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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Post [Story]Gothic II - Ochse und Krieger

    So, heute vor genau einem Jahr habe ich das letzte Kapitel von "Gothic – Die Welt der Verurteilten" veröffentlicht und heute gibt es das erste Kapitel der Fortsetzung (nein, das war nicht geplant ).
    Hier noch mal der Link zum Vorgänger. Wer auf ein langes Vorwort hofft, kann sich das dortige ja durchlesen. Das meiste davon sollte nach wie vor auf diese Story zutreffen - ich versuche die Geschichte des Spiels (in diesem Falle Gothic II: Die Nach des Raben) so gut es geht, nachzuerzählen, ohne sie dabei eins zu eins zu kopieren.
    Und hier der Link zum dritten Teil. Zumindest irgendwann in ferner Zukunft mal.
    So und jetzt viel Spaß denen, die sich die wahrscheinlich längste Gothic-Nacherzählung in der bisherigen Geschichte des Storyforums antun wollen.

    Edit: Ab heute könnt ihr euch auch den zweiten Teil als PDF herunterladen. Ich bedanke mich auch diesmal bei alibombali.
    Geändert von MiMo (29.03.2017 um 22:34 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Jünger des Xardas ist offline
    Vorwort


    Die Zeit vergeht. Mit dem Ende des Winters schloss ich auch meine Arbeiten am ersten Teil der Geschichte des Entscheiders ab.
    Über ein Jahrhundert ist es nun her, dass ich ihn kennenlernte. Heute bin ich der letzte Mensch, der den Entscheider noch kennengelernt hat, welchen Beliar noch nicht zu sich geholt hat. Doch ich bin alt und bald wird er auch mich zu sich rufen. Dann wird auch der letzte, der die Taten des Entscheiders noch miterlebte, diese Welt verlassen haben. Doch ist es der Entscheider, dem wir all dies – das blühende Reich, den Frieden und nicht zuletzt die Freiheit – verdanken. Seine Taten, die all dies ermöglichten, sollen auch nach meinem Tode nicht vergessen werden.
    In den letzten Jahren entstanden umfangreiche Schriften über die Zeit zu der der Entscheider seine Taten vollbrachte. Doch diese Schriften erzählen von König Rhobar II. und seinen Paladinen, vom Kalifen Zuben und den Assassinen und von Kan ak Marschâng und den Horden der Orks. Die wenigsten Berichte erzählen jedoch vom Entscheider. Seine Taten, wenngleich von solcher Bedeutung, fanden zu jenen Tagen nicht die Anerkennung oder Beachtung, die sie verdienten.
    Die Schriften berichten vom Ausbruch des zweiten großen Orkkrieges, von dem Erlass König Rhobars II., der jeden, der sich eines noch so geringen Verbrechens schuldig machte, zur Arbeit in den Minen der Insel Khorinis zwang – nach dem Verlust der Mine Nordmars zu Anfang des Krieges der einzige Ort in der bekannten Welt, an dem König Rhobar II. noch das wertvolle Magische Erz, aus dem sich beinahe unzerstörbare Waffen von unvergleichlicher Schärfe und außergewöhnlicher Leichtigkeit, sowie die magischen Runen, die von den Feuermagiern und Paladinen zum Wirken von Magie benötigt wurden, fertigen ließen, gewinnen konnte –, von den zwölf Magiern, die auf Befehl König Rhobars II. eine magische Barriere erschufen, die die Gefangenen am Ausbrechen hindern sollte, sich jedoch weiter ausdehnte, als geplant, und die Magier mit einschloss und vom Aufstand der Gefangenen, bei dem sie ihre Wärter töteten und die Kontrolle über das Minental an sich rissen, was König Rhobar II. dazu zwang, mit ihnen zu handeln und ihnen im Tausch gegen das Erz alles zu geben, was sie verlangten. Doch wie wenige erfuhren damals, was Xardas, der ehemalige Erzmagier des Feuers, der die Erschaffung der Barriere geleitet und sich dann vom Orden der Feuermagier abgewandt hatte, um die dunklen Künste zu studieren, herausgefunden hatte? Dass der Schläfer, der von einigen der Gefangenen als neuer Gott verehrt wurde, ein Erzdämon war, der unter dem Tal ruhte, und dass er es war, der die Barriere vergrößert hatte. Wie wenige erfuhren damals, dass es der Entscheider war, der sich dem Schläfer entgegenstellte und dass sein Sieg es war, der die Barriere zum Einsturz brachte?
    Ganz ähnlich verhält es sich mit den weiteren Taten des Entscheiders.
    Deshalb will ich die Geschichte des Entscheiders niederschreiben. Nun, beim zweiten Teil seiner Geschichte, der erzählt, was dem Entscheider und seinen Gefährten nach dem Fall der Barriere widerfuhr, will ich ebenso verfahren, wie beim ersten: Ich nutze die Aufzeichnungen des Entscheiders, die er mir anvertraute, kurz bevor er diese Welt für immer verließ. An einigen Stellen ergänze ich, was ich selbst miterlebte, an anderen schreibe ich einiges um, um es dem Leser zu vereinfachen. Ferner füge ich Auszüge verschiedener Schriften hinzu, die das jeweilige Geschehen dokumentieren und die ich in den letzten Jahren aus allen Teilen Midlands zusammengetragen habe – es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass es sich bei den Schriften, welche vom Erzmagier Barthos von Laran verfasst wurden, ausschließlich um die unzensierten Fassungen handelt.
    Der zweite Teil der Geschichte des Entscheiders beginnt kurz nach dem Fall der magischen Barriere – die genaue Zeit ist nicht zu bestimmen, allerdings dürfte es sich in etwa um eine Woche gehandelt haben – in einer abgeschiedenen Region irgendwo in den Bergen von Khorinis...


    Kapitel I: Khorinis


    Aus „Die Streiter des Feuers“
    Während aber die Feuermagier das Wort Innos’ verehren und verkünden, verehren die Paladine vor allem seine Taten.
    Während die Feuermagier die Priester Innos sind, sind die Paladine seine Streiter, die in seinem Namen in die Schlacht gegen die Diener Beliars ziehen und danach trachten, seinen Ruhm zu mehren.
    Für die Erfüllung dieser Aufgaben werden die Paladine zu wahren Meistern des Schwertkampfes ausgebildet und erhalten Klingen aus Magischem Erz.
    Weiterhin werden für sie spezielle Runen gefertigt, die geringere geistige Kräfte erfordern als die gewöhnlichen Runen der Feuermagier und so auch von den Paladinen genutzt werden können. Dafür jedoch, sind diese Runen von geringerer Kraft als die der Feuermagier.
    So verfügen die Paladine lediglich über drei unterschiedliche Zauber:
    Die Rune des Lichts, die Feuerpfeilrune (allein der Großmeister des Ordens trägt an ihrer Statt eine Feuerballrune) und die Rune „Heiliger Pfeil“. Während sie erstere bei der Aufnahme in den Orden erhalten, handelt es sich bei den beiden anderen um Auszeichnungen, die ihnen für große Taten verliehen werden.
    Die Paladine unterstehen den Feuermagiern, da diese als Erwählte Innos’ sein Wort verkünden. Die Feuermagier sind es auch, die sie auf den Kampf gegen die Kreaturen Beliars vorbereiten.
    Seit der Kirchenreform durch das Konzil von Geldern im Jahre 528 sind die Paladine den Magiern jedoch zumindest in manchen Belangen gleichgestellt (dazu mehr im entsprechenden Kapitel dieses Buches).
    Hochburg der Paladine und Sitz des Großmeisters ist die stolze Burg Gotha, über deren Ländereien mit den zugehörigen Dörfern die Paladine herrschen.
    In den letzten Jahren jedoch haben zunehmend Dekadenz und Arroganz vom Orden der Paladine Besitz ergriffen. Mögen sie ursprünglich heilige Streiter ihres Gottes und edle, ehrenvolle Ritter gewesen sein, die nur die Diener Beliars bekämpften und deren höchstes Ziel es war, die Unschuldigen zu schützen – wobei auch daran gezweifelt werden kann – so verkamen sie spätestens während der ersten großen Blütezeit Myrtanas zu blinden Fanatikern.
    Und wenngleich offiziell jeder, der ein innosergebenes Leben führt und ohne Sünde ist, dem Orden beitreten kann – gleich ob Bauer oder Edelmann – so ist es doch auffällig, wie viele unter den Paladinen die zweiten Söhne myrtanischer Adliger sind, die nichts vom Besitz ihrer Väter erbten.
    Hinzu kommt das Problem, welches ich schon in meinem Werk "Erwählter Innos’ und König von Myrtana" ansprach und dort auch genauer erörterte: Die Regeln des Ordens schreiben den Paladinen vor, nur für Innos und nur gegen die Diener Beliars und das von ihnen ausgehende Unrecht zu kämpfen und sich dabei keinem weltlichen Herren zu unterwerfen oder sich in die Politik der Welt einzumischen.
    Doch folgen die Paladine seit jeher dem König Myrtanas, da dieser sich gleichzeitig als Erwählter Innos’ sieht, was von den Feuermagiern anerkannt wird. Ob der König der Erwählte ist oder nicht, sei in diesem Werk dahingestellt – beides, erwählte Könige und solche, die nur vorgaben, es zu sein, hat es schon gegeben. Doch so behaupten die Paladine, nicht dem König, sondern dem Erwählten zu folgen. In Wirklichkeit jedoch, nutzten sie die Könige Myrtanas schon seit jeher für ihre weltlichen Kriege – wenngleich diese immer als Glaubenskriege gerechtfertigt wurden, selbst, wenn man gegen andere Diener Innos’ ins Feld zog.
    Die Paladine vergessen darüber ihre Ideale und sind keine heiligen Streiter mehr, sondern nichts weiter als Elitesoldaten im Heere Myrtanas.


    Barthos von Laran


    Erwachen


    „Kommt!“

    Ein Blitz.
    „Kommt!“
    Grelles Licht.
    „Kommt!“
    Schmerz, unendlicher Schmerz.


    Wo war ich? Und wer war ich? Ich konnte mich an nichts erinnern. Und um mich herum war nichts als Schwärze. War ich tot?
    Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, dass jeder Millimeter meines Körpers schmerzte. Ich fühlte mich, als wäre ich von Trollen überrannt worden.
    Fühlte sich so der Tod an?
    Noch einen Moment und ich merkte, dass ich auf etwas Weichem lag.
    Nein, das konnte doch unmöglich der Tod sein.
    Schließlich wurde mir klar, dass es nur so dunkel war, weil ich meine Augen geschlossen hielt.
    Also öffnete ich die Lider. Selbst sie schmerzten und es kostete mich große Kraft, sie nur anzuheben. Kaum hatte ich sie einen Spalt weit geöffnet, schlug ich sie wieder zu. Das Licht, das mir entgegenstrahlte, war so grell, dass es schmerzte.

    „Kommt!“
    Eine eiserne Maske...
    „Kommt!“
    …gespalten.
    „Kommt!“
    Ein schrecklicher Schrei.


    Wieder Dunkelheit, wieder Schmerz. Wo war ich nur? Was war geschehen? Ich erinnerte mich an nichts mehr. Da war nur dieser Schrei… und dieses Licht… und… Dunkelheit, endlose Dunkelheit.
    Ich hörte Schritte. Schritte auf steinernem Boden, die sich mir näherten. Ich merkte, wie jemand neben mir zu stehen kam, spürte eine Hand, die sich auf meine Brust legte und dann ein seltsames Kribbeln, das sich von der Hand aus durch meinen ganzen Körper ausbreitete.
    Ich unternahm einen weiteren Versuch, meine Augen zu öffnen. Diesmal jedoch öffnete ich sie nicht mehr als einen Spalt breit. Wieder blendete mich grelles Licht, doch ich hielt ihm stand. Und dann schob sich etwas zwischen die Quelle des Lichts, die ich nicht ausmachen konnte, und mein Gesicht. Es war annährend rundlich. Ein heller Schleier umgab es. Ich konnte es kaum erkennen. Alles, was ich ausmachen konnte, waren undeutliche Schemen und Konturen, als hätte ich meine Augen ewig nicht gebraucht. Doch ich meinte, ein Gesicht zu sehen. Der helle Schleier wirkte wie ein Heiligenschein. Als es sich zu mir hinunterbeugte, glaubte ich, zwei Augen zu erkennen. Sie waren nicht mehr als verschwommene Punkte inmitten der undeutlichen Schemen. Nicht einmal ihre Farbe konnte ich ausmachen und doch glaubte ich, sie zu kennen. Ein bekannter Schimmer lag in diesen Augen. Ich kannte die Person, der diese Augen gehörten, ich kannte sie sehr gut…
    „Velaya“, dachte ich noch, bevor mir die Augen wieder zufielen.


    „Kommt!“
    Blaue Blitze.
    „Kommt!“
    Funken, die vom Himmel regneten.
    „Kommt!“
    Schreie.


    „Wie lange ist er schon hier?“
    „Etwa eine Woche.“
    „Wird er wieder gesund?“
    „Ja, er hat es außergewöhnlich gut überstanden. Dennoch, es hat ihn schwer mitgenommen. Anfangs befürchtete ich, ihn nicht mehr retten zu können. Sein Zustand war äußerst bedenklich und ihn zu bergen, hat mich selbst viel Kraft gekostet. Doch nun solltest auch du dich ausruhen. Nach allem, was du durchgemacht hast, wirst du dich die nächsten Tage erst einmal erholen müssen. Mach dir um ihn keine Sorgen, er wird wieder auf die Beine kommen. Vorerst musst du dich von all den Strapazen erholen und wir müssen etwas gegen deine Kopfschmerzen unternehmen. Wenn die Ursache die ist, von der ich vermute, dass sie es ist, sollte ich dir helfen können, aber es wird seine Zeit dauern.“
    Wer waren die, die dort sprachen? Ich kannte ihre Stimmen, sehr gut sogar. Doch keine der beiden Stimmen war die von Velaya, da war ich mir sicher. Auch, wenn mir einfach nicht einfallen wollte, wer diese Velaya war. Doch der Gedanke an diesen Namen löste eine wohlige Wärme aus.
    Ich versuchte, die Augen zu öffnen, blickte jedoch nur auf eine verschwommene, schwarze Fläche – eine steinerne Decke, wie ich vermutete. Die beiden Männer, deren Stimmen ich gehört hatte, hatten neben mir gestanden. Ich versuchte, den Kopf zu drehen, schaffte es jedoch nicht. Ein leises Stöhnen entwich meinem Mund.
    „Er ist wach!“
    „Das haben wir gleich.“ Eine Hand legte sich auf meine Stirn und ich spürte sofort, wie Müdigkeit mich übermannte.

    „Kommt!“
    Die Diener schrieen, schrieen, wie ihr Meister.
    „Kommt!“
    Die Diener erlagen ihm, erlagen dem Ruf ihres Meisters.
    „Kommt!“
    Die Diener folgten ihm in die Dunkelheit, folgten ihrem Meister.


    Etwas Nasses, Kaltes lag auf meiner Stirn. Schritte. Das Etwas wurde von meiner Stirn genommen. Etwas Nasses, Heißes wurde darauf gelegt. Ich spürte eine Hand an meinem Kinn, die es langsam anhob, spürte, wie etwas an meine Lippen geführt wurde. Eine warme Flüssigkeit floss meinen Hals hinunter.
    Ich öffnete die Augen. Da war es wieder, das Gesicht. Noch immer sah ich es schemenhaft, doch gewöhnten sich meine Augen langsam wieder an das Sehen. Diesmal erkannte ich das Gesicht schon deutlicher. Der weiße Schleier, der es umgab waren Haare und ein voller, spitzer Bart. Ich glaubte, eine Hakennase, zahllose Falten und schmale Lippen zu erkennen. Doch mein Blick galt den Augen. Da war er wieder, der bekannte Schimmer, den ich von Velayas Augen kannte. Noch immer sah ich diese Augen verschwommen, doch konnte ich nun ihre Farbe erkennen: Blau. Ein helles, durchdringendes Blau.
    Nein, dies waren nicht Velayas Augen, ihre Augen waren von einem warmen, goldenen Braun, da war ich mir ganz sicher. Dies waren die Augen von…
    …Xardas.
    Plötzlich erinnerte ich mich wieder an alles… Die Barriere, die drei Lager, meine Freunde, der Krieg, Ravens Auftrag, die große Anrufung, der Orkfriedhof, die Fokussuche, Xardas, die Rückeroberung der Freien Mine, der Schläfertempel…
    Die Lippen über mir kräuselten sich. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wieder sehen“, sagte Xardas mit seiner tiefen, ruhigen Stimme.
    Ich stöhnte. „Ich fühle mich, als hätte ich drei Wochen unter Steinen gelegen“, sagte ich und erschrak über den rauen Klang meiner eigenen Stimme.
    Xardas schmunzelte. „Es war nur eine einzige. Aber schlaf jetzt, du musst dich noch immer erholen.“ Und damit legte er mir die Hand auf die Stirn. Sofort fiel ich wieder in tiefen Schlaf, dieses Mal jedoch ohne Alptraum.
    Geändert von Jünger des Xardas (02.08.2010 um 22:56 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Erinnerungen


    Abermals erwachte ich aus meinem Schlaf, abermals wurde mir eine Flüssigkeit eingeflößt. Die Schmerzen in meinen Gliedern hatten bereits stark abgenommen. Ich fühlte mich nun nicht mehr wie gerädert, doch schien ich nach wie vor in jedem Millimeter meines Körpers fürchterlichen Muskelkater zu haben.
    Als ich meine Augen öffnete, stellte ich fest, dass das Gesicht über mir nicht das von Xardas war. Doch auch dieses runde Gesicht, mit seiner Stupsnase, seinem schwarzen Vollbart, seinem abgeschorenen Haar, den eintätowierten, verschlungenen grauen Symbolen und den freundlichen Augen, war mir wohl bekannt.
    „Lester!“ Meine Stimme klang noch immer etwas heiser, doch war sie inzwischen wieder als meine Stimme zu erkennen.
    „Oh Mann, ist das gut, dich zu sehen!“ Der ehemalige Novize des Schläfers lächelte mich freundlich an. „Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf!“
    „Wie kommst du hierher?“, fragte ich meinen Freund.
    „Mann, das war eine irre Flucht, kann ich dir sagen. Hab mich heute noch nicht ganz davon erholt.“
    „Erzähl!“
    Lester verzog das Gesicht. „Ungern, aber gut, weil du es bist.“ Er zog einen Schemel zu sich heran und ließ sich neben meinem Bett nieder.
    „Also, an den Fall der Barriere kann ich mich kaum erinnern. Du weißt ja, wir haben gegen den Schläfer gekämpft, ich hab eines der Herzen durchstoßen und dann war da dieser Schrei.“
    „Ja, du schienst schreckliche Schmerzen zu haben. Ich musste dich letztendlich rausteleportieren.“
    „Verstehe, darum war ich dann im Sumpf. Na ja, du hast jedenfalls Recht, dieser Schrei…“ Er rieb sich den Kopf. „Mir ist, als könnte ich ihn heute noch hören – furchtbar. Die Schmerzen waren unerträglich und ich vergaß alles um mich herum und bekam nichts mehr mit, auch nicht, wie du mich wegteleportiert hast. Ganz langsam sind die Schmerzen dann abgeklungen. Aber gerade, als meine Sinne langsam zurückkehrten und ich anfing, zu registrieren, dass ich im Sumpf war, war da ein neuer Schrei, viel schrecklicher als der letzte. Und dann waren da noch diese blauen Blitze. Ich hab nichts mehr wahrgenommen, außer dem Schmerz und diesen Blitzen – und Schreien, da waren Schreie, ich glaube, von den anderen Mitgliedern des Lagers.“
    „Was geschah dann?“, fragte ich aufgeregt.
    „Irgendwann bin ich wohl ohnmächtig geworden vor Schmerz. Und dann… ich weiß auch nicht, ich habe nur verschwommene Erinnerungen. Aber die anderen, ich glaube, sie sind alle verrückt geworden.“
    „Verrückt?“
    „Ja, vielleicht hatte es mit dem Schläfer zu tun. Ich glaube, ohne ihren Meister waren sie alle nur noch leere Hüllen.“
    „Aber im Sumpf haben sich alle von ihm abgewandt.“
    „Vielleicht zu spät. Wer weiß, vielleicht hatten sie sich schon zu abhängig von ihm gemacht. Ich weiß es nicht.“
    „Was war mit dir?“
    „Mir ging es ähnlich. Ich hatte Alpträume und sogar Halluzinationen. Ich nahm alles nur verschwommen wahr – wenn überhaupt. Die meiste Zeit konnte ich nicht klar denken. Oft gab es viele Stunden, die einfach… einfach schwarz waren. Ich hatte hinterher keine Erinnerung, was ich in dieser Zeit getan hatte. Und zwischendurch war da immer wieder diese furchtbare Stimme, die sagte, ich solle dem Ruf des Meisters folgen.“
    „Wie bist du da rausgekommen?“
    „Zwischendurch hatte ich etwas klarere Momente. Aber auch da sah ich alles wie durch einen Schleier. Und ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, die mich fast umbrachten. Aber in einem besonders klaren Moment hab ich mir meinen Grünen Novizen angezündet.“
    „Diesen Sumpfkrautstängel, den du von Y´Berion bekommen hast?“
    Lester nickte. „Genau. Ich hab dir doch erzählt, dass er gegen Schmerzen hilft und einen klaren Kopf schafft. Nun, meine Schmerzen sind nicht verschwunden, aber zumindest war ich wieder ich selbst. Ich hab dann festgestellt, dass die meisten schon aus dem Lager wer weiß wohin verschwunden waren. Aber die, die noch da waren, waren allesamt durchgedreht. Sie liefen schreiend oder wirres Zeug brabbelnd durch die Gegend oder wälzten sich am Boden. Ich hab gemacht, dass ich da wegkam. Ich wollte so schnell wie möglich zum Pass. Ich wusste nicht, wie viele Tage der Fall der Barriere schon her war und ob ich es noch zu unserem Treffen schaffen würde, aber erst mal wollte ich nur aus dem Tal. Aber einfach war es nicht. Ich habe über einen Tag bis ins Alte Lager gebraucht.“
    „Aber das war doch nur ein Weg von drei Stunden“, sagte ich verwundert.
    Lester nickte. „Ja, aber ich hatte noch immer diese Kopfschmerzen. Zwischendurch wurde es schlimmer, dann kehrte diese Stimme zurück und befahl mir, umzukehren, dem Ruf des Meisters zu gehorchen… Das hat mich ziemlich aufgehalten und dann war es auch noch sehr gefährlich.“
    „Wieso?“
    „Die ganzen Viecher sind völlig durchgedreht. Erinnerst du dich noch an die Schattenläufer nach der Anrufung?“ Ich nickte. „Das war gar nichts dagegen. Die Schattenläufer liefen jetzt am helllichten Tage umher und zerfleischten alles, was sie fanden. Sie waren völlig verrückt. Und da waren auch noch andere Tiere – vor allem Echsen. Irgendwie hab ich’s dann ins Alte Lager geschafft.“
    „Wie sah es dort aus?“, wollte ich wissen.
    „Die meisten waren schon weg. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wie viele Tage schon seit dem Fall der Barriere vergangen waren. Aber im ganzen Lager waren höchstens noch zwei Dutzend Leute.“
    „Was haben sie noch dort gemacht?“
    „Geplündert. In den Hütten war natürlich nichts zu holen, aber in der Burg. Dort sah es aus als sei eine Horde Trolle durchgefegt: Die Türen eingetreten, die Möbel umgeworfen und zerstört, die Schatz- und die Vorratskammer geplündert, die feinen Teppiche und das ganze Besteck hatten sie schon mitgenommen. Viel zum Plündern war nicht mehr da, als ich ankam. Darum waren die meisten wohl schon weg. Die übrigen haben das Lager nach Resten abgesucht und sich gegenseitig wegen der Beute umgebracht. Es lagen schon einige Leichen herum. Manche waren aber nicht abgestochen, sondern scheinbar von Blitzen getroffen worden. Ich schätze, das ist beim Fall der Barriere passiert.“
    „Wie haben die Plünderer auf dich reagiert?“
    „Nicht gut, sie dachten, ich wolle ihnen ihre Beute streitig machen. Einmal haben mich zwei sogar angegriffen. Ich hab mich die meiste Zeit versteckt. War nicht allzu schwer. Die hatten auch genug mit sich selbst zu tun – und mit den Viechern. Das war echt nicht normal. Die haben sich vor gar nichts mehr gescheut. So wie die, so benehmen sich einfach keine Tiere. Einige sind einfach ins Lager gekommen, war ja auch niemand mehr da, der aufgepasst und sie aufgehalten hat. Ein paar Plünderer sind ihnen zum Opfer gefallen. Ich bin dann nach einem Tag weiter zum Pass. Hab mich mit zwei ehemaligen Buddlern zusammengetan. Wir waren der Meinung, zusammen hätten wir mehr Chancen. Aber wir haben uns ziemlich schnell verloren. Zwischen dem Lager und dem Pass war es nämlich besonders schlimm: Schon wieder so durchgedrehte Echsen, vor allem Snapper. Und dann trafen wir da auch noch auf andere Flüchtlinge aus dem Neuen Lager. Es gab einige Keilereien, wieder wegen Plündergut. Und dann waren da Männer in schwarzen Kapuzenumhängen. In ihrer Nähe wurden meine Kopfschmerzen besonders schlimm. Ich war versucht, zu ihnen zu gehen. Irgendwas hat mich einfach zu ihnen hingezogen. Aber ich konnte mich zusammenreißen und bin allein weitergeflohen. Aber dann müssen diese Halluzinationen wiedergekommen sein. Stell dir vor, einmal glaubte ich, einen riesigen Schatten zu sehen, der sich auf eine Gruppe Flüchtender stürzte und alles in einer gewaltigen Feuerwolke verbrannte. Mann, in dem Moment dachte ich wirklich, ein Drache wäre gekommen, um mich zu holen.“
    „Aber du hast es über den Pass geschafft.“
    „Mit Mühe und Not, ja. Und umso weiter ich vom Tal wegkam, umso besser wurde es mit den Kopfschmerzen, aber es war noch immer unerträglich. Und glaub auch nicht, damit wäre es vorbei gewesen. Auf der anderen Seite des Passes lag ein Bauernhof und den Bauern war natürlich klar, wo ich herkam. Die haben mich direkt angegriffen. Na ja, ich bin ihnen entkommen und hab mich dann erst mal tagelang durch die Wälder geschlagen. Irgendwann bin ich dann völlig erschöpft in einem kleinen Tal angekommen. Aber als ich am nächsten Morgen aufwache, steht da oben auf einer Klippe über dem Tal plötzlich dieser Turm.“
    „Xardas’ Turm? Ich wusste ja, dass er mächtig ist, aber dass er einen ganzen Turm in einer Nacht erschaffen kann…“
    „Ich hab mich da jedenfalls nicht mehr vom Fleck getraut. Aber das war auch nicht nötig. Es kam ziemlich schnell eine seiner Kreaturen und hat mich zu ihm gebracht. Ich hab ihm erst mal die ganze Geschichte von meiner Flucht erzählt – schien ihn ziemlich zu beunruhigen. Dann durfte ich mich in den nächsten Tagen ausruhen und er hat mir Elixiere gegeben, durch die meine Kopfschmerzen nach und nach verschwunden sind. Seit es mir besser geht, gehe ich ihm etwas zur Hand – das heißt, ich kümmere mich um dich und ab und zu gehe ich runter ins Tal und pflücke ein paar Kräuter für ihn – aber ganz auf dem Damm bin ich immer noch nicht.“
    „Das heißt, du warst die ganze Zeit in der Wildnis und dann hier? Also warst du nicht bei unserem Treffen.“
    Lester schüttelte betrübt den Kopf. „Zu der Zeit bin ich wahrscheinlich irgendwo durch die Wildnis gestolpert. Ich weiß auch jetzt nicht, wie viel Zeit schon vergangen ist, seit die Barriere gefallen ist, aber sicher mehr als eine Woche.“
    „Hm. Und ich lag wohl die ganze Zeit hier.“
    Lester nickte. „Die anderen werden sich sicher Sorgen um uns machen. Sobald wir wieder auf dem Damm sind, müssen wir los und sie suchen.“
    Ich nickte. Dann schweiften meine Gedanken zu Velaya. Was sie wohl dachte? Sicherlich machte sie sich große Sorgen. Wo mochte sie nur sein? Was hatte sie getan, als ich nicht zu unserem Treffen erschienen war? War sie wütend gewesen? Oder besorgt? Nahm sie vielleicht an, ich sei im Tempel des Schläfers zu Tode gekommen? Warum mussten wir nur getrennt werden, sofort, nachdem wir endlich zueinander gefunden hatten?

