schier unendliche, dunkelblaue Wassermasse: Er hatte das Meer erreicht.
    Hergor hatte das Meer noch nie zuvor gesehen, aber nun, mit der langsam untergehenden Sonne darüber, fand er es auf Anhieb unbeschreiblich schön. Die große Weite übte eine enorme Anziehungskraft auf ihn aus.
    Er lenkte sein liebes Pferd Sonnenschweif zum Strand, so schnell er konnte. Es war ein anstrengender Ritt gewesen, überschattet von den Gefahren, die ein dichter Laubwald mit sich brachte.
    Hergor genoss es sehr, den Rest des Tages und die gesamte Nacht friedlich an einem Lagerfeuer am einsamen Meer verbringen zu können.

    Die Bevölkerung Myrtanas wurde durch die Besatzung der Orks gespalten und es bildeten sich verschiedenste Gruppen heraus: Die Schwachen wurden versklavt, die Skrupellosen wurden Söldner der Orks und die Tapferen wurden Rebellen.
    Daneben existierte aber noch eine weitere Gruppe, ebenfalls sehr skrupellos, die aus dem Krieg Profit zog: Die Banditen und Wegelagerer. Sie lebten meist in Höhlen und lauerten sowohl Menschen, als auch Orks auf, um sie auszurauben.
    Am Küstengebiet dominierte Ortega's Bande über all jene, die sich der Kriminalität verschrieben hatten, bis Ortega getötet und die Bande zerschlagen wurde.
    Bandenmitglieder, die überlebt hatten, zogen noch immer meuchelnd und mordend durch das Land, und eines Nachts sahen drei von ihnen ein Lagerfeuer am Strand brennen, an dem ein junger Mann und sein schönes Pferd lagen...

    Hergor schlief sehr tief, aber Sonnenschweif war nervös. Irgendetwas beunruhigte das kluge Pferd; Bewegungen im Wald...
    Sonnenschweif wieherte kaum merklich und beobachtete das Geäst aufmerksam und ängstlich. Hergor drehte sich im Schlaf um; im Wald bewegte sich wieder etwas. Das Pferd versuchte, Hergor zu wecken und leckte ihm durchs Gesicht.
    „Mhh... lass das...“, murmelte dieser im Schlaf.
    Sonnenschweif gab aber nicht nach, sondern stupste ihn mit ihrer Schnauze an und schlabberte dabei, bis er erwachte.
    „Was hast du denn?“, fragte Hergor verständnislos; dann bemerkte er, wie nervös das Pferd durch die Gegend blickte. Hergor versuchte, sich auf den Rand des Waldes zu konzentrieren, doch er sah nichts Auffälliges oder Beunruhigendes.
    Sonnenschweif schnaubte und starrte noch immer in das Gebüsch. Dann bewegte sich wieder etwas, in nur ungefähr 50 Metern Entfernung...
    Verdammt!, dachte Hergor und flüsterte Sonnenschweif ins Ohr:
    „Wir reiten jetzt sofort los! Hast du verstanden? Sofort hier weg!“
    Hoffentlich weiß sie, was gemeint ist...
    Hergor bewegte sich langsam, richtete sich auf und setzte sich auf Sonnenschweifs Rücken –
    „Er will abhauen! Erschießt ihn!“, hörte Hergor einen Mann brüllen. Sonnenschweif rannte los. So schnell es ging, ritten sie am Strand entlang. Die Banditen kamen aus dem Gebüsch und wollten ihn abfangen; sie stellten sich ihm mit ihren Bögen gegenüber, doch Sonnenschweif rannte zu schnell für sie: Bevor sie ihre Pfeile anlegen konnten, mussten sie dem Pferd ausweichen, um nicht niedergetrampelt zu werden.
    Als Hergor sich während des Ritts umsah, sah er, wie die Banditen ihm Pfeile hinterher schossen. Doch nur gute Schützen konnten einen Mann vom galoppierenden Pferd schießen; und diese Männer waren keine guten Schützen. Nicht ein einziger Pfeil kam Hergor auch nur nahe.
    Eine Viertelstunde ließ er Sonnenschweif weiter den Strand entlang galoppieren. Ein letztes Mal drehte er sich um, um sich zu vergewissern, dass die Männer ihm nicht auf Pferden folgten. Als er dann wieder nach vorne blickte und einen großen Hügel hinabsah, erschrak er heftig:
    Eine riesige, bläulich schimmernde Kuppel lag in der Landschaft; Blitze durchzogen sie und unter ihr lag im düsteren Mondlicht eine Stadt mit einer Burg und unzähligen Häusern. Eine seltsame Stille lag in der Luft.
    Die Gerüchte waren also allesamt wahr; über der Hauptstadt Vengard lag eine magische Barriere.
    Aus den Geschichten seines Vaters wusste Hergor, dass Vengard prächtige Häuser und große Häfen besaß; im Moment waren jedoch ausschließlich Ruinen unter der Kuppel zu erkennen. Allein die Burg war noch nicht zerstört.
    Der Thronsaal des Königs!, dachte Hergor voller Staunen und ritt immer weiter an die magische Barriere heran – bis er die Orklager sah.
    Bei allem Staunen hatte er glatt alle Warnungen seiner Freunde vergessen, dass die Armee der Orks um Vengard noch immer unter Kriegsrecht jeden Menschen tötete, der sich nah genug an sie herantraute.
    Und Hergor ritt jetzt geradewegs auf ihre Zelte und Lagerstätten zu, die um die Barriere angelegt waren.
    Er zügelte sein Pferd, welches auf der Stelle stehen blieb. Dann lauschte Hergor, ob die Orks etwas gemerkt hatten...
    „EIN MORRA!“, schrie plötzlich jemand aus dem Orklager. „Dort oben im Wald!“ Hergor wurde panisch; wieder befahl er Sonnenschweif zu reiten, so schnell sie konnte. Das Pferd preschte an den Lagern der Orks vorbei, die ihnen hinterher jagten.
    Hergor kam es vor, als hätte er die gesamte Invasionsarmee der Orks hinter sich.
    Als die Orks merkten, dass sie ihn nicht einholen konnten, luden sie ihre Armbrüste und schossen ihm hinterher. Sie konnten mit ihren Schusswaffen erheblich besser umgehen, als die Räuber von vorhin; die Bolzen verfehlten Hergor teilweise nur knapp.
    Er fragte sich in diesem Moment, was er mehr bedauern würde: Den eigenen Tod, oder den Tod seines treuen Pferdes Sonnenschweif, das ihm seit ihrer ersten Begegnung immer treu zur Seite stand.
    Dann verdrängte Hergor diese Gedanken jedoch wieder; sie führten zu nichts und er musste sich jetzt konzentrieren.
    Er sah sich wieder nach seinen Verfolgern um und stellte entsetzt fest, dass die Orks den Beschuss zwar aufgegeben hatten, dafür aber ihre abgerichteten Warge auf die Jagd geschickt hatten.
    Warge waren extrem kräftige und bösartige Verwandte der Wölfe. Den Orks dienten sie teilweise als Haustiere und Jagdhelfer – so wie in diesem Falle.
    „Du musst schneller laufen, Sonnenschweif... Schneller!“, rief Hergor verzweifelt und zu seiner Überraschung zeigten seine Worte Wirkung: Sein Pferd holte das letzte an Geschwindigkeit raus, was es noch zu bieten hatte.
    Trotzdem dauerte es noch einige Minuten, bis die blutrünstigen Warge abgehängt waren.

    Hergor ließ Sonnenschweif jetzt wieder langsam traben. Sie waren beide total erschöpft und entfernten sich ein wenig vom Meer. Dann erreichten sie eine flache, grüne Ebene. Einige Scavenger liefen darauf herum und Hergor entdeckte ein Licht in einiger Entfernung; es war ein kleines Feuer.
    Er führte Sonnenschweif darauf zu und erkannte, dass es in einem Steinkreis brannte. Ein Mann saß darin und grübelte.
    Als er Hergor kommen sah, musterte er ihn skeptisch.
    „Wer bist du?“, fragte er.
    „Ich bin Hergor. Ich komme aus Silden. Wer bist du?“
    „Aus Silden? Dann bist du von weit her... Mein Name ist Chris. Ich bin Jäger.“ Na, was für ein Zufall, dachte Hergor. Dann sagte er: „Ich bin auch Jäger. Kann ich mich zu dir setzen?“
    „Na klar.“, antwortete Chris.
    Hergor und Sonnenschweif betraten den Steinkreis; das Pferd legte sich direkt ans wärmende Feuer. Auch Hergor setzte sich.
    „Du hast ein schönes Pferd.“, bemerkte Chris.
    „Ja, das stimmt. Und klug ist es auch. Allein heute hat sie mich schon vor unzähligen Gefahren bewahrt.“
    „Die da wären?“, fragte Chris; Hergor lächelte.
    „Ach, nur Räuber, Orks und Warge... Was es hier eben so alles gibt neuerdings.“
    Auch Chris musste lachen: „Ja, es ist eine miese Zeit... Doch man hört nicht nur Schlechtes: Ardea, das Dorf südlich von hier, ist von den Orks befreit worden!“
    Hergor wurde hellhörig: „Ich habe davon gehört. Ist es wirklich ein heldenhafter Fremder gewesen, der mit einem Schiff nach Myrtana kam?“
    „Das weiß ich nicht.“, antwortete Chris. „Da musst du schon weiter reiten und die Leute von Ardea selbst befragen.“
    „Das werde ich auch tun.“, sagte Hergor. „Gleich morgen früh.“

    Hergor schlief noch einige Stunden an Chris' Lagerfeuer, bis er mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte. Sonnenschweif suchte sich ihr Futter auf der großen Wiese zusammen, während Hergor zum Frühstück ein Stück Pökelfleisch aus seinem Proviant verzehrte.
    Nach dem Frühstück verabschiedete er sich von Chris und legte den Rest der Strecke nach Ardea zurück. Sein Weg führte ihn über offene Wiesenlandschaften voller Blumen und Kräutern unterschiedlichster Art. Er sah große Scavenger- und Wildschweinrudel, die den hohen Rasen abfraßen und im Hintergrund hörte er ständig das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen.
    Hergor genoss die idyllische Landschaft und der Ritt war sehr angenehm, sowohl für Pferd, als auch für Reiter. Am Nachmittag sah er dann in einiger Entfernung die Holzwälle des Küstendorfes Ardea vor sich liegen. Es war ein sehr beschauliches kleines Städtchen, deswegen unternahmen die Orks wahrscheinlich auch keinen erneuten Eroberungsversuch.
    Es begann zu regnen. Hergor ritt auf das Haupttor der Stadt zu, und wurde von den Torwachen – zwei Menschen – aufgehalten:
    „Halt! Wer bist du? Und warum trägst du die Kleidung der Orksöldner?“ „Mein Name ist Hergor. Ich komme aus Silden und sollte den Gerüchten nachgehen, dass Ardea von den Orks befreit wurde.“, antwortete Hergor. „Du 'sollst' den Gerüchten nachgehen?“, fragte der Wächter. „Wer sind deine Auftraggeber?“
    „Die Gebrüder Inog und Anog schicken mich. Sie leiten den Widerstand um Silden. Meine Orksöldnerkleidung ist nur Tarnung. Außerdem hält sie warm“
    Die beiden Torwächter berieten sich kurz, dann sprach ihr Wortführer: „Wir glauben, dass du die Wahrheit sagst. Du darfst die Stadt betreten. Melde dich aber umgehend bei unserem Anführer Javier.“
    „Und wo finde ich diesen Javier?“, fragte Hergor.
    „Hm... Keine Ahnung, was er gerade macht. Aber das Dorf ist ja nicht so groß.“
    Hergor betrat Ardea und sah sich zuerst einmal um. Die Häuser waren sehr intakt, vereinzelt gab es Beobachtungstürme und Kämpfer der Rebellen waren überall stationiert. Trotzdem herrschte nicht die militärische Disziplin, die Hergor von den Orks und ihren Söldnern kannte. Ardea war einfach ein friedliches Dorf; genau wie Silden, vor seiner Eroberung.
    „Hauptmann Javier!“, hörte Hergor eine Frau rufen. „Die Lieferung mit dem Lampenöl ist doch noch eingetroffen!“
    „Das wurde aber auch Zeit!“, antwortete ein großer, gut gerüsteter Mann. „Danke für die Benachrichtigung. Eine Sorge weniger...“
    Hergor ging auf Javier zu, der sich gerade einige eingetroffene Waren ansah. „Du bist Javier?“, fragte er. Der Mann drehte sich zu ihm um.
    „Ja, das bin ich. Aber wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.“ „Mein Name ist Hergor. Ich arbeite für Anog als Bote. Er leitet den Rebellenuntergrund um Silden. Darf ich dir ein paar Fragen stellen?“

    Javier und Hergor gingen zum Reden in das Verwaltungsgebäude Ardeas. Hergor erzählte dem Rebellenhauptmann seine Geschichte, jedenfalls den größten Teil davon, und stellte dann seine Fragen:
    „Stimmt es, dass es ein großer Held war, der urplötzlich übers Meer kam und das Dorf befreite?“, fragte er.
    „Naja, ich glaube, Helden sehen anders aus... Aber auf jeden Fall war er ein tapferer Mann, genau wie all seine Freunde.“
    „Das Aussehen kann trügen.“, bemerkte Hergor. „Ich sehe schließlich auch aus, wie ein Orksöldner. Warum traust du mir eigentlich?“
    Javier lachte: „Wärst du ein Söldner, dann wüsstest du nicht soviel über Inog und Anog. Außerdem sagt mir mein Bauchgefühl, dass du keiner bist... Aber jetzt, wo du es sagst... Vielleicht hatte der Mann wirklich etwas heroisches an sich...“
    „Was ist mit seinem Schiff geschehen?“
    „Es ist verschwunden. Wahrscheinlich geentert worden.“, antwortete Javier.
    „Weißt du, wo die Männer sich jetzt aufhalten?“
    „Nein, das weiß keiner so genau; Die Gruppe hat sich aufgelöst und jeder ist seiner Wege gegangen.“, sagte Javier.
    Hergor überlegte kurz, dann sagte er:
    „Eine letzte Frage habe ich noch, Javier, wenn du erlaubst.“
    „Sicher. Stelle deine Frage.“
    „Setzt du Hoffnung in diesen Mann?“
    Ein Schweigen entstand und der Rebell dachte nach. „Naja, er wirkte nicht wie ein großer Feldherr... aber... Ja! Ich setze Hoffnung in ihn.“
    Die Entschlossenheit, mit der Javier den letzten Satz hervorbrachte, gab Hergor ein gutes Gefühl.

