Die aussichtsloseste Situation

Er rannte immer weiter, obwohl ihm seine Seite schmerzte.
Sein Keuchen übertönte das Rascheln der Zweige, die er streifte, und das der Blätter auf die er trat.
Ein Ast knackte, als er auf ihn trat, doch er rannte einfach weiter. Irgendwie musste er es doch schaffen von diesem verfluchten Ort wegzukommen.
Schrammen und Dreck zierten seinen ganzen einst gepflegten Körper.
Musste er nicht hier rechts ab? Nein, er hatte sich geirrt – wieder mal.
Sein Fuß blieb hinter einer Baumwurzel hängen. Er wollte die Arme noch schützend vor den Körper werfen, doch er schaffte es nicht rechtzeitig. Zu schnell fiel er und zu ausgezehrt war sein Körper.
Seit drei Tagen irrte er nun schon in diesem Wald umher.
„Besorgst du mir ein paar schöne Blumen für Hilda? Im Wald auf der anderen Seite des Weges, wachsen bestimmt welche“, hatte Lobart zu ihm gesagt und er, Vino, war auch noch so naiv gewesen den kleinen Auftrag anzunehmen.
Aber wer hatte schon damit gerechnet, dass er von Wölfen angegriffen würde und nach der überstürzten Flucht nicht wieder zurückfand?
Vino spürte wie ein heißer Tropfen Blut aus seinem Haarschopf sickerte.
Langsam richtete er sich auf und fand einen Stein wie jeden anderen hier im Wald vor ihm. Nur dass dieser mit seinem Blut benetzt war.
„Scheiße“, grummelte er und presste die Hand gegen die blutende Stelle.
Langsam tappte er weiter, achtete nun genauer auf den Waldboden unter ihm, um nicht wieder zu stolpern.
Er musste sich daran erinnern, was er alles übers Zurechtfinden in der Wildnis wusste.
Der Hof war im Osten, alle anderen Seiten des Waldes waren von Bergen und der Stadtmauer umschlossen, das wusste er.
Die Sonne ging im Osten unter, nur wo war die Sonne? Dunkle Wolken trieben über den Himmel, der sich zusehends verdunkelte und ein heftiges Regenschauer ankündigte.
Er hatte einmal gehört, dass die bemooste Seite von Bäumen nach Süden zeigte. Oder war es Norden? Er wusste es nicht.
Es war zum Verzweifeln. Sein Magen knurrte, seine Kehle war trocken und freute sich schon matt auf den nahenden Regen.
Geschlafen hatte er auch fast gar nicht in den letzten Tagen. Die Angst vor wilden Tieren hatte ihn daran gehindert Ruhe zu finden.
Vino nahm seine Hand vom Kopf und obwohl diese blutüberströmt war, schien die Blutung gestoppt zu sein.
Er schleppte sich weiter, den Kopf voll mit trübsinnigen Gedanken.
Plötzlich schoss gefährlich surrend eine Blutfliege aus einem Gebüsch auf ihn zu.
Einen Moment lang zweifelte Vino daran, dass er sein in den letzten Tagen schon oft zur Verteidigung gebrauchtes Schwert erheben konnte, doch Wut und Verzweiflung ließen seine rechte Hand fest zupacken.
Das Schwert schnellte aus der Gürtellasche und durchtrennte die Blutfliege mitten in der Luft.
Die zwei Teile der Blutfliege schwirrten links und rechts an seinem dröhnenden Kopf vorbei, während er sein Schwert wieder wegsteckte.
Wieder in Sicherheit – zumindest für kurze Zeit.
Ein Tropfen streifte seine Hand und einen kurzen Augenblick später ergoss sich das kühle Nass über Vinos Körper.
Seine zerfetzten, dreckigen Kleider wurden schwer und klebten an ihm.
Er versuchte ein wenig Regen zu trinken, doch viel brachte es nicht.
Da trat Vino auf etwas, das ihn sofort zu Boden sehen ließ.
Ein gewaltiger Schreck durchfuhr Vinos vor Kälte zitternden Körper. Er war auf die Vorderpranke eines Schattenläufers getreten.
Vino wirbelte auf dem Absatz herum, rannte los, ohne auch nur einen Zweig aus dem Weg zu schieben.
Er musste sich beeilen, mit einem Schattenläufer war nicht zu spaßen.
Ein hässliches Knacken, dann sackte Vino zu Boden.
Was für eine Ironie: Da war sie.
Er war gradewegs gegen die von Zweigen und Büschen verdeckte Stadtmauer gerannt.
Seine Nase fühlte sich zerquetscht an, kein Wunder, schließlich war sie grade mit immenser Wucht gegen eine solide Backsteinmauer geschmettert worden.
In seinem Kopf hämmerte alles, doch Vino schaffte es sich auf den Rücken zu drehen und sich an die Mauer zu lehnen, die seine Rettung gewesen wäre, wenn nicht ein rauflustiger Schattenläufer hinter ihm her wäre.
Vino konnte durch das Geäst sehen wie er langsam auf ihn zutappte, seine scharfen Reißzähne bleckte und ihn mit erbosten Augen ins Visier nahm.
Der zusammengesunkene und stark aus der Nase blutende Vino versuchte gar nicht erst aufzustehen oder seine Waffe zu erheben. Er wusste, dass er keine Chance hatte.
„Hilfe!“, schrie er in der Hoffnung, dass die Menschen in der Stadt ihn hörten.
Doch der starke Regen und dessen prasselndes Geräusch machten dies unmöglich. Und was hätten die Bürger schon tun sollen? Rechtzeitig wären sie garantiert nicht mehr gekommen.
Der Schattenläufer trat mit seiner gewaltigen Pranke das letzte Gebüsch nieder, das zwischen ihm und seinem Opfer gestanden hatte.
Vino bemerkte durch einen Blutstropfen im Auge, dass auch seine Wunde am Kopf wieder aufgeplatzt war.
Vino hatte die Hoffnung aufgegeben. Er würde sterben. Jämmerlich und reglos.
Keiner würde ihn finden.
Keiner würde wissen, was mit ihm geschehen war.
Der Schattenläufer riss sein Maul weit auf, der Atem des Scheusals biss Vino in die Nase.
Der Mann warf einen letzten Blick auf das schwarze Auge der bösartigen Kreatur vor ihm…
…als das Auge plötzlich erzitterte und dann aufhellte. Tot rollten die Augen in ihren Höhlen, während eine Pfeilspitze aus dem Rachen des Monsters ragte.
Der Schattenläufer brach kurz vor ihm zusammen und offenbarte seinen weit hinter ihm stehenden Retter, einen jungen Mann, der noch mit erhobenem Bogen und unerschütterlichem Blick dastand: Bartok.
„Ich bin gerettet“, dachte Vino und wurde ohnmächtig.