    In den nächsten Tagen erholte ich mich außerordentlich schnell. Ich schlief nun nicht mehr die meiste Zeit, sondern war tagsüber wach und saß dann in meinem Bett. Dort plauderte ich dann mit Lester über die alten Zeiten, rätselte mit ihm über die seltsamen Geschehnisse bei seiner Flucht oder fragte mich gemeinsam mit ihm, was aus unseren Freunden geworden war.
    Der ehemalige Novize verbrachte fast den ganzen Tag an meinem Bett. Xardas dagegen bekam ich nur zu sehen, wenn er auf dem Weg von seiner Bibliothek zu seinem Labor an meinem Bett vorbeirauschte. Lester erzählte mir, dass er die ganze Zeit, wenn er keine heilenden Tränke für mich zubereitete, forschte und dabei sehr beunruhigt schien.
    Meine Stimme und mein Augenlicht waren inzwischen vollständig zurückgekehrt und auch die Schmerzen in meinem Körper waren verschwunden.
    Schon zwei Tage, nachdem er mir von seiner Flucht erzählt hatte, machte ich, gestützt von Lester, meine ersten, wackeligen Laufversuche. Weitere zwei Tage später konnte ich bereits alleine umherlaufen. Ich erkundete vorerst nur den Turm, der Xardas’ altem Turm wie ein Haar dem anderen glich.
    Zwischendurch schweiften meine Gedanken dieser Tage jedoch immer wieder zu einer bestimmten Person. Ich vermisste sie, vermisste einfach alles an ihr – ihre Augen, die zwei dunklen Bernsteinen glichen, ihr Lächeln und ihre stetige Heiterkeit, ihre Nähe und das Gefühl ihrer sanften Lippen auf den meinen. Es war unerträglich. Ich musste aufbrechen und sie suchen – bald.

    Dann jedoch rief Xardas mich eines Tages zu sich in die Bibliothek in der Turmspitze.
    Als ich am oberen Ende der Wendeltreppe angelangt war, trat ich hinaus ins Freie. Ich stand nun auf dem Dach des Mittelstücks, das die beiden Türme, aus denen Xardas’ Turm bestand, miteinander verband. Von hier aus konnte ich mir zum ersten Mal die Umgebung des Turmes ansehen. Viel gab es freilich nicht zu sehen. Der Turm war irgendwo in den Bergen errichtet worden, außerhalb des Minentals zwar, aber auch nicht allzu weit davon entfernt. Zwischen den Bergen lag ein kleines, abgeschiedenes, bewaldetes Tal. Der Turm stand auf einer über dieses Tal aufragenden Klippe. Die ganze Gegend schien relativ abgelegen und der Turm gut versteckt – typisch für Xardas.
    Durch eine Tür trat ich in den obersten Raum des größeren Turmes, die Bibliothek. In der Mitte stand ein kleiner, runder Tisch mit Büchern und Pergamenten darauf und an den Wänden erhoben sich bis zur Decke reichende und bis oben hin mit Büchern angefüllte Regale. Jeweils zwischen zwei Regalen befand sich eine schmale Lücke mit einem Buchständer darin, auf dem wiederum ein aufgeschlagenes Buch lag.
    In einem dieser Bücher las Xardas, genau wie bei unserer ersten Begegnung. Er hatte sich kein bisschen verändert. Noch immer trug er eine weite Robe von dunklem, fast schwarzem Lila, deren Ränder mit verschlungenen, roten Symbolen verziert waren. Noch immer trug er eine nietenbesetzte Schärpe aus schwarzem Leder, die in zwei an Dämonenflügel erinnernde Schulteraufsätze überging. Und noch immer glich seine aufrechte Haltung eher der eines jungen, starken Kriegers als der eines uralten Magiers.
    Als ich eintrat, wandte sich Xardas, der Dämonenbeschwörer, der dreizehnte Magier, der Mann, der mich solange in meinen Träumen verfolgt hatte, zu mir um. Er lächelte. „Es freut mich, zu sehen, dass du dich gut erholt hast.“
    „Das verdanke ich nicht zuletzt dir, du hast mir das Leben gerettet, danke.“
    Xardas winkte ab. „Nicht der Rede wert. Du kannst von Glück sagen, dass du die Erzrüstung trugst und dass ich erwachte, als der Schläfer verbannt wurde und mich gerade noch rechtzeitig hinausteleportierte. Es war nicht einfach, dich aus dem Tempel herauszuholen. Es hat beinahe eine Woche gebraucht, bis ich es geschafft hatte und es hat mich viel Kraft gekostet. Sich selbst ohne Hilfsmittel zu teleportieren ist kompliziert genug, aber jemand anderen, noch dazu, wenn man nicht genau weiß, wo er sich befindet…“
    „Apropos schlafen. Wieso bist du eigentlich eingeschlafen und wieso meine Freunde?“
    Xardas schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte, wie er es immer tat, wenn er zu einer längeren Erzählung ausholte. „Es waren die Schwingungen des Schläfers. Jedes Wesen verfügt über eine Aura, einen Bereich um es herum, in dem es bestimmte Schwingungen ausstrahlt. Umso mehr wir uns diesem Wesen nähern, umso eher nehmen wir diese Schwingungen wahr – auch abhängig davon, wie gut wir in Hinblick auf so etwas geschult sind. Nun, jedenfalls handelte es sich beim Schläfer um Schlaf- oder Ruheschwingungen. Und bei einem Erzdämonen, einer Kreatur von solcher Macht, sind diese Schwingungen sehr stark. Sie können in gewisser Weise ansteckend wirken.“
    „Also, meine Freunde sind einfach zu nahe an ihn heran und haben sich von diesen Schwingungen anstecken lassen?“
    Xardas nickte. „Ganz genau. Sobald der Schläfer wach war, konnte man sich ihm natürlich gefahrlos nähern.“
    „Aber du bist ihm doch gar nicht nahe gekommen, du bist viel früher eingeschlafen.“
    „Ja, weil ich meinen Geist zu sehr geöffnet und mich damit wesentlich anfälliger gemacht hatte. Ich habe den Schläfer, töricht wie ich war, unterschätzt. Ein Fehler, der schlimme Folgen haben könnte. Ich war ein Narr und habe uns alle in unnötige Gefahr gebracht. Beinahe hätte mein unüberlegtes Verhalten das Ende bedeutet, so macht es alles etwas komplizierter, doch nicht wesentlich. Ich denke, es wird keine allzu weitreichenden Folgen haben.“
    „Wovon redest du überhaupt? Wieso hast du deinen Geist geöffnet?“
    „Weil gewisse magische Praktiken und Rituale dies erfordern“, war Xardas’ knappe Antwort. Mir war klar, dass ich nicht weiter nachzufragen brauchte. Wenn man Xardas etwas fragte, dann gab er entweder eine sehr ausführliche Antwort, die alle Fragen beantwortete oder eine seiner knappen, mysteriösen Antworten. Er erzählte alles, wovon er glaubte, dass man es wissen müsse, und verschwieg den Rest.
    „Doch ich habe dich nicht hierher geholt, um mich von dir löchern zu lassen“, sagte der Dämonenbeschwörer schmunzelnd. „Ausnahmsweise habe ich Fragen an dich.“
    „An mich?“, fragte ich überrascht.
    Xardas nickte. „Ja, genauer gesagt, möchte ich, dass du mir erzählst, was du erlebt hast – von deinem Reinwurf in die Barriere an.“
    „Weshalb?“, fragte ich leicht verwundert.
    „Weil für mich noch einige Fragen im Raum stehen und da noch einige Unklarheiten sind. Es gibt da etwas, dessen ich mir noch nicht ganz sicher bin. Deshalb möchte ich, dass du mir deine Geschichte erzählst – und zwar in allen Einzelheiten. Lasse bitte nichts aus.“
    „Also gut“, sagte ich immer noch leicht überrascht.
    Und so erzählte ich… Ich erzählte, wie man mich unschuldig in die Barriere geworfen hatte und wie ich mich in der Minenkolonie hatte zurechtfinden müssen. Ich erzählte, wie ich meine Freunde Diego, Milten, Lester, Gorn und Velaya kennengelernt hatte. Und ich erzählte, wie ich mich wie jeder Neue für eines der drei Lager hatte entscheiden müssen, die die Gefangenen in der Kolonie gegründet hatten. Ich berichtete, wie ich mich für das größte und älteste, das Alte Lager entschieden hatte, welches von den Erzbaronen angeführt worden war, die einst die Gefangenenrevolte geführt hatten und nun den Erzhandel mit dem König abwickelten, und dort einer der Schatten, der Boten und Spitzel der Erzbarone, geworden war. Auch erzählte ich, wie zwischen dem Alten Lager und dem Neuen Lager, dem freiesten Lager der Kolonie, in dem die Wassermagier einen gewaltigen Haufen Magisches Erz anhäuften, um mit ihm die Barriere zu sprengen, ein Krieg ausgebrochen war und wie Raven, die rechte Hand des obersten Erzbarons Gomez und die graue Eminenz des Alten Lagers, mich in den Sumpf, zum dritten Lager, der Bruderschaft des Schläfers gesandt hatte, um diese als Verbündete zu gewinnen. Ich erzählte, wie ich ihnen bei den Vorbereitungen für die große Anrufung ihres Götzen geholfen hatte, erzählte von den Gefahren und seltsamen Ereignissen, mit denen dies verbunden gewesen war. Auch von der Anrufung selbst berichtete ich, bei der der Schläfer seinen Anhängern nicht den Weg in die Freiheit, sondern nur einen Ork in einer Höhle gezeigt hatte, woraufhin diese eine Expedition in einen nahen, aber längst verlassenen Orkfriedhof geschickt hatten. Ich erzählte, wie Cor Angar, der Führer der Templer, der Streiter des Schläfers, mich geschickt hatte, um nach der Expedition zu suchen und wie diese den Orks zum Opfer gefallen war. Auch vom Tode Y´Berions, des Gründers und Führers der Bruderschaft und von dessen letzten Worten, mit denen er den Schläfer als Erzdämon entlarvt hatte, erzählte ich. Ebenso von der darauf folgenden Spaltung der Bruderschaft und wie ich, kaum aus dem Sumpf zurück, Gomez’ Zorn erregt hatte, sodass ich ins Neue Lager hatte fliehen müssen. Ich erklärte, wie ich den Wassermagiern bei ihrem Plan geholfen und für sie die fünf Foki beschafft hatte, die einst zur Erschaffung der Barriere benutzt worden waren. Dann berichtete ich, wie die Wassermagier mich zurück ins Alte Lager geschickt hatten, um die Feuermagier, die seit der Erschaffung der Barriere dort lebten, um ihre Hilfe bei der Sprengung des Erzhaufens zu bitten. Doch als ich angekommen war, waren die Feuermagier bereits tot, hinterrücks ermordet von Gomez Schergen. Die Alte Mine war am Morgen jenes Tages eingestürzt und Gomez, der wusste, dass seine Macht ohne das Erz dahin wäre, hatte einen Angriff auf die Freie Mine, die Mine des Neuen Lagers, befohlen. Die Feuermagier hatten diesen Überfall verboten und waren daraufhin als Verräter ermordet worden. Die Wassermagier hatten mich nun zu Xardas geschickt. Der dreizehnte Magier innerhalb der Barriere, der, nachdem er ihre Erschaffung als Erzmagier des Feuers geleitet hatte, den Orden der Feuermagier verlassen und sich der Dämonenmagie hingegeben hatte.
    Den Rest der Geschichte kannte Xardas. Dennoch bestand er darauf, dass ich auch diesen Teil noch einmal in allen Einzelheiten schilderte. Also erzählte ich, wie er mich auf die Probe gestellt hatte, wie er mir erklärt hatte, dass der Erzhaufen die Barriere nicht würde vernichten können, sondern nur die Verbannung des Erzdämons, der sie einst vergrößert hatte. Ich erzählte, wie ich durch den verbannten Orkschamanen Ur-Shak die Geschichte des Schläfers erfahren hatte, der einst von fünf Orkschamanen beschworen worden war, um ihrem Stamm im Kampf gegen seine Feinde beizustehen, der diese jedoch verraten, ihnen die Herzen entrissen und sie zu Untoten gemacht hatte. Ich erzählte, wie ich schließlich auf Xardas’ Geheiß hin mit meinen Freunden in den unterirdischen Tempel des Schläfers eingedrungen war und wie wir gegen den Dämon gekämpft hatten. Schließlich berichtete ich, wie ich meine Freunde aus dem Tempel teleportiert hatte und selbst zurückgeblieben war, um den Schläfer mit dem magischen Schwert Uriziel, das ich zuvor am Erzhaufen der Wassermagier aufgeladen hatte, zu bezwingen. Dann hatte mein Abenteuer mit dem Einsturz des Tempels geendet.
    Xardas hatte die gesamte Zeit über aufmerksam zugehört. Ab und an hatte er Fragen gestellt, meist, weil er etwas genauer geschildert haben wollte. Dabei hatte er zwischendurch den Eindruck erweckt, bereits mehr zu wissen als er vorgab. Besonders für meine Freundin Velaya schien er sich sehr zu interessieren und fragte mich nach einigen Details zu ihr aus.
    Schließlich jedoch nickte er zufrieden.
    Geändert von Jünger des Xardas (21.10.2010 um 17:09 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Die Bedrohung

    Wir schwiegen einen Moment und Xardas schien in Gedanken versunken. Dann murmelte er: „Nun ist es endgültig klar, du bist es. Doch die viel schwierigere Frage… Die einzig logische Erklärung wäre… nein, unmöglich…“
    „Wovon redest du?“
    Xardas hob den Kopf und blickte mir direkt in die Augen. Erst nach einigen Sekunden begann er wieder, zu sprechen. „Ich forsche, seit ich aus dem Schläfertempel zurück bin und es geschafft habe, dich zu bergen, an einem unerwartet aufgetretenen Problem… oder eher einer höchst interessanten Anomalie. Nichts jedoch, was für dich von Bedeutung wäre – vorerst. Ich werde es dir erklären, falls ich es für nötig erachte. Du jedoch, solltest dich zunächst einem anderen, fürs erste weit größerem Problem widmen.“
    „Was soll das heißen, was für ein Problem?“, fragte ich verwundert. „Es gibt doch kein Problem mehr. Ich meine, wir sind frei!“
    Xardas hob die Augenbrauen. „So, sind wir das?“, fragte er langsam. Einen Moment blickte er nachdenklich ins Leere. Dann fuhr er fort: „Nun, das Problem ist folgendes: Du hast dich inzwischen gut vom Einsturz des Schläfertempels erholt, doch hast du deine alten Kräfte noch nicht vollständig zurückerlangt. Zudem fürchte ich, dass du im Umgang mit dem Schwert etwas aus der Übung sein könntest. Es wird das Beste sein, du beginnst, wieder zu trainieren, dann sollte es nicht lange dauern, bis du wieder mit dem Kämpfen vertraut wirst.“ Verwundert runzelte ich die Stirn. Was war daran ein so großes Problem? „Na ja, eilt ja nicht“, sagte ich. „Ich komme schon wieder rein. Aber ich habe ja jetzt genug Zeit, es ruhig anzugehen, schließlich habe ich es geschafft: Der Schläfer…“
    „…wurde verbannt, das ist richtig“, unterbrach Xardas mich rasch. „Doch den Krieg, der jetzt folgt, aufzuhalten, wird ein schwierigeres Unterfangen.“
    „Krieg? Du sprichst von den Orks?“
    Xardas schnaubte. „Ich spreche von weitaus schlimmeren Kreaturen als Orks.“
    „Was soll das heißen?“ Langsam wusste ich nicht mehr, was ich von all dem halten sollte.
    Xardas schob die Hände mit der für ihn so typischen Geste in die Ärmel seiner Kutte, dann begann er, zu erzählen: „Der Schläfer hat mit seinem letzten, wutentbrannten Schrei die Armeen der Finsternis in Bewegung gesetzt. Es war ein Befehl an alle dunklen Kreaturen, ein Wort der Macht, dem sie alle gehorchen mussten. Sein letzter Befehl war „Kommt!“ und sie kamen – alle, sogar die Drachen.“
    „Drachen?!“, entfuhr es mir.
    Xardas nickte grimmig. „Es sind Kreaturen von uralter Macht. Ich kann ihre Gegenwart spüren – selbst hier…“
    „Aber… aber es gibt keine Drachen. Das sind nur Sagengestalten, Wesen aus Mythen, weiter nichts.“
    „Oh nein, das sind sie nicht. Drachen sind nicht einfach feuerspeiende Monster, es sind magische Wesen von hoher Intelligenz. Die Drachen sind weit älter als etwa die Menschen oder die Orks, so uralt, dass sie auch „das älteste Volk“ genannt werden. Einst waren sie es, die über diese Welt herrschten. Diese Geschöpfe besitzen ein Potential zu hoher Weisheit. Einige der Drachen haben die ersten Menschen und Orks viele Dinge gelehrt, ohne die sie heute nicht dort wären, wo sie sind. Leider verfallen viele Drachen auch der Habgier und der Gier nach Macht. Sie sind sehr anfällig für Schätze und neigen dazu, sich als den anderen Völkern überlegen zu betrachten. Nicht wenige haben die jungen Völker der Menschen und Orks einst versklavt.
    Dies hat auch dazu geführt, dass Menschen und Orks sich vor Urzeiten, noch lange vor der Zeit der Altvorderen, gegen die Drachen erhoben und viele von ihnen ausgelöscht haben. Davon haben sich die Drachen nie wieder erholt. Ab jenem Zeitpunkt gab es nur noch wenige von ihnen. Drachen werden uralt, doch dafür dauert es auch lange, bis sie herangewachsen sind. Und Drachenweibchen sind verhältnismäßig selten. In der Zeit nach dem Ende der Drachen haben sie sich zerstreut. Einige haben sich in entlegene Winkel der Welt zurückgezogen. Einige wenige pflegten weiterhin ein freundliches, in gewisser Weise väterliches Verhältnis zu manchen Menschen oder Orks. Doch wurden sie vom Großteil der Angehörigen der jüngeren Rassen als böse, verabscheuungswürdige Kreaturen gesehen. Auch die Innoskirche in Myrtana trug ihren Teil dazu bei, da sie die Drachen als Kreaturen des Bösen verbeliarte. Viele Gottesstreiter in heiliger Mission, aber auch manch ein Abenteurer und Glücksritter, der nach ihrem Gold trachtete, machten Jagd auf die Drachen. Der letzte bekannte Drache Myrtanas wurde im Jahre 417 vom Paladin Sir Georg von Waldfried erschlagen. Auf den Südlichen Inseln lebten die Drachen noch etwas länger. Eine kleine Gruppe von Bewohnern Kitais hat sie sogar angebetet, doch schließlich wurden sie von der Ariabischen Liga zur Bedrohung erklärt und man machte auch dort Jagd auf sie. In Varant wurden sie recht früh ausgerottet. Die Sultane Varants brüsteten sich gerne damit, einen Drachen erlegt zu haben und schmückten sich mit ihren Schuppen, Zähnen oder Hörnern. Nun, und den Nordmännern ist es auch schon früh gelungen, die Drachen bei sich in den Bergen auszurotten. Sie betrachteten den Sieg über einen Drachen als Zeichen großer Stärke, womit sie sicher nicht ganz Unrecht hatten.
    Ab dem sechsten Jahrhundert gab es wohl kaum noch ein Dutzend Drachen auf der Welt. Die letzten haben sich dann endgültig zurückgezogen. Sie versteckten sich in den nördlichen Gletschern, auf den höchsten Bergen Myrtanas, tief im Innern der varantinischen Wüste oder in den Tiefen der Sümpfe Kitais.“
    „Aber…“ Ich konnte es noch immer nicht fassen. „Und… jetzt sind sie hier?“
    „Im Minental von Khorinis, ja.“
    „Und… sie… sie haben eine Armee?!“
    Xardas nickte grimmig. „Ja, sie haben eine Reihe niederer Dienerkreaturen um sich geschart und sie haben ein Bündnis mit den Orks geschlossen.“
    „Aber das kann doch nicht sein“, sagte ich schwach.
    „Oh doch und du weißt, dass es so ist. Der gute Lester hat sich bei seiner Flucht weniger eingebildet, als er annimmt. Als er mir davon erzählte, bestätigte er damit meine schlimmsten Vermutungen und Befürchtungen.“
    „Dann sollten wir machen, dass wir von der Insel kommen!“, sagte ich. „Ich suche meine Freunde zusammen und dann… musst du uns hier wegteleportieren oder so etwas.“
    „Du stellst dir Magie etwas zu einfach vor. Es hat gute Gründe, dass selbst die Wassermagier, die sich ansonsten keinerlei Hilfsmittel, wie etwa Runen bedienen, Teleportsteine benutzen, um schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen.“
    „Aber du hast dich ohne Teleportstein in den Schläfertempel teleportiert und du hast mich rausteleportiert.“
    „Und beide Male habe ich es nicht ohne Risiko getan. Beide Male hat es mich viel Kraft gekostet. Im Übrigen verlangst du von mir dieses Mal, sieben Personen zugleich und das noch über eine solche Entfernung zu teleportieren.“
    „Aber ich habe keine Lust, mich von Drachen umbringen zu lassen. Wenn du uns nicht teleportieren kannst, nehmen wir halt ein Schiff.“
    „Es gibt kein Schiff. Die myrtanische Seeflotte wurde von den orkischen Galeeren geschlagen. Rhobar hat bereits die Handelsflotte in den Kriegsdienst beordert und auch diese unterlag den Orks und wurde vor dem Östlichen Archipel versenkt. Seit Monaten ist der Schiffsverkehr zwischen dem Festland und den Khorinseln fast vollständig zum Erliegen gekommen. Inzwischen fahren selbst zu den übrigen vier Inseln keine Schiffe mehr. Letztendlich wäre es ohnehin vergebens. Die Armee, die sich im Minental sammelt, wird sich nicht mit Khorinis begnügen. Sie werden auch die anderen Khorinseln angreifen und den Rest Myrtanas und ebenso die anderen Reiche.“
    „Aber wir können doch nicht einfach hier sitzen und auf die Drachen warten.“
    „Nein, können wir nicht. Aber wir können auch genauso wenig vor ihnen fliehen. Wir haben nur die Wahl, zu bleiben, wo wir sind, oder uns ihnen entgegenzustellen. Und letzteres müssen wir tun! Noch formiert sich die Armee im Minental. Noch ist sie angreifbar. Noch können wir diesen Krieg beenden, bevor er begonnen hat. Wir müssen nach dem alten Sprichwort „Angriff ist die beste Verteidigung“ verfahren, das ist unsere einzige Chance.“
    Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte nur ein normales Leben in Freiheit und zusammen mit Velaya führen wollen. Ich hatte geglaubt, nach dem Fall der Barriere sei es vorbei. Keine Strapazen mehr, nur noch Ruhe, Ruhe und Velaya. Und was nun? Erst wurde ich unter Steinen begraben und kam beinahe zu Tode und dann wache ich auf und kann nicht etwa meine Freiheit genießen, sondern soll wieder gegen irgendwelche dunklen Kreaturen kämpfen. Ich war kein strahlender, selbstloser Held in glänzender Rüstung, wie man sie aus den Sagen kannte. So etwas war nichts für mich. Warum übernahmen das nicht andere wie die Paladine? Wieso geriet ausgerechnet ich in so etwas hinein? Wieso musste ich nun schon zum zweiten Mal den Helden spielen und die Welt retten, wo ich doch nichts wollte, als meine Freiheit und ein glückliches Leben gemeinsam mit Velaya und mir die meisten anderen relativ egal waren?
    Ich seufzte. „Was muss ich diesmal tun?“
    Xardas schmunzelte. „Vorerst nur, was ich dir geraten habe: Trainieren.“ Der Dämonenbeschwörer rauschte an mir vorbei. „Folge mir.“
    Xardas führte mich über das Dach des Mittelteils, die Wendeltreppe hinunter und durch den kleinen Wohnbereich im Mittelteil, in dem auch mein Bett stand. Schließlich standen wir wieder im großen Turm, ein Stockwerk tiefer. Dies war Xardas’ Labor oder auch die Beschwörungskammer. Auch diese sah genauso aus wie früher. Noch immer befand sich am Boden ein großes, mit roter Farbe gemaltes Pentagramm, an dessen fünf Spitzen jeweils eine Kerze stand. Noch immer standen an den Wänden Tische und Regale voller magischer Utensilien, seltsamer Apparaturen, Beutel, Schalen und Fläschchen mit Pulvern und Flüssigkeiten in allen Farben darin, Ringe und Amulette, alchemistischer Gerätschaften und vieles mehr. An den Wänden hingen Zeichnungen, die das Innere von Menschen, Orks und verschiedenen Tieren oder die Laufbahnen der Planeten zeigten. Auf einem Tisch direkt neben dem Eingang lagen zahllose Pergamente, einige alte in Keilschrift beschriebene Steintafeln und ein aufgeschlagenes Buch, sowie ein Tintenfass mit einer Feder darin.
    Xardas führte mich auf die andere Seite des Raumes, wo ein leicht geschwungenes Schwert an der Wand hing. Es war mir schon bei meinem ersten Besuch in diesem Raum aufgefallen. Der Dämonenbeschwörer nahm es von der Wand und reichte es mir.
    „Was ist das für eine Waffe?“, fragte ich.
    „Ein Katana. Ich habe es von meinen Reisen zu den östlichen Kontinenten mitgebracht.“
    „Östliche Kontinente? Was für östliche Kontinente?“
    Xardas schmunzelte. „Kein Ort, den ein innosfürchtiger Mensch kennen müsste, weiß ein solcher doch, dass dort, wo in den Augen eines Blasphemikers wie mir weiteres Land liegt, nichts zu finden ist, als der Rand der Welt, wo die Wasser in die Tiefe stürzen.“
    Geändert von Jünger des Xardas (12.02.2012 um 20:42 Uhr)