    Der Aufenthalt in Ardea war der längste und schönste während Hergors Reise. Er verbrachte fast drei Wochen dort. Dabei half er, so gut er konnte, bei Reparaturen beschädigter Häuser und Wälle mit; ab und zu ging er jagen.
    Doch jeden Abend, war er am Strand zu finden, wo er sich die untergehende Sonne ansah, aufs Meer hinaus blickte und über alles nachdachte, was er seit der Eroberung Sildens miterlebt und durchgemacht hatte. Außerdem dachte er über seine ganz persönliche Rolle in dieser Geschichte nach: Denn trotz seiner Absicht, sich aus dem Kriege herauszuhalten, war er jetzt Botschafter und Informant der Rebellen-Truppen. Gleichzeitig war er gut mit einem Krieger der Orks befreundet.
    Egal welche Rollen man Hergor auch aufzwingen wollte – die des Rebellen oder die des Ork-Freundes – keine passte ihm.
    Einerseits machte ihn das froh, da er noch ein bisschen Unabhängigkeit dadurch bewahren konnte; andererseits fühlte er sich einsam. Schrecklich einsam.
    Vertieft in seine Gedanken merkte er nicht, dass Sonnenschweif sich ihm von hinten näherte. Er schrak auf, als sie ihn mit der Nase anstupste.
    „Ach, du bist es!“, sagte er. Das Pferd wieherte. Plötzlich fühlte Hergor sich nicht mehr so traurig und allein, denn seine beste Freundin war jetzt bei ihm – Eine Freundin, die ihm keine Rolle aufzwingen wollte.
    Die Sonne erfüllte den Himmel jetzt blutrot und das Meer lag in warmem Licht getaucht.
    „Sieht das nicht wundervoll aus?“, fragte Hergor das Pferd. Er wurde wieder nachdenklich. „Ich glaube, wir müssen bald weiterreisen... Ansonsten würde ich irgendwann ins Wasser steigen, hinaus schwimmen, und nie mehr wieder kommen.“

    Man könnte meinen, dies sei nur eine melancholische Übertreibung des jungen Hergor gewesen, doch es war ihm ernst; Wenn er nicht für immer an den Stränden Ardeas kleben wollte, musste er sich nun von ihnen lösen – Bevor es zu spät für ihn war.
    So blickte er noch in derselben Nacht auf die Karte, um den Heimweg nach Silden zu planen. Doch vor seiner Rückkehr wollte er noch die Festung Trelis besuchen, die weit, weit westlich von Ardea lag. Das bedeutete für Sonnenschweif und ihn eine lange, gefährliche Reise durch hügelige Pfade in dichten, feuchten Laubwäldern.
    Am nächsten Morgen machte Hergor seine Besorgungen, was Proviant anging; dann erklärte er Javier, dass er bald weiterreisen müsse. Der Rebellenhauptmann wünschte ihm alles Gute und der Feuermagier des Dorfes, Sebastian, gab ihm seinen Segen.
    Seine letzte Nacht in der Umgebung Ardeas verbrachte Hergor mit Sonnenschweif am Meer.

    Der Ritt von Ardea nach Trelis war die längste Wegstrecke, die Hergor während seiner langen Reise zurücklegen musste. Er brauchte mehrere Wochen dafür, die sehr anstrengend wurden.
    Da es keine direkte Wegverbindung gab, führte sein Weg ihn durch die raue Natur myrtanischer Wälder. Nie konnte er richtig schlafen, wenn er sich in einem solchen befand, denn das Feuer hielt zwar die meisten wilden Tiere fern, doch fürchtete er noch immer die Anwesenheit von bösen Kreaturen Beliars.
    Nicht selten träumte er des Nachts, von Zombies oder Skeletten angegriffen zu werden. Einmal erschien ihm sogar ein Dämon im Traum, obwohl Hergor nicht einmal wusste, wie solche Kreaturen aussahen. Der Dämon sprach beunruhigende Reime, die Hergor genau im Gedächtnis blieben:

    Es dauert nicht mehr lang,
    Und Orks und Menschen ziehn' an einem Strang:
    Auf zum gemeinsamen Totengang!


    Dieser Traum beängstigte Hergor mehr, als alles Böse in den dunklen Wäldern.
    Vor den weltlichen Gefahren schützte die wachsame Sonnenschweif ihn des Öfteren: Wenn sich doch einmal ein hungriges Tier an ihn heranschlich, bemerkte sie es früh und weckte Hergor rechtzeitig, da er sonst im Schlaf völlig überrascht worden wäre.
    Irgendwie schien das Pferd selbst im Schlaf zu spüren, wenn eine Gefahr sie bedrohte. Dies erschien Hergor jedoch keineswegs unheimlich. Er brauchte seinem Pferd nur in die braunen Augen zu sehen, und er wusste, dass es ihn um jeden Preis beschützen würde.
    Eine weitere, allgegenwärtige Gefahr bestand darin, sich zu verlaufen. Es war nicht leicht, in den riesigen Wäldern den richtigen Weg zu finden, da einfach alles gleich aussah. Einen Kompass hatte Hergor auch nicht und so war er darauf angewiesen, sich an Bergen, Flüssen und dem Mond zu orientieren. Wäre er nicht so ein erfahrener Jäger gewesen, dann hätte er sich heillos verlaufen.
    Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit seinen Freunden war groß, doch in gewisser Weise fürchtete Hergor sich auch vor der Rückkehr in den Westen Myrtanas. Erinnerungen an all die schrecklichen Ereignisse, die er dort erlebt hatte, kamen wieder hoch.
    Woche um Woche verging und obwohl Hergor die Natur liebte, war er es bald leid, ständig wachsam sein zu müssen und jeden Tag riesige Strecken zurückzulegen. Er wünschte sich den Strand von Ardea zurück, an dem er frei von Sorgen die milden Abende verbracht, und sich das Meer angesehen hatte.
    Es begann plötzlich heftig zu regnen und die Kälte riss Hergor aus seinen Träumen. Nirgends war ein Regenschutz zu sehen und er verfluchte die Lage, in der er sich befand. Trotzdem ließ er Sonnenschweif weiterreiten.
    Als er schon bis auf die Haut durchnässt war, sah er eine recht große Kolonne anderer Reiter auf ihn zukommen. Es waren die ersten Menschen nach gut einer Woche, auf die er traf. (Die letzten beiden waren betrunkene Banditen gewesen, die im Suff dachten, sie wären Magier, und krampfhaft versuchten, Hergor mit einem Eiszauber einzufrieren – Vergeblich.)
    Aus gut verständlichem Misstrauen, ging Hergor davon aus, dass auch diese Männer Banditen waren, und lenkte sich und sein Pferd hinter ein großes, gut tarnendes Gebüsch. Die Reiterkolonne kam näher und Hergor sah, dass sie allesamt grüne Stoffkleidung trugen; Es mussten Leute von den friedliebenden Waldläuferstämmen sein.
    Es schien so, als würden sie Hergor übersehen, doch als der vorderste Mann an ihm vorbei geritten war, blieb der gesamte Zug stehen und er sagte: „Guten Tag, mein Freund!“ Dabei lächelte er wissend in Hergors Richtung und dieser schämte sich etwas, als er sein Versteck verließ und sich den Frauen und Männern zeigte.
    „Du brauchst dich vor uns nicht zu fürchten. Den gefährlichen Leuten begegnet man meist in der Stadt und nicht im Wald. Wohin führt dich dein Weg, auf diesem schönen Pferde?“
    „Ich bin auf dem Weg nach Trelis.“, antwortete Hergor.
    „Dann wirst du noch ein paar Tage reiten müssen.“, sagte der junge Waldläufer.„Aber die Richtung, in die du reitest, ist schonmal die richtige.“ „Das ist gut zu wissen.“, erwiderte Hergor. „Aber wieso wart ihr so unvorsichtig? Ich hätte auch ein Bandit sein können, der sich versteckt, um euch einen tückischen Pfeil nachzuschießen.“
    „Wir sahen dich schon von weitem, trotz des Regens. Du konntest kein Bandit sein. Ein solches Pferd würde keinen Banditen tragen... Ist dieser Regen nicht herrlich?“, schwärmte der Waldläufer, streckte seine Hand in die Höhe, fing einige Regentropfen auf, und betrachtete sie genau.
    Hergor sah ihn verdutzt an und sagte: „Für mich ist dieser Regen nur nass und kalt.“
    Der Reiter lächelte ihn wieder an: „Du hast Recht; das ist er. Aber das Wasser ist ein Geschenk Adanos'. Es fällt vom Himmel, um das böse Werk Beliars hinweg zu schwemmen, und die heißen Flammen Innos' zu bändigen. Es hält das Gleichgewicht, denn weder Innos, noch Beliar haben Macht über das Wasser; und es hält uns alle am Leben.“
    Dann flüsterte der Mann einer Frau seines Gefolges etwas ins Ohr, die daraufhin von ihrem Pferde stieg, schnell etwas von einem Karren holte, und es Hergor in die Hände gab. Es war ein Mantel aus dickem, grünen Stoff.
    „Danke!“, sagte Hergor völlig überrascht.
    „Irgendwann trägt das Wasser alles weg.“, der Wortführer der Gruppe sah Hergor tief in die Augen. „Auch dich.“
    Der Zug der Waldläufer zog weiter unter der Führung des eigenartigen jungen Mannes. Hergor fragte sich, was diese merkwürdige Begegnung zu bedeuten hatte.
    Die nächsten Tage dachte er darüber nach, bis der Wald lichter wurde, ein Fluss sich dadurch erstreckte und Hergor die Mauern der Festung Trelis durch die Bäume hinweg schimmern sah.

    „Halt! Wer bist du?“ Der große, dunkelhäutige Orksöldner, der das Tor zu Trelis bewachte, blickte streng auf Hergor herab.
    „Ich bin Hergor; ein Orksöldner aus Silden. Ich soll in Erfahrung bringen, wie es um die Festung steht.“
    Abwertend betrachtete der Hüne Hergor. „Ich habe dich von Osten her kommen sehen; Silden liegt im Norden.“
    Der Blick des gut gerüsteten Mannes war hart, genau wie seine ganzen Gesichtszüge.
    „Trelis ist nicht der einzige Ort, den ich aufsuchen sollte. Ich war viel auf Reisen.“
    „So so...“, sagte der Mann langsam und bedrohlich. Hergor wurde unruhig. „Wenn du ein Söldner bist, wieso trägst du dann diesen grünen Fummel? Bist du im Bunde mit dem feigen Waldläuferpack?“
    „Nein... Ich habe einen von ihnen getötet.“, log Hergor unsicher.
    „Wann und wo?“, fragte der Mann.
    „Das kann ich mit eurem Anführer besprechen...“, erwiderte Hergor, um das Gespräch zu beenden, doch der Söldner sagte:
    „Ich bin Thorus; Anführer der Orksöldner von Trelis. Und ich habe dich etwas gefragt: Wann und wo?
    Hergor war nun extrem nervös und hoffte, dass Thorus es ihm nicht anmerkte. „Vor gut einer Woche in einem Wald östlich von hier.“, sagte er. Thorus sah ihn todernst an: „Dann erkläre mir doch bitte, wie es sich angefühlt hat, diesen Mann umzubringen.“
    Hergor schwitzte nun... „Naja, es... Ich richtete meinen Bogen auf ihn, und... es war ein seltsames Gefühl...“, stammelte er.
    Thorus trat ganz nah an Hergor heran. „Weißt du was, Kleiner?“, fragte er im Flüsterton. „Ich glaube dir kein Wort. Du verschwindest jetzt sofort von hier, bevor ich dich persönlich für deine Lügen bestrafen werde. Und glaube mir: Mir bereitet es kein seltsames Gefühl, einen Menschen zu töten.“
    Hergor erwiderte darauf nichts. Er sah in Thorus' Augen, dass dieser es ernst meinte, und ging einige Schritte zurück; dabei beobachtete der bedrohliche Mann ihn genau.
    Hergor musste sich sehr beherrschen, um nicht panisch davon zu laufen.