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    Das Abenteuer beginnt


    „Gut! Gut!“
    Ich stieß das Katana nach vorn. Xardas machte einen Ausfallschritt, eine Vierteldrehung, einen eleganten Schwenker mit dem aus magischem Licht bestehenden und doch festen Schwert, dass er sich beschworen hatte und das Katana glitt mir aus der Hand.
    „Wie hast du…?“
    „Du bist schon sehr gut geworden, aber du hältst es noch immer zu fest. Den meisten wäre das nicht geglückt, aber ein wahrer Schwertmeister kann es dir so noch immer entwinden. Schau her, so hättest du es halten müssen.“
    Wir trainierten jetzt schon seit einigen Tagen miteinander. Wie ich damals, als ich ihn mit Uriziel in den Händen gesehen hatte, vermutet hatte, war Xardas im Umgang mit dem Schwert ein ebensolcher Meister wie im Umgang mit der Magie. Auch wenn man es einem Mann in seinem Alter, noch dazu einem Magier, nicht zutraute, so war er doch der mit Abstand beste Kämpfer, den ich je gesehen hatte. Und ich hatte inzwischen schon einige Menschen kämpfen sehen.
    „Auf ein Neues!“ Xardas legte die rechte Hand auf den Rücken und hielt seine magische, doch ungefährliche Waffe in die Höhe. Ich hasste das. Obwohl er nur eine Hand verwendete und dann auch noch die linke, schaffte er es immer wieder, mich zu besiegen. Und dabei war ich längst wieder in Form und so gut wie damals in der Barriere.
    Mit beiden Händen packte ich das Katana. Dann schnellte ich nach vorne. Ich machte eine Finte, täuschte einen Schlag von der Seite an und fuhr dann mit der Klinge von unten nach oben. Das magische Schwert fuhr wirbelnd herab. Ich machte einen Satz nach hinten, nur um gleich wieder nach vorne zu drängen. Ein Hieb. Eine Parade. Ein Wirbel. Ein Ausfallschritt. Mit beiden Händen geführt sauste das Katana direkt auf Xardas’ Brust zu. Mit unglaublicher Leichtigkeit und Eleganz riss er die magische Klinge vor seinen Körper und blockte meinen Schlag. Wie oft hatten wir schon in dieser Position verharrt? Wie oft hatte er mir das Schwert mit Leichtigkeit entwunden, ehe ich hatte reagieren können? Doch inzwischen kannte ich seinen Trick. Diesmal würde ich es schaffen, diesmal war ich vorbereitet! Ich verlagerte meine Klinge, die noch immer an seiner lag um wenige Zentimeter und festigte meinen Griff. Unerwartet und viel zu schnell, als dass ich hätte reagieren können, riss der Dämonenbeschwörer seine Hand hinter dem Rücken hervor und ließ sie in meine Richtung schnellen. Etwas wie eine Welle unsichtbarer Energie erfasste mich, hob mich hoch und schleuderte mich gegen die Wand. Dort blieb ich einige Sekunden benommen und perplex liegen. Xardas ließ seine leuchtende Klinge verschwinden, kam auf mich zu und reichte mir die Hand.
    „Das war nicht fair!“, sagte ich, als er mich wieder auf die Beine zog.
    „Das ist ein echter Kampf auch nicht“, antwortete der Dämonenbeschwörer ungerührt. „Nichtsdestotrotz. Du hast deine alten Fähigkeiten schnell zurückerlangt und bist in den letzten Tagen noch um einiges besser geworden. Für mehr haben wir leider keine Zeit, aber ich denke, es wird reichen. Du bist ein außergewöhnlicher Kämpfer. Ich denke, nur wenige auf dieser Insel hätten noch eine Chance gegen dich. Nun aber wird es Zeit, dass du aufbrichst und der Bedrohung entgegentrittst.“
    „Soll ich einfach ins Minental gehen und die Drachen töten?“
    „Nein, das wäre Wahnsinn. Wir müssen zwar schnell handeln, solange sich die Armee noch formiert, doch schnelles bedeutet nicht unüberlegtes Handeln. Alleine, noch dazu ohne Ausrüstung, hast du keine Chance.“
    „Was schlägst du vor?“
    „Dieses Mal stehen wir einem gefährlicheren Gegner gegenüber als dem Schläfer. Unser Gegner bedient sich der Mächte Beliars, also müssen wir uns die Mächte Innos’ zum Verbündeten machen.“
    „Und wie?“
    „Wie du sicher weißt, liegt hier, auf der Insel Khorinis, eines der drei Hauptklöster der Feuermagier. Es ist jenes, welchem ich einst vorstand. Wie du wahrscheinlich auch weißt, werden in diesem Kloster einige wichtige Reliquien Innos’ aufbewahrt.“
    Ich nickte. „Ich habe zumindest davon gehört, aber ich weiß nicht, worum es sich handelt.“
    „Nun, uns braucht momentan nur eines jener alten Artefakte zu interessieren. Es ist das älteste und mächtigste von ihnen und zugleich wissen nur wenige von seiner Existenz. Es ist ein wohlbehütetes Geheimnis der Innoskirche, in das selbst von den Feuermagiern und Paladinen bei weitem nicht alle eingeweiht sind. Es handelt sich um ein Amulett. Es wird „das Auge Innos’“ genannt, da Innos selbst der Legende nach einen Teil seiner Macht in dieses Amulett legte. Es ist unsere einzige Hoffnung, die einzige Waffe, die mächtig genug ist, uns bei unserem Kampf zu unterstützen. Du wirst es dir beschaffen müssen.“
    „Aber ich werde kaum einfach so ins Kloster spazieren und das Auge fordern können.“
    „Nein, genau genommen ist der Zutritt zum Kloster nur Dienern Innos’ gestattet.“
    „Und wie soll ich dann rein, geschweige denn an das Auge kommen?“
    „Wie es der Zufall will, lagert in der nahen Stadt momentan eine große Gruppe von Paladinen. Bei ihrem Anführer handelt es sich um Lord Hagen.“
    „Lord Hagen? Ist das nicht der Vetter des Königs?“
    „Ganz genau. Er ist der Sohn Friederichs, des Bruders Rhobars I. und der Anne la Voisier von Geldern. Und seit der Suspension Lord Dominiques ist er auch der Großmeister des Ordens. Als Großmeister der Paladine und Vetter des Königs besitzt Lord Hagen die nötige Autorität, dir Zugang zum Kloster und zum Auge Innos’ zu gewähren.“
    „Und warum sollte er mir ein so wichtiges Artefakt übergeben?“
    „Weil du dazu bestimmt bist, es zu tragen.“
    „Woher willst du das wissen?“
    „Oh, es gibt viele Gründe, die dafür sprechen. Der wohl wichtigste ist, du hast den Schläfer besiegt – stündest du nicht in der Gunst der Götter, wärest du jetzt tot.“
    Ich schaute Xardas zweifelnd an. Schon einmal hatte er mir erzählt, mein Kampf sei vorherbestimmt. Damals war es um eine alte Prophezeiung der Orks gegangen, die von der Verbannung des Schläfers sprach. Doch hatte ich diese Prophezeiung nicht erfüllt? Aber wer sagte, dass dies kein Zufall war? Ich glaubte nicht an Prophezeiungen, andererseits…
    „Mal angenommen… du hast Recht“, sagte ich zögerlich. „Woher wissen die Paladine, dass es so ist?“
    „Du wirst sie davon überzeugen müssen. Du besitzt doch ein Talent dafür, das Vertrauen der Leute zu erringen. Hast du nicht schon drei Monate nach deiner Aufnahme im Alten Lager einen höchst wichtigen Auftrag von Raven bekommen, dessen Erfolg oder Misserfolg über das Schicksal des Lagers hätte entscheiden können? Hast du nicht die Anhänger der Bruderschaft dazu gebracht, dir für sie heilige Missionen anzuvertrauen, obwohl du keiner der ihren warst? Und hast du nicht auch das uneingeschränkte Vertrauen der Wassermagier genossen, bis du ihrem Erzhaufen die Energie entzogen hast?“ Ich nickte. Da war etwas Wahres dran. „Glaube mir, es wird vielleicht kein leichtes Unterfangen werden, doch wenn es einer schaffen kann, so bist du es. Und du musst es schaffen, um deinet-, deiner Freunde, meiner und um aller Bewohner der Inseln, wenn nicht sogar der Welt willen.“
    Ich seufzte. „Also gut. Ich breche also in die Stadt auf, rede dort mit Lord Hagen, bringe ihn dazu, mir Zugang zum Auge zu gewähren und komme damit zu dir zurück.“
    Xardas nickte. „Ja, ich werde unterdessen weiter die alten Schriften studieren. Sobald du das Auge hast, darfst du keine Zeit mehr verlieren und musst es hierher bringen. Ich werde dir dann unser weiteres Vorgehen und wie wir das Auge Innos’ nutzen werden, erklären. Doch da ist noch etwas.“
    „Noch etwas?“ Ich stöhnte.
    „Ja. Es gibt die verschiedensten Arten magischer Artefakte. Die mit Abstand mächtigsten sind die so genannten göttlichen Artefakte. Sie tragen diesen Namen, da die Götter selbst sie geschaffen haben sollen. Das Auge ist ein solches göttliches Artefakt, doch es gibt Grund zur Annahme, dass sich noch ein zweites auf der Insel befindet.“
    „Brauchen wir das etwa auch?“
    „Brauchen ist in diesem Falle der falsche Ausdruck. Bei diesem zweiten Artefakt handelt es sich um ein Artefakt Beliars. Es wird in den alten Schriften erwähnt. Es verfügt über große Macht und hat in seiner Geschichte bereits viel Unheil gebracht. Es war lange verschollen, doch alles deutet darauf hin, dass die Armee der Finsternis sich das Artefakt zu Nutze machen will. Die Zeichen sind eindeutig, die Prophezeiung wird sich bald erfüllen.“
    „Was für eine Prophezeiung schon wieder?“
    Xardas schritt auf den Tisch neben dem Eingang zu und nahm eine der Steintafeln zur Hand. „Ein mächtiges Artefakt wird wieder auf diese Welt zurückgeholt werden, wenn der Gott der Finsternis seine Schergen auf die Suche schickt“, rezitierte er. Dann ließ er die Steintafel sinken. „Ein kurzer Ausschnitt, doch diese Prophezeiung nennt eindeutige Zeichen. Wir können uns vollkommen sicher sein, die Suche, von der die Prophezeiung spricht, hat längst begonnen.“ Er schob die Hände wieder in die Ärmel seiner Kutte. Ich öffnete den Mund. „Ob du an Prophezeiungen glaubst oder nicht, ist jetzt irrelevant“, sagte Xardas barsch. „Wir müssen handeln, wenn wir uns selbst retten wollen. Ob wir dabei eine alte Prophezeiung erfüllen, ist nicht von Bedeutung. Fakt ist, die Schergen Beliars entweihen auf besagter Suche einige der ältesten Heiligtümer der Götter. Die Wächter dieser Heiligtümer sind erwacht und ihr Zorn lässt die Erde erbeben.“
    „Ich verstehe immer noch nicht ganz den Zusammenhang.“
    „Der Zusammenhang besteht darin, dass die Schergen, die jene Heiligtümer entweihen, dies im Auftrag der Armee der Finsternis tun. Wir brauchen das Auge, um die Armee aufzuhalten, doch wenn sie zuvor das Artefakt Beliars in ihre Hände bringen, wird es selbst mit der Macht des Auges sehr schwer, sie aufzuhalten. Und glaube mir, es ist bereits schwer genug. Du musst die Schergen Beliars aufhalten, bevor sie das Artefakt in ihre Hände bringen. Dann musst du das Artefakt ebenso wie das Auge Innos’ hierher bringen.“
    „Also gut“, sagte ich seufzend. „Aber wo finde ich das Artefakt Beliars?“
    „Der Zorn der Wächter, er wird dich dorthin führen, wo das Artefakt verborgen liegt. Dieser Zorn ist groß, ich kann ihn selbst von hier aus spüren. Und ich bin nicht der einzige Magier, der ihn spürt. Wenn mich nicht alles täuscht, haben die Wassermagier sich des Problems angenommen. Deine einzige Chance, das Artefakt Beliars zu finden, besteht darin, dich mit ihnen zu verbünden.“
    „Also, um das zusammenzufassen: Anstatt meine Freiheit genießen zu können, werde ich von einer Armee, angeführt von Drachen, bedroht, die die Insel in Kürze überrennen wird. Wenn ich nicht sterben will, muss ich sie bekämpfen und das wiederum schaffe ich nur, wenn es mir gelingt, sie daran zu hindern, ein mächtiges Beliarartefakt in die Hände zu bekommen, wofür ich mich mit den Wassermagiern verbünden muss, die mich wahrscheinlich am liebsten tot sehen würden, und wenn ich es schaffe, Lord Hagen, den Großmeister der Paladine und Vetter des Königs, dazu zu bringen, mir, einem dahergelaufenen Kerl, das Auge Innos’, eines der heiligsten und wichtigsten Artefakte der Innoskirche, zu übergeben – und das alles in kürzester Zeit.“
    Xardas’ Lippen kräuselten sich. „Ich sehe, du hast alles verstanden. Ich schätze Leute mit schneller Auffassungsgabe.“
    „Aber…!“
    „Glaube mir, mir gefällt diese Situation auch nicht, aber ich kann dir verraten, dass es wenig bringt, sich über die Situationen aufzuregen, in die uns das Schicksal oder auch der Zufall – wie es dir eben beliebt – bringt. Wir können ohnehin nichts daran ändern. Anstatt uns aufzuregen oder darüber nachzudenken, warum gerade uns dies widerfährt, sollten wir unseren Blick weiter nach vorne richten und das Beste aus unserer Situation machen.“
    Ich seufzte. „Du hast ja Recht, aber das ist nicht leicht.“
    Xardas lächelte. „Glaube mir, das weiß ich sogar sehr gut. Doch nun komm mit. Bevor du aufbrichst, will ich dir noch einiges geben.“
    Ich folgte Xardas ins untere Stockwerk seines Turms, wo wir die kleine Eingangshalle im Mittelteil durchquerten und in den untersten Raum des großen Turmes traten. Es handelte sich um einen Lagerraum mit einigen Kisten und Fässern darin. Xardas führte mich zu einer großen Truhe. Ein Schlenker seiner Hand und ihr Deckel sprang auf.
    „Meine Sachen!“, entfuhr es mir.
    Xardas nickte. „Alles, was du an deinem Körper trugst, wurde mit dir aus dem Tempel teleportiert. Die Erzrüstung war leider zerstört. Sie hat dich vor dem Tode bewahrt, doch selbst hat sie den Einsturz des Tempels nicht überstanden.“
    „Was ist mit Uriziel?“
    „Alles, was du an deinem Körper trugst“, wiederholte Xardas. „Uriziel ist folglich in den Trümmern des Tempels zurückgeblieben.“
    „Hm. Na ja, das hier ist besser als nichts.“ Ich nahm meine wenigen Habseligkeiten, die ich im Schläfertempel bei mir getragen hatte. Meinen magischen Ring der Lebenskraft schob ich mir sofort wieder auf den Finger. Kurz verspürte ich dabei ein leichtes Prickeln.
    Schließlich war nur ein großer, weißer, flacher Kiesel in der Truhe zurückgeblieben, in den eine stilisierte Fleischwanze eingraviert war. „Das ist der Stein, den ich im alten Kloster der Waldläufer gefunden habe“, erklärte ich.
    „Das ist mir klar“, erwiderte Xardas. „Es handelt sich um einen der sieben Druidensteine.“
    „Druidensteine?“
    „Nun, du kennst doch sicher die Geschichten über die Führer der Waldläufer, die Druiden.“
    Ich nickte. „Es heißt, sie könnten sich in Tiere verwandeln. Ich habe das immer für ein Märchen gehalten, bis ich den Stein da gefunden habe.“
    „Diese Steine, die Druidensteine, sind es, die den Druiden ihre Macht verleihen“, erklärte Xardas. „In jedem ruht die Kraft eines Tieres und nur mit ihrer Hilfe können sich die Druiden in solche verwandeln. Es sind sehr faszinierende Objekte. Ich habe die Druiden zwar auf meinen Reisen besucht und mir ihre Steine zeigen lassen und selbstredend habe ich Barthos’ Abhandlung über ihre Kräfte gelesen, doch würde es mich reizen, einen solchen einmal genauer zu untersuchen.“
    „Eine Armee von dunklen Kreaturen steht vor der Tür, ich soll durch die Welt reisen und Artefakte suchen und du gehst währenddessen irgendwelchen Forschungen nach?“, fragte ich ungläubig und leicht entrüstet.
    „Oh, dieser Stein könnte von größerer Bedeutung sein, als du ahnst.“
    Ich zuckte mit den Schultern. „Na ja, von mir aus untersuch ihn ruhig. Ich denke nicht, dass ich ihn brauche.“
    Xardas lächelte und ließ den Stein in seine Hand schweben. „Ich danke dir“, sagte er, während er ihn in seiner Robe verstaute und zog dann einen Lederbeutel hervor.
    „Hier, den will ich dir noch mitgeben“, sagte er.
    „Was ist da drin?“, wollte ich wissen.
    „Gold – Einhundert Goldstücke.“
    „Einhundert!“ Soviel hatte ich in meinem ganzen Leben nicht besessen.
    „Ja, das sollte ausreichend sein. Davon kannst du dir Ausrüstung kaufen. Du wirst schließlich eine Rüstung, Tränke und auch ein Schwert brauchen.“
    „Danke“, sagte ich. „Aber bist du sicher, dass das Einhundert Goldstücke sind?“ Skeptisch musterte ich den Beutel, der doch recht klein war.
    „Das Innere des Beutels ist magisch vergrößert“, erklärte Xardas. „Gehe jedoch nicht allzu leichtfertig mit dem Gold um. Es sind schwere Zeiten. Der Krieg steht schlecht und die Preise dieser Tage sind hoch.“ Ich nickte.
    Xardas erklärte mir noch den Weg, der aus den Bergen hinaus auf die reguläre Straße nach Khorinis führte. Dann verabschiedete ich mich. „Ach, eines noch: Verrate niemandem, dass du mich gesehen hast, vor allem keinem Magier. Die meisten Mitglieder des Kreises des Feuers halten mich für tot und ich würde es vorziehen, wenn das so bliebe.“
    Ich nickte. „In Ordnung.“
    „Dann viel Glück“, verabschiedete Xardas mich.

    Wenige hundert Meter vor dem Turm begegnete ich Lester, der gerade aus dem Tal kam, wo er Pflanzen für Xardas’ Tränke gesammelt hatte. Ich berichtete dem ehemaligen Novizen, der inzwischen auch über die Bedrohung Bescheid wusste – was ein weiterer Grund dafür war, dass er noch immer bei Xardas blieb – von meiner Aufgabe.
    Lester lachte nur. „Du steckst doch schon wieder mittendrin, nicht?“
    „Mittendrin würde ich nicht sagen – noch nicht.“
    Lester klopfte mir auf die Schulter. „Ich wünsche dir viel Glück. Wenn du unsere Freunde triffst, grüß sie von mir.“
    „Klar. Ich komme auch sicher bald wieder, dann erzähle ich dir, wo sie jetzt sind.“ Lester nickte erfreut. „Machs gut“, sagte ich zum Abschied, dann zog ich los, hinein in ein neues und wie ich bald feststellen sollte, viel größeres Abenteuer.
    Geändert von Jünger des Xardas (23.10.2010 um 11:05 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Steckbriefe und Banditen


    Von Xardas’ Turm war ich über natürliche, halbversteckte Pfade zu einer durch die Berge führenden Straße gelangt. Xardas hatte mir erklärt, dass sie einen Verbindungsweg zwischen einer in der Mitte der Insel gelegenen Taverne und der Stadt Khorinis darstellte. Nun folgte ich der sich zwischen Bergen hindurchschlängelnden Straße in Richtung Nordwesten. Dabei hing ich meinen Gedanken nach. Diese drehten sich nicht nur um die mir bevorstehenden Aufgaben, sondern auch um meine Freunde – speziell um eine ganz bestimmte Person. Ich war fest entschlossen, sie aufzutreiben. Wenn Xardas Recht hatte, was den Schiffsverkehr betraf, musste sie – mussten sie alle – noch hier sein und so riesig war die Insel Khorinis auch nicht.