    Er ritt mit Sonnenschweif auf kürzestem Wege in den nächstgelegenen Waldabschnitt zurück. Das Erlebnis mit Thorus schockte ihn sehr. War er für einen klugen Söldner so leicht zu durchschauen gewesen?
    Doch im Prinzip machte es ja nichts, dass ihm der Zugang zu Trelis verwehrt wurde; das, was er wissen wollte, hatte er schließlich erfahren: Die Festung war unter die Herrschaft der Orks gefallen.
    Hergor kramte seine Karte hervor und sah, dass es bis Silden kein allzu weiter Weg mehr war; er sah jedoch auch, dass er sich sehr nah am Pass nach Varant befand.
    Varant war das Wüstenreich, das im Süden der Midlands lag. Es wurde kontrolliert von den Assassinen, die mit Beliar und den Orks im Bunde waren; ähnlich wie die Orksöldner.
    Doch die Orks akzeptierten die Assassinen als freie Menschen und gleichgestellte Verbündete. Die Söldner waren für sie nur Nutzmittel.
    Nach einigen weiteren Metern sah Hergor ein großes, weißes Gerüst im Wald herumliegen. Er ritt darauf zu und erkannte bald unter großem Staunen, dass es das Skelett einer riesigen, urzeitlichen Echse war. Der Schädel hatte die Größe eines kleinen Felsbrockens und der Körper muss einst so viel gewogen haben, dass die Erde unter den Schritten dieses Tieres erbebte – Der alte Jäger aus Faring hatte also doch nicht gelogen.
    Plötzlich drängte eine seltsame Eingebung Hergor, ein Stückchen weiter südwärts zu reiten, obwohl es ihn nur noch weiter von Silden wegführen würde. Er hatte das Gefühl, dort das eigentliche Ziel seiner Reise zu finden. Sonnenschweif schien derselben Eingebung zu folgen und trabte zielstrebig in südliche Richtung.
    Eine halbe Stunde folgten sie diesem Weg und waren schon fast am Pass nach Varant angelangt, da hörten sie zwei Männer reden:
    „Wie viele Verluste haben wir zu beklagen?“
    „Zwei Männer sind tot, Hauptmann. Sechs weitere sind verletzt und einer wird vermisst.“
    „Wie viele Sklaven konnten wir befreien?“
    „Ich habe sie noch nicht zählen lassen. Es müssen ungefähr 25 sein.“
    Ein kurzes Schweigen... „Gut, danke! Lass sie bitte genau zählen. Morgen bringen wir sie in unser Lager.“
    „Zu Befehl, Hauptmann!“
    Hergor sah den unbekannten Rebellenhauptmann auf einem Baumstamm sitzen und grübeln. Er ritt auf den Mann zu; er musste es einfach.
    „Ich wünsche Euch einen guten Tag, Herr Hauptmann!“
    Der Rebell blickte auf: „Den wünsche ich Euch ebenfalls, junger Herr Waldläufer! Es kommt selten vor, dass ihr euch uns zeigt. Was wünscht Ihr?“
    „Ich hörte von befreiten Sklaven.“, antwortete Hergor und Sonnenschweif drängte ihn, endlich weiter zu gehen.
    „Ja, wir retteten heute Morgen einige Menschen, die die Orks an die Assassinen verkauft hatten. Um einige der Leute steht es sehr schlecht. Die harte Sklavenarbeit und das heiße Klima Varants haben sie kaputt gemacht.“
    „Darf ich die Leute mal sehen?“, fragte Hergor und lächelte „Mein Pferd drängt mich dazu.“
    „Natürlich. Folgt mir!“, antwortete der Rebell und stand von dem Baumstamm auf. Er führte Hergor zu einer kleinen Menschenmenge an einer lichten Stelle im Wald. Die Menschen waren zum größten Teil Kämpfer der Rebellen und zum anderen Teil geschundene Sklaven und Sklavinnen.
    „Dort sind die befreiten Leute. Sie werden gerade mit dem Nötigsten versorgt; etwas Nahrung und vor allem Wasser.“, sprach der Rebellenhauptmann.
    Sonnenschweif drängte Hergor zu den Sklaven zu gehen.
    „Danke! Ich werde sie mir mal ansehen...“, sagte Hergor.
    Die Sklaven waren ausgehungert und trugen zerrissene Kleidung. Die meisten von ihnen saßen irgendwo in Gruppen zusammen und aßen dankbar alles, was die Rebellen ihnen anboten. Manche lagen auch irgendwo und erholten sich; teilweise schliefen sie.
    Müde wirkten sie alle, nicht nur vom letzten Tag, sondern von den ganzen letzten Monaten; doch ein alter Mann, der einsam im Gras lag, fiel Hergor besonders auf. Er wirkte, als wäre er tot.
    „Für den Mann kommt jede Hilfe zu spät.“, flüsterte ein Rebell, der anscheinend gesehen hatte, wie Hergor den Alten beobachtete. „Wir können nichts weiter mehr tun, als ihn zu pflegen, bis er im Laufe der nächsten Tage oder Stunden sterben wird.“
    „Ich möchte mich um ihn kümmern.“, sagte Hergor spontan.
    „Dann bring ihm etwas Wasser.“, antwortete der Rebell.
    Hergor holte sich eine Kelle voll Wasser vom Proviantmeister der Rebellen ab und brachte sie dem Alten. Er lag auf der Seite, so dass Hergor sein Gesicht nicht sehen konnte.
    „Hier, guter Mann. Trinkt etwas davon!“
    Der Mann rührte sich nicht, jedoch antwortete er leise und müde:
    „Ich erkenne deine Stimme...“
    Vater?“, rief Hergor so laut, dass sich alle zu ihnen umdrehten.
    „Hergor... Ich bin so froh, dass du lebst...“, sagte der Mann und drehte sich zu ihm um.
    Hergor erkannte eindeutig Geribalds Gesichtszüge, doch er schien um mindestens 20 Jahre gealtert zu sein. Vater und Sohn umarmten sich, doch Hergor war vorsichtig mit dem alten, gebrechlichen Mann, zu dem sein Vater geworden war. „Was ist mit dir passiert?“, fragte er mit Tränen in den Augen. Geribald trank einige kleine Schlucke Wasser.
    „Branskar und ich wurden voneinander getrennt... lebt er noch?“
    „Ja, er hat sich den Rebellen von Silden und Geldern angeschlossen.“
    „Das ist schön zu hören... Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Wir wurden voneinander getrennt, als eine große Gruppe Orks auf uns einstürmte. Branskar muss viele erschlagen haben, und ich erschoss einige... Doch sie trieben uns in verschiedene Richtungen. Seitdem sah ich ihn nie wieder.“
    Geribald trank noch ein paar Schlucke.
    „Aber wieso geht es dir so schlecht? Wie bist du hierher gekommen?“, fragte Hergor.
    „Zwei Orks packten mich plötzlich von hinten – ich habe sie überhaupt nicht kommen hören. Sie schlugen mir etwas stumpfes über den Schädel. Sicher hielten sie mich danach für tot; ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich wissentlich am Leben gelassen haben.
    Als dann die Aufräumarbeiten begannen, fanden einige andere Orks mich. Mein Bogen war zerbrochen, ich konnte mich also nicht wehren. So wurde ich versklavt.“
    Ein Rebell näherte sich ihnen mit zwei Tellern heißer Suppe. Sie bedankten sich dafür und begannen zu essen. Geribald aß ungewöhnlich langsam und wenig.
    „Was ist dann passiert?“, wollte Hergor wissen.
    „Naja...“, sagte Geribald. „Ich wollte mich nicht damit abfinden, ein Sklave zu sein. Ich rebellierte, wo ich nur konnte. Daraufhin folterte man mich.
    Eines Tages erzählte ein Ork mir dann, dass sie mich an die Assassinen verkauft hätten. Sein Name war Pengroll, er war durch und durch böse und ich spuckte ihm ins Gesicht. Wäre ich nicht schon verkauft gewesen, hätte er mich sicher getötet – und nicht nur beinahe.“
    „Ich kannte Pengroll.“, sagte Hergor. „Er nahm sich das Leben, als ein Mensch ihn im Kampf besiegte und verschonte, obwohl er ihn hätte töten dürfen.“ Hergor verschwieg seinem Vater bewusst, dass er selbst dieser Mensch war, um dessen Reaktion abzuwarten.
    „Damit hat dieser Mann ihn mehr gedemütigt, als wir Menschen es uns vorstellen können, trotzdem – er hätte ihn selbst töten sollen!“, sagte Geribald und man sah den Hass in seinen Augen deutlich. Hergor schwieg eine Weile...
    „Wie geht deine Geschichte weiter, Vater?“
    „Nachdem Pengroll mich halb totgeprügelt hatte, brachten sie mich mit einigen anderen Sklaven in einer Eskorte nach Varant. Ich weiß nicht, wie lange ich dort war... Es kam mir wie eine nie endende Ewigkeit vor: Ich arbeitete Tag und Nacht, ohne Schutz vor der heißen Sonne. Heute morgen brachten einige Assassinen mich und die anderen hier wieder in die Nähe des Passes – und wurden von den Rebellen abgefangen. Jetzt bin ich hier.“
    Es dämmerte nun bereits und Geribald wollte unbedingt auch noch Hergors Geschichte erfahren. Hergor erzählte ihm das meiste, verschwieg jedoch seine Freundschaft zu Korr-Pak und seinen Kampf gegen Pengroll.
    Geribald hatte heftige Schmerzen, die von zahlreichen schlecht verheilten Verletzungen herrührten. Hergor wusste, dass sein Vater bald sterben würde und sah keinen Sinn darin, dass er sich vor seinem Tod noch an den Gedanken gewöhnen müsste, dass sein Sohn einen Ork zum Freund hatte.
    Sonnenschweif kam plötzlich von der Pferdetränke zurück und Geribald sah sich das Pferd genau an. „Woher hast du dieses Pferd, Hergor?“
    „Anog hat es mir mitgegeben; sicherlich kennst du ihn.“
    „Ja, ich kenne ihn...“, antwortete Geribald gedankenversunken. „Aber dieses Pferd... Nimm das Pergament aus meiner Tasche. Es ist das einzige, was ich an Eigentum aus unserer Hütte retten konnte.“
    Hergor wusste nicht, was sein Vater meinte. Trotzdem kramte er in den Taschen von Geribalds zerrissener Arbeitskleidung herum, und fand tatsächlich ein Blatt Pergament. Er entfaltete es vorsichtig.
    Es war die Zeichnung, die Großvater Petigor darstellte; zusammen mit einem großen, weißen Pferd.
    Obwohl es nur eine Zeichnung war, war Hergor völlig sprachlos.
    „Du denkst...?“, fragte er Geribald.
    „Auch Pferde haben Großeltern.“, antwortete Geribald müde lächelnd.
    Sonnenschweif stand wissend daneben und betrachtete das Bild.

    Die Nacht brach herein und die Menschen saßen an vielen kleinen Lagerfeuern und berieten sich über den folgenden Tag. Geribald befand sich im Halbschlaf und schien schlecht zu träumen. Hergor versuchte, ihn zu beruhigen, und er erwachte.
    „Mein Sohn...“, sagte Geribald müde und Hergor nahm ihn in den Arm. „Dieser Krieg ist schrecklich. An mir siehst du, was er angerichtet hat. Aber ich selbst habe auch viel angerichtet; du kennst meinen Hass auf die Orks. Beide Völker tragen zu viel von diesem Hass in sich. Ich bin zu alt, um ihn abzulegen und ich sterbe bald. Aber bitte versprich du mir wenigstens, niemals so zu werden, wie ich es war.“
    Solche Worte von Geribald zu hören, überraschte Hergor. Er sah seinem Vater in die Augen und sagte: „Ich verspreche es.“
    Dann starb Geribald in den Armen seines Sohnes.

    Noch in derselben Nacht schaufelte Hergor mit einigen Rebellen ein Grab für Geribald. Sie begruben den Leichnam und ein Magier gab seinen Segen dazu. Ein Grabstein wurde nicht aufgestellt, da keiner verfügbar war; außerdem dachte Hergor, ginge es niemanden etwas an, wer hier in Frieden ruhte.
    Am nächsten Morgen kam der Hauptmann zu Hergor:
    „Das mit Eurem Vater tut mir Leid, Herr Waldläufer. Aber Ihr könnt froh sein, ihn wenigstens zum Schluss noch einmal wiedergesehen zu haben.“
    „Ihr dürft mich Hergor nennen, Hauptmann.“, erwiderte Hergor.
    „Dann dürft Ihr mich Russel nennen.“, antwortete der Rebell.
    „Was habt ihr nun vor? Ich sehe, ihr seid alle in Aufbruchstimmung.“
    „Ja, das sind wir. Wir kehren gleich mit den geretteten Sklaven zu unserem Lager Nemora zurück. Begleitet Ihr uns?“, fragte Russel.
    „Nein, ich muss zurück nach Silden. Meine Freunde erwarten mich dort.“, erwiderte Hergor.
    „Dann wünsche ich viel Glück für den Weg dorthin!“, sagte Russel und klopfte ihm auf die Schulter.
    „Ich wünsche Euch auch viel Glück; euch allen!“
    Hergor brach auf zu der letzten Etappe seiner Reise. Der Tod seines Vaters stimmte ihn zwar traurig, doch er hatte ja schon lange damit gerechnet. Und dass er ihn letztendlich doch noch gefunden hatte, gab ihm ein Stück seines inneren Friedens zurück.

    Wie lange war Hergor nicht mehr in der vertrauten Umgebung Sildens gewesen? – Diese Frage konnte er sich selbst kaum beantworten, doch nun war er zurück in den Wäldern, die er kannte. Auch Sonnenschweif merkte, dass die Reise zuende ging und wirkte teils froh darüber und teils sehr betroffen.
    Es war kurz vor Sonnenuntergang, wenige Tage später, als Sonnenschweif und Hergor das Rebellenlager erreichten. Viele Rebellen erinnerten sich an Hergor und grüßten ihn herzlich. Dann kam auch Anog aus seinem Zelt und umarmte ihn.
    „Wo ist Branskar?“, fragte Hergor voller Sorge über dessen Abwesenheit. „Ich habe ihn schon holen lassen, mach dir um ihn keine Sorgen. Margot geht es auch gut. Du kannst sie morgen besuchen.“, antwortete Anog vergnügt. „Jetzt erzähl mir aber alles, was du gesehen und erlebt hast...“
    Eine knappe Stunde später sah Hergor auch Branskar wieder, der grinsend das Zelt betrat. „Hergor! Du scheinst ja richtig erwachsen geworden zu sein, während deiner langen Reise!“
    „Du aber nicht, Branskar!“, lachte Hergor. „Du bist noch immer der Alte!“ Branskar und Hergor redeten den ganzen Abend über ihre Erlebnisse und tranken Bier: „...und dort habe ich erfahren, dass tatsächlich ein mysteriöser Fremder das Dorf befreit hat!“, sagte Hergor.
    „Dass diese Geschichte wahr ist, wissen wir schon. Der Mann hielt sich einige Tage in Silden auf.“, erwiderte Branskar. „Als er das Dorf wieder verließ, hatte er einen Goldkelch dabei, der dem Kelch deines Großvaters sehr ähnelte... Du weißt schon, der Kelch, den ihr in eurer Hütte vergessen hattet. Ich könnte schwören, dass es derselbe Kelch war, aber er hatte gleich mehrere von den Dingern! Aber was wollte dieser Mann damit?“
    „Vielleicht haben wir Glück, und das alte Erbstück dient letztendlich einem höheren Zwecke.“, sagte Hergor fröhlich.
    „Ja, das kann sein... Von deinem Vater gibt es leider keine Neuigkeiten.“, sagte Branskar traurig.
    „Das habe ich mir gedacht.“, antwortete Hergor und überlegte kurz. Branskar sollte Geribald als tapferen Krieger in Erinnerung behalten, und nicht als müden, ausgelaugten Sklaven. Schließlich sagte er: „Er muss wohl in der Schlacht um Silden gefallen sein.“
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 21:04 Uhr)

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    Kapitel V
    Das Attentat


    Es vergingen einige Monate, bis in Silden wieder etwas Nennenswertes geschah. Während dieser Zeit gab es nur kleinere, unbedeutende Scharmützel zwischen Menschen und Orks. Die Rebellen bemühten sich, so viele Sklaven wie möglich aus Silden zu retten und viele Kämpfer ließen für dieses Ziel ihr Leben.
    Inog spielte wieder den Orksöldner und half vielen Sklaven, direkt aus Silden zu entkommen.
    Hergor erging es in dieser Zeit sehr gut. Margot war ihm noch immer sehr dankbar für ihre Rettung und versorgte ihn und die anderen Rebellen täglich mit sehr gutem Eintopf, der die Kämpfer stark machte; sie war sich wahrscheinlich gar nicht darüber im Klaren, wie sehr sie dem Lager damit half.
    Doch nicht nur bei den Menschen genoss Hergor hohes Ansehen; auch die Orks hatten noch immer großen Respekt vor ihm, obwohl einige ihn auch abgrundtief hassten.
    Es war schon einige Zeit her, dass Hergor das Angebot ausgeschlagen hatte, sich den Söldnern anzuschließen; er ging davon aus, dass Gras über die Sache gewachsen war, und traute sich jetzt wieder in das Dorf hinein.
    Beim Wiedersehen mit Korr-Pak erzählte er nur, dass er zur Erholung verreist war, und verschwieg der Freundschaft zuliebe, dass er als Kundschafter für die Rebellen arbeitete.
    Doch die Reise hatte tatsächlich Wirkung gezeigt: Hergor war wieder mit sich im Reinen und seine labile Psyche schien geheilt.
    Der Tod seines Vaters hatte zwar trotzdem Narben hinterlassen, doch die Gewissheit darüber war einfacher zu ertragen, als die Ungewissheit über seinen Verbleib.
    Hergor ging es wirklich gut nach seiner Reise und sein Leben begann wieder, einen gewissen Alltag mit sich zu bringen. Doch dann hörte er irgendwann zu Beginn des Winters, dass Anog einen groß angelegten Angriff gegen die Orks von Silden plante, um das Dorf zurück zu erobern. Natürlich wusste Hergor, dass solche bewaffneten Aufstände der einzige Weg waren, die Menschen endgültig von den Ketten der Sklaverei zu befreien, doch er hatte Angst um seine Freunde. Sowohl um die menschlichen, als auch um den orkischen.
    Doch laut Anogs Aussage sollte es noch einige Zeit dauern, bis er die Revolution starten wollte, denn sein Bruder Inog musste zuerst noch alle Vorkehrungen innerhalb Sildens treffen und die Sklaven vorbereiten. Außerdem wollte Anog abwarten, wie andere Aufstände in Myrtana verliefen, von denen man immer häufiger hörte.
    Nach Silden drangen sowieso die unterschiedlichsten Gerüchte vor, was den Widerstand gegen die Orks betraf. Nur eines machten sie alle deutlich: Nämlich, dass die Lage für die Orks sich zunehmend verschlechterte.
    Immer wieder wurden Orks von den zahlreichen Rebellentruppen überfallen oder mitten in ihren Dörfern attackiert. Söldner der Orks wurden von Rebellen gefangen genommen, hingerichtet und zur Schau gestellt, um Menschen davor abzuschrecken, mit den Orks zu kollaborieren.
    Die Methoden, die die Rebellen anwandten, glichen sich in ihrer Grausamkeit immer weiter an die Methoden der Orks an. Hergor hielt das für falsch, da es nur den Hass beider Seiten aufeinander bestätigte und stärkte. Er fragte sich, ob dieser gewaltige Hass vielleicht sogar die Kriegsmüdigkeit einiger Männer verdrängte.
    Die Gerüchte über den Krieg klangen teilweise so wirr, dass Hergor sie kaum glauben konnte. Doch ihren Höhepunkt erreichten sie, als er eines Tages nach Silden ging, um Korr-Pak zu besuchen.
    Er ging durch das Dorf und suchte die Hütte seines Freundes auf, welche nah bei der Arena lag. Die Bewohner und Besatzer Sildens gingen ihrem täglichen Treiben nach und eigentlich war alles wie immer.
    Eine Gruppe von fünf besonders brutal aussehenden Orks, die Hergor als Freunde Pengrolls erkannte, lungerten auf den Rängen der Arena herum und sahen mit boshaften Blicken zu ihm herüber.
    Hergor ignorierte sie einfach und klopfte an Korr-Paks Tür. Der Ork öffnete sie und Hergor wollte gerade eintreten, da hörten sie draußen einen großen Aufruhr. Korr-Pak und Hergor sahen nach, was der Auslöser dafür war.
    Umbrak, der Verwalter der Stadt persönlich, stand in der Arena und sprach zu den Orks: „Soeben erreichten mich zwei Kundschafter mit seltsamer Kunde.“, sprach er laut und der Lärm der Zuschauer ebbte ab. „Einer von ihnen kam aus Varant und leitete dort Ausgrabungen. Er sprach von Gerüchten, die besagten, dass Zuben, der Herrscher der Assassinen und Verbündeter des orkischen Volkes, von einem Fremden Morra ermordet wurde.“
    Sofort wurde es wieder laut; die Orks brabbelten alle durcheinander. Hergor war sprachlos.
    „Ruhe!“, schrie Umbrak. „Ich bin noch nicht fertig!“
    Die Orks redeten weiter durcheinander und machten keinerlei Anstalten, zu schweigen.
    Daraufhin trat der Schamane Grompel neben Umbrak, erzeugte einen großen Ball aus Feuer und schmiss diesen in die Krone eines Baumes, der mit einem lauten Knall explodierte. Plötzlich waren die Orks wieder still.
    „Beim nächsten Mal wird Grompel auf einen von euch zielen!“, rief Umbrak drohend, dann fuhr er fort: „Der zweite Bote erreichte mich wenig später. Es war ein Ork, der zu der Invasionsarmee gehörte, die wir gegen Vengard schickten. Auch er sprach ein seltsames Gerücht aus, welches besagte, dass ein Unbekannter Morra König Rhobar den Zweiten getötet hat und dann spurlos verschwunden ist.“
    Rhobar war gefallen?, dachte Hergor verzweifelt; für ihn war es wie ein Schlag in den Magen, doch die Orks jubelten, wie Hergor sie nie hatte jubeln hören.
    Umbrak verließ die Arena und Grompel trat wieder in die Mitte: „Seid ruhig!“, rief er. Die Orks gehorchten aufs Wort. „Ich weiß, der Tod Rhobars klingt wie eine Siegesnachricht.“, begann er. „Aber es ist kein Zufall, dass Rhobar und Zuben so kurz nacheinander starben.“
    Gebannt hörten die Orks dem weisen Schamanen zu. „Ich kenne den Morra, der diese Taten vollbracht hat. Er war vor kurzem hier in Silden.“
    Ein aufgeregtes Munkeln ging wieder durch die Reihen der Orks; sie wussten, wer gemeint war.
    „Allein dieser Morra hält letztendlich die Fäden des Schicksals in den Händen; das spüre ich ganz deutlich. Seid also wachsam und wartet ab. Die Welt ist im Wandel.“
    Grompel verließ die Arena ebenfalls und ging zurück in das Verwaltungsgebäude Sildens.
    Hergor konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen... Rhobar und Zuben tot?... Der Erwählte Innos' und der Erwählte Beliars... getötet von ein und demselben Mann?
    Die Menge der Orks diskutierte lautstark und trotz Grompels merkwürdigem Schlusswort fühlten sich alle sehr siegessicher.
    „Rhobars Tod wird den rebellischen Morras die letzte Hoffnung nehmen!“, jubelten sie. „Ja! Und nach Zubens Tod wird ein Ork der nächste Geweihte Beliars!“ „Unser Anführer Kan muss es werden!“ „Nun werden wir auch die Assassinen unterwerfen. Letztendlich sind sie doch auch nur Morras!“
    Hergor und Korr-Pak gingen zurück in die Hütte des Orks. Sie unterhielten sich den ganzen Abend über die Kunde, die so großen Aufruhr in Silden verursachte. Dabei gaben sie sich beide vergeblich Mühe, möglichst unparteiisch zu diskutieren. Draußen vor der Arena feierten die Orks ein Fest.
    „Du kannst die Nacht über hier bleiben, Hergor. Ist vielleicht sicherer, nach derart aufwühlenden Neuigkeiten.“, sagte Korr-Pak.
    Hergor nahm sein Angebot dankend an und grübelte beim Einschlafen noch lange über das Gehörte nach.

    Doch die Todesmeldungen zweier Könige blieben nicht die einzigen Seltsamkeiten, die Hergor noch erlebte. Am folgenden Morgen erreichten zwei Gruppen von jeweils vier Menschen das Dorf und zogen alle Aufmerksamkeit auf sich.
    Die erste Gruppe, die Silden erreichte, bestand aus vier Assassinen. Der Anführer der südländischen Männer trug den klangvollen Namen Salumir. Er gab an, nur auf der Durchreise zu sein, was ihm keiner glaubte. Auf die Frage der Orks hin, was mit Zuben geschehen sei, antwortete er nur, dass er auch nicht mehr wüsste, als das, was die Gerüchte besagten.
    Das glaubte ihm erst recht niemand, doch die Orks zogen es vor, abzuwarten, was geschehen würde.
    Kurz nachdem Salumir und seine Männer, die allesamt schwer mit jeweils zwei eleganten Schwertern bewaffnet waren, ihre Quartiere bezogen, tauchte auch schon die zweite Gruppe vor dem Stadttor auf.
    Es waren vier Männer in Orksöldnerrüstung, die ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet waren mit großen Schwertern und Armbrüsten. Ihr Anführer war ein Hüne namens Athor, der behauptete, von Kan persönlich den Auftrag bekommen zu haben, durch das Land zu reisen, und jedes Rebellenlager zu zerschlagen, das er fand.
    Also eine weitere Gruppe von Männern, die nur auf der Durchreise waren. Athors Orksöldner wurden in demselben Gästehaus untergebracht, wie Salumirs Assassinen.
    Hergor wusste direkt, dass die gleichzeitige Ankunft dieser Leute kein Zufall sein konnte und beschloss, der Sache nachzugehen...