    Ich war wohl schon eine gute Stunde unterwegs. Der Weg führte nun durch eine schmale Schlucht. Als ich um eine sanfte Biegung zog, erblickte ich einen Mann, der fluchend über einigen toten Goblins stand. Ich näherte mich ihm, ohne dass er mich bemerkte. Er hatte mir den Rücken zugedreht und schien eher auf die Goblins zu achten als auf das, was um ihn herum passierte.
    „Ärger?“, fragte ich und verharrte in sicherem Abstand zu dem Fremden. Der Mann schreckte zusammen, fuhr herum und richtete ein Messer auf meine Brust. „Immer mit der Ruhe, ich tu dir nichts“, sagte ich.
    „Hm, siehst zumindest nicht sonderlich gefährlich aus.“ Der Mann ließ das Messer in den Gürtel gleiten. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. „He, Moment! Ich kenn dich, aus der Kolonie!“
    „Klar!“, fiel es nun auch mir wieder ein. Ich war überrascht, die dunkle Haut, das schmale Gesicht und die hervorstehenden Wangenknochen nicht gleich erkannt zu haben. „Du bist Cavalorn!“
    „Ah, ich sehe, du hast mich nicht vergessen, nach allem, was wir durchgemacht haben – damals, in der verdammten Kolonie.“ Er spuckte aus. „Hab dich seit dem Fall der Barriere nicht mehr gesehen.“
    „Tja, ich hatte meine eigenen Probleme. Hab ne Menge durchgemacht seit damals.“
    „So siehst du auch aus“, stellte Cavalorn fest.
    „Nette Rüstung, die du da anhast“, bemerkte ich, seine dicken Stiefel, die schwarze Hose, das bläuliche Kettenhemd und die ärmellose Weste aus rotbraunem Leder musternd.
    Cavalorn grinste. „Ja, nicht wahr?“ Er hielt mir seine Hand unter die Nase. Ein blauer Ring steckte an seinem Finger. „Ich gehöre jetzt zum Ring des Wassers.“
    „Der Ring des Wassers?“
    „Ja, wir arbeiten für die Wassermagier. Es sind ein paar aus der ehemaligen Kolonie dem Ring beigetreten, soviel ich weiß. Die meisten davon aus dem Neuen Lager, aber ich glaube, es sind auch ein, zwei Kerle aus dem Alten Lager dabei.“
    „Waren sie damals nicht mit den Wassermagiern verfeindet?“, fragte ich verwundert.
    „Mann, die beschissenen Zeiten von damals sind vorbei! Es gibt kein Neues oder Altes Lager mehr. Die meisten versuchen doch einfach, irgendwie über die Runden zu kommen. Und die Wassermagier konnten eine Begnadigung für all jene erwirken, die sich dem Ring anschlossen.“
    „Was genau ist der Ring? Ich habe noch nie davon gehört.“
    „Wie auch? Wir sind ein Geheimbund. Eigentlich habe ich dir auch schon viel zu viel erzählt. Ich weiß, dass du ein ehrlicher Kerl bist, aber unsere Regeln sind eindeutig.“
    „Aber was, wenn ich bei euch mitmachen will?“, fragte ich. Xardas hatte gesagt, ich müsse mich mit den Wassermagiern verbünden, um das Artefakt Beliars zu finden. Vielleicht war der Ring genau der richtige Weg.
    „Hm, du könntest ja mal mit Vatras reden. Das ist der Wassermagier in der Stadt.“
    „Vatras? Er war nicht in der Barriere oder?“
    „Nein, er ist der siebte Wassermagier. Er hat damals nicht an der Erschaffung der Barriere teilgenommen, wurde also auch nicht eingesperrt. Aber wenn du in den Ring aufgenommen werden willst, solltest du mit ihm sprechen. Die übrigen Wassermagier sind nämlich gerade nicht in der Stadt.“
    „Warum das?“
    „Erforschen irgendwelche alte Ruinen im Norden. Ich komme gerade von dort, aber ich darf dir auch darüber nicht mehr erzählen.“
    „Na gut, dann gehe ich in die Stadt und spreche mit diesem Vatras. Ich bin ohnehin auf dem Weg dorthin. Was ist mit dir, kommst du mit?“
    Cavalorn verzog das Gesicht. „Ich war auf dem Weg zu Vatras“, erklärte er.
    „Aber?“
    „Ich wurde von Banditen überfallen.“
    „Was für Banditen?“
    „Was für Bandi…? Sag mal, willst du mich verarschen? Hast du die letzten Wochen verschlafen oder was?“
    „Äh… sagen wir, ich hatte anderweitig zu tun.“
    „Oh Mann. Na gut, dann erklär ich’s dir: Als die Barriere fiel, haben es einige von uns in die Stadt geschafft und konnten untertauchen, aber die meisten kamen da nicht rein. Und was glaubst du, machen die Geächteten aus vier Reichen, wenn ihr Gefängnis zerstört ist, sie aber nicht in die Zivilisation zurückkönnen? Sie verkriechen sich in den Höhlen und Wäldern der Umgebung oder fliehen in die Berge. Jetzt verstecken sie sich dort. Aber glaub nur nicht, dass sie allein von Scavengern und Waldbeeren leben. Ab und zu nehmen sich die kleinen Grüppchen gegenseitig auseinander. Welchem Lager man mal angehörte, zählt bei den meisten nicht mehr. Es haben sich nur wenige halbwegs größere Gruppen erhalten. Aber meistens überfallen sie Reisende und Händler oder plündern die kleinen Bauernhöfe und machen so die Insel unsicher. Die Miliz ist völlig überfordert. Die trauen sich gar nicht mehr aus der Stadt raus.“
    „Und diese Banditen haben dich überfallen?“
    „Ja, war ne kleinere Gruppe. Drei Kerle, wenn mich nicht alles täuscht. Ich kann von Glück sagen, dass ich abhauen konnte, bevor sie mich abgestochen haben, aber sie haben mir mein Zeug geklaut. Von meinen Waffen konnte ich auch nur die Messer retten. Den Rest haben sie sich schon unter den Nagel reißen können, bevor ich fliehen konnte. Jetzt schlage ich mich hier mit den Goblins rum. Verdammt, weiß gar nicht, wo die alle herkommen – du tötest einen und kurze Zeit später sind sie alle wieder da!“
    „Was wurde dir gestohlen?“
    „Außer meinen Waffen? Mein ganzes Gold. Und ein wichtiger Brief von Saturas. Ohne den kann ich meinen Weg nicht fortsetzen.“
    „Was ist, wenn ich dir helfe?“
    „Hm, warum nicht? Zu zweit könnten wir eine Chance haben und du warst ja damals ganz gut.“
    „Mir fehlt nur eine Waffe.“
    „Hier, du kannst mein zweites Messer haben, mehr hab ich auch nicht.“
    Ich schob mir das Messer in den Gürtel. „Messer ist gut. Wo sind die Kerle jetzt?“
    „Gleich ein paar hundert Meter weiter ist das dreckige Erdloch, in dem sie sich verstecken, aber wollen wir da einfach reinstürmen?“
    „Hm, am besten ich gehe kurz vor und prüf die Lage.“
    „Hältst du das für nötig?“, fragte der Jäger.
    „Sie haben vielleicht einen Wachtposten aufgestellt. Oder sie lauern uns direkt auf. In jedem Fall werden sie dich wiedererkennen und misstrauisch werden. Ich kann vielleicht erst mal die Lage ausspähen oder einen ausschalten. Du kommst einfach nach, wenn ich… pfeife. Dann greifen wir an.“
    Cavalorn nickte. „In Ordnung.“

    Cavalorn hatte Recht, die Banditenhöhle war nur wenige hundert Meter entfernt. Ich musste nur um eine weitere Biegung der Schlucht und vorbei an einigen Bäumen, schon konnte ich sie sehen. Eine abgerissene Gestalt stand vor der Höhle und schien Wache zu halten. Die anderen mussten in der Höhle sein. Ich beschloss, ein Risiko einzugehen und mich zu zeigen. Cavalorn war ganz in der Nähe und würde auf meinen Pfiff hin erscheinen. Außerdem hatte ich schon mehr als drei Gegner zugleich besiegt.
    Ich trat gänzlich hinter den Bäumen hervor. Der Bandit wurde auf mich aufmerksam. „He du!“
    „Wer, ich?“
    „Natürlich du! Wo kommst du her?“
    Ich kam einige Schritte näher. „Aus den Bergen“, sagte ich.
    „Genau! Du kommst aus den Bergen und das ist schlecht für dich!“ Der Bandit zog einen zerknüllten Zettel aus seinem Gürtel, warf einen Blick darauf und schob ihn dann wieder zurück. „Gaaanz schlecht! Hör zu: Du wirst gesucht und zwar von einem ganzen Haufen übler Kerle. Es gibt da jemanden, mit dem du unbedingt reden musst, folge mir.“
    Der Bandit wollte sich schon umwenden und in der Höhle verschwinden. Ich jedoch hielt ihn zurück. „Wer sucht mich?“
    Ungläubig blickte der Bandit mich an. „Halb Khorinis ist hinter dir her und du willst mir erzählen, du hättest keine Ahnung? Ah, verstehe, du willst nur nicht mit mir darüber reden! Nun gut, deine Sache. Jetzt komm aber.“
    „Nicht so schnell. Mit wem soll ich reden?“
    „Mit meinem Anführer. Er heißt Brago. Er kann dir alles besser erklären als ich.“
    „Und woher weiß ich, dass das keine Falle ist?“
    Der Bandit machte ein wütendes Gesicht. „Also so langsam reicht’s mir mit dir! Von mir aus, geh doch in die Stadt und lass dich einlochen, wenn du so schlau bist!“
    „Langsam, Freundchen! Es hat schon mal wer versucht, mich zu verarschen. Damals hat so’n Kerl vorgeschlagen, ich solle mit ihm ein wertvolles Amulett holen. Als wir angekommen waren, haben er und seine Kumpels mich dann aber angegriffen.“
    „Klingt ganz, als hättest du dich mit den falschen Leuten eingelassen.“
    „Nichts ungewöhnliches in der Barriere.“
    „Du warst in der Kolonie?!“, fragte der Bandit überrascht. „Mensch, dann haben wir ja zusammen gesessen!“
    „Ich kenn dich nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß.
    Der Bandit winkte ab. „Ich war Buddler im Alten Lager. Hab mit der ganzen Sache nicht viel zu tun gehabt. Aber was im Moment viel wichtiger ist: Du hast mächtigen Ärger.“
    „Warum?“
    „Tja“, der Bandit zog den Zettel aus seinem Gürtel und hielt ihn mir hin – er zeigte mein Gesicht, auch wenn es äußerst schlecht getroffen war. „Irgendjemand hat ein paar Zettelchen von dir verteilt, mit der Aufforderung, deinen Kopf zu ihm zu bringen. Er hat eine fette Belohnung versprochen. Offenbar haben einige Banditenbanden so’ne Dinger bekommen.“
    „Warum erzählst du mir das plötzlich?“, fragte ich misstrauisch.
    „Weißt du, ich denke, wir Jungs aus der ehemaligen Kolonie müssen zusammenhalten. Konnte ja nicht ahnen, dass du auch aus der Kolonie kommst.“
    „Und weißt du, wer meinen Tod will?“
    „Nein, das weiß niemand. Er hat jemanden, der die Steckbriefe für ihn verteilt hat.“
    „Wer ist es?“
    „He Mann, das kann ich dir nicht sagen. Du weißt doch, wie so was läuft.“
    „Komm schon.“ Ich griff in meinen Geldbeutel. „Fünf Goldstücke für den Namen des Kerls, der Steckbriefe von mir verteilt.“
    „Mann…“ Der Bandit schien sich reichlich unwohl zu fühlen in seiner Haut.
    „Ich… das… ach, gib schon her!“ Er nahm das Gold entgegen und ließ es in seine Tasche gleiten. „Dexter heißt er. Ich habe keine Ahnung, wo er zu finden ist, aber er war früher mal Schatten.“
    Ich nickte. „Ja, ich kenne Dexter.“ Doch was konnte er von mir wollen? Ich seufzte. Sah ganz danach aus, als hätte ich noch mehr zu tun – denn eins stand fest: Wenn Dexter für irgendjemanden Steckbriefe von mir an die Banditen verteilte, mit der Aufforderung, mich zu töten, musste ich der Sache auf den Grund gehen. Zunächst jedoch wollte ich mich revanchieren. „Hör mal, der Kerl, den ihr vorhin überfallen habt, hat vor, sich sein Zeug wiederzuholen. Ich sollte ihm eigentlich helfen. Er hat mich als Späher vorgeschickt.“
    „Verdammt! Aber du willst mich doch jetzt nicht umlegen, nachdem ich dir geholfen habe, oder?“
    Ich schüttelte den Kopf. „Am besten, du machst, dass du wegkommst. Lauf einfach in die Richtung davon.“ Ich deutete in Richtung Khorinis. „Mach dir mit dem Gold in der Stadt ein schönes Leben. Das ist besser, als hier draußen Reisende zu überfallen.“
    Der Bandit nickte freudig, erklärte dann aber besorgt: „Meine Kumpels werden nicht so einfach mit sich reden lassen. Die gerben dir das Fell, wenn sie dich sehen. Die sind scharf auf das Gold.“
    „Tja, dann sind sie selbst schuld.“
    Der Bandit seufzte. „Hast Recht. Dann will ich mich mal verdrücken. Danke noch mal!“
    Ich wartete, bis er weit genug weg war, dann stieß ich meinen Pfiff aus. Cavalorn kam sofort angerannt. „Hat ja ganz schön gedauert“, meinte er.
    „Ja, aber dafür kriegen wir es nur mit zweien zu tun.“
    Der Jäger packte sein Messer. „Will gar nicht wissen, wie du das angestellt hast. Schnappen wir uns einfach die Kerle.“
    Gemeinsam stürmten wir in die kleine Höhle. Durch einen kurzen, krummen Gang gelangten wir in einen natürlichen Raum, in dem einige Pilze wuchsen und auf dessen Boden zwei Schafsfelle lagen. Die Banditen griffen uns sofort an. Während der eine auf Cavalorn zurannte, riss der andere das Schwert über den Kopf und kam auf mich zu. Ich wartete in Ruhe ab. Im letzten Moment machte ich einen Schritt zur Seite, wobei die Messerklinge über den Bauch des Banditen fuhr. Sein Schwert fuhr hinab, durchschnitt jedoch nur die Luft an der Stelle, an der ich vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Ich ließ mein Messer sofort wieder in einer halben Drehung hinabsausen und durchtrennte so die Halsschlagader des Banditen.
    „Mann, du bist echt gut“, sagte Cavalorn anerkennend und zog sein Messer aus dem Bauch des anderen Banditen. Dann durchsuchte er die Leichen nach seinem Gold und dem Brief und schnappte sich auch seinen Bogen und sein Schwert wieder. Ich nahm mir unterdessen eines der Schwerter der beiden Banditen. Es war rostig und schartig, doch besser als nichts. In der Stadt würde ich mir dann eine bessere Waffe kaufen können.
    „So, hab alles“, sagte Cavalorn und hängte sich den Bogen über die Schulter. Ich hielt ihm sein Messer hin, doch er winkte ab. „Behalt’s.“
    „Wollen wir jetzt in die Stadt?“, fragte ich.
    „Hm… ja… ich muss den Brief abgeben, dann muss ich direkt wieder zur Taverne und dann… Verdammt, ich weiß gar nicht, wie ich das alles noch schaffen soll! Ich hatte so schon genug um die Ohren, aber wegen dieser verdammten Banditen bin ich jetzt viel zu spät dran.“
    „Soll ich dir helfen?“
    Cavalorn blickte auf. „Hm.“ Er rieb sich das Kinn. „Warum eigentlich nicht? – Hier.“ Er überreichte mir die Pergamentrolle. „Gib den an Vatras. Tagsüber solltest du ihn am Tempelplatz finden, er predigt dort meistens. Wenn er nach mir fragt, sag ihm, dass ich es nicht mehr geschafft habe und schon zum Treffpunkt aufgebrochen bin. Er wird dann schon verstehen.“ Ich steckte mir den Brief in den Gürtel. „Danke“, sagte Cavalorn. „Hast was gut bei mir.“
    Geändert von Jünger des Xardas (23.10.2010 um 19:28 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Der Weg in die Stadt


    Während Cavalorn der Straße in die Richtung folgte, aus der ich gekommen war, setzte ich meinen Weg in die Stadt fort. Nicht mehr lange und ich hatte das Ende der Schlucht erreicht. Vor mir lag eine von sanften Hügeln durchzogene Ebene. Auf ihrer anderen Seite befand sich eine große, bewaldete Senke. Der Weg führte auf die Senke zu und machte dann einen Bogen nach Norden in Richtung Stadt. Diese konnte laut Xardas’ Beschreibung nur noch zwei Kilometer entfernt sein.
    Anstatt jedoch dem Weg zu folgen, wandte ich mich direkt nach rechts. Hier lag eine kleine Weide, auf der einige Schafe grasten. Inmitten der Herde stand ein Hirte. Hinter ihm konnte ich einen Bauernhof zwischen zwei kleinen Hügeln erkennen.
    „He Fremder, hab gesehen, wie du aus den Bergen gekommen bist!“, begrüßte er mich, als ich näher trat. „Kannst froh sein, hier nicht vor einem Monat vorbeigekommen zu sein. Wir hätten dich für nen entlaufenen Sträfling gehalten und mit denen haben wir kurzen Prozess gemacht.“
    „Ist das dein Hof dahinten?“, fragte ich.
    Der Hirte lachte. „Nein, sicher nicht. Ich bin Maleth. Ich bin nur einer von Lobarts Knechten. Ihm gehört der Hof. Aber du siehst eher aus, als wärst du auf der Durchreise.“
    „Ja, ich will in die Stadt.“
    „So abgerissen, wie du rumläufst, wirst du die Wachen bestechen müssen.“
    „Warum das?“
    „Sie lassen in den letzten Tagen nicht mehr jeden rein. Haben Angst vor Banditen.“
    „Gibt es keinen billigeren Weg, als die Wachen zu bestechen?“
    „Klar, du musst wissen, was sie hören wollen.“
    „Und das wäre?“
    „Na zum Beispiel, dass du von Lobarts Hof kommst und in der Stadt was zu erledigen hast. Nur wird dir das keiner glauben. Du siehst eher aus wie ein Landstreicher als wie ein Bauer.“
    „Verstehe. Und habt ihr auf dem Hof nicht noch ein paar Klamotten?“
    „Da wirst du schon Lobart fragen müssen. Aber umsonst gibt er dir sicher nichts.“
    „Gut, dann werde ich mal mit ihm sprechen. Danke.“
    „Kannst es auch als Kräutersammler versuchen!“, rief Maleth mir noch nach. „Constantino, der Alchemist, hat die Wachen angewiesen, jeden rein zu lassen, der ihm seltene Kräuter bringt. Aber er hat den Wachen eine Zeichnung der Pflanzen dagelassen, die er braucht. Und die sind alle schwer zu bekommen. Die wachsen nicht einfach so im Wald.“

    Der Hof bestand lediglich aus zwei Gebäuden: Einer Scheune und einem Haus. Beide waren nicht allzu groß. Zwischen dem Haus und einem etwas höherem Hügel, auf dem ein alter Steinkreis stand, lag ein kleines Getreidefeld. In der Mitte des Hofes stand ein Mann mit hochgekrempelten Ärmeln, die Hände in die Hüften gestemmt.
    „He, was treibst du dich hier auf meinem Land rum?!“, brüllte er mir entgegen. „Rede oder ich hetze die Hunde auf dich!“
    „Ganz ruhig, ich habe keine bösen Absichten.“
    Der Bauer schnaubte. „So wie du rumläufst, könntest du einer dieser Banditen sein. Wäre nicht das erste Mal, dass die Dreckskerle sich auf meinen Hof trauen. Zwei Schafe haben sie mir schon gestohlen. Irgendwo in den Bergen müssen die ihr Nest haben. Hm, aber wenn, dann trauen die sich nur zu mehreren hierher. Außerdem würden sie wohl eher nachts oder zumindest mit gezogenen Klingen auftauchen. Und besonders gefährlich siehst du auch nicht aus.“ Er musterte mich abschätzend. „Für wen bist du, für die Bauern oder den König?“, fragte er gerade heraus.
    „Was? Ich verstehe nicht.“
    „Verarsch mich nicht Junge! Ich will wissen, wo du stehst!“ Ich hatte zwar keine Ahnung, worum es ging, beschloss jedoch, dass ich gegenüber einem Bauern besser behauptete, für diese zu sein. Lobart schnaubte verächtlich, als er meine Antwort hörte. „Onar, dieser verdammte Kriegstreiber, bringt uns noch alle ins Grab! Was glaubst du, wie lange sich die Paladine das mit ansehen?“
    „Was ist hier eigentlich los?“, wollte ich nun endlich wissen.
    „Wir stehen kurz vor einem Bürgerkrieg und du willst mir erzählen, du weißt nicht, was hier los ist? He Junge, wo kommst du her?“
    „Sagen wir, ich habe in den letzten Wochen nicht viel mitbekommen. Klär mich doch auf.“
    „Also, die Sache ist so: Alle Bauern hier auf der Insel müssen monatliche Abgaben an die Stadt entrichten und bis vor kurzem haben auch alle dies als gerechten Tribut gesehen. Doch seit die Paladine hier sind, kommen die Milizen aus der Stadt immer öfter und nehmen nach und nach alles, was wir haben. Einige Bauern wollten sich das nicht mehr gefallen lassen. Onar, der fette Großbauer, war der erste von ihnen. Er hat sich gegen die Stadt aufgelehnt. Und es heißt, er hat sich Söldner angeheuert, um sich die Miliz vom Leib zu halten. Angeblich sind die Kerle größtenteils entflohene Sträflinge aus der alten Minenkolonie.“ Abermals ließ Lobart ein verächtliches Schnauben hören. „Was man von denen zu halten hat, ist ja bekannt!“
    „Was ist mit dir?“, wollte ich wissen. „Für wen bist du, Bauern oder König?“
    „Ach, ich bin viel zu dicht an der Stadt, um wirklich eine Wahl zu haben. Bin aber auch ganz froh drum. Ich wüsste nicht, wie ich mich entscheiden sollte. Der König lässt uns ausbluten und Onar hetzt allen, die sich ihm nicht anschließen, seine Söldner auf den Hals. Aber jetzt erzähl mir mal endlich, was du hier auf meinem Hof willst.“
    „Maleth, dein Knecht, sagte, du hättest vielleicht saubere Sachen für mich.“
    „Ja, ich könnte dir saubere Landarbeiterkleidung geben, aber das würde dich einiges kosten.“
    „Was wäre, wenn ich für dich arbeiten würde?“
    „Hm, einen weiteren Knecht kann ich nicht gebrauchen. Ich kann die zwei, die ich schon hab, ja kaum noch bezahlen. Aber für einen Tagelöhner hätte ich schon was zu tun. Wie sieht’s aus? Ich könnte dir dann einen besseren Preis auf die Kleidung machen.“
    „Also gut, was ist zu tun?“, fragte ich. Ich war entschlossen, Xardas’ Ratschlag zu befolgen. Wer wusste schon, wofür ich das Geld noch brauchen würde. Solange es einen billigeren Weg gab, würde ich diesen wählen.
    „Das kleine Rübenfeld dort vor der Scheune muss abgeerntet werden. Du kannst Vino etwas zur Hand gehen.“
    „Also gut“, seufzte ich.

    Ich schwang mich über den niedrigen Zaun auf das kleine Feld, auf dem bereits ein Knecht arbeitete. „He!“ Der Knecht unterbrach seine Arbeit kurz. „Ich bin Vino. Tagelöhner sind selten geworden in diesen Tagen – Reisende auch.“
    „Ich will eigentlich in die Stadt“, erklärte ich. „Ich arbeite nur kurz für Lobart, weil ich ordentliche Kleidung brauche.“
    Vino grinste und wandte sich wieder den Rüben zu. „Kann ich mir vorstellen, so wie du rumläufst. Nun“, er zerrte an einer Rübe, „du solltest wissen, dass Lobart Tagelöhner echt miserabel bezahlt.“ Er riss die Rübe aus dem Boden und warf sie auf einen kleinen Haufen.
    Auch ich machte mich nun ans Rübenroden. „Kannst du mir was über die Stadt erzählen?“, fragte ich.
    „Nö, zumindest nichts, was du nicht ohnehin schon weißt. Maleth könnte dir vielleicht ein paar Takte erzählen, er ist von Zeit zu Zeit dort – bringt Sachen zum Schmied oder verkauft unsere Erträge am Markt. Ich selbst weiß nur, was hier draußen vor sich geht.“
    „Und was?“ Ich riss eine Rübe aus dem Boden.
    Vino nickte mit dem Kopf zu der bewaldeten Senke. „Ich hätte schwören können, dahinten vor zwei Tagen einen Ork zwischen den Bäumen gesehen zu haben. Seitdem schlafe ich immer mit einem offenen Auge.“
    „Ein Ork, hier?“ Ob dies wohl ein Späher der Armee im Minental war?
    „Ja! Ich meine, ich hab noch nie zuvor einen gesehen, aber das muss einfach ein Ork gewesen sein! Grässliches Vieh! Als käme es direkt aus Beliars Reich. Wer weiß? Maleth hat mir erzählt, dass in der Stadt Gerüchte kursieren. Man munkelt, der Krieg stünde schlecht. Vielleicht kommen die Grünfelle jetzt und wollen die Insel erobern. Lobart glaubt mir natürlich nicht. Er sagt, ich hätte wahrscheinlich zuviel getrunken, aber ich weiß nicht. Ich mach mir Sorgen, dass die Orks eines Tages unsern Hof niederbrennen. In der Stadt sitzen zwar die Paladine, aber ich glaube kaum, dass die ihren Hintern hier raus bewegen, wenn’s ernst wird. Seitdem hab ich mich jedenfalls nicht mehr in den Wald getraut.“
    „Wieso, was hast du denn im Wald gemacht?“
    „Oh, da hab ich mich wohl verplappert, was?“
    „Sag schon!“ Ich riss eine Rübe aus dem Boden.
    Vino seufzte. „Also gut. Aber sag’s nicht Lobart und schon gar nicht der Miliz, versprochen?“
    „Versprochen.“
    „Ist eigentlich keine große Sache. Bin nicht mal sicher, ob das ill… illi… elli… verboten ist, aber man weiß ja nie, verstehst du?“
    „Sag mir doch endlich, worum es geht.“
    „Na schön.“ Vino beugte sich zu mir herüber. „Ich hab da im Wald ne Höhle. Ab und zu brenn ich da mal nen Schnaps. Meist für mich und Maleth, aber ab und zu hat er das Zeug auch schon in der Stadt verkauft. So was kann ja eigentlich nicht verboten sein… ist ja nichts Schlimmes…“
    Wir arbeiteten weiter auf dem Rübenfeld. Es war eine harte, schweißtreibende Arbeit und die Mittagssonne brannte uns im Nacken. Schließlich jedoch, es war bereits früher Abend, waren wir endlich fertig. Während Vino die Rüben wegschaffen sollte, wollte ich von Lobart nun die Kleidung haben.
    „Vierzig Kupferlinge“, sagte dieser knapp.
    „Was?! Aber ich habe den ganzen Nachmittag für dich geschuftet!“
    „Darum hab ich dir ja schon nen besseren Preis gemacht. Normalerweise hätte ich Siebzig genommen.“
    „Für die paar Fetzen?“
    „He, meine Sachen sind ne Menge wert! Außerdem leben wir in schlechten Zeiten. Jeder muss sehen, wo er bleibt. Kannst ja zu meiner Frau, Hilda, ins Haus gehen. Vielleicht hat die noch was zu tun für dich.“

    Das hatte sie tatsächlich. „Ich hab eben beim Hühnerfüttern einen fahrenden Händler auf der Straße gesehen. Ich glaube, er hat auf dem Weg zur Stadt halt gemacht.“ Sie gab mir ein paar Kupfermünzen. „Sei so gut und schau, ob er eine brauchbare Pfanne für mich hat.“

    So folgte ich also dem Weg, der von Lobarts Hof zwischen den Hügeln hindurch zur Straße führte. Als ich die Hügel passiert hatte, konnte ich in der Ferne schon die aus bräunlichem Stein gebaute Stadtmauer erkennen. Doch was war das? Dort, nicht weit entfernt zwischen einigen Bäumen, stand eine Gestalt und schien sich zu verstecken. Ich blieb verdutzt stehen. Die Gestalt schien mich zu bemerken und winkte mich heran.
    „Psst! Komm ma rüber, men Jung.“
    Mit leicht gerunzelter Stirn trat auch ich zwischen die Bäume. „Versteckst du dich vor jemandem?“, fragte ich.
    „Iwo! Ick steh nur hier, damit mir der Wind nich so um de Ohrn pfeift“, erklärte mir die Gestalt – es handelte sich um einen Mann in Seemannskleidung, der einen großen, nietenbesetzten Mantel aus rotem Leder trug – in nicht sehr überzeugendem Ton. „Hör ma, men Jung.“ Der Mann beugte sich näher zu mir. Ein schwarzer Dreispitz saß auf seinem Kopf. Darunter befand sich ein wettergegerbtes Gesicht mit wildem, braunem Bart. Das rechte Auge war hinter einer schwarzen Augenklappe verborgen. Das Ende einer Narbe schaute darunter hervor. „Du bist unnerweegs in die Stadt, wat? Und schwer beschäfticht noch dazu. Und du siehst mir wie’n schlauet Kerlchen aus, dem kener so leicht wat vormacht. So wat seh’ ick sofort! Ick könnte dene Hilfe jebrauchen.“
    „Was hätte ich davon, dir zu helfen?“
    „Nun, ick bin sicher nich der feine Umjang, den en Herr wie du jewohnt is, aber ick kann mich sicher auf die ene oder andere Weise erkenntlich zeigen“, erklärte mir mein Gegenüber in einschleimendem Ton. „Und du wirst doch sicher min bescheidnen Beitrag zu denem sicher beträchtlichen Vermöjen nich ablehnen oder?“
    „Also gut, sag, was du willst.“ Dieser Kerl wollte sich zwar offensichtlich nur einschleimen, doch etwas zusätzliches Geld konnte nicht schaden. Ablehnen konnte ich noch immer.
    „Du musst et ejnem alden Seemann schon nachseh’n. Ick bin neu in diesen Jefilden und kenne mick mit den hiesigen Regeln und Sidden noch net so aus. So musste ick schmerzlich erfah’n, datt Reisende in der Hoafenstadt nich willkommen sind. Jetz steh ick hier und komm nit rinn. Und dabei hab ick wichtige Jeschäfte zu erledigen, die kenen Aufschub dulden.“
    „Und ich soll dich irgendwie an den Wachen vorbeibringen, ja?“
    „Et soll dejn Saden net sin.“
    „Warum hast du’s nicht schon mit Bestechung versucht?“
    Der Mann lachte traurig auf. „Glob mir, min Jung, wenn dat bei mir funktionier’n würde, dann hädd ick dat längst jetan.“
    „Du könntest ihnen auch seltene Kräuter bringen. Der Alchemist der Stadt hat die Wachen angewiesen, jeden durchzulassen, der ihm seltene Kräuter vorbeibringt.“
    „Seh ick etwa so aus, als würd ick in’nen Wald jehn und Blümchen pflüggen?“
    „Hm, was Besseres fällt mir momentan nicht ein.“
    „Kreuzdonnerwedder noch ma!“
    „Hm, warte am besten hier. Ich komm dann gleich noch mal vorbei, vielleicht hab ich dann was für dich.“
    „Tu dat, aber lass dir nit zuviel Zeit, hörst du?“

    „Komischer Kerl“, dachte ich, während ich weiterging. Was ein Seemann wie er wohl hier machte? Einen etwas zwielichtigen Eindruck hatte er ja schon gemacht. Ob er wohl einer der berüchtigten Piraten war, die in den Gewässern um die fünf Khorinseln angeblich ihr Unwesen trieben? Andererseits war nicht jeder Seemann, der eine Augenklappe trug, gleich ein Pirat.