    Am Nachmittag sah er beide Gruppen über den Marktplatz ziehen. Alle Orks und Menschen Sildens behielten sie neugierig im Auge. Die Neuankömmlinge wirkten verschwiegen, aber nicht aus Schüchternheit; vielmehr wirkte es, als hätten sie ein Geheimnis, das sie wahrten und dem sie verschworen waren.
    Außerdem fiel Hergor auf, dass Athor und Salumir sich aus dem Weg gingen und jeglichen Blickkontakt mieden.
    Hergor beobachtete sie bis in den Abend hinein, konnte aber nichts weiter Merkwürdiges feststellen.
    Die Männer aßen und tranken wie alle anderen auch; nur mieden sie wenn möglich jeglichen Kontakt zu anderen Leuten.
    Hergor war kurz davor, aufzugeben und zu Korr-Pak zurückzukehren, da sah er, wie Athor und seine Freunde in das Gasthaus zurückkehrten; kurz darauf folgten ihnen Salumir und seine Männer.
    Hergor schlich ihnen nach, bis ins Obergeschoss des Hauses. Die Männer waren bereits in ihre Quartiere gegangen. Er setzte sich in den Aufenthaltsraum, aus dem er den ganzen Flur beobachten, aber selbst nicht gut gesehen werden konnte.
    Er musste nicht lange warten, da öffnete sich eine Tür und Athor trat daraus hervor. Hergor duckte sich hinter einen Sessel und der Söldner sah sich misstrauisch danach um, ob ihn jemand beobachtete. Dann ging er zielstrebig auf eine andere Tür zu und klopfte sachte daran.
    „Herein!“, sagte eine Stimme mit starkem, südländischem Akzent. „Ich habe dich bereits erwartet, Athor...“
    Dann schloss sich die Tür. Hergor schlich sich heran und horchte. Sein Herz raste vor Angst, erwischt zu werden.

    „Du hast mich erwartet? Warum, Salumir?“
    „Ich weiß, was du vorhast, und ich weiß, wer du wirklich bist, du edler Paladin!“, sagte Salumir höhnisch.
    „Warum hast du uns dann noch nicht an die Orks verraten?“, fragte Athor. Salumir lachte. „Warum sollte ich denn, Sohn des Misstrauens? Ich habe schließlich dieselben Ziele wie du!“
    „Dann bezweifle ich, dass du über meine Ziele informiert bist –“
    „Oh doch, das bin ich, Athor!“ Salumir sprach plötzlich unglaublich ernst. „Dieser Mann, nein... Dieser Unheilsbringer! Er hat uns beiden die Könige geraubt, denen wir treu ergeben waren!“
    „Dann ist es also wahr?“, fragte Athor. „Zuben ist auch tot?“
    „Ja.“
    „Wenigstens eine gute Nachricht.“
    Das metallische Geräusch einer Klinge erklang. „Hätte ich dir nicht ein Angebot zu machen, Athor, dann wärst du jetzt seit ein paar Sekunden tot.“,
    zischte Salumir.
    „Ein Angebot?“, fragte Athor skeptisch. „Mit einem Messer an meiner Kehle?“
    Salumir steckte das Messer wieder weg. „Ja. Wir jagen beide den Mann, der unsere Könige ermordet hat; so unterschiedlich sie auch waren, und so sehr ich deinen auch verachtet habe. Dieser Mann ist unser gemeinsamer Feind, heute Nacht. Du weißt, dass er hier im nahegelegenen Wald aufkreuzen wird. Deswegen lass ihn uns gemeinsam töten, Athor! Heute Nacht sollen Innos und Beliar, Paladin und Assassine, gemeinsam ihren Feind niederstrecken!“
    Eine kurze Zeit schwieg Athor, dann sagte er energisch: „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich bin ein stolzer Paladin und meine Freunde ebenfalls. Wir machen keine gemeinsame Sache mit verdorbenen Menschen wie dir!“
    „Begreife doch, Sohn der Arroganz!“, rief Salumir laut. „Der Mann hat den mächtigen alten Magier an seiner Seite! Wir müssen gemeinsam kämpfen, um sie zu besiegen!“
    „Meine Antwort lautet 'Nein'. Wir Paladine werden ihn alleine richten.“, sagte Athor entschlossen.
    Jetzt war es Salumir, der eine Weile schwieg. „Damit hast du wahrscheinlich gerade unser aller Todesurteil besiegelt.“, sagte er dann. „Verlasse dieses Zimmer.“

    Hergor flüchtete, so schnell und leise er konnte und verließ das Haus. In dieser Nacht, so plante er, würde er den Kämpfern folgen und wenn nötig dem Fremden zur Seite stehen. Irgendwie hatte Hergor das Gefühl, dass dieser Mann nicht sterben durfte.

    Noch vor Sonnenuntergang verließen die acht Krieger kurz nacheinander Silden und gingen nordwestlich in einen Wald hinein. Hergor versuchte, ihnen zu folgen und sie im Auge zu behalten, doch Paladine und Assassinen gingen völlig unterschiedlicher Wege.
    Im Dämmerlicht des abendlichen Waldes verlor Hergor die Assassinen bald aus den Augen und folgte den Paladinen. Er ging so weit hinter ihnen, dass er sie noch so gerade sehen und ihnen folgen konnte. Er durfte schließlich nicht entdeckt werden.
    Von weitem hörte er die Männer reden; aus den Gesprächsfetzen bekam er mit, dass sie den Fremden und den dunklen Magier irgendwann im Laufe der Nacht hier erwarteten und dass die Informanten sehr zuverlässig waren, von denen sie den Weg der beiden Männer erfahren hatten.
    Noch fast eine Stunde folgte Hergor ihnen und nichts geschah, dann plötzlich: „Dort bewegt sich etwas!“
    Die Männer zogen ihre Schwerter und liefen auf das Gebüsch zu, wo sie eine Bewegung vermutet hatten. Aus dem Unterholz sprang ein aufgeschrecktes Reh und flüchtete panisch.
    „Verdammt!“, rief ein Paladin laut aus, doch Athor sah genauer hin...
    „Dort drüben laufen sie doch! Schnell, Männer! Tötet diese Vaterlandsverräter und Königsmörder!“
    Die Paladine liefen mit gezückten Schwertern auf die beiden Reisenden zu, die Hergor jetzt ebenfalls sah. Er entschloss sich gerade, die beiden mysteriösen Wanderer zu unterstützen, da entflammte ein riesiger, heller Lichtblitz und ein lauter Knall ertönte; eine Druckwelle riss Hergor von den Füßen.
    Verwirrt fragte er sich, was geschehen sei. Dann sah er, dass am Erscheinungsort des Lichtblitzes überall kleine Feuer brannten.
    Eine Zeit lang blieb er vor Angst still auf dem Boden liegen, dann rappelte er sich auf und ging vorsichtig auf die Flammen zu.
    Was er dort brennen sah, war nicht nur Holz und Gestrüpp; Vier tote Paladine lagen auf dem Waldboden und brannten vor sich hin. Einen davon erkannte er als Athor. Der Geruch war ekelhaft.
    Dieser Zauber war die mächtigste Magie, die Hergor jemals gesehen hatte – weit mächtiger, als Grompels Feuersturm. Hergor bekam unendlichen Respekt und große Angst vor den beiden Reisenden und kam sich dumm bei dem Gedanken vor, dass er sie im Kampf gegen ihre Attentäter unterstützen wollte; diese Männer waren wirklich nicht auf seine Unterstützung angewiesen.
    Dann hörte er plötzlich Schwerterklirren in der Nähe der unüberwindbaren Felsenklippen, die sich durch den Wald zogen. Magische Geschosse flogen wieder durch die Gegend und ein Mann schrie vor Schmerz auf.
    Hergor rannte auf den Schauplatz des Kampfes zu und sah, wie ein junger Mann und ein alter Greis Rücken an Rücken dort standen, und sich gegen die Assassinen zur Wehr setzten.
    Einer der Assassinen-Kämpfer brüllte: „Für Zuben!“, und rannte mit zwei erhobenen Schwertern auf den Greis zu. Der alte Mann wartete ruhig ab, bis der Assassine schon sehr nahe war und mitsamt Schwertern auf ihn zusprang.
    Dann warf der Alte ihm eine weiße Kugel reiner magischer Energie mitten ins Gesicht: Mit einem lauten Knacken brach die Wucht des Zaubers dem Assassinen das Genick, und schleuderte ihn weit weg. Der Kopf stand unförmig vom Körper des toten Mannes ab.
    Unterdessen kämpfte der jüngere Mann gleichzeitig gegen die restlichen drei Krieger. Er konnte sie gerade so in Schach halten, geriet aber massiv in Bedrängnis. Einer der Assassinen war bereits verwundet und der Fremde nutzte jede Gelegenheit, um auf ihn einzuschlagen.
    Doch trotz allem landete er keinen Treffer, da die anderen beiden Wüstenkämpfer einfach viel zu flink in ihrer Kampftechnik waren, als dass er auch nur kurz von ihnen ablassen konnte. Aber der Fremde schwang sein Schwert immer wieder gegen die Angreifer und wurde nicht nachlässig.
    Warum kommt der Magier ihm nicht zur Hilfe?, dachte Hergor bei sich. Dann sah er, dass die Hände des alten Mannes in Feuer standen; er streckte sie in den Himmel und sprach dabei sonderbare Worte.
    Plötzlich färbten sich die Wolken rot und es prasselte flüssiges Feuer auf die Assassinen nieder, gelenkt durch den mächtigen Greis.
    Hergor hatte Angst, getroffen zu werden, aber der Magier hatte seinen Fluch bestens unter Kontrolle: Die Assassinen mussten andauerndem Feuerbeschuss ausweichen, bis einer von ihnen getroffen wurde und unter einem schrecklichen Aufschrei verglühte. Die beiden restlichen Kämpfer wurden nachlässiger und der nächste Schwerthieb des jungen Fremden köpfte einen von ihnen.
    Nur noch Salumir war von den Assassinen übrig geblieben und ging mit blindem Hass auf beide seine Gegner los. Diese Unüberlegtheit wurde ihm jedoch zum Verhängnis: Er wurde gleichzeitig von einem Feuerball getroffen und von einem Schwerte durchbohrt.
    Der Kampf war vorbei. Wie gebannt saß Hergor im Gebüsch und wartete ab, was die beiden seltsamen Männer nun tun würden. Überall war Feuer, deswegen hatte Hergor gute Sicht.
    Der junge Kämpfer verschnaufte eine Weile und sah sich eine große Nische im Felsgestein an, die ihn sehr zu interessieren schien.
    Hergor kroch etwas aus seinem Versteck hinaus, um noch besser sehen zu können: Der greise alte Magier in seiner dunklen Robe hob zwei riesige, edle Zepter vom Boden auf und übergab eines davon dem jungen.
    „Es ist Zeit, das Portal zu öffnen.“, sagte er dann in ruhigem Tonfall. Der junge Mann zögerte: „Dann heißt es jetzt wohl, Abschied von der Welt nehmen.“
    „So ist es.“, Bei diesen Worten kreuzte sich der Blick des alten Zauberers mit dem von Hergor. Vor Schreck blieb Hergor fast das Herz stehen, denn der Blick dieses Mannes wirkte bedrohlich: Seine Augen waren völlig weiß, als ob er blind sei; trotzdem wusste Hergor, dass er ihn ganz deutlich sah. Einige Sekunden starrten sie sich an, dann drehte der Alte sich desinteressiert weg und sprach weiter mit seinem Gefährten: „Wir verlassen die Welt, aber das unbekannte Land erwartet uns.“
    Dann verbanden sie auf merkwürdige Art und Weise die beiden großen Zepter mit dem Felsen. Das Gestein knackte plötzlich und ein Durchgang tat sich darin auf, wie eine große Felsspalte. Dahinter schimmerte etwas. Staunend betrachtete der junge Krieger das Portal, dann sagte er: „Auf geht's!“, und verschwand darin; der alte Magier folgte ihm.
    Beim Geräusch polterndem Gesteins schloss sich der Durchgang wieder hinter den Beiden, dann...
    ...Totenstille. Als wäre da nie etwas im Gestein gewesen.

    Hergor konnte kaum glauben, was er da gesehen hatte. Er atmete schwer vor Aufregung und befürchtete schon, den Verstand verloren zu haben.
    Schließlich riss er sich zusammen und stand auf. Er wollte so schnell wie möglich aus diesem Wald raus und lief nach grober Schätzung in Richtung Silden.
    Niemand würde ihm diese Geschichte glauben, wenn er sie erzählte, also beschloss er, vorerst alles für sich zu behalten; auch über das seltsame Verschwinden Athors und Salumirs würde er schweigen.
    Hergor war tief in Gedanken versunken und als das Dorf Silden in Sichtweite kam, erlebte er den nächsten grauenvollen Schrecken dieses Tages: Silden stand wieder in Flammen; das klirrende Geräusch aufeinanderprallender Schwerter war wieder zu hören.
    Anog hatte seinen Angriff auf die Orks durchgeführt.
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 21:15 Uhr)

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    Kapitel VI
    Waffenruhe und Schwerterklirren


    Blutrot stand die Sonne am Morgen nach der Schlacht über Silden und zeigte jedem, der die Augen vor dem Schrecken nicht verschloss, das Ausmaß der Gewalt: Das Dorf und seine Umgebung waren voller Leichen, sowohl von Orks, als auch von Menschen; einige Stellen des Sees waren rot angehaucht, vom Blute beider Völker.
    Wer überlebt hatte und arbeiten konnte, grub im Wald große Massengräber. Doch vielleicht sollte man zunächst auf die Schlacht selbst eingehen. Sie ist weder durch Schwerter, noch durch Truppen entschieden worden, sondern durch Fehleinschätzungen und den berühmten Überraschungseffekt.
    Inog, der als Orksöldner verkleidet das große Fest der Orks zum Tode König Rhobars II. mitbekam, verließ Silden, um seinem Bruder Anog Bericht zu erstatten.
    In einem Anflug großer Waghalsigkeit entschied Anog, die Siegesgewissheit der Orks auszunutzen und sie direkt anzugreifen. Ungefähr zu der Zeit, als Hergor Athor und Salumir hinterher schlich, machten die Rebellen sich auf, Silden zu stürmen. Es war eine riskante Aktion, die dem gesamten Widerstand der Region den Kopf kosten konnte, doch der Überraschungseffekt erzielte seine Wirkung; die Orks waren desorganisiert und wurden schnell in kleine Gruppen versprengt.
    Die Gebrüder Inog und Anog bewiesen in jener Nacht großes Kriegsgeschick, da sie nicht nur das Dorf Silden zurückeroberten, sondern gleichzeitig auch noch die Nachbarstadt Geldern, die über sehr gute Befestigungsanlagen verfügte. Die Eroberung Gelderns war notwendig, da die Orks sonst von dort aus direkte Verstärkung nach Silden geschickt hätten.
    Die zahlreichen überlebenden Orks flohen nach den verlorenen Kämpfen nach Trelis. Die Menschen von Silden und Geldern bemühten sich, so schnell wie möglich alle Leichen aus den Wohngebieten zu entfernen. Es waren so schrecklich viele, dass der Schatten des Todes jegliches Triumphgefühl unterdrückte und es trotz des Sieges ein trüber Tag wurde.
    Hergor tat ebenfalls sein Bestes, um sein Heimatdorf zu säubern und bemerkte, dass es auch sehr viele menschliche Leichen gab, obwohl Anogs Truppen so überraschend in Silden einfielen. Am meisten schmerzte es ihn, wenn Kinder unter den Toten waren. Die Atmosphäre des Todes und der Hoffnungslosigkeit, die über Silden herrschte, schlug stark auf sein Gemüt und ihm graute davor, Freunde unter den Leichen zu finden.
    Bis jetzt wusste er nur, dass sein Pferd Sonnenschweif überlebt hatte, da es die Nacht im Lager der Rebellen verbracht hatte. Und dort sollte es auch bleiben, dachte Hergor, bis die Überreste des Massakers beseitigt waren.
    Der Tod war allgegenwärtig und bewegte Hergor dazu, beim Schaufeln von Gräbern über das Leben nachzudenken. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Menschen sich rächen mussten, denn jede Aktion ruft eine Reaktion hervor. Folglich hegte Hergor auch die pessimistischen Gedanken, dass der Krieg ein einziger Teufelskreis aus Rache war und dass nun wieder die Orks an der Reihe waren, sich zu rächen.
    Hergor fragte sich, was wohl aus seinem Freund Korr-Pak geworden sei. War er getötet worden, nur weil er groß, grün und haarig war? Hergor hatte seine Leiche noch nirgendwo gefunden, war aber sehr pessimistisch.
    Diese Lage erinnerte ihn an die Situation vor ungefähr einem Jahr, als er seinen Vater Geribald und seinen Freund Branskar vermisste; nur war es diesmal ein Ork, dem er nachtrauerte.
    Hergor schaufelte stumm und unter Rückenschmerzen sein Grab weiter, wie alle anderen Männer um ihn herum auch – in tiefem, nachdenklichem Schweigen.
    „Hergor! Hergor!“ rief plötzlich jemand. Als Hergor sich umdrehte, sah er, dass es Anog war. In zerschlagener Rüstung rannte er auf ihn zu; ein echter Rebellenhauptmann eben.
    „Was gibt es?“, fragte Hergor.
    „Branskar und Margot haben nach dir gefragt. Ich musste der alten Lady versprechen, nicht zu ruhen, ehe ich dich gefunden habe. Ansonsten hätte sie mich mit einer Orkaxt erschlagen.“
    Bei den Totengräbern kam dieser Spruch nur äußerst schlecht an, nach dem, was in der letzten Nacht geschah.
    „Dann ist dein Leben ja gerettet.“, sagte Hergor und musste ein klein wenig schmunzeln; teils aus Belustigung und teils weil ihm ein Stein vom Herzen fiel, als er erfuhr, dass Margot und Branskar noch lebten.
    „Sie wollen, dass ich dich zu ihnen bringe.“, antwortete Anog. „Schmeiß die Schaufel hin; du hast für heute eh schon genug gearbeitet.“
    Hergor tat, wie ihm geheißen, denn er hatte tatsächlich viel gearbeitet. Er schaufelte schon seit einigen Stunden, trotz starker Rückenschmerzen, und davor hatte er auch schon viele Leichen aus dem Dorf gekarrt.
    Er tat wirklich das Äußerste dafür, dass vielleicht irgendwann alles wieder annähernd so werden könnte wie früher; keine Leichen in Silden und Frieden für Myrtana.

    Er folgte Anog vom Waldrand, wo die Gräber angelegt wurden, zurück ins Dorf. Neben den zahlreichen Todesopfern hatte auch das Dorf selbst wieder großen Schaden erlitten, denn viele Hütten waren Ruinen oder waren komplett abgebrannt.
    Hergor hatte das ironische Glück, dass seine Hütte beide großen Schlachten überlebt hatte und dass er jetzt wieder dort einziehen konnte.
    Anog führte ihn zur Arena, in der eine große Gruppe von Waldläufern, die über mächtige Heilbegabung verfügten, so gut es ging den zahlreichen Verletzten half.
    Dort traf Hergor auch auf Branskar und Margot, die beide schrecklich erleichtert waren, als sie ihn lebendig und unverletzt vor sich sahen. Branskar selbst hatte einen tiefen Schnitt im Arm, behauptete aber, es sei nur eine oberflächliche Fleischwunde.
    Hergor lud ihn und Margot in seine Hütte ein, wo sie sich bei Fischsuppe und starkem, nahrhaftem Orkbier erzählten, was sie so erlebt hatten. Hergor behauptete, er wäre bei Nacht jagen gewesen, da er sich nicht traute, von seinem seltsamen Erlebnis im Wald zu berichten.
    Es klopfte an der Tür und Hergor öffnete sie. Inog stand draußen. „Gut, dass ich euch alle zusammen antreffe. Kommt bei Sonnenuntergang in den Tempel von Geldern. Anog wird zu den Bürgern unserer Städte sprechen.“

    Hergor und seine Freunde folgten Inogs Weisung, genau wie der Rest der Bevölkerung. Nur einige unzufriedene Rebellenkämpfer, die schon wussten, was Anog zu sagen hatte, blieben zum Schutz der Stadt in Silden zurück.
    Vor dem Tempel der Stadt Geldern hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, die ungeduldig auf den Auftritt des Hauptmanns wartete. Die Leute applaudierten, als er das Podium betrat. Der Lärm ebbte langsam ab, und Anog rief laut: „Frauen und Männer Myrtanas! Ihr habt tapfer durchgehalten und siegreich gekämpft!“
    Die Menge applaudierte noch lauter, als zuvor. Es dauerte seine Zeit, bis Anog wieder sprechen konnte. Hergor wunderte sich, wie schnell die Menschen die Weltuntergangsstimmung des tristen Tages zu vergessen schienen.
    „Mich erreichten heute Eilboten aus vielen Teilen des Landes und sie brachten frohe Kunde...“, fuhr Anog fort. „Euer Aufbegehren gegen die Tyrannei hatte nicht nur die Freiheit Sildens und Gelderns zu Folge...“ Die Menge war völlig ruhig, während Anogs Redepause, und er sprach die folgenden Worte, als würde er sie sehr genießen.
    ...sondern auch das Ende des Krieges in ganz Myrtana!
    Die Menge toste geradezu und auch Hergor ließ sich mitreißen.
    Der Krieg war vorbei! Erst nach vielen Minuten beruhigte sich das Volk. „Kan, der Feldherr der Orks, und die neue provisorische Regierung Myrtanas haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt.“
    Diese Nachricht begeisterte die Menschen weniger: „Kan lebt?!“, riefen sie empört, oder: „Tötet das Ork-Schwein!“ „Lieber Krieg, als Frieden mit Kan!“ Die Menschen redeten und schrien durcheinander und waren nicht zu besänftigen. Inog kam seinem Bruder auf dem Rednerplatz zur Hilfe und schrie aus Leibeskräften: „Seid ruhig! Seid ruhig!
    Eine trotzige Ruhe entstand, untermalt von wütendem Gemurmel. Dann sprach Inog weiter: „Wie ihr zu diesem Frieden steht, ist eure Sache; aber Silden und Geldern werden ihm nicht im Wege stehen!“
    „Das haben immer noch die Stadtverwalter zu entscheiden!“, brüllte ein Mann aus der Menge.
    „Ganz genau!“, antwortete Inog. „Die Stadtverwalter entscheiden.“ Er schwieg und Anog trat wieder neben ihn: „Ab dem heutigen Tage ist mein Bruder Inog Stadtverwalter der Stadt Geldern!“
    Wenige Leute jubelten, andere blickten verwirrt murrend um sich. Inog ergriff wieder das Wort: „Und mein Bruder Anog ist, ebenfalls ab dem heutigen Tage, Stadtverwalter der Stadt Silden!“
    Dieselbe Reaktion: verhaltener Jubel und Verwirrung.
    „Wir werden den Friedensverhandlungen mit den Orks nicht im Wege stehen!“, rief Anog nachdrücklich. „Die Volksversammlung ist hiermit beendet!“
    Die Menschen gingen zurück in ihre Unterkünfte und diskutierten dabei lautstark. Auf dem Weg zurück nach Silden sagte Margot: „Ich spüre irgendwie, dass diese Sache noch nicht vorbei ist und auch nicht durch die Befreiung einzelner Städte gelöst werden kann.“
    „Ja, das denke ich auch.“, antwortete Branskar. „Weißt du eigentlich, was mit deinem orkischen Freund geschehen ist, Hergor?“
    „Nein. Ich habe keine Ahnung.“, antwortete Hergor traurig.
    Branskar sah ihn mitfühlend an: „Es tut mir aufrichtig Leid, wenn ihm durch uns etwas Böses widerfahren ist.“
    Hergor schwieg.