    An der Weggabelung kurz vor der Stadt, an der der Weg, der zu Lobarts Hof führte, von der Straße abzweigte, saß ein Kerl mit kurzem, blonden Haar und leicht heruntergekommener Kleidung. Neben ihm stand ein kleiner Wagen, mit einigem Krimskrams darauf. Es handelte sich offenbar um einen Krämer. „Sieh mal an, wen haben wir denn da!“, begrüßte mich der Händler mit schmierigem Grinsen. „Man nennt mich Canthar. Ich bin fahrender Händler. Und du? Wie ein Bauer siehst du schon mal nicht aus, also bist du ein Reisender auf dem Weg in die Stadt. Hm“, er legte den Kopf leicht schief. „Du könntest ein Flüchtling sein – alle Flüchtlinge wollen in die Stadt. Du könntest sogar ein entflohener Sträfling aus der Barriere sein. Mir ist egal, wo du herkommst“, ergänzte er rasch. „Aber ich hätte da ein Angebot, das dich vielleicht interessieren könnte.“
    „Was für ein Angebot soll das sein?“
    „Ich habe hier ein Stück Papier – mit khoriner Siegel und Unterschrift des Statthalters. Mit dem Wisch kommst du ungehindert an den Stadttorwachen vorbei.“
    „Und wo hast du so was her?“
    „Alle fahrenden Händler haben einen solchen Passierschein.“
    „Und wie willst du ohne den Schein reinkommen?“
    Canthar winkte ab. „Die Wachen kennen mich. Ich werde ihnen einfach sagen, ich hätte den Schein verloren.“
    „Und was willst du dafür haben?“
    „Oh, ich geb’ dir das Ding jetzt einfach.“
    „Einfach so?“, fragte ich skeptisch.
    „Einfach so. ABER wenn wir uns in der Stadt wiederbegegnen sollten, schuldest du mir einen Gefallen. Also, wie sieht’s aus?“
    „Wer sagt mir, dass du mich nicht verarschst?“
    Canthar seufzte. „Schau’s dir doch selbst an“, sagte er und hielt mir das Papier unter die Nase.
    Der Inhaber dieses Dokuments verfügt über das uneingeschränkte Recht, sich auf unbestimmte Zeit in allen unteren Bezirken der Reichsstadt Khorinis aufzuhalten. In allen weiteren Belangen gelten für ihn die gewöhnlichen Gesetze der Reichsstadt Khorinis, der Fünf Inseln und des Königreichs Myrtana.

    Larius von Khorinis, königlicher Statthalter

    Ich nickte. Der Wisch sah echt aus. Doch sollte ich das Angebot wirklich annehmen? Gewiss, es wäre der schnellste und billigste Weg. Andererseits machte dieser Canthar keinen sehr vertrauenswürdigen Eindruck und wer konnte schon sagen, was er von mir verlangen würde? Wenn mich die Kolonie eins gelehrt hatte, dann, dass man solche Angebote nicht leichtfertig annahm.
    „Was für ein Gefallen soll das werden?“, fragte ich.
    „Nichts Großes“, versicherte der Händler rasch. „Ich brauche nur deine Aussage in einer kleinen Angelegenheit.“
    „Vergiss es“, sagte ich entschlossen. „Falschaussagen mache ich nicht.“
    Canthars Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wie du meinst“, zischte er und setzte mit einem Mal wieder ein freundliches Lächeln auf. „Du kannst mir den Schein natürlich auch abkaufen. Macht zehn Silberlinge.“

    „Unfassbar, diese Preise!“, dachte ich, während ich zwischen den Hügeln hindurch zu Lobarts Hof zurückging. Canthar hatte doch tatsächlich noch zwanzig Kupferlinge für die Pfanne verlangt. Erst die überteuerte Kleidung und jetzt auch noch zwanzig Kupferlinge für eine einfache Pfanne, die überdies auch nicht im besten Zustand zu sein schien – entweder es hatte während meiner Zeit in der Barriere eine Inflation gegeben oder auf dieser Insel wimmelte es von Wucherern.

    Ich gab Hilda die Pfanne und kaufte Lobart dann die Kleidung ab. Nun kehrte ich zu dem seltsamen Kerl mit der Augenklappe zurück, der noch immer zwischen den Bäumen stand und sich – da konnte er mir erzählen, was er wollte – vor den Torwachen versteckte. Ihm bot ich nun den Passierschein an.
    „Wat?! Jetz soll ick also so tun, als wenn ick n Bürjer der Stadt wär? Schau mi do ma an! Dat globt doch kejn Schwein.“
    „Aber es ist völlig egal, ob du Bürger bist, der Passierschein…“
    „Ne min Jung. Hast du kene andre Idee für mich?“
    „Ich hätte hier noch diese Kleidung für dich. Du könntest erzählen, dass du von Lobarts Hof hier kommst und in der Stadt irgendwas erledigen musst.“
    „Junge, dat isset! Jetarnd als einheimischer Bauerntölpel wird man mich nich mehr so leicht behellijen!“ Der Mann riss mir die Kleidung förmlich aus der Hand.
    „Was ist jetzt mit meiner Belohnung?“
    „Wat?“ Der Kerl hatte bereits begonnen, sich umzuziehen und sowohl seinen Dreispitz als auch den schweren Gürtel zu Boden geworfen. „Achjoa.“ Er zog einen kleinen Geldbeutel aus seinem Mantel hervor und zählte dreißig Kupfermünzen ab.
    „Das ist nicht dein Ernst, oder? Dreißig läppische Kupferlinge?“
    „Gold is nich allet min Jung! Nimm es! Und wer weiß? Vielleicht sehn wir uns ja noch ma und vielleicht kann ick mick dann noch ma erkenntlich zeijen.“ Und damit wandte der Kerl sich ab und fuhr damit fort, sich umzuziehen.
    Ich seufzte. „Was soll’s?“, dachte ich. Ärmer als vorher war ich ja auch nicht. Ich hatte nur den halben Tag umsonst für Lobart geschuftet.
    Geändert von Jünger des Xardas (24.10.2010 um 17:04 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Die Regeln der Stadt


    Vor der Stadtmauer befand sich ein kleiner Graben. Er war kaum einen Meter breit und noch weniger tief. Noch dazu war er stark überwuchert. Ich vermutete, dass er einst zum Schutz der Stadt gedient hatte, man ihn dann jedoch hatte verkommen lassen, weil er nicht mehr gebraucht wurde.
    Das Tor selbst wurde von zwei niedrigen Türmen flankiert, von denen es mehrere in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in der Mauer gab. Auf den Spitzen der Türme wehte die Fahne von Khorinis. Sie war in vier gleichgroße Vierecke unterteilt – zwei weiße und zwei rote. In der Mitte prangte das Wappentier der Stadt: Ein stolzer Greif, der auf drei Beinen stand und das vordere angehoben hatte.
    Eine kurze Zugbrücke führte über den Graben. Zwei Männer flankierten die Brücke. Sie trugen Waffenröcke in den Farben der Stadt und mit dem khoriner Greifen knapp unterhalb des ledernen Kragens. Dazu waren sie mit Kurzschwertern bewaffnet. Zweifellos waren dies die Stadtwachen von Khorinis. „Halt! Landstreicher kommen hier nicht rein“, sagte einer der beiden gelangweilt.
    „Auch nicht, wenn sie einen Passierschein haben?“, fragte ich und überreichte der Wache den Zettel.
    „Hm.“ Der Milizsoldat rümpfte die Nase und gab mir den Passierschein zurück. „Weiß zwar nicht, wie einer wie du da rankommt, aber…“
    „Aber fürs Fragenstellen werdet ihr nicht bezahlt.“
    Der Soldat blickte mich böse an. Dann gab er ein Grunzen von sich, was ich als Erlaubnis, zu passieren, deutete.

    Ich fand mich am Beginn einer langen, breiten Straße wieder. Offenbar handelte es sich um eine Art Hauptstraße. Zweistöckige Fachwerkhäuser säumten sie und zwischendurch zweigten immer wieder enge Gassen oder kleine Höfe von der Straße ab.
    Ein paar Meter zu meiner Rechten lag eine hohe, steinerne Mauer. Offenbar handelte es sich um eine innere Stadtmauer, die wohl ein anderes Viertel von diesem abtrennte. Eine kurze Treppe führte zu einem etwas größeren Tor als dem eigentlichen Stadttor hinauf. Auch die Türme, die das Tor flankierten waren etwas größer. Das Viertel hinter diesem Tor war zweifellos ein wichtiges. Doch schien die ganze Stadt schon auf den ersten Blick riesig und prächtig. Was ich sah, ließ sich von allen Städten, die ich bisher gesehen hatte, nur mit dem stolzen Laran vergleichen. Und dort war ich nur ein einziges Mal gewesen. Natürlich hatte ich schon vieles über Khorinis gehört. Die Handelsstadt war dank ihrer günstigen Lage zwischen dem Festland, dem Östlichen Archipel und den Südlichen Inseln und natürlich dank dem lukrativen Erzhandel zu einer der reichsten Städte des ganzen Königreichs geworden. Und auch zu einer der größten. Über zwanzigtausend Menschen lebten hier, hatte ich gehört. Damit war die Stadt gigantisch. Wahrscheinlich kamen ihr in ganz Myrtana nur die berühmten Städte Geldern, Montera, Laran und natürlich Vengard gleich. Selbstverständlich war es nicht das erste Mal, dass ich Khorinis betrat, doch bei meinem letzten Besuch hatte ich kaum mehr als den Hafen und den Kerker der Stadt kennengelernt und schon nach vier Nächten in letzterem war die Warenkarawane mit mir ins Minental aufgebrochen. Nun aber konnte ich die Stadt in all ihrer Größe und Pracht bestaunen.
    Ein Mann marschierte festen Schrittes auf mich zu. Er trug eine strahlende, silberne Rüstung, die in der Abendsonne rötlich schimmerte. Auf dem Kopf des Mannes saß ein eimerförmiger Helm mit hochgeklapptem Visier. Auf der Brust prangte ein rotes Kreuz auf weißem Grund. Die beiden Seitenarme neigten sich leicht nach oben. Je drei geschwungene rote Linien liefen von ihnen herab. In der Mitte des Kreuzes prangte ein goldener Schild, auf dem das Symbol Innos’ abgebildet war: Zwei stilisierte Hände, die zu einer Flamme beteten. Ich kannte diese prächtige, eindrucksvolle Rüstung. Und auch das Wappen, das auf ihrer Brust und auf dem Schild, den der Mann neben seiner Armbrust und seinem Langschwert trug, prangte, kannte ich. Auch wenn ich beides erst einmal, bei meinem Besuch in Laran, gesehen hatte, erkannte ich sofort Rüstung und Wappen des heiligen Ordens der Paladine.
    „Halt, Fremder!“, sagte der Ritter in gebieterischem Ton. „Ich bin Sir Lothar, Paladin des Königs und demütiger Diener Innos’, deines Herrn!“ Er hatte eine bellende Stimme, die besser auf einen Kasernenhof gepasst hätte. „Da du offensichtlich neu bist in der Reichsstadt Khorinis, werde ich dich über die neuen, kürzlich in Kraft getretenen Regeln der Stadt aufklären. Diese Regeln gelten für jeden, ohne Einschränkung und ihre Missachtung wird aufs schwerste bestraft.“
    Ich hatte keine Lust, mir irgendwelche Regeln anzuhören. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Ich musste mit dem Führer der Paladine sprechen und ganz offensichtlich hatte ich einen seiner Männer vor mir. „Hört zu“, sagte ich daher. „Ich habe keine Zeit für so etwas, ich muss in dringender Angelegenheit mit Lord Hagen sprechen.“
    „Der ehrenwerte Lord Hagen ist für niemanden zu sprechen“ bellte Lothar in soldatischem Ton. „Für alle Angelegenheiten des gemeinen Volks…“
    „Aber ich muss mit Lord Hagen sprechen! Die Stadt ist in großer Gefahr! Im Minental sammelt sich eine Armee unter der Führung von Drachen!“
    Was?! Das darf doch nicht wahr sein! Nicht noch so ein Spinner! Jetzt hör mir mal gut zu: Den letzten, der hier was von Drachen erzählt hat, habe ich direkt mit einem Strafkonvoi zurück ins Minental geschickt.“
    „Hier hat schon mal jemand von Drachen erzählt?“, fragte ich überrascht.
    „Ja, irgend so ein heruntergekommener Kerl. Wahrscheinlich ein ehemaliger Sträfling. Ich will solche Geschichten hier nicht mehr hören!“
    „Aber es ist die Wahrheit. Bitte, wenn Ihr nichts tut, werden sie die Insel überrennen. Ich muss mit Lord Hagen sprechen. Ich brauche das Auge Innos’.“
    „Was?“ Lothar schien förmlich zu explodieren. Ich war überrascht, wie rot ein Gesicht werden konnte. „Das heilige Auge Innos’! Unfassbar! Woher kennst du eines der höchsten Geheimnisse unseres Ordens?“
    „Äh… ein Magier hat mir davon erzählt.“
    „So?“ Lothar musterte mich misstrauisch. „Was immer seine Beweggründe gewesen sein mögen, dir ein so bedeutsames Geheimnis anzuvertrauen, er hatte sicher nicht im Sinn, dass du es trägst!“
    „Doch, ganz sicher!“
    Genug! Ich will nichts mehr davon hören. Ich werde dir jetzt die neuen Regeln der Stadt erklären und du wirst kein Wort mehr darüber verlieren, verstanden?“
    Ich seufzte. „Also gut, erklärt mir die Regeln der Stadt.“
    „Erstens“, donnerte Lothar in seinem Kasernenton. „Der ehrenwerte Lord Hagen von Vengard, Großmeister des heiligen Ordens der Paladine, wurde für die Dauer seines Aufenthalts auf den Khorinseln zum Lordprotektor der Insel Khorinis ernannt. Der Statthalter Larius wurde für diese Zeit seines Amtes enthoben. Der Lordprotektor residiert nun mit seinen Paladinen im Rathaus von Khorinis. Deshalb ist der Zutritt zum Rathaus nur Mitgliedern des heiligen Ordens der Paladine, Angehörigen der Miliz, den Magiern vom Kreis des Feuers und Leuten mit einer von den Paladinen ausgestellten Sonderbefugnis gestattet. Zweitens: Zum Schutz der im Oberen Viertel residierenden Paladine und der dort ansässigen Bürger der Stadt vor den zunehmenden Diebstählen, dem mysteriösen Verschwinden von Bürgern und zwielichtigen Individuen ist der Zutritt zum Oberen Viertel nur noch den heiligen Streitern, den Magiern des Feuers, den Soldaten der Miliz und den Bürgern der Stadt erlaubt. Drittens: Für die Dauer des Aufenthalts der Paladine in der Reichsstadt Khorinis wurde der königliche Richter seines Amtes enthoben. Der ehrenwerte Lord Andre Ukara hat für diese Zeit das Amt des Richters und die Führung der Miliz übernommen. Wer sich eines Verbrechens schuldig macht, wird sich vor ihm verantworten müssen. Er ist weiterhin für alle Fragen und Bittstellungen des gemeinen Volks zuständig. Noch Fragen?“
    „Ja: ist das dort das Obere Viertel?“ Ich deutete auf das Tor zu meiner Rechten. Es wurde von zwei Paladinen flankiert, die dieselben Rüstungen und Waffen wie Lothar trugen.
    Dieser kochte wieder vor Wut. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?!“, donnerte er aufgebracht. „Du bist kein Bürger dieser Stadt, also erhältst du auch keinen Zutritt zum Oberen Viertel!“
    „Schon gut, schon gut. War ja nur ne Frage. Dann sagt mir, wo ich diesen Lord Andre finde, wenn er für das gemeine Volk zuständig ist.“
    „Der ehrenwerte Lord Andre hat sein Quartier in der Kaserne der Miliz bezogen. Du findest sie auf der anderen Seite der Stadt.“
    „Okay. Und kann ich hier irgendwo auch schlafen?“
    „Ja, in der Herberge „Zum schlafenden Geldsack“, gleich gegenüber der Kaserne. Die Paladine kommen für die ordentliche Unterbringung aller Reisenden auf.“
    „Gut und könnt Ihr mir noch sagen, wie ich zum Tempelplatz komme?“
    „Folge einfach der inneren Stadtmauer. Am Tempelplatz findest du den Innostempel der Stadt. Dort kannst du der heiligen Kirche deine Spenden entrichten.“
    „Danke, das war alles, was ich wissen wollte.“
    „Gut. Aber wehe, mir kommt zu Ohren, dass du hier noch einmal etwas über Drachen erzählst. Die Leute sind beunruhigt genug. Wir können niemanden brauchen, der das Volk mit Märchen über Drachen aufwiegelt!“
    Damit stiefelte Lothar in Richtung Oberes Viertel davon. Ich machte mich derweil auf den Weg zum Tempelplatz, indem ich einer schmalen Straße zwischen der inneren Stadtmauer und den Häusern zur Rechten der Hauptstraße folgte.
    Geändert von Jünger des Xardas (26.04.2011 um 16:57 Uhr)