    Die Aufbauarbeiten in Silden gingen in den nächsten Tagen gut voran und schon bald hatte wieder jeder Bürger eine Unterkunft.
    Anog regierte das Dorf mit lockerer Hand, was für viele sehr ungewohnt war, so kurz nach der Orkherrschaft. Es war übrigens nicht bekannt, was mit den alten Regenten Grompel und Umbrak geschehen war; ihre Leichen wurden nicht gefunden.
    Hergor musste oft an Korr-Pak denken, über dessen Verbleib noch immer nichts bekannt war. Er vermutete jedoch nicht, dass Korr-Pak irgendwohin geflüchtet war.
    Die alte Fischerin Margot hat eine neue Holzhütte direkt am See bekommen, und versorgte noch immer alle Rebellen und Bürger Sildens mit stärkenden Eintöpfen; so trug sie ihren Teil zum Wiederaufbau bei.
    Hergors Pferd Sonnenschweif wurde aus dem damaligen Rebellenlager ins Dorf gebracht, und lebte mit anderen Pferden zusammen in einem Stall; sie war aber das einzige Pferd, dass sich völlig frei und führerlos bewegen durfte.
    Branskar lebte noch immer in Hergors Hütte, überlegte jedoch häufig, wann er dem Feuerclan in Nordmar mal wieder einen Besuch abstatten sollte. Nordmar war Branskars Heimat und alle seine Freunde in der Gegend hielten ihn sicher schon für tot.
    Die Rebellenlager im Wald wurden langsam aufgelöst und die Wachen und Güter wurden je nach Bedarf auf Silden und Geldern aufgeteilt.
    Es stellte sich nur die kleinliche Frage, ob das Wort 'Rebellentruppen' noch legitim für Anog und seine Männer war. Doch wie gesagt, es war nur Haarspalterei, und man einigte sich schließlich auf den Ausdruck 'Stadtwache'.
    Inog und Anog waren in ihrer ersten Woche als Regenten sehr beschäftigt und ließen sich kaum in ihren Städten blicken. Hergor hörte erst wieder von ihnen, als sie zu einer zweiten Versammlung aller Bürger in Geldern aufriefen.
    Hergor und seine Freunde folgten diesem Aufruf aus Solidarität, doch viele andere Menschen verweigerten ihre Anwesenheit. Es war nicht unbedingt Unzufriedenheit über die Arbeit Inogs und Anogs; der Wiederaufbau lief schließlich gut.
    Vielmehr war es die Engstirnigkeit einiger Leute, sich nicht an den Waffenstillstand mit den Orks gewöhnen zu können.
    Inog und Anog standen wieder gemeinsam auf dem Rednerplatz. Inog begann zu sprechen und die diesmal deutlich kleinere Menge hörte ihnen gespannt zu. „Es gibt Neuigkeiten über die Lage in Myrtana.“
    Er hielt kurz inne und sah in die Menge. „Unsere Hauptstadt Vengard hat einen neuen Verwalter. Sein Name ist Lee, und er war einst ein großer General des Königs. Es gibt jedoch Gerüchte, dass er zusammen mit dem Fremden den Mord an Rhobar II. verübte.“ Die Menge murmelte, ein Mann rief: „Aber der Fremde hat uns einst Frieden versprochen; und der herrscht jetzt! Vielleicht war es der König, der falsch handelte und dem Frieden im Wege stand! Lee hingegen ist ein ehrlicher und fähiger Mann. Ich kenne ihn.“
    Einige Leute waren empört über diese Worte, doch Hergor hatte großen Respekt vor dem großen dunkelhaarigen Mann, der sie aussprach.
    „Darüber haben wir auch schon nachgedacht, doch ein Urteil darüber zu bilden, steht noch keinem von uns zu, Lares. Wie auch immer; Lee ist Regent Vengards, die Stadt wird wiederaufgebaut, die Orkbelagerung ist vorbei und die Barriere ist von den Magiern wieder eingerissen worden.“
    Anog sprach nun für seinen Bruder weiter: „Des Weiteren erreichte uns eine frohe Botschaft über die Paladinsfestung Gotha: Der Fremde, der so viele schicksalsträchtige Taten vollbrachte, hat sie zusammen mit einem Krieger namens Gorn von ihrem teuflischen Fluch befreit. Gorn baute die Burg wieder auf und herrscht nun über Gotha.“
    „Was ist mit dem Fremden geschehen?“, rief eine Frau aus der Menge. „Wir sollten ihm danken, für alles, was er getan hat!“
    Einige Leute stimmten ihr zu, andere reagierten wütend. Anog sprach: „Über seinen Verbleib ist uns nichts bekannt. Wir haben keine Ahnung.“
    Hergor bekam ein flaues Gefühl im Magen.
    „Kommen wir nun zu einer etwas beunruhigenden Nachricht“, sprach Inog. „Der ehemals hochrangige Orksöldner Thorus herrscht nun über die Burg Trelis. Er ist mit Kan im Bunde und es gibt starke Spannungen zwischen ihm und Gorn, der auf der Seite der Rebellen stand. Ein bewaffneter Konflikt zwischen den beiden, würde einen erneuten Konflikt zwischen Orks und Menschen bedeuten.“, Inog hielt inne und sein Bruder sprach weiter: „Sollte es soweit kommen, dürfen wir uns nicht dort hineinziehen lassen! Wir müssen Unabhängigkeit bewahren, ansonsten sind die Taten des namenlosen Fremden umsonst gewesen; ansonsten wird der momentane Frieden endgültig brechen!“
    Das zustimmende Gemurmel bestätigte die Worte Inogs und Anogs und sie verließen das Podium.
    Hergor bekam ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass Thorus, der bedrohliche Hüne von Trelis, nun die Fäden in der Hand hielt.

    Ungefähr zwei Jahre vergingen nun, in denen der Frieden sich zu einem bedrohlichen Bürgerkrieg entwickelte, der hervorging aus Misstrauen, Machtgier und vor allem aus Rassismus.
    Orks und Menschen waren zu verbissen, um in echtem Frieden miteinander auszukommen; und das, obwohl viele Orks Thorus folgten, der trotz seiner Einstellung noch immer ein Mensch war.
    Hergor vermutete, dass der Konflikt zwischen Gorn und Thorus sowieso einen Großteil der Schuld an der schlechten Lage Myrtanas trug.
    Die Männer von Gotha begannen, Handelskarawanen für Trelis zu überfallen und die rächende Reaktion darauf folgte. Nach kurzer Zeit kleinerer Scharmützel begann Gorn damit, seine Armee zu entsenden und es entstand ein handfester Krieg zwischen den beiden Festungen.
    Kriegerisch eingestellte Männer verließen Silden und Geldern, um in den Krieg zu ziehen, während Pazifisten aus ganz Myrtana in den beiden Städten eine neue Heimat fanden.
    Lee hielt die Stadt Vengard erfolgreich aus diesem Konflikt heraus, und Inog und Anog blieben ebenfalls neutral, obwohl auch einige ihrer Leute zwischen die Fronten kamen und ihr Leben ließen.
    Eines Abends statteten Hergor und Branskar Anog einen spontanen Besuch ab. Sie fanden den Regenten in seinem Arbeitszimmer; er hatte sich völlig betrunken und lallte traurig und wütend vor sich hin: „So habe ich mir den Frieden unseres namenlosen Retters nicht vorgestellt...“
    Hergor lag in den folgenden Nächten oft lange wach und dachte nach. „Was ist das nur für eine beschissene Welt, in der wir leben?“

    Da Silden und Geldern sich in dem neuen Krieg neutral verhielten, kamen auch öfters mal wieder Orks in die Stadt, die auf Durchreise waren. Jeden dieser Orks sah Hergor sich genauestens an, doch keiner sah Korr-Pak auch nur ähnlich.
    Seit zwei Jahren hatte Hergor ihn nicht mehr gesehen und er wusste, dass er die Hoffnung endlich aufgeben sollte; doch er tat es nicht.
    Mit seinen Freunden sprach er auch nicht mehr über Korr-Pak. Sie hatten wahrscheinlich längst vergessen, dass Hergor einmal einen orkischen Freund gehabt hatte.
    Einen Großteil seiner Zeit verbrachte Hergor wieder mit Sonnenschweif in den Wäldern, da er sich durch die Jagd am Leben hielt. Sein Bogen, ein Wolfsfetzer, war zwar zerschrammt und sah mittlerweile übel zugerichtet aus, doch er funktionierte einwandfrei.
    Als Hergor eines Tages von einem Jagdausflug heimkehrte, herrschte in Silden größere Aufregung, als je zuvor: Alle Menschen standen in den Straßen und Gassen und unterhielten sich...

    „...aber wo kommt er nur plötzlich wieder her?“
    „Einsperren sollte man den Mistkerl! Meinetwegen auch aufhängen...“
    „...und kein einziges seiner Versprechen hat sich bewahrheitet!“
    „...er hat uns alle enttäuscht!“
    „Den König hat er auch getötet! Was plant er als nächstes?“
    Das Gemunkel machte Hergor stutzig. Es konnte doch nicht sein, dass...
    Er rannte in das Verwaltungsgebäude Sildens und fand Anog in seinem Arbeitszimmer. Inog und Branskar waren ebenfalls dort.
    „Hergor, da bist du ja!“, rief Anog. „Hast du es schon gehört?“
    „Ich habe viel gehört und nichts verstanden...“, antwortete Hergor. „Nur Gemunkel auf den Straßen. Das ganze Dorf ist in Aufruhr, was ist denn geschehen?“
    „Das ist eine etwas längere Geschichte...“, begann Anog. „Heute morgen traf ich mich mit Inog in Geldern. Wir besprachen, wie wir gegen die vermehrten Übergriffe gegen orkische Gäste in dieser Gegend vorgehen sollten. Als ich mich dann auf den Rückweg machte, sah ich nahe einem Pfad zwischen Silden und Geldern einen Mann liegen; er war schwer verletzt. Ich barg ihn, sah ihn mir genauer an und stellte erstaunt fest, dass es der Namenlose war, der uns einst Frieden versprach.“
    Eine Weile schwiegen die Männer, dann fragte Hergor: „Wo ist er jetzt?“ „Er ruht sich aus.“, antwortete Anog. „Er war wirklich sehr angeschlagen. Ich denke, wütende Orks haben ihn überfallen.“
    Es dauerte seine Zeit, bis der Namenlose wieder auf die Beine kam und das ganze Dorf war aufgeregt. Jeder sprach über ihn und einige Aufschneider gaben öffentlich bekannt, sie würden ihn 'zur Rede stellen'. Doch als der Namenlose dann das erste Mal in die Stadt hinaustrat, traute sich doch keiner ihm dumm zu kommen. Der Respekt vor dem großen Krieger, der zwei fanatischen Königen den Garaus gemacht hatte, war doch noch zu groß.
    Hergor saß auf einer Bank und beobachtete den Mann. Es war eindeutig derselbe, der in jener Nacht vor zwei Jahren durch das mysteriöse Portal ging und Myrtana verließ.
    Er schien sehr unzufrieden zu sein.

    Später besuchte Hergor Margot. Sie erzählte ihm, dass sie von dem Namenlosen noch große Taten erwarte und es einfach kein Zufall sein konnte, dass er gerade dann zurückkehrte, als die Not am größten war.
    Spät in der Nacht machte Hergor sich auf den Weg, zurück zu seiner Hütte; dann sah er Anog mit dem Namenlosen auf einer Bank sitzen und reden: „Ihr habt es anscheinend noch immer nicht verstanden! Ich habe euch den Frieden gebracht, doch sowohl Menschen, als auch Orks haben ihn mit Füßen getreten!“, sprach der Fremde.
    „Was soll ich dazu sagen? Die Leute vertrauen dir nicht mehr...“, erwiderte Anog.
    „Wie oft habe ich mein Leben für euch riskiert? Zum Schluss war ich es, der die letzten göttlichen Einflüsse von der Welt verbannte und den Krieg der Götter auf Erden beendete! Doch ihr habt sinnlos weiter gemordet, und meinen Frieden zerstört. Und nun nehmt ihr mich als verdammten Sündenbock, der's vermasselt hat; und dass, obwohl ihr selbst in eurer Dummheit alles zunichte gemacht habt! Du weißt, dass ich Recht habe.“, sprach der Fremde.
    „Das musst du mir nicht sagen! Nicht ich fing den Krieg an, sondern dein Freund Gorn. Geh doch zu ihm!“, erwiderte Anog gereizt.
    „Das werde ich auch tun.“, sagte der Namenlose. „Noch heute Nacht werde ich aufbrechen, und dieses Reich endgültig einen!“
    Dann stand er auf und ging in Richtung des Stadttors. Als er an Hergor vorbeikam, sah er ihn kurz an; dann ging er weiter. Hergor hatte das Gefühl, dass er ein gutherziger Mann sein musste und fand seine Wut auf Menschen und Orks gut verständlich.
    Der Namenlose verließ Silden und Hergor sah ihm hinterher, wie er nach Gotha aufbrach.

    Mehr als zwei Monate geschah nichts besonderes mehr und Hergor verbrachte seine Zeit friedlich mit seinen Freunden; Branskar war immer noch nicht entschlossen, wann er nach Nordmar gehen würde und Hergor überlegte, ob er ihn nicht begleiten sollte.
    An dem Tag, der der schicksalshafteste seines Lebens werden sollte, ging er in einem Wald nahe Geldern jagen. Er war schon tief in diesen vorgedrungen, als plötzlich eine fröhliche, fremde Stimme rief: „Heyho Kumpel! Wohin soll's denn gehen?“
    Es war ein Mann, der aussah wie ein Jäger. Er kam Hergor irgendwie bekannt vor, doch er konnte ihn nicht direkt einordnen... Dann kam die Erinnerung langsam wieder: „Ich bin nur auf der Jagd hier... Ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen. Lebst du in Geldern?“, fragte Hergor.
    „Ja, seit fast drei Jahren lebe ich dort.“, antwortete der dunkelhaarige Mann.
    „Dann warst du es damals, der sich nach der Befreiung bei der Ansprache unserer Stadthalter für Lee eingesetzt hat, richtig?“
    „Daran kannst du dich erinnern?“,grinste der Mann. „Mein Name ist Lares“
    „Mein Name ist Hergor.“ Die beiden reichten sich die Hände. „Wo lebtest du, bevor du vor drei Jahren nach Geldern kamst?
    „Ich komme von der Insel Khorinis.“, antwortete Lares. „Du wirst es sicher kaum glauben, aber der Mann, der unter dem Namen 'Der Namenlose' bekannt ist, hat mich auf einem Schiff mit hier rüber gebracht.“
    Hergor war sprachlos: „Du kennst den Namenlosen? Ist er wirklich ein Held, wie man sagt?“
    Lares lachte: „Oh ja, er vollbrachte viele heldenhafte Taten, schon auf Khorinis. Immer kämpfte er für das Gute. Einige schreckliche Kreaturen Beliars hat er bezwungen, aber das ist eine lange Geschichte... Jagst du hier eigentlich was bestimmtes?“
    „Nein. Warum fragst du?“, wollte Hergor wissen.
    „Naja...“, grinste Lares. „Ich hörte eine Geschichte von einem Oger, der hier im Wald lebt, Wanderer tötet und dadurch sehr reich geworden sein soll. Man nennt ihn Belguz Goldschädel.“
    „Ich hörte von einer solchen Legende.“, antwortete Hergor. „Mein Vater erzählte einst davon. Hast du etwa vor, diesen Oger zu suchen?“
    „Du hast es erfasst!“, grinste Lares. „Man gab mir einige Hinweise, aber allein möchte ich nicht versuchen, einen Oger zu beklauen.“
    Hergor lachte: „Ich glaube zwar nicht an diese Geschichte, doch wenn du mir noch etwas über den Namenlosen erzählst, bin ich dabei.“