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    Der Ring des Wassers


    Ich gelangte auf einen großen Platz. Auf der einen Seite erhob sich ein stolzer Innostempel. Wie alle Tempel des Feuergottes, bestand er aus einem großen, länglichen Raum und einem runden, mit flacher goldener Kuppel, sodass er aus der Luft gesehen die Form seines Symbols hatte. Auf der anderen Seite stand ein kleiner Tempel Adanos’, wie man sie in der einen oder anderen Stadt, vor allem in Hafenstädten, fand. Er bestand aus einer kleinen, weißen Kuppel, die sich an die innere Stadtmauer schmiegte und vorne von zwei weißen Säulen gehalten wurde. Darunter stand ein kleiner Altar. Zwischen den Säulen stand ein Mann in weiter, blauer Robe, die mit Wellenmustern bestickt war. Zu Füßen des etwas erhöht gebauten Tempels standen einige Leute und hörten dem Wassermagier zu, der gerade eine Predigt hielt. Ich mischte mich unter sie und lauschte seiner ruhigen, freundlichen Stimme.
    „AM ANFANG ERSCHIEN RA UND WANDELTE DURCH DIE WEITEN DES MORGRAD. DOCH DER MORGRAD WAR WÜST UND LEER. DA TEILTE RA SICH UND ES ENTSTANDEN DIE DREI GÖTTER:
    INNOS, DER FLAMMENDE, BRACHTE DAS LICHT, DIE SONNE UND DEN TAG. SEIN ELEMENT WAR DAS FEUER. ER BRACHTE ORDNUNG UND HERRSCHAFT, GESETZ UND GERICHTSBARKEIT.
    BELIAR, DER DUNKLE, BRACHTE DIE DUNKELHEIT, DEN MOND UND DIE NACHT. SEIN ELEMENT WAR DIE ERDE. ER BRACHTE CHAOS UND ANARCHIE, TOD UND ZERSTÖRUNG.
    ADANOS ABER WAR DIE WAAGSCHALE DER GERECHTIGKEIT. SEIN ELEMENT WAR DAS WASSER, SEINE GABEN DAS LEBEN UND DIE FREIHEIT. ER WAR DER GOTT DER MITTE.
    UND BELIAR UND INNOS BEGANNEN, DEN MORGRAD NACH IHREN VORSTELLUNGEN ZU FORMEN UND IHRE GABEN ZU VERBREITEN.
    ABER DAS LICHT WAR EINE QUAL FÜR BELIAR UND ALLES, WAS INNOS ERSCHUF, WURDE VON BELIAR ZERSTÖRT. ADANOS ABER SAH, DASS SO NICHTS SEIN KONNTE, KEIN LICHT UND KEINE DUNKELHEIT. UND SO STELLTE ER SICH ZWISCHEN SEINE BRÜDER, UM IHREN STREIT ZU SCHLICHTEN. UND ES GELANG IHM NICHT.
    ABER DORT, WO ADANOS STAND, WARD EIN ORT, AN DEM INNOS UND BELIAR KEINE MACHT HATTEN. UND AN DIESEM ORT WAREN ORDNUNG UND CHAOS ZUGLEICH. UND SO WARD DAS MEER ERSCHAFFEN.
    UND DAS MEER GAB DAS LAND FREI. UND ES ENTSTANDEN ALLE WESEN – BÄUME WIE TIERE, WÖLFE WIE SCHAFE – UND ZULETZT ENTSTAND DER MENSCH.
    UND ADANOS GEFIEL, WAS ENTSTANDEN WAR UND ER ERFREUTE SICH AN ALLEN WESEN GLEICHERMASSEN.
    ABER SO GROSS WAR DER ZORN BELIARS, DASS ER ÜBER DAS LAND KAM UND DAS TIER ERWÄHLTE. UND BELIAR SPRACH ZU IHM UND DAS TIER WARD IHM UNTERTAN. UND BELIAR VERLIEH IHM EINEN TEIL SEINER GÖTTLICHEN MACHT, AUF DASS ES DAS LAND ZERSTÖRE.
    ABER INNOS SAH, WAS GESCHEHEN WAR UND AUCH ER BETRAT DAS LAND. UND ER ERWÄHLTE DEN MENSCHEN. UND INNOS SPRACH ZU IHM UND DER MENSCH WARD IHM UNTERTAN. UND INNOS VERLIEH IHM EINEN TEIL SEINER GÖTTLICHEN MACHT, AUFDASS ER DEM WIRKEN BELIARS EINHALT GEBIETE.
    UND BELIAR SPRACH ZU EINEM WEITEREN WESEN. ABER ADANOS LIESS DIE FLUT KOMMEN UND DAS WESEN WURDE FORTGESPÜLT VON DER ERDE. ABER MIT IHM FORTGESPÜLT WURDEN BÄUME UND TIERE UND ADANOS ÜBERKAM EINE TIEFE TRAUER.
    UND SO SPRACH ADANOS ZU SEINEN BRÜDERN: „NIE MEHR SOLLT IHR MEIN LAND BETRETEN. DENN ES IST HEILIG. UND SO SOLL ES SEIN.“
    ABER DER MENSCH UND DAS TIER FÜHRTEN KRIEG AUF DEM LAND ADANOS’ UND DER ZORN DER GÖTTER WAR MIT IHNEN. UND DER MENSCH ERSCHLUG DAS TIER UND ES GING EIN IN BELIARS REICH.
    ADANOS ABER SAH, DASS ORDNUNG UND CHAOS NUN UNGLEICH WAREN UND ER BAT INNOS, DEM MENSCHEN SEINE GÖTTLICHE MACHT ZU NEHMEN.
    UND INNOS, IN SEINER WEISHEIT, TAT ES.
    ABER ADANOS FÜRCHTETE SICH VOR DEM TAG, AN DEM DAS TIER AUF DAS LAND ZURÜCKKEHREN WÜRDE. UND SO BAT ER INNOS, JENEN TEIL SEINER MACHT IN SEINEM REICHE ZU BELASSEN, AUF DASS ER SIE DEM MENSCHEN WIEDERGEBE, FALLS DAS TIER ZURÜCKKEHREN SOLLTE.
    UND INNOS, IN SEINER WEISHEIT, TAT ES.
    UND SO DAUERT DER KRIEG FORT, BIS ZUM HEUTIGEN TAGE.“
    Der Magier hatte seine Predigt beendet. Während sich die Menschen zerstreuten, stieg ich die wenigen Stufen zum Tempel hinauf.
    „Was kann ich für dich tun, mein Sohn?“, fragte der alte Magier freundlich. Er hatte dunkle Haut. Auf seinem Kopf sprossen keine Haare mehr. Lediglich an den Seiten und an seinem Kinn wuchs schneeweißes Haar hervor. Er hatte ein schmales Gesicht und eine große Hakennase. Zwei freundliche Augen, die weit jünger schienen als der Rest des Körpers und zugleich weit älter, blickten mich aus dem faltigen Gesicht an.
    „Seid Ihr Vatras, der Wassermagier?“
    „Der bin ich, mein Sohn.“
    „Dann habe ich hier eine Nachricht.“
    „Eine Nachricht?“ Vatras runzelte die Stirn, als er den Brief entgegennahm. Er warf einen Blick auf das Siegel, dann brach er es und las den Brief. Schließlich ließ er ihn in seine Robe gleiten. „In der Tat, mein Sohn, das war eine äußerst wichtige Nachricht, die du mir da überbracht hast. Ich danke dir, doch frage ich mich, wie sie in deine Hände gelangte.“
    „Ich habe sie von Cavalorn, dem Jäger. Er meinte, ich soll dir ausrichten, dass er es nicht mehr geschafft hat und schon zum Treffpunkt aufgebrochen ist.“
    „Hm, ich verstehe.“, murmelte Vatras und rieb sich den Bart. „Nun“, er richtete das Wort wieder an mich, „du genießt offensichtlich Cavalorns Vertrauen, das spricht für dich. Wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann, lasse es mich wissen.“
    „Ich würde mich gerne dem Ring des Wassers anschließen.“
    Vatras zuckte nicht einmal mit der Wimper, angesichts der Tatsache, dass ich von dem Geheimbund wusste. Stattdessen lächelte er. „Nun, dann hast du ja bereits eine der Vorraussetzungen erfüllt.“
    „Wie? Ich verstehe nicht.“
    „Nun, du hast jemanden in den Reihen des Rings gefunden, der dir vertraut, denn sonst wüsstest du nicht von seiner Existenz. Ich nehme an, es ist Cavalorn, der dir davon erzählt hat?“ Ich nickte. „Warum, wenn ich fragen darf, besitzt du sein Vertrauen, sodass er dir von unserem Geheimbund erzählt?“
    „Ich… kenne ihn von früher…“
    „Soso.“ Vatras lächelte verschmitzt. „Nun, Cavalorn vertraut dir, doch ich weiß gar nichts über dich. Wenn du in den Ring aufgenommen werden willst, halte ich es für das Beste, wenn du mir zuerst etwas von dir erzählst.“
    „Kein Problem, was willst du wissen?“
    „Du scheinst fremd hier zu sein. Du könntest mir zunächst einmal erzählen, weshalb du in die Stadt gekommen bist.“
    „Ich habe eine wichtige Botschaft für Lord Hagen.“
    „So?“ Vatras runzelte die Stirn. „Was ist dies für eine Botschaft?“ Ich zögerte. Ich dachte an Lothars Warnung. Und außerdem: Würde Vatras mir glauben? Ich beschloss, zwar nicht zu lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit zu sagen.
    „Es werden bald schreckliche Dinge passieren.“
    „Soso, schreckliche Dinge also. Hm. Woher willst du das so genau wissen?“
    „Ich…“ Xardas hatte mir eingebläut, niemandem von ihm zu erzählen. „…hab es irgendwo aufgeschnappt.“
    „Aufgeschnappt“, murmelte Vatras. „Und du bist gekommen, um den Paladinen davon zu berichten? Wer bist du überhaupt?“
    „Ein Abenteurer aus dem Süden“, war das erste, was mir einfiel. Dass ich ein ehemaliger Gefangener war, konnte ich ihm schlecht erzählen.
    „Verstehe. Nun, fassen wir einmal zusammen: Du bist also ein Abenteurer aus dem Süden, der irgendwo aufgeschnappt hat, dass bald schreckliche Dinge geschehen werden und bist nun gekommen, um den Paladinen davon zu berichten.“ Vatras blickte mich scharf über seine große Hakennase hinweg an. Erst jetzt merkte ich, wie unglaubhaft das alles klang. „Ich glaube, du verschweigst mir etwas.“ Es war eine Feststellung. In Vatras Stimme lag kein Zorn oder Ärger. „Falls du Sorge haben solltest, dass ich etwas von dem, was du mir erzählst, nicht für mich behalte, so kann ich dich beruhigen. Ich habe geschworen, alle Geheimnisse, die mir anvertraut werden, zu bewahren.“
    Ich seufzte. „Also gut.“
    „Dann fangen wir noch einmal von vorne an. Was ist das für eine Botschaft, die du Lord Hagen überbringen möchtest?“
    „Im Minental sammelt sich eine Armee – unter der Führung von Drachen.“
    „Drachen?“ Vatras schien außerordentlich gefasst. „Seit Hunderten von Jahren hat niemand mehr einen vom Ältesten Volk zu Gesicht bekommen. Was macht dich da so sicher?“
    „Xardas hat es mir verraten“, erklärte ich nach kurzem Zögern.
    „Der Dämonenbeschwörer. Er lebt also“, murmelte Vatras. „Und er hat dir gesagt, dass Drachen gekommen sind? Wer bist du wirklich?“
    „Ein ehemaliger Gefangener der Barriere.“
    „Ja, das würde erklären, woher du Xardas und Cavalorn kennst. Hm. Also du bist ein ehemaliger Gefangener, der von Xardas, dem Dämonenbeschwörer erzählt bekommen hat, dass Drachen gekommen sind und der nun Lord Hagen davon berichten will. Das klingt alles sehr abenteuerlich, aber ich kann nicht erkennen, dass du mich anlügst. Du scheinst die Wahrheit zu sprechen.“
    „Heißt das, ich kann jetzt beim Ring mitmachen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
    Vatras lächelte. „Nicht so schnell, nicht so schnell. Du sollst deine Chance bekommen. Doch eine Mitgliedschaft im Ring ist auch mit großer Verantwortung verbunden. Ich bin nicht gewillt, jeder Bitte nach Aufnahme Folge zu leisten.“
    „Gut, das kann ich verstehen. Aber darf ich nun etwas mehr über den Ring erfahren? Cavalorn war diesbezüglich nicht sehr gesprächig.“
    „Und daran hat er auch gut getan, aber nun, da ich bereit bin, dich auf die Probe zu stellen, bin ich auch bereit, dir mehr über den Ring zu erzählen. Sei dir jedoch im Klaren, dass du als Anwärter noch nicht alles über uns erfahren darfst. Ich werde jedoch all deine Fragen beantworten, soweit ich es vermag.“
    „Gut, also was genau ist der Ring?“
    „Der Ring ist ein Geheimbund, der einst von uns, den Magiern des Wassers, ins Leben gerufen wurde. Dies geschah vor rund dreißig Jahren, nach dem großen Varantkrieg. Wie du sicher weißt, wurde dieser Krieg zwischen den Armeen König Rhobars und des Kalifen Zuben ausgetragen. Unser Volk aber, das Volk der Nomaden, stand zwischen den Fronten. Als Rhobar die Städte Varants unterwarf, machte er uns Wassermagiern ein Angebot: Wir mussten unser Volk verlassen und nach Myrtana kommen. Dort mussten wir dem myrtanischen König die Treue schwören, konnten uns dafür aber frei in Myrtana bewegen. Im Gegenzug versprach Rhobar, unser Volk unbehelligt zu lassen, ihm zu gestatten, weiter durch die Wüste zu ziehen und es nicht zu unterjochen wie die Menschen der Städte. Wir gingen auf dieses Angebot ein und kamen nach Myrtana, wo wir nach kurzer Zeit den Ring des Wassers gründeten.“
    „Und wofür? Was ist die Aufgabe des Rings?“
    „Die Bewahrung des Gleichgewichts. Es ist, wie du es in meiner Predigt gehört hast: Erst als sich Adanos zwischen seine Brüder stellte und so einen Ort schuf, an dem Ordnung und Chaos zugleich waren, konnte überhaupt Leben entstehen. Adanos ist der einzige, der dies erkannt hat. Innos und Beliar führen ihren zerstörerischen Krieg, doch keiner der beiden darf jemals gewinnen. Ein Sieg würde den Verlust der Freiheit auf der einen oder aber das todbringende Chaos auf der anderen Seite bedeuten. Stelle dir eine Welt in absoluter Ordnung oder aber in vollkommenem Chaos vor. Denke dir einen ewigen Tag oder eine ewige Nacht. Nichts kann sein, wenn kein Gleichgewicht der Kräfte herrscht. Deshalb ist Adanos der Gott der Mitte, die Waagschale der Gerechtigkeit. Er versucht, das Leben zu bewahren, indem er das Gleichgewicht aufrecht erhält und nicht zulässt, dass eine der beiden Seiten den Sieg davonträgt. Wir, als Priester Adanos’, versuchen, dasselbe zu tun und das Gleichgewicht dieser Welt zu bewahren. Das Gleichgewicht zwischen Innos und Beliar kann freilich nur Adanos selbst bewahren und der Krieg der Götter wird von den Avataren und Erwählten ausgetragen. Hier rauf nehmen wir nur wenig Einfluss. Doch es ist ebenso wichtig, ein Gleichgewicht im Kleinen, unter den Geschöpfen dieser Welt zu schaffen. Denn ohne das Kleine kann das Große nicht sein. Deshalb tun die Priester Adanos’, was in ihrer Macht steht, um das Gleichgewicht dieser Welt zu bewahren. Die Druiden schaffen ein Gleichgewicht in der Natur, wir Wassermagier bemühen uns um ein Gleichgewicht in der Gesellschaft. Den Druiden helfen dabei die Waldläufer, uns Wassermagiern hilft der Ring des Wassers.“
    „Verstehe. Aber geht’s nicht vielleicht etwas konkreter? Ich kann mir noch nicht ganz vorstellen, was der Ring tut.“
    „Nun, nehmen wir die Zeit nach dem Varantkrieg. Es waren schwere Zeiten. Der Krieg hatte einfach zu lange gedauert. Alle jungen Burschen Myrtanas waren eingezogen worden. Vor allem die Bauernsöhne. Auf den Höfen und Gehöften Myrtanas fand man nur noch Weiber und Greise. Es war niemand mehr da, um die Felder zu bestellen. Die Söhne der Bauern waren den vergifteten Schwertern der Assassinen oder der unbarmherzigen Sonne der Wüste zum Opfer gefallen. Hinzu kam, dass die Steuern während des Krieges immer weiter angestiegen waren. Und dann kam auch noch ein besonders harter Winter, der auf den Krieg folgte. Es gab zahlreiche Aufstände. Auch in Varant stand es schlecht. Bei weitem nicht alle Assassinen waren gefallen und auch von den übrigen Wüstenbewohnern, gleich ob Nomaden oder Bewohner der Städte, wollten nicht alle Myrtanas Herrschaft akzeptieren. Auch hier gab es Aufstände. Dies war damals der Grund für uns, den Ring zu schaffen. Wir haben uns bemüht, den Hungernden zu helfen und eine Senkung der Steuern zu erreichen. Wir haben uns bemüht, dass es den Menschen Varants unter der myrtanischen Herrschaft nicht allzu schlecht ging. Später, als Rhobar in Nordmar einmarschierte, konnten wir ihn davon überzeugen, nur die große Mine des Nordens zu besetzen, nicht aber die Dörfer der Klans. Während des Orkkrieges konnten wir einen Bauernaufstand, wegen der abermals steigenden Steuern, abwenden. Außerdem hatten wir auch Mitglieder in den von den Orks besetzten Gebieten, die mit uns in Kontakt blieben. Wir versuchten auf diese Weise, das Leben für die Menschen unter der Herrschaft der Orks erträglicher zu machen. Zurzeit versucht der Ring hier auf Khorinis gerade, auf die Paladine und den Großbauern einzuwirken und es nicht zu einer Eskalation im Bauernaufstand kommen zu lassen. Weiterhin versuchen wir, der Bedrohung durch die Banditen Herr zu werden.“
    „Und wie macht der Ring das alles?“
    „Nun, du darfst keine falschen Vorstellungen von unserer Gemeinschaft bekommen. Der Ring ist für den Kreis des Wassers nicht, was die Paladine für den Kreis des Feuers sind. Die Mitglieder des Rings sind keine Kämpfer, zumindest sind kämpferische Fähigkeiten nicht von Nöten. Vielmehr nutzen wir die Kinder des Rings als Boten und Informanten, aber auch um Einfluss auszuüben. Du musst wissen, dass die Kinder des Rings zahlreich sind. Und wir haben Mitglieder in den verschiedensten Schichten und Gruppierungen. Hier auf der Insel beispielsweise gibt es Bürger der Stadt, Jäger, Bauern, aber auch Soldaten der Miliz und Söldner des Großbauern, die dem Ring angehören. Auf diese Weise verfügen wir über weitreichende Beziehungen. Wir sind so immer gut über die aktuellen Geschehnisse informiert und können möglichen Bedrohungen des Gleichgewichts effektiv entgegenwirken. Doch damit wir unsere Aufgabe erfüllen können, ist es von äußerster Wichtigkeit, dass der Ring geheim bleibt.“
    „Verstehe. Ich werde nichts ausplaudern. Ich denke auch, ich habe fürs erste genug gehört. Was muss ich jetzt tun, um beim Ring aufgenommen zu werden?“
    „Du musst etwas zur Erhaltung des Gleichgewichts tun.“
    „Ich habe den Schläfer besiegt und die Barriere zerstört.“
    Vatras zog die Augenbrauen hoch. „Die anderen Magier des Wassers berichteten mir von jener Kreatur, die man Schläfer nannte. Sie erzählten mir zahlreiche Geschichten über dieses Wesen, sowohl, dass es in der Minenkolonie von einigen als Gott verehrt wurde, als auch, dass es sich möglicherweise um einen Erzdämonen gehandelt haben könnte. Jedoch konnten sie nicht mit Sicherheit sagen, ob eine solche Kreatur jemals wirklich existierte. Und dass allein deine Hand seine Verbannung herbeigeführt haben soll, ist mir nicht geläufig. Auch von der Vernichtung der Barriere – welche im Übrigen auch ein großes Ungleichgewicht verursachte – habe ich nicht gehört, dass sie dein Werk gewesen sein sollte.“ Er blicke mich nachdenklich an. „Ich kann keine Lüge in deinen Augen erkennen. Du scheinst aus voller Überzeugung zu sprechen. Jedoch bin ich mir nicht sicher, dass meine Sinne mich nicht auf meine alten Tage täuschen. Nein, ich denke, es ist besser, wenn ich dir eine Aufgabe gebe.“
    „Also gut, was soll ich tun?“
    „Ein großes Rätsel beschäftigt die Stadt dieser Tage: In den letzten Wochen sind immer wieder Bürger der Stadt auf mysteriöse Weise verschwunden. Niemand weiß, was geschehen ist, doch es ist sehr beunruhigend. Wir haben bereits einige Kinder des Rings gebeten, die Augen offen zu halten, doch anscheinend reicht dies nicht aus. Ich möchte, dass du herausfindest, wer oder was für das Verschwinden der Bürger verantwortlich ist und wo sie jetzt sind.“
    „In Ordnung. Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte?“
    „Nur, dass die meisten Menschen am Hafen verschwunden sind. Es waren einige Fischer darunter. Mehr wissen wir bis jetzt nicht. Aber vielleicht solltest du dich am Marktplatz, in der Kaufmannsgasse, in den Kneipen oder bei der Miliz umhören. Ansonsten könntest du mit meinem Vertrauten, Lares, sprechen. Du solltest ihn am Hafen finden.“
    „Lares? Etwa der Lares?!“
    Vatras schmunzelte. „Ja, der Lares. Ich nehme an, du kennst ihn aus der Barriere?“ Ich nickte. „Gut. Du solltest so bald als möglich mit deinen Untersuchungen anfangen. Wir müssen herausfinden, was da vor sich geht. Du solltest jedoch auch Lord Hagen deine Botschaft überbringen. Ich halte dies für sehr wichtig.“
    Ich nickte. „Ich werde tun, was ich kann.“
    „Ach, eins noch, mein Sohn.“ Vatras zog etwas aus seiner Robe und gab es mir. Es war ein steinernes Stück eines alten, offenbar zerbrochenen Ornaments. „Bringe dies bitte zu meinem Vertrauten, Lares. Sage ihm, es muss zurückgebracht werden. Er wird wissen, was zu tun ist.“ Ich nickte und steckte das Ornament ein. „Adanos möge dich behüten“, verabschiedete Vatras mich.
    Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 14:17 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Zur fröhlichen Mastsau


    Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden. Nur ein blasser, violetter Schimmer war noch am ansonsten schwarzen Nachthimmel geblieben.
    Auf der anderen Seite des Tempelplatzes erhob sich ein großes, aber recht niedriges Fachwerkhaus. Über der Tür hing ein Schild. Darauf war ein fettes, über beide Ohren grinsendes Schwein mit einer weißen Serviette um den Hals abgebildet. Darunter stand in abblätternden Goldlettern „Zur öhlichen Mast au“ Dies war sie also, die Kneipe, in der wir uns eine Woche nach dem Fall der Barriere hatten treffen wollen. Ich wusste, dass ich das Treffen, ebenso wie Lester, lange verpasst hatte. Dennoch beschloss ich, etwas trinken zu gehen. Ich hatte seit einer halben Ewigkeit kein Bier mehr getrunken. Und vielleicht wusste der Wirt ja etwas, was mir weiterhalf. Wirte bekamen erfahrungsgemäß immer einiges mit.
    So betrat ich also die Schänke. Das erste, was mir auffiel, war, dass es für diese Zeit ausgesprochen leer war. Die Kneipen, die ich gekannt hatte, waren abends immer recht gut besucht gewesen. In dieser jedoch hielten sich momentan nur zwei Gäste auf. Beide waren recht ansehnlich gekleidet.
    Ich setzte mich an den Tresen, gleich links des Eingangs. Ein Wirt in einer weißen Schürze kam auf mich zu. „Willkommen in der fröhlichen Mastsau, Fremder. Ich bin Coragon, der Wirt dieser Schänke.“
    „Und krieg ich hier was zu trinken?“
    Coragon grinste. „Wenn du Geld hast, kannst du hier sogar was essen.“ Ich bestellte mir ein Bier und etwas Eintopf. Als der Wirt mir beides gebracht hatte, nahm ich einen großen, erfrischenden Zug von dem Bier. Khorana Gold, das beste Bier, das auf den Khorinseln zu finden war.
    „Nicht grad sehr voll hier“, stellte ich fest. Coragon, der inzwischen einen großen Humpen mit einem Lappen ausputzte, seufzte.
    „Das war nicht immer so, aber es sind schlechte Zeiten.“
    „Wieso, was ist los?“
    „Abgesehen von einem Krieg, der schon über ein Jahrzehnt dauert, einem Bauernaufstand und der Tatsache, dass seit drei Monaten kein Schiff mehr angelegt hat – außer dem der Paladine natürlich? Und jetzt lässt Lord Andre auch noch Freibier am Galgenplatz ausschenken.“ Der Wirt seufzte.
    „Wieso das?“, wollte ich wissen.
    Coragon zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, die Paladine wollen sich bei den Bürgern beliebt machen und für gute Stimmung sorgen. Sie zahlen ja auch sämtliche Hotelrechnungen. Wahrscheinlich, um sich mit den fahrenden Händlern gutzustellen. Ohne die Bauern ist die Stadt auf sie angewiesen. Na wie dem auch sei. Selbst ohne das Freibier sähe es hier nicht viel besser aus. Der Geldbeutel hängt bei den Leuten einfach nicht mehr so locker wie früher. Jetzt kommen hier nur noch wenige her – einige von den Handwerksmeistern aus der Unterstadt und ein paar von den feinen Pinkeln aus dem Oberen Viertel. Mann, du hast ja keine Ahnung, wie dir diese Kerle mit der Zeit auf den Geist gehen!“
    Ich grinste mitleidig und nahm einen weiteren Schluck. „Was machen die Paladine sonst so?“
    „Das frag ich mich auch. Keiner weiß so recht, warum sie hier sind. Einige fürchten einen Angriff der Orks, andere denken, sie seien wegen der Minenkolonie hier. Aber sie kamen knapp eine Woche vor dem Fall der Barriere an. Erwählter Innos’ hin oder her, ich glaube kaum, dass Rhobar hellsehen kann.“
    „Aber sie müssen doch irgendetwas getan haben, seit sie hier sind.“
    „Ja, sie machen viel, meistens sich wichtig. Ich weiß nur, dass sie hier mit ihrem Schiff, der Esmeralda angekommen sind und das Kommando über die Insel an sich gerissen haben. Das mit der Esmeralda ist so ne Sache. Khorinis ist eine der reichsten und größten Hafenstädte des Reiches – oder war es zumindest mal. Glaub mir, wir hier wissen, wie ein Schiff auszusehen hat. Die Esmeralda ist ein eher kleines Kriegsschiff. Keine Nussschale, aber eine von den ganz großen Kriegsgaleonen sieht anders aus. Dass die Paladine mit so einem kleinen Schiff ankommen, ist ziemlich verwunderlich. Und dann sind es ja auch nicht ein paar Paladine, es sind hundert Stück. Und ein paar Knappen hatten sie natürlich auch dabei. Und ihr Anführer, Lord Hagen, das ist der Großmeister persönlich. Wenn du mich fragst, muss die Lage ziemlich verzweifelt sein, wenn der mit so vielen Männern in einem so kleinen Schiff hierher kommt.“ Er seufzte. „Aber dass der Krieg schlecht steht, wissen wir ja bereits. Es ist sicher kein Zufall, dass keine Schiffe mehr kommen. Nun, die Paladine haben sich jedenfalls am Hochseehafen breit gemacht und da ihr Proviantlager aufgebaut. Der Rest von ihnen ist ins Obere Viertel marschiert und sitzt jetzt im Rathaus. Den Statthalter, den Richter und den gesamten Stadtrat haben sie erst mal entmachtet.“ Er lachte. „Wenn du mich fragst, das einzig gute, was die Kerle zustande gebracht haben. Diesen aufgeblasenen Bürokraten kann das nur gut tun. Nun, Hagen hat sich jedenfalls zum Lordprotektor ausgerufen. Lord Andre hat das Amt des Richters übernommen – und die Führung der Miliz. Er war natürlich schon vorher da, aber da unterstand er dem Statthalter.“
    „Er war schon vorher da?“
    „Ja, abgesehen von den hundert, die vom Festland kamen, hatten wir schon zwei Dutzend Paladine in der Stadt. Sie sollten die Stadt vor möglichen Orkangriffen schützen. Klar, mit Khorinis hätte der König auch das Erz verloren. Nun, diese zwanzig Paladine wurden jedenfalls von Lord Andre geführt, aber er unterstand wiederum Statthalter Larius. Lord Andre ist übrigens einer von den Ukaras.“
    „Ukaras?“
    Coragon blickte mich verwundert an. „Mann, wo lebst du? Du musst doch die Familie Ukara kennen!“
    „Ich… bin nicht aus der Stadt.“
    „Egal, selbst die Bauern kennen die Ukaras.“
    „Ich lebe noch nicht so lange auf der Insel…“
    „Hm.“ Coragon musterte mich misstrauisch. „Na, was soll’s? Also, die Ukaras sind eine der wohl ältesten Familien auf Khorinis, wenn nicht die älteste. Schon unter den ersten Siedlern vom Festland war ein Ukara. Sie sind ein altes Kämpfergeschlecht. Sie alle haben den Herren von Khorinis, später auch einige von ihnen wie Andre Innos als Paladine gedient. Du musst doch zumindest von den Brüdern Dietmar und Asub Ukara gehört haben, die im ersten Khoriniskrieg gefallen sind. Oder von Serano Ukara, der den Turm bewachte. Der größte unter den Ukaras war natürlich Iotar Ukara, der die Insel heldenhaft gegen die myrtanischen Eroberer verteidigte.“
    „Sind mir kein Begriff“, gab ich zu.
    Coragon schüttelte den Kopf. „Hat man so was schon erlebt? Kennt nicht mal die Ukaras. Tse.“
    „Ist doch egal. Erzähl mir lieber weiter von den Paladinen.“
    „Viel mehr gibt’s da nicht zu erzählen. Lord Hagen sitzt sich seinen Hintern jetzt im Rathaus platt, Lord Andre in der Kaserne. Vor etwas über drei Wochen sind ungefähr fünfzig von ihnen unter der Führung von Hagens rechter Hand Garond ins Minental aufgebrochen.“
    „Weißt du, was sie da wollten?“
    „Nein, aber sie haben viel Proviant, einige Waffenknechte und alle Sträflinge, die im Kerker von Khorinis saßen, mitgenommen. Sie sind bis jetzt nicht wiedergekommen, aber es heißt, sie hätten den Pass gesperrt. Viel mehr haben die Kerle bis jetzt nicht gemacht. Die Paladine in der Stadt sitzen eher tatenlos rum. Nur die Milizen, die werden immer dreister. Glauben, sie könnten sich alles erlauben. Aber die korrupten Idioten lassen sich schmieren oder betrinken sich am Freibierstand und währenddessen häufen sich die Diebstähle und verschwinden die Bürger.“
    „Davon hab ich gehört. Man sagt, es seien einige Leute einfach verschwunden.“
    „Ja, das stimmt. Brian, der Lehrling von Harad, dem Schmied, kommt ab und zu in meine Kneipe. Er erzählte, dass Thorben der Tischler seinen Lehrling Elvrich vermisst. Und ich habe gehört, dass auch der Waffenhändler Hakon irgendwen kennt, der verschwunden ist. Und Bartok, der Jäger, soll seinen Kumpel verloren haben. Aber ich weiß nicht allzu viel über die ganze Geschichte. Hier kommen ja auch nur noch die reichen Erzsäcke vorbei, was sollen die schon wissen? Gerüchten zufolge sind am Hafen einige verschwunden. Kein Wunder, bei der zwielichtigen Gegend. Ich bin ziemlich sicher, dass die Leute da unten mehr wissen.“
    „Hm.“ Ich nahm einen kräftigen Schluck von meinem Bier. Wir schwiegen eine Weile. Coragon putzte weiter den großen Humpen mit seinem Lappen.
    Nach einer Weile hatte ich meinen Eintopf aufgegessen und brach das Schweigen. „Sag mal, erinnerst du dich an deine Kundschaft?“
    „Kommt drauf an, wie auffällig die Leute sind“, sagte Coragon grinsend. „Na ja, in letzter Zeit kommt ja kaum noch jemand. Und die meisten, die kommen, sind Stammkunden.“
    „Nun, ich suche ein paar Freunde. Sie sind wohl eher keine Stammkunden von dir, aber sie müssten kürzlich hier gewesen sein. So vor drei Wochen, schätze ich.“
    „Drei Wochen?! Und daran soll ich mich erinnern? Mann, ich hab auch noch anderes zu tun als mir zig Gesichter zu merken.“
    „Sie dürften eigentlich recht auffällig gewesen sein.“
    „Hm, ich kann ja mal versuchen, mich zu erinnern. Wie sehen sie aus?“
    „Also, es müssten drei Männer und eine Frau gewesen sein. Der eine hatte wahrscheinlich einen Pferdeschwanz und einen Langbogen und war etwas kleiner. Dann war da noch ein ziemlich großer, dunkelhäutiger Kerl mit Schnauzer. Wahrscheinlich hatte er eine große Axt dabei. Dann war da noch ein Feuermagier. Recht jung für einen Magier. Und die Frau hatte schwarzes Haar, etwa schulterlang. Sie trug wahrscheinlich mehrere Messer bei sich.“
    „Hm.“ Coragon fuhr sich durch sein schwarzes Har. Er schien angestrengt nachzudenken. „Hm. Ein Magier? Nein, Magier kommen nicht in Kneipen. Und ein großer Kerl mit einer Axt…“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, solche Leute waren nicht… nein warte! Doch, an die Frau kann ich mich erinnern. Schwarzes Haar, eine Rüstung aus schwarzem Leder, ein Rapier, mehrere Messer…“
    „Ja, das war sie!“, rief ich aufgeregt.
    „Ja… doch, ich erinnere mich. Ist zwar schon ne Weile her, aber eine Frau, die Waffen bei sich trägt vergisst man nicht so leicht – noch dazu, wenn sie ein so hübsches Gesicht hat.“ Er grinste.
    „Und die anderen, die ich beschrieben habe, waren nicht da?“, fragte ich verwundert.
    Coragon schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein, sie war allein. Aber sie schien auf jemanden zu warten. Kam am Vormittag und setzte sich an einen der hinteren Tische. Ist aber niemand gekommen. Ist erst gegangen, als ich zugemacht habe. Auf wen sie auch immer gewartet hat, es schien ihr ziemlich wichtig gewesen zu sein. Kam sogar am nächsten Tag wieder, aber dann hab ich sie nicht mehr gesehen. „Was ne Schande, so’n hübsches Weibsbild sitzen zu lassen“, hab ich noch bei mir gedacht.“
    „Hm.“ Offenbar war bei unserem Treffen noch einiges mehr schiefgelaufen. Nur, aus welchem Grund waren auch Diego, Milten und Gorn nicht gekommen?
    „Etwas Klosterwein, aber schnell, wenn ich bitten darf!“ Ich wandte den Kopf. Neben mir hatte ein Mann in feiner Kleidung und mit Brokatweste Platz genommen. Er schien noch recht jung, keine dreißig. Sein geschniegeltes Haar war von hellem braun, sein Gesicht spitz und blasiert.
    Coragon stieß einen stummen Seufzer aus. „Welchen, wenn ich fragen darf?“
    „Schenke mir etwas von dem achtundfünfziger ein. Man hat’s ja.“ Er schaute mit breitem Grinsen zu, wie Coragon mit den Augen rollend zu einer kleinen Falltür ging und darin verschwand.
    „Na, was bist du denn für einer?“, fragte ich belustigt.
    Der Mann, der mich zuvor keines Blickes gewürdigt hatte, wandte mir nun den Kopf zu. „Hast du keine Manieren?“, fragte er mit hoher Stimme. „Ist ja ekelhaft! Hast du denn keine Arbeit, wo du jetzt sein müsstest oder so etwas?“ Er musterte mich geringschätzig, bevor er in abfälligem Ton sagte, „aber so einen heruntergekommen Kerl wie dich vermisst vermutlich niemand, was? Wenn es nach mir ginge, würden sie solche wie dich gar nicht erst hier hereinlassen. Das Gesindel sollte im Hafen, unter sich bleiben. Es ist wirklich unerhört, was hier für Individuen frei herumlaufen dürfen. All diese schmutzigen, stinkenden…“
    „Ich habe dich gefragt, wer du bist.“
    Mein Gegenüber lächelte. „Ich bin Valentino, der Schöne. Lebenskünstler und Schürzenjäger. Arm an Sorgen, reich an Weisheit und Gold. Und die Frauen liegen mir zu Füßen. Hast du Probleme, dann behalt sie bei dir.“ Er grinste. „Ich kann sie nicht gebrauchen.“
    Coragon kehrte mit einer Weinflasche zurück. „Macht zweihundertneunzig Silberlinge“, sagte er.
    Valentino nahm einen Geldbeutel von seinem Gürtel und warf ihn auf den Tresen. „Ein teurer Wein, fürwahr. Doch meine Wenigkeit kann es sich ja leisten. Tja.“ Er grinste uns hämisch an. „Wenn ihr auch so reich wäret wie ich, dann müsstet ihr auch nicht mehr arbeiten und könntet euch derartige Vergnügungen leisten. Wenn ich euch einen Tipp geben darf: Macht euch beliebt, versprecht niemandem etwas, nehmt, was ihr kriegen könnt, und passt auf, dass ihr euch nicht mit der Miliz anlegt… oder mit wütenden Ehemännern – das sind die schlimmsten, kann ich euch sagen. Aber“, er lachte, „so reich werdet ihr nie!“
    Ich hatte genug. Ich trank den letzten Schluck Bier aus, zahlte, wünschte Coragon einen schönen Abend und machte, dass ich davonkam.
    Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 14:22 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Ein langer Tag geht zu Ende


    Inzwischen war der Himmel gänzlich schwarz und ich spürte die Müdigkeit, nach dem ereignisreichen Tag. Es wurde Zeit, mich hinzulegen. Ich beschloss daher, in die Herberge zu gehen, in der man umsonst übernachten konnte. Mir wurde jedoch bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo diese Herberge lag.
    In diesem Moment marschierte ein patrouillierender Milizsoldat an mir vorbei über den ansonsten verlassenen Tempelplatz. „Verzeihung“, hielt ich ihn an.
    „Was gibt es, Bürger? Mach schnell, ich muss meine Patrouille fortsetzen.“
    „Ich wollte nur wissen, wie ich zur Herberge komme.“
    „Folge einfach der inneren Stadtmauer bis zum Marktlatz. Die Stände sind um diese Zeit abgebaut, aber du solltest keine Schwierigkeiten haben, ihn zu erkennen. Das Osttor liegt gleich dort am Platz. Von da siehst du dann schon die Kaserne und gleich gegenüber ist das Hotel.“
    „Danke“, sagte ich.
    „Nichts zu danken. Du weißt ja, die Miliz ist dein Freund und Helfer. Hm.“ Der Milizsoldat fuhr sich durch den braunen Bart. „Irgendwie kommst du mir bekannt vor.“
    „Unmöglich, wir haben uns noch nie gesehen.“
    „Hm, warte mal.“ Der Stadtwächter zog einen Zettel hervor, faltete ihn auf, warf einen Blick darauf und hielt ihn mir dann unter die Nase. „Das ist doch deine Visage, da drauf!“
    Tatsächlich. Dieser Zettel hatte große Ähnlichkeit mit dem Steckbrief, den die Banditen nahe Lobarts Hof bei sich gehabt hatten. „Woher hast du den?“, fragte ich verwundert.
    „Den haben wir bei einigen schrägen Vögeln gefunden, die wir zwischen der Taverne und Onars Hof aufgegriffen haben. Aber sie sahen nicht aus wie Onars Leute. Vermutlich gehörten sie zu einer kleineren Gruppe von Banditen. Tja und wie’s aussieht, haben die Kerle dich gesucht!“
    „Ach, tatsächlich? Da wär’ ich jetzt gar nicht drauf gekommen.“
    „Ha ha, sehr witzig. Was wollten die Kerle von dir?“
    „Keine Ahnung. Frag sie doch selbst. Ihr habt sie doch sicher eingelocht oder?“
    Der Milizionär lachte. „Nein, die sind tot!“
    „Tja, dann wirst du es wohl nie erfahren.“
    „Ich warne dich, Fremder. Wenn du Ärger hast, lass ihn vor den Toren der Stadt. Wir haben hier schon genug Probleme.“
    „Dann kümmere dich um diese und lass das meine Sorge sein.“
    „Hm.“ Der Milizsoldat musterte mich ärgerlich, dann marschierte er wortlos weiter.

    Der Marktplatz lag am nördlichen Ende der Stadt. Kurz vor dem Platz traf die innere Stadtmauer wieder auf die äußere. Am Platz selbst lag ein Tor, das nach Osten hin aus der Stadt führte. Einmal in meinem Leben war ich bereits durch dieses Tor gegangen, damals in Fesseln. Ich wandte meinen Blick nach links. Eine breite Straße führte vom Marktplatz aus nach Westen. Auf der einen Seite der Straße ragte ein mächtiges, in die Stadtmauer gebautes Bollwerk auf. Es war die Kaserne der Stadt. Mit ihrem Kerker hatte ich bereits Bekanntschaft gemacht. Ich folgte der Straße, bis ich an ein größeres Haus kam, über dessen Eingang ein Schild hing. Ein Bett mit einem darin liegenden Geldbeutel war darauf abgebildet. Darunter stand „Herberge zum schlafenden Geldsack“ geschrieben.

    „Ah, Kundschaft!“ Hinter der Theke stand eine rundliche, wenn auch nicht dicke Frau mittleren Alters, mit schwarzem, leicht angegrautem Haar und lächelte mich freundlich an. „Willkommen, willkommen. Ich bin Hanna. Seit mein Mann – Innos habe ihn selig – verstorben ist, leite ich diese Herberge. Was kann ich für dich tun?“
    „Einer der Paladine sagte mir, ich könne hier umsonst übernachten.“
    Das Lächeln schwand schlagartig aus Hannas Gesicht. „Jaja“, sagte sie tonlos. „Oben sind noch Zimmer frei.“ Sie reichte mir einen Schlüssel. „Das zweite auf der linken Seite.“
    „Wo ist das Problem?“, wollte ich wissen. „Ich denke, die Paladine zahlen die Rechnung aller, die hier absteigen. Von wem du dein Geld bekommst, kann dir doch egal sein.“
    Hanna lachte traurig auf. „Natürlich bezahlen sie, aber Geld bekomme ich keines. Nicht einmal einen müden Kupferling.“
    „Wie soll ich das verstehen?“
    „Die Paladine bezahlen nur mit Schuldscheinen. Wenn ich sie nicht annehme, lande ich im Kerker, also muss ich mich mit ihnen zufrieden geben, auch wenn ich weiß, dass die Paladine ihre Schulden nie bezahlen werden. So ergeht es allen, von denen die Paladine etwas fordern. Sie bezahlen alle nur mit diesen Schuldscheinen und keiner bekommt jemals echtes Geld zu sehen.“
    „Wieso tun sie das?“
    „Tja, die Stadtkassen sind leer. Seit keine Schiffe mehr kommen, gibt es auch keinen Handel mehr. Und jetzt erhält die Stadt ja nicht einmal mehr Abgaben von den Bauern. Nun und ich vermute, dass es um die Reichskasse nicht viel besser bestellt ist, wenn der Krieg so schlecht steht, wie man sich erzählt – schwere Zeiten sind das.“
    „Warum tun die Paladine das überhaupt? Wieso muss niemand mehr seine Hotelrechnung bezahlen?“
    „Ich vermute, sie wollen die armen Schlucker von der Straße holen und sich vor allem mit den fahrenden Händlern gut stellen.“

    Hinter der Theke begann die Treppe ins obere Stockwerk. Dieses wurde von einem langen Gang mit Türen zu beiden Seiten eingenommen. Das Zimmer, das ich erhalten hatte, war nicht allzu groß, aber seit meiner Zeit in der Barriere war ich nicht mehr so anspruchsvoll. Und verglichen mit meiner Hütte damals im Alten Lager, war dieses Zimmer durchaus sehr komfortabel und luxuriös eingerichtet.
    Erschöpft ließ ich mich auf das Bett sinken. Ich dachte über den ereignisreichen Tag nach, über alles, was geschehen war, all die Rätsel und Aufgaben, die es zu lösen galt. Ich musste einen Weg ins Obere Viertel zu den Paladinen finden. Das beste würde es sein, zuerst mit diesem Lord Andre zu reden. Schließlich kümmerte er sich um die Angelegenheiten des einfachen Volks.
    Dann musste ich herausfinden, was es mit den vermissten Leuten auf sich hatte. Vielleicht sollte ich hierzu einmal mit Hakon dem Waffenhändler und Thorben dem Tischler sprechen und auch mit dem Jäger Bartok, anscheinend vermissten alle drei jemanden.
    Nebenbei wollte ich auch in eigener Sache herausfinden, warum einige der Banditen nach mir suchten und in wessen Auftrag Dexter Steckbriefe von mir verteilte.
    Und schließlich waren da meine Freunde. Anscheinend war außer Velaya keiner zu unserem geplanten Treffen erschienen. Das bereitete mir große Sorgen. Ich wollte sie so schnell wie möglich wieder finden, soviel stand fest. Doch auch – oder gerade – Velaya wollte ich unbedingt wiederfinden. Zumindest wusste ich nun, dass sie es sicher aus dem Minental geschafft hatte. Das war eine sehr beruhigende Erkenntnis und ich machte mir keine allzu großen Sorgen, dass ihr während dieser drei Wochen noch etwas zugestoßen war. Dennoch würde es nicht leicht werden, sie zu finden, selbst wenn sie ebenfalls hier in der Stadt war – und wer konnte sagen, ob sie diese nicht wieder verlassen hatte? Ich seufzte. Wo mochte sie nur sein? Egal wo, ich musste sie einfach finden.
    Nach einiger Zeit fiel ich in einen festen, langen Schlaf.
    Geändert von Jünger des Xardas (12.03.2012 um 20:42 Uhr)

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    Der Spross der Ukaras


    Am nächsten Morgen machte ich mich ausgeruht und erholt daran, meine zahlreichen Aufgaben zu lösen. Als erstes ging ich zu Lord Andre. Gleich gegenüber der Herberge führte eine Treppe an der leicht schrägen Mauer der Kaserne hinauf.
    An der Wand hingen mehrere Steckbriefe. Ich begutachtete sie kurz. Neben dem Auftragsmörder Attila, Arnold dem Barbar und dem gefürchteten Piratenkapitän Stahlbart handelte es sich nur um Steckbriefe, die ehemalige Insassen der Barriere zeigten. Sie alle waren außergewöhnlich schlecht getroffen, wie ich feststellte, als ich die Steckbriefe von Gomez dem Schlächter und Söldnerführer Lee genauer in Augenschein nahm. Ich oder einer meiner Freunde waren nicht auf den Steckbriefen abgebildet. Dies wunderte mich kaum. In der Barriere hatten Hunderte von Menschen gelebt. Hier hingen nur ein Dutzend Steckbriefe, die die bekanntesten oder wichtigsten Gefangenen zeigten.
    Ich stieg die Treppe hinauf. Vor mir lag ein quadratisches Gebäude. Ein breiter Wehrgang führte zu beiden Seiten um das Gebäude herum. Direkt vor mir lag ein breites Tor, das auf einen kleinen Innenhof führte. Drei Milizsoldaten trainierten gerade unter Aufsicht eines vierten den Schwertkampf. Die Rüstung dieses vierten Milizionärs war hie und da mit Metall verstärkt. Als ich den Innenhof betrat, kam er auf mich zu. „Willkommen in der Kaserne, Fremder“, begrüßte er mich. Er war stämmig und durchtrainiert, doch bereits etwas älter, weshalb sein Haar und sein Bart bereits eine graue Färbung angenommen hatten. „Ich bin Wulfgar, Ausbilder bei der Miliz von Khorinis. Ich vermute, du willst mit Lord Andre sprechen?“
    Ich nickte. „Ja, es ist sehr dringend.“
    „Was denn, willst du das Kopfgeld für einen Verbrecher kassieren?“
    „Nein… es… ist etwas komplizierter. Ich muss mit Lord Andre selbst sprechen.“
    „Hm.“ Wulfgar musterte mich misstrauisch. „Na gut, Lord Andre findest du drinnen.“ Wulfgar wies auf eine Tür zu meiner Linken, die ins Innere der Kaserne führte. Ein breiter, niedriger Turm ragte über der Tür aus dem Dach der Kaserne.
    Ich nickte Wulfgar zu und ging dann wortlos an ihm vorbei durch die Tür. Dahinter lag ein kleiner Raum. Ein Schreibtisch stand auf der anderen Seite. Der Mann, der dahinter saß, hatte sich über einige Papiere gebeugt. Als ich eintrat, hob er jedoch den Kopf. „Willkommen.“ Er erhob sich. „Ich bin Lord Andre Ukara, Paladin des Königs und derzeit Kommandant der khoriner Miliz und Richter im Auftrag des Lordprotektors. Kommst du mit einem bestimmten Anliegen?“
    „Ja.“ Ich stand nun direkt vor dem Schreibtisch. Lord Andre, der auf der anderen Seite des Tisches stand, blickte mich fragend an. Er trug nur einen leichten Panzer und darüber einen weißen Waffenrock mit dem Wappen der Paladine. Sein Helm ruhte auf dem Tisch, neben den Papieren. Ich vermutete, dass Andres Rüstung irgendwo verwahrt lag, er diese jedoch nicht trug, da kein Kampf herrschte und sie ihn bei seiner Arbeit nur behindert hätte. Das Gesicht des Paladins hatte markante Züge und ein glattes Kinn. Ich blickte in die stahlblauen Augen des Ritters. „Ich habe eine Botschaft für Lord Hagen.“
    „Nun, du stehst vor einem seiner Männer. Also, worum geht es?“
    „Die Nachricht ist für Lord Hagen bestimmt.“
    „Unmöglich. Die Wachen haben Befehl, niemanden, der nicht im Dienste Innos’ oder des Königs steht, zu ihm vorzulassen.“
    „Aber sie ist äußerst wichtig, das Überleben der ganzen Stadt könnte davon abhängen.“
    „Was?“ Andre zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. „Nun, nichts desto trotz“, sagte er nach kurzer Pause. „Lord Hagen ist für niemanden zu sprechen. Ich dagegen bin für alle Angelegenheiten des gemeinen Volkes zuständig. Wenn ich deine Nachricht für wichtig genug erachte, wird auch Lord Hagen sie erhalten. Wenn du dich aber weigerst, sie mir mitzuteilen, kann ich nichts für dich tun.“
    Ich seufzte. „Also gut. Hört zu, ein Krieg dr…“
    Was?! Glaubst du, ich wüsste nicht, dass wir im Krieg sind?“
    „Nein, natürlich wisst Ihr das. Aber die Armeen der Orks werden von Dra…“
    „Ich weiß um die Stärke der orkischen Armeen. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du mit solchen Nachrichten Lord Hagens wertvolle Zeit stehlen willst.“
    „Aber…“
    „Genug! Die Paladine Lord Hagens kommen vom Festland. Glaubst du nicht, dass sie bestens über die Lage des Krieges Bescheid wissen?“
    „Davon spreche ich nicht. Meine Botschaft für Lord Hagen hat nichts mit dem Orkkrieg zu tun. Es geht um ein Artefakt, das Auge Innos’.“
    „Das Auge Innos’?“ Lord Andre fuhr sich durch sein strohblondes Haar. „Ich habe noch nie von einem Artefakt gehört, das diesen Namen trägt.“
    „Aber es ist eines der höchsten Geheimnisse Eures Ordens.“
    „Nun, dann wissen auch nur die höchsten unseres Ordens davon. Allerdings frage ich mich, woher du es kennen willst, wenn es ein so großes Geheimnis ist.“
    „Ich… habe es von einem Magier erfahren.“
    Lord Andres Blick wurde immer misstrauischer. „Wie ist sein Name?“, fragte er.
    „Er… Das kann ich nicht sagen.“
    „Was soll das heißen, du kannst es nicht sagen?“
    „Ich…“
    Langsam schien mein Gegenüber wütend zu werden. „Willst du mich eigentlich zum Narren halten, Fremder?“, zischte er.
    „Nein! Ich…“
    „Hör zu, ich habe genug Probleme. In der Stadt häufen sich die Diebstähle, das Umland wird von Banditen bedroht, Menschen verschwinden auf mysteriöse Weise und im Osten lehnen sich die Bauern auf. Ich habe wirklich nicht die Zeit, mir auch noch die Geschichten jedes dahergelaufenen…“
    „Bitte, es ist unheimlich wichtig. Ich muss zu Lord Hagen. Er…“
    Genug! Noch ein Wort und ich lasse dich einsperren. Zu Lord Hagen wird man dich ohnehin nicht vorlassen. Ich habe dir bereits erklärt, dass nur Männer im Dienste des Königs oder Innos’ das Rathaus betreten dürfen. Und jetzt lass mich wieder meine Arbeit machen.“
    Einen Moment schwieg ich, dann fragte ich, „wie kann ich mich in den Dienst des Königs stellen?“
    Andres stahlblaue Augen fixierten mich. „Du willst dich der Miliz von Khorinis anschließen?“
    „Wenn ich so zu Lord Hagen komme, ja.“
    „Damit das klar ist, ich werde dich nicht aufnehmen, nur damit du eine Audienz bei unserem Großmeister erhältst. Wenn du der Miliz beitrittst, dann wirst du auch ihre Aufgaben erfüllen müssen. Ich werde es nicht zulassen, dass du nach deiner Aufnahme ins Rathaus marschierst und den Job direkt danach wieder an den Nagel hängst, haben wir uns verstanden?“
    Ich zögerte kurz, dann antwortete ich, „in Ordnung. Ich werde bei der Miliz bleiben und ab dann für Euch durch die Straßen patrouillieren.“
    „Bei der Miliz sein, bedeutet weit mehr als nur mit einer Rüstung durch die Straßen zu laufen. Das ist ein dreckiger und oft auch blutiger Job.“
    „Damit kann ich leben.“
    „Also gut, du sollst deine Chance bekommen. Aber ich warne dich, was ich gesagt habe, gilt und Deserteure werde ich hart bestrafen.“
    Ich nickte. „Gut, heißt das, ich bin jetzt dabei?“
    „Nicht so schnell. Ich habe zwar Anweisung, in diesen Tagen jeden waffenfähigen Mann aufzunehmen, allerdings unter einer Bedingung.“
    „Und die wäre?“
    „Du musst Bürger der Stadt sein. Der ehrenwerte Lord Hagen besteht darauf, dass diese Regel unter allen Umständen eingehalten wird. Er will so verhindern, dass sich Spione oder Saboteuere einschleichen.“
    „Sehe ich wie ein Spion aus?“
    „Du siehst wie jemand aus, der sich der Miliz nur anschließt, um bei Lord Hagen vorgelassen zu werden – angeblich, um ihm eine Botschaft zu übermitteln, jedoch scheint diese äußerst fragwürdig zu sein. Wenn es dir ernst ist, wirst du Bürger der Stadt werden.“
    „Und wie stelle ich das an?“, wollte ich genervt wissen.
    „Du musst 50 Silberstücke in die Stadtkasse zahlen. Da der Statthalter momentan seines Amtes enthoben ist, wirst du dies bei mir tun.“
    „Ist das alles?“
    „Nein. Als Bürger wird nur angesehen, wer hier einer ehrlichen Arbeit nachgeht und einen festen Schlafplatz hat.“
    „Gibt es keine andere Möglichkeit, Bürger zu werden?“
    „Nun, du könntest eine Bürgerin ehelichen. Andernfalls wirst du nicht umhin kommen, dir eine ehrbare Arbeit zu suchen.“
    „Und wo sollte ich da suchen?“
    „Du könntest es bei den Handwerksmeistern in der Unterstadt versuchen. Komme bloß nicht auf die Idee, im Hafen Arbeit zu suchen. Dort unten lebt nur das Gesindel und der Abschaum.“
    „In Ordnung, dann komme ich wieder, wenn ich eine Arbeit habe.“
    Lord Andre nickte, dann setzte er sich und wandte sich wieder seinen Unterlagen zu.
    Geändert von Jünger des Xardas (20.09.2010 um 21:53 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Der Marktplatz von Khorinis


    Das wurde immer komplizierter. Während ich die Treppen der Kaserne hinunterstieg, fragte ich mich, wie ich das alles anstellen sollte. Ich würde schauen, ob es noch einen anderen Weg als die Miliz gab. Dennoch sollte ich mich vielleicht schon einmal bei den Handwerksmeistern umsehen, denn vielleicht würde ich nicht umhin kommen, bei einem von ihnen in die Lehre zu gehen.
    Vorerst jedoch lenkte ich meine Schritte zum nahen Markplatz. Ich brauchte dringend neue Ausrüstung. Außerdem bekamen die Händler sicher einiges mit.