    Lares führte Hergor über eine Stunde lang durch den Wald und erzählte viele Geschichten aus der Vergangenheit. Dann zog er eine Karte aus der Tasche, studierte sie genau und sagte leise zu sich selbst: „Hier müsste sie doch irgendwo sein...“
    „Was suchst du denn?“
    „Angeblich wohnt Belguz in einer Höhle; und die suche ich...“
    Hergor und Lares suchten die Gegend ab, fanden jedoch nichts, bis Hergor durch einen unvorsichtigen Schritt beinahe in ein tiefes Loch im Boden gefallen wäre. Als er sich von dem Schrecken erholt hatte, lief er zu Lares zurück und sagte: „Ich habe ein Loch im Boden gefunden! Gleich dort drüben...“
    Er führte Lares zurück zu der Höhle; dieser betrachtete sie kurz und sagte: „Ja, das muss sie sein. Die Höhle von Belguz Goldschädel. Mein Plan lautet folgendermaßen –– “
    Lares' Ausführungen wurden von dem Geräusch aufeinander prallenden Stahls unterbrochen, das von weit her zu ihnen drang.
    „Was ist das?“, fragte Hergor.
    „Da wird gekämpft.“, antwortete Lares. “Wahrscheinlich irgendwelche Banditen...“
    „Ich gehe mal nachsehen.“, sagte Hergor. „Ich bin gleich wieder da.“
    Hergor hatte ein ungutes Gefühl, während er den Geräuschen des Kampfes folgte. Irgendwas sagte ihm, dass das keine Banditen waren...
    Dann ertönte ein Schrei: „Verdammter Ork! Gib doch zu, dass ihr den Frieden gar nicht wollt!“
    Branskar?, dachte Hergor und rannte schneller, um seinem Freund zu Hilfe zu kommen. Wieder ertönten metallene Geräusche.
    „Ihr Morras seid doch nichts besser! Wie viele reisende Orks habt ihr in dieser Gegend schon überfallen und getötet?“
    KORR-PAK? Hergor erkannte die Stimme ganz deutlich. Panisch rannte er weiter, so schnell er konnte. Plötzlich spürte er Angstschweiß in großen Mengen an seinem Körper herunterfließen.
    „Ihr habt uns angegriffen! Also tu nicht so, als wäret ihr die Opfer!“, schrie Branskar und die metallenen Schlaggeräusche wurden immer lauter. Dann sah Hergor die Silhouetten seiner beiden Freunde auf einer Waldlichtung: Beide schwangen sie ihre riesigen Äxte gegeneinander. Darauf folgte etwas Schreckliches: „AAARGH!“
    Zwei grauenhafte Schrei des Schmerzes ertönten. „NEIN!“, schrie Hergor und sah, wie die Silhouetten sich voneinander abstießen und beide auf den Boden fielen. Er rannte, so schnell er konnte; fiel dabei hin, und rannte weiter, ohne auf den Schmerz zu achten. Dann erreichte er seine beiden Freunde und Tränen strömten ihm über die Wangen.
    Branskar lag auf der Seite und Blut strömte ihm aus dem Brustbereich; neben ihm lag eine Orkaxt. Korr-Pak lag ebenfalls auf der Seite und Branskars Trollfaust steckte noch in seinem Bauch.
    „Hergor...“, sagten Branskar und Korr-Pak gleichzeitig überrascht und vor Schmerz stöhnend.
    Vor Tränen konnte Hergor kaum noch etwas sehen; er weinte hysterisch und fiel auf die Knie. „Branskar und Korr-Pak...“, jammerte er.
    Die beiden schwer verletzten sahen ihn aus trüber werdenden Augen an; dann schienen sie schlagartig zu begreifen. Sie drehten mit letzter Kraft die Köpfe zueinander und sahen sich beschämt und reumütig in die Augen.
    „Meine besten Freunde!“, weinte Hergor; er schien am Rande des Wahnsinns zu sein. „Was habt ihr getan?!“

    Lange blieb Hergor dort hocken, weinend und schreiend. Fast wäre er neben den blutigen Leichen seiner beiden Freunde in Ohnmacht gefallen. Vor Schreck, Trauer und Unbegreifen vergaß er die ganze Welt um sich herum.
    Lares fand ihn dort, brachte ihn zurück nach Silden und gab Anog Bescheid, dass der Krieg drei weitere Opfer gefordert hatte. Dabei blickte er runter zu Hergor, der sich wie ein Wahnsinniger auf dem Boden wälzte.
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 21:26 Uhr)

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    Kapitel VII
    Ein neuer Anfang


    Die folgende Zeit lief sehr schleierhaft an Hergor vorbei. Er schien nie ganz klar bei Sinnen zu sein und mied jeglichen Kontakt. Er konnte an nichts anderes mehr denken, als an den schrecklichen Tod seiner beiden besten Freunde; alles erinnerte ihn daran.
    Nicht einmal Sonnenschweif oder Margot konnten ihn trösten.
    Er erinnerte sich an die Botschaften seiner bösen Träume in der Vergangenheit. Sie hatten sich alle bewahrheitet.
    Bald begann er, sich selbst Vorwürfe zu machen.
    Hätte ich sie doch einander vorgestellt... sie würden jetzt beide leben!
    In der schlimmsten Phase der Selbstvorwürfe dachte Hergor sogar an den Freitod. Doch glücklicherweise wurden diese Gedanken immer schnell von Erinnerungen an das Meer verdrängt.
    Die Hafenstadt Vengard... Die Strände Ardeas... All dies vermisste er.
    Um sich intensiver an die Zeit in Ardea zurück zu erinnern, half ihm der Alkohol; er trank regelmäßig das billigste Zeug, dass er kriegen konnte. Anog und Margot beobachteten seine Entwicklung mit äußerster Sorge. Hergor interessierte sich für gar nichts mehr, außer für die Einsamkeit und den Alkohol; Sonnenschweif streifte allein durch die Gegend.
    Als Anog in Silden verkündete, dass der Anführer der Orkstreitmacht, Kan, getötet wurde, interessierte es Hergor nicht.
    Als Anog verkündete, dass das Reich einen neuen, starken König hatte, interessierte es Hergor ein wenig.
    Er hat es also doch noch geschafft... dachte er und nahm den nächsten Schluck.
    Der Namenlose war es, der alle Gewaltkonflikte im Reich beendete und Orks und Menschen zum Frieden zwang. Dann herrschte er über beide Völker und hatte ihren Respekt. Ab dem Tage seiner Krönung trug er den Namen König Rhobar der Dritte.
    Nicht länger war er also ein Namenloser.
    Auf die Krönung des neuen Königs und auf den Frieden, der nun tatsächlich ins Reich einkehrte, trank Hergor noch mehr, als gewöhnlich. So erkrankte er durch den Alkohol.
    Er verließ seine Hütte im Fieber, um sich von jemandem helfen zu lassen. Als er blass und zitternd vom Fusel vor Margots Tür auftauchte, riss der alten Dame der Geduldsfaden. „Du Saubengel brauchst keine Medizin, sondern endlich mal wieder ein Bad!“, schrie sie und zerrte ihn zum See. Hergor war geschwächt vom Alkohol und als sie ihn stieß, fiel er vornüber ins kalte Wasser.
    „Und wenn du noch einmal besoffen bei mir auftauchst, dann setzt es eine Tracht Prügel!“ Hergor stand auf und fühlte sich jetzt erst recht dreckig; alle Leute sahen ihn mitleidig an und tuschelten.
    Als Hergor Sonnenschweif das nächste Mal sah, entschuldigte er sich bei dem Pferd dafür, dass er nicht mehr mit ihr ausritt. Dann bat er sie, ihn nach Geldern zu bringen.
    Geldern war vor dem Krieg bekannt gewesen für seine vielen guten Alchemisten und Heiler. Diesen Ruf hatte die Stadt trotz der Belagerung halten können. Hergor konnte nur hoffen, dass jemand fähig war, ihm seine schreckliche Sucht zu nehmen.
    Er ging von einem Alchemisten zum nächsten, doch keiner wusste schnelle Hilfe. Betrübt wollte Hergor die Stadt wieder verlassen, da lief ihm Lares über den Weg. „Hallo Hergor!“, sagte er. „Es freut mich, dich mal wieder zu sehen. Es tut mir schrecklich Leid, was dort im Wald passiert ist.“
    „Vielen Dank, Lares. Ich weiß das zu schätzen.“, antwortete Hergor. „Auch, dass du mich aus diesem verdammten Wald rausgeschafft hast... Hast du Belguz Goldschädel eigentlich noch gefunden?“
    Lares grinste: „Ich dachte, ich lasse die Legende auf sich beruhen.“
    „Seit jenem Tag habe ich keinen Wald mehr betreten... eigentlich habe ich meine Hütte sowieso kaum verlassen.“, sagte Hergor nachdenklich.
    Lares sah ihn besorgt an: „Mensch, Hergor! Du musst wieder auf die Beine kommen! Natürlich sind schreckliche Dinge passiert, aber das musst du hinter dir lassen.“
    „Das ist leichter gesagt, als getan in dieser Umgebung. Alles erinnert an das Grauen.“, seufzte Hergor und wollte gerade weiterziehen, da schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er drehte sich wieder zu Lares um: „Du, Lares? Wie ist die Insel Khorinis eigentlich so?“

    Als Hergor wieder nach Silden kam, ging es ihm schon etwas besser; dabei hatte er nichtmal Medikamente bekommen. Was er aber bekam, war ein Plan für sein Leben.
    „Margot? Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“
    „Ist schon in Ordnung, Junge. Ich weiß, dass du es schwer hast.“
    „Und ich wollte dir noch etwas sagen.“
    „Was denn, mein Junge?“
    „Ich werde den Kontinent bald verlassen. Wahrscheinlich für immer. Ich muss das alles hinter mir lassen, sonst gehe ich völlig daran kaputt.“
    Margot schwieg lange und Hergor befürchtete, sie verletzt zu haben.
    „Ich habe mir schon gedacht, dass du das irgendwann sagen würdest. Ich bin alt und ich glaube, ich werde krank; sehr krank. Also nimm auf mich keine Rücksicht. Tue, was für dich am besten ist.“
    „Ich bin froh, dass du mich verstehst, Margot.“, lächelte Hergor müde. Wenige Wochen blieben Hergor noch in Silden und sein Alkoholkonsum nahm wieder ab. Er weihte auch Inog und Anog in sein Vorhaben ein, da sie ebenfalls gute Freunde für ihn geworden waren.
    Dann plante er seine Reise; er würde auf kürzester Strecke ohne Gepäck nach Vengard reiten und das nächstbeste Schiff nach Khorinis nehmen. So einfach war sein Plan.
    Nur Margot ließ ihn zögern, den Plan so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen. Sie hatte Recht behalten und wurde tatsächlich sehr krank, doch ihren Biss verlor sie bis zum Schluss nicht: „Hergor, wenn du nicht endlich aufhörst, auf mich Rücksicht zu nehmen, kriegst du einen mächtigen Arschtritt! Du hast einen Plan, also führe ihn auch aus!“
    Und so kam der Tag, an dem Hergor früh morgens Sonnenschweif sattelte und ein letztes Mal durch sein Heimatdorf Silden ritt.
    „Margot, ich reite los.“
    „Das freut mich für dich Hergor. Ich bin alt und krank, und habe keine Ahnung, wie lange ich noch zu leben habe. Werde glücklich in der Ferne! Dieser Ort hier birgt tatsächlich zu viele böse Erinnerungen.“
    „Ich werde dich vermissen, Margot!“, sagte Hergor und unter Tränen umarmte er die alte Frau. Dann gab er ihr die Zeichnung, die seinen Großvater und das schöne weiße Pferd zeigte, und dazu ein kleines Buch. „Hier, ich habe noch etwas für dich...“

    Die Reise nach Vengard dauerte knapp zwei Wochen, und es regnete oft. Aber Hergor genoss jeden einzelnen Tropfen des kostbaren Geschenkes Adanos'.
    Die Hauptstadt Vengard selbst war prächtig nach ihrem Wiederaufbau und Hergor wusste, dass irgendwo in der Burg der Namenlose saß und die Geschicke des Reiches lenkte. Doch am meisten lockte ihn noch immer das Meer.
    Viele Schiffe fuhren wieder nach Khorinis, nachdem auch dort der Frieden wieder einkehrte; Hergor und Sonnenschweif stiegen auf einen großen Zweimaster mit dem Namen 'Libertania'. Pünktlich zum Sonnenuntergang startete das Schiff. Und so brach Hergor auf gen Khorinis, um seinen Frieden zu finden; allein mit Sonnenschweif und seinen Erinnerungen.
    Geändert von alibombali (04.10.2011 um 21:29 Uhr)

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    Epilog


    Dies war die Geschichte Hergors, der sein Tagebuch der Fischerin Margot übergab, die wenige Tage später verstarb.
    Am Tage seiner Abreise war er 21 Jahre alt geworden. Über sein Leben in Khorinis ist nichts weiter bekannt; nicht einmal, ob er die Insel überhaupt erreicht hatte.
    Die Verluste und Leiden, die er durch den Krieg erlitt, sollen ein Mahnmal sein; für alle Völker, in allen Zeiten.

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