    Nun, am helllichten Tage, war der Platz nicht mehr ausgestorben, sondern belebt. Mehrere hölzerne Stände waren am Morgen hier aufgebaut worden. Dennoch stellte ich fest, dass es relativ wenige waren, wenn man bedachte wie groß der Platz war.
    Ich trat an einen Stand heran, der ganz am Rande des Platzes, am Beginn der Straße, an der die Kaserne und die Herberge lagen, aufgestellt war. Ein Korb mit Äpfeln, mehrere Brotlaibe, eine Kiste voller Würste und zahlreiche andere Nahrungsmittel, interessanterweise auch eine größere Menge Rum, fanden sich hier. „Willkommen!“, begrüßte mich der braunhaarige Händler, dem der Stand gehörte. „Verzeih, aber ich habe dich hier nie zuvor gesehen.“
    „Das wundert mich nicht. Ich bin neu in der Stadt.“
    „Verstehe. Nun, dann will ich mich vorstellen: Mein Name ist Baltram. Wie du unschwer erkennen kannst, handle ich mit Nahrungsmitteln aller Art. Und ich bin der größte Nahrungshändler hier am Markt!“
    Skeptisch begutachtete ich seinen Stand. „Der größte?“
    Baltram seufzte. „Jaja, schwere Zeiten. Mein Angebot ist dieser Tage nicht besonders reichhaltig, aber den anderen Händlern ergeht es da nicht viel anders.“
    „Der Bauernaufstand?“, fragte ich.
    Baltram nickte. „Früher habe ich vor allem bei Onar eingekauft, aber das ist heute verboten. Nun beziehe ich meine Waren vor allem von den stadtnahen Bauern, größtenteils von Akils Hof. Tja, der Schiffsverkehr ist ja vollständig zum Erliegen gekommen, da bin ich auf die kleinen Höfe vor der Stadt angewiesen – ebenso die anderen Händler.“
    „Kannst du mir mehr über den Bauernaufstand erzählen?“
    „Ach, es ist doch nicht zu fassen! Wenn du mich fragst, sollten die Paladine da einfach mal hinmarschieren und die Bauern dran erinnern, wer hier auf dieser Insel die Herren sind! Ich meine, das muss man sich mal vorstellen: Mitten im Krieg lehnen sich die Bauern auf.“ Er seufzte. „Als wenn ein Krieg nicht schon genug wäre.“
    „Aber haben die Bauern nicht Söldner angeheuert?“
    „Na und? Mit denen sollten die Paladine ja wohl fertig werden. Wir würden hier eh nichts mitbekommen, wenn es zu Kämpfen käme. Onars Hof liegt weit im Osten, ungefähr einen halben Tagesmarsch entfernt. Und die Söldner werden es nicht wagen, uns hier anzugreifen. Das Problem ist, die Paladine trauen sich eben auch nicht aus der Stadt. Dabei sind wir gerade jetzt, wo keine Schiffe mehr kommen, auf die Bauern angewiesen. Das einzige, was die Bürger hier mitkriegen, ist doch, dass die Nahrung immer knapper wird und die Preise fürs Essen hochgehen.“ Baltram schüttelte den Kopf. „Dieser Aufstand ist einfach nicht gut fürs Geschäft. Und dass keine Schiffe mehr kommen, auch nicht. Viele Händler haben schon aufgegeben. Andere mussten sich umstellen und ein breiteres Sortiment einführen. Früher waren die Händler noch viel mehr auf bestimmte Dinge spezialisiert, heute kann sich das keiner mehr leisten.“
    „Und wo hast du den Rum her?“, fragte ich. „Der wird doch wohl kaum auf den Höfen hergestellt.“
    „Was?“ Baltram schien leicht verunsichert. „Ach der…“ Er winkte ab. „Das… sind Lagerbestände. Der Rum kam mit den letzten Schiffen hier an. Jetzt, wo die Leute immer ärmer werden, kann sich so was nicht mehr jeder leisten, aber ich bin der einzige auf der Insel, der noch Rum verkaufen kann. Da lässt sich noch etwas Profit draus schlagen. So halte ich mich noch über Wasser. Aber wenn das so weitergeht, gehe ich genauso unter, wie es die anderen Händler nach und nach tun. Ich musste schon die Hälfte meiner Gehilfen entlassen.“ Er seufzte. „Aber kommen wir endlich zum Geschäft: Was willst du kaufen?“
    Ich deckte mich bei Baltram mit etwas Nahrung ein. Langsam jedoch erreichte meine kleine Tasche das Ende ihrer Kapazität. Baltram verwies mich auf einen Händler, der seinen Stand nahe dem Osttor hatte.

    „Hallo Fremder, ich bin Jora“, begrüßte mich der schlaksige, schmalgesichtige und schlecht rasierte Händler, dem der Stand gehörte.
    „Womit handelst du?“
    „Mit allem Möglichen, sieh dir mein Repertoire an. Bei mir gibt es alles, was ein Jäger neben Pfeil und Bogen und Proviant so braucht. Mit meinen Sachen kannst du problemlos in der Wildnis überleben. Ich verkaufe auch Gebrauchsgegenstände. Sieh, dieses Rasiermesser oder die Pfanne hier, erst einmal benutzt! Wenn du willst, rasiere ich dir auch den Bart oder ziehe dir die Zähne. Glaub mir, was ich nicht habe, brauchst du auch nicht!“
    „Du wirkst ja nicht sehr betroffen.“
    „Betroffen, wovon sollte ich betroffen sein?“
    „Davon, dass keine Schiffe mehr kommen, die Bauern sich auflehnen, die Leute immer weniger Geld haben…“
    „Ich habe mich schon immer auf alles Mögliche spezialisiert. Wenn jemand nur Waffen verkauft und auf einmal niemand mehr welche braucht, ist er selbst schuld. Die Dinge, die ich verkaufe, sind billig und die Leute werden sie immer brauchen. Glaub mir, ich werde der letzte Händler sein, der hier zu Grunde geht. Außerdem bin ich flexibler als die übrigen Händler und kenne viele Wege, an Geld zu kommen und mich über Wasser zu halten.“
    „Du sprichst von krummen Geschäften?“, fragte ich grinsend.
    „Wieso denken die Leute immer, wenn jemand auch in schweren Zeiten in der Lage ist, nicht auf der Straße zu landen, gleich an krumme Geschäfte?“
    „Keine Sorge, ich hab schon verstanden. Ich suche eigentlich nur eine Reisetasche, in der man Proviant aufbewahren kann, ohne, dass sie einen behindert.“
    „Da hätte ich was für nur fünfzehn Kupferlinge.“
    Es stimmte also, auf dieser Insel wimmelte es tatsächlich von Wucherern.

    Mein nächstes Ziel war ein Stand, an dem verschiedene Waffen ausgebreitet lagen.
    „Ah ein Fremder! Neu in der Stadt, was?“, begrüßte mich der Inhaber des Standes. „Du siehst nicht wie ein Bauer aus, du siehst aus, als seiest du auf der Suche nach einer guten Waffe. Da bist du bei mir genau richtig. Ich bin Hakon der Waffenhändler.“
    „Hm.“ Skeptisch begutachtete ich den Stand. Das Angebot an Waffen war nicht sehr reichhaltig und beschränkte sich auf einige Kurzschwerter. Daneben verkaufte Hakon offenbar auch Dinge für die Feldarbeit. Tatsächlich fanden sich in seinem Angebot mehr Sicheln und Sensen als Schwerter. „Besonders groß ist die Auswahl ja nicht“, stellte ich fest.
    Hakon nickte betrübt. „Als die Paladine kamen, dachte ich erst, das sei eine gute Gelegenheit, Geschäfte zu machen. Aber weder Sarah noch ich haben auch nur ein Goldstück an ihnen verdient. Sie lassen sich ihre Waffen allesamt von Harad dem Schmied anfertigen.“
    „Aber warum führst du kaum noch Waffen in deinem Sortiment?“
    „Weil die Miliz sie mir kürzlich weggenommen hat. In der ganzen Stadt haben sie alles beschlagnahmt, was länger als eine Elle ist. Und Harad, von dem ich bis jetzt all meine Waffen bezogen habe, muss für sie einhundert Klingen anfertigen. Man hat ihm verboten, Waffen an irgendwen anders zu verkaufen, solange dieser Auftrag nicht beendet ist. Verdammte Paladine! Nunja, jetzt handle ich nur noch mit Restbeständen. Und als wäre das nicht genug, kauft ja auch keiner mehr Waffen. Wie gesagt, die Paladine und Milizen lassen sich von Harad beliefern und seit keine Schiffe mehr kommen, gibt es auf der Insel auch kaum noch Leute, die neue Waffen brauchen. Dieser Tage haben es alle Händler in der Stadt schwer, aber uns Waffenhändlern geht’s am schlechtesten. Die meisten haben schon aufgegeben. Nur Sarah und ich sind noch da. Und wir sind auch längst keine reinen Waffenhändler mehr. Wir beide waren gezwungen, auch auf anderes umzusteigen. In meinem Fall ist das eben landwirtschaftliches, in ihrem Fall Küchengerät. Die Waffen verkaufen wir eigentlich nur noch nebenher.“ Er seufzte. „Und dennoch gehen wir zu Grunde. Bald werde ich wohl noch mal umsteigen müssen. Jetzt, da sich die Bauern auflehnen, ist es uns verboten, mit ihnen Handel zu treiben. Und die kleinen Höfe vor der Stadt brauchen auch nicht täglich neue Sensen. Außerdem ist der Weg zu den kleinen Höfen auch viel zu gefährlich. Erst vor drei Tagen war ich draußen bei Akils Hof und hab mit ihm gehandelt. Auf dem Rückweg zur Stadt haben mich dann diese verdammten Banditen überfallen. Kann froh sein, mit dem Leben davon gekommen zu sein.“
    „Unternimmt die Miliz nichts gegen die Banditen?“, fragte ich, während ich die Schwerter begutachtete.
    Hakon schnaubte. „Dafür sind die doch viel zu feige. Auf wichtig tun, das können sie, aber wirklich was machen? Nein. Die besaufen sich doch nur am Freibierstand oder gehen in die Rote Laterne. Die werden ja nicht mal mit den Problemen innerhalb der Stadtmauern fertig.“
    „So wie die Sache mit den Vermissten?“, fragte ich und nahm eines der Schwerter näher in Augenschein.
    „Ja das ist auch so eine Sache. Viele sind beunruhigt und es kursieren viele Gerüchte.“
    „Coragon der Wirt meinte, du wüsstest mehr darüber.“
    „Dann hat er stark übertrieben. Ich weiß auch nur, dass die meisten am Hafen verschwunden sind. Aber da war so ein Kerl – Joe hieß er – der ist jeden Tag an meinem Stand vorbeigekommen. Ich will nicht sagen, dass ich ihn wirklich gekannt habe, aber ab und zu haben wir ein paar Worte gewechselt. Na ja, eines Tages war er jedenfalls nicht mehr da.“
    „Hast du eine Ahnung, was passiert sein könnte?“
    Hakon schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, ich kannte ihn kaum. Aber komisch ist das schon. Hab auch mal Pablo gefragt. Der patrouilliert hier ständig durch die Straßen. Ist einer von den wenigen halbwegs gewissenhaften bei der Stadtwache, aber der meinte, bei der Miliz wüssten sie nichts wegen Joe. Der kannte den Kerl nicht mal. Na ja, so schlecht wie die Zeiten sind und so wie die Stadt derzeit vor die Hunde geht, wundert es einen eigentlich nicht, wenn sich die Leute aus dem Staub machen. Mal ehrlich, Khorinis ist schon lange nicht mehr die Stadt, in der man alt werden will. „Juwel des Myrtanischen Meeres“, pah! Das war einmal. Nur kannst du dich ja eigentlich gar nicht von hier verdrücken, seit keine Schiffe mehr kommen. Und dass alle auf die Höfe flüchten, jetzt wo es da draußen nur so wimmelt von Banditen und die Bauern sich auflehnen, kann ich mir schwer vorstellen. So schlimm ist es dann doch noch nicht. Zumal die meisten, die die Stadt verlassen, hier durchs Osttor gehen. Das hätten wir Händler ja eigentlich mitkriegen müssen.“

    Ich verließ Hakon ohne etwas zu kaufen. Stattdessen steuerte ich auf den Stand der Händlerin Sarah zu, um zu schauen, ob diese eine brauchbare Waffe anzubieten hatte. Doch ihr erging es ähnlich wie Hakon: „Töpfe, Pfannen, Küchenmesser! Es ist traurig, wie weit es schon gekommen ist. Früher, da hab ich vor allem edle Waffen verkauft. Degen, Rapiere… Die Herren der Oberstadt oder aus Khorana und Khorelius schmückten sich gerne mit so etwas. Auch die reichen Kauffahrer aus Ariabia oder Laran waren immer an meinen Waffen interessiert. Aber dann gingen die Geschäfte immer schlechter. Ich musste auch andere Waffen in mein Sortiment aufnehmen – sogar Schilde, wie du siehst. Und heute verkaufe ich kaum noch Waffen, sondern stattdessen diese Haushaltsgeräte. Ach.“ Sie seufzte. „Wenn nur der Krieg nicht wäre, dann wäre wieder alles wie früher. Oder wenn die Paladine wenigstens nicht alle guten Waffen beschlagnahmen und Harad sogar verbieten würden, neue für uns herzustellen.“
    Da auch Sarah nichts Brauchbares anzubieten hatte, entschied ich mich schließlich für ein einfaches Kurzschwert. Ich brauchte schließlich eine Waffe und wenn es nichts Besseres gab, musste ich für den Anfang damit vorlieb nehmen.

    Am nächsten Stand befanden sich zahlreiche kleine Fläschchen und Beutel. Der Händler, dem der Stand gehörte, war bereits älter als seine Kollegen, was sich deutlich an seinem weißen Haar zeigte. „Innos zum Gruß“, hieß er mich willkommen. „Ich bin Zuris, Meister der Tränke. Brauchst du vielleicht einen Heiltrank oder eine schmerzlindernde Salbe? Ich biete Mittelchen gegen alle möglichen Leiden und Gebrechen, auch für Tiere und Pflanzen. Nebenbei verkaufe ich auch Parfüms für die Damen. Was darf es sein?“
    „Im Moment brauche ich wohl nur ein paar Heiltränke, danke.“ Ich begann, die Tränke genauer zu begutachten. „Stellst du deine Ware selbst her?“, wollte ich wissen.
    „Nein, ich beziehe sie von Constantino, dem Alchemisten. Früher brachten ab und zu auch die Kauffahrer besondere Tränke von Kitai oder aus Geldern mit sich, an denen vor allem meine Kunden aus der Oberstadt sehr interessiert waren. Dies ist heute freilich nicht mehr der Fall.“
    „Wie laufen denn deine Geschäfte so? Viele der Händler hier beklagen sich ja.“
    „Nun, es geht, es geht. Für heilende Mittel haben die Leute immer Geld. Sich keinen teuren Schmuck kaufen zu können, ist das eine, aber um etwas gegen ihren Hexenschuss oder für ihren Stuhlgang zu kaufen, reicht den Menschen das Geld immer. Außerdem gibt es auch keine Konkurrenz hier am Markt. Dennoch, dass keine Schiffe mehr ankommen, kriege auch ich zu spüren, wie ich eben erklärt habe. Meine Parfüms werden auch seltener gekauft. Selbst die Erzsäcke aus der Oberstadt sind heute nicht mehr so wohlhabend wie einst, auch wenn sie gerne die Fassade wahren. Aber die meisten von ihnen haben ihr Geld mit dem Überseehandel verdient. Das heißt, ohne den Schiffsverkehr bleibt auch ihre Einnahmequelle aus. Natürlich haben sie noch einiges an Ersparnissen, aber man spürt dennoch den Unterschied zu früher. Nun, meine Kundschaft lebt ohnehin größtenteils hier in den unteren Stadtvierteln. Von den feinen Herren aus dem Oberen Viertel sind viele scheinbar dumm genug, sich lieber auf diesen Scharlatan Salandril einzulassen.“
    „Wer ist das?“
    „Ach, nur ein Trankhändler aus dem Oberen Viertel, der den reichen Leuten dort seine Waren andreht. Die sind sich zu fein, um sich zum Beispiel einen gewöhnlichen Heiltrank aus gewöhnlichen Heilpflanzen zu kaufen. Sie wollen etwas Exquisites, Extravagantes… Also verkauft er ihnen beispielsweise einen Sud aus Sonnenkraut. Nicht, dass das irgendetwas gegen körperliche Leiden ausrichten könnte, doch die edlen Herren wollen scheinbar betrogen werden. Im Wesentlichen verkauft er aber nicht mal Heilmittel, sondern bedient die Eitelkeiten der Besserbetuchten. So verkauft er den Damen des Oberen Viertels zum Beispiel Mittel, die, wenn man sie in die Augen träufelt, diese angeblich glänzen lassen oder solche, die gegen Falten helfen sollen. Natürlich nichts als Humbug. Oder die Herren des Oberen Viertels: Viele von ihnen scheinen Salandril tatsächlich zu glauben, Pulver aus… nun… bestimmten Körperteilen mancher Tiere wären in der Lage… nun, sagen wir… die Leistungsfähigkeit oder gar Größe des… äquivalenten eigenen Körperteils zu steigern. Doch sei versichert, ich verkaufe nur Ware bester Qualität. Die Zutaten mögen zwar weniger ausgefallen sein, erfüllen dafür jedoch ihren Zweck.“
    Nachdem ich mir einige Heiltränke gekauft und sie gut verstaut hatte, verließ ich auch Zuris’ Stand.

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    Nun hatte ich Proviant, Heiltränke, eine Tasche um diese zu transportieren und eine Waffe. Damit hatte ich fürs erste alles zusammen. Eine Rüstung konnte ich auf dem Marktplatz nicht bekommen. Die kleineren Händler ignorierte ich vorerst.

    Mein nächstes Ziel war der nahe Galgenplatz. Dieser lag am anderen Ende der langen Straße, an der auch die Kaserne und das Hotel lagen.
    Unter einer dicken Eiche war ein langer Tisch aufgebaut. Hinter dem Tisch stand ein Stapel Fässer. Auf der Rückseite der Eiche lag eine niedrige Mauer, die die Grenze zum Hafenviertel bildete. Auf der rechten Seite des Platzes, vor der Kaserne, stand eine hölzerne Plattform auf deren Rückseite der Galgen aufragte, der diesem Platz seinen Namen gab.
    Momentan wurde die Galgenplattform jedoch von einem Herold benutzt, der sich darauf gestellt hatte und nun lauthals die Worte auf einem in seiner Hand befindlichen Pergament verlas. „HÖRT, IHR BÜRGER VON KHORINIS! AUF AUSDRÜCKLICHE ANORDNUNG DES EHRENWERTEN LORD HAGEN VON VENGARD, GROSSMEISTER DES HEILIGEN ORDENS DER PALADINE UND LORDPROTEKTOR VON KHORINIS, ERGEHT FOLGENDER ERLASS: DIE SICHERHEITSMASSNAHMEN ZUM SCHUTZE DES OBEREN VIERTELS WERDEN ZUR ERHALTUNG DER ALLGEMEINEN ORDNUNG NOCH WEITER VERSTÄRKT. DIE TORWACHEN SIND ANGEWIESEN, DAS GESETZ IN ALLER STRENGE AUSZULEGEN, UM UNERLAUBTES EINDRINGEN ZU BESTRAFEN. DES WEITEREN SIND DIE WÄLDER UND WILDNIS UM DIE REICHSSTADT KHORINIS AUFGRUND DER ALLGEMEINEN LAGE, ZU EUREM EIGENEN SCHUTZ ZU MEIDEN.“
    Den Herold kaum beachtend, ging ich auf den Freibierstand zu.
    „He, komm näher, mach mal Pause und trink einen kühlen Schluck Bier!“, wurde ich von einem rundlichen, glatzköpfigen Kerl in weißer Schürze begrüßt, der hinter dem langen Tisch stand. „Lord Andre hat ein paar Fässer Freibier gestiftet und was gibt es besseres nach getaner Arbeit?“ Er überreichte mir einen großen Humpen. „Dunkles Paladiner. Lass es dir schmecken. Die Paladine werden schon alles richten.“ Ich nahm das Bier dankend entgegen. Nach einem erfrischenden Schluck sah ich mir die übrigen Menschen am Freibierstand genauer an. Mein Blick fiel sofort auf zwei Milizsoldaten, die – jeder einen dicken Humpen in der Hand – lachend am Ende des langen Tisches standen.
    „Pah, Vanja. Sieht ja ganz ordentlich aus, aber is das Geld nich wert. Isch sag dir, Sonja, die muschu ma ausprobiern. Wenn isch in die Rote Laterne geh’, nehm’ isch mir nur noch Sonja. Mann, die hat Sachen drauf, das glaubst du gar nich.“
    „Jaja, hoppelt sich ganz lustig, aber Vanja hat diese zwei riesigen…“
    „Na Jungs, bei der Arbeit?“
    Der Milizionär, der gerade von Vanja geschwärmt hatte, blickte mich ärgerlich an. „Was geht dich das an?“
    „Ich habe mich nur gefragt, ob ihr nicht eigentlich auf Patrouille sein solltet und was Lord Andre davon halten würde, wenn er wüsste, dass ihr zwei euch hier am Freibierstand besauft und euch über die Vorzüge der hiesigen Huren austauscht.“
    „Was Lod Andre nich weiß, macht Lod Andre nich heiß, hick“, kam es vom zweiten Milizsoldaten, der bereits leicht angetrunken klang.
    „Und er wird es auch nicht erfahren“, ergänzte der erste und blickte mich böse an.
    „Regt euch ab. Ich verpfeif euch schon nicht, Jungs. Dennoch. In diesen Tagen gibt es viele Probleme auf der Insel, solltet ihr euch nicht lieber darum kümmern? Schließlich ist es doch eure Pflicht, die Bürger zu beschützen.“
    „Machen wir doch“, lallte der zweite. „Nich wa, Peck? Machen wir doch?“
    „Ach so, ihr vernichtet das Bier hier, damit die Bürger nicht an Alkoholvergiftung sterben.“
    „He, machst du dich über uns lustig?“, fragte der Milizionär mit Namen Peck wütend.
    „Würde mir nie im Traum einfallen. Allerdings frage ich mich, ob ihr nicht lieber was wegen der Orks unternehmen wollt.“
    „Orks?“ Peck blickte mich entgeistert an. „Siehst du hier irgendwelche Orks? Die Grünfelle sitzen am Festland rum, kein Grund, sich hier Sorgen zu machen.“
    „Es wurde aber schon ein Ork vor der Stadt gesehen.“
    „Jaja“, kam es gelangweilt vom zweiten Ordnungshüter. „Der grosche bösche Ork vor der Stadt. Ein wahres Monser von einem Ork. Er wird die Stadt bestimmt bald angreifen. Die ganzen Tage zerreißen sich die Leude schon den Mund, wegen dieses dämlichen Gerüschts. Isch sag dir ma wat: Die Militsch wird diesem dicken Ork in seinen dicken Hintern treten. Hick.“
    „Und was ist mit den verschwundenen Leuten?“
    „Solange Rangar und ich hier stehen, wird hier niemand verschwinden“, erklärte Peck. „Aber so langsam frage ich mich, was du uns überhaupt belästigst, Bürger. Die Miliz macht ihre Arbeit, der Rest braucht dich nicht anzugehen.“
    „Schon gut, ich lass euch zwei mit eurem schweren und anstrengenden Job allein“, sagte ich grinsend.
    „Ja und hüte deine Zunge!“, meinte Peck noch. „Sonst lochen wir dich ein!“ Dann wandte er sich wieder Rangar zu. „Also, wo waren wir? Ach ja. Na jedenfalls war ich neulich wieder in der Roten Laterne, mit dem Geld, das ich von diesem schmierigen kleinen Tagedieb Rengaru bekommen habe, damit ich ihn nicht verpfeife und da hab ich mir dann Vanja vorgenommen und ich kann dir sagen…“
    Ich wandte mich von den beiden Milizsoldaten ab. Nun musste ich mich zumindest nicht mehr über die zahlreichen Probleme der Stadt wundern, doch weiter war ich kein Stück. Ein weiterer Mann am Freibierstand erregte mein Aufsehen. Es handelte sich der ledernen Kleidung und des langen Bogens nach um einen Jäger. Vielleicht konnte mir jemand, der auch mal vor die Tore der Stadt kam, etwas mehr erzählen. Und vielleicht konnte er mir sagen, wo ich den Jäger Bartok fand.
    „Na, wie sieht’s aus?“, fragte ich ihn.
    „Wie soll’s schon aussehen?“, fragte er müde.
    „Du bist Jäger, richtig?“
    „Richtig. Bartok werde ich genannt. Bis vor kurzem war ich Mitglied der Jägergilde.“
    Ich horchte auf. Anscheinend war ich direkt an den Jäger geraten, der einen Kumpel vermisste und mir vielleicht mehr sagen konnte. „Die Jägergilde?“
    „Ja, die Jägergilde. Kommst wohl nicht von hier, was? Früher waren fast alle Jäger hier auf der Insel in der Gilde. Wir haben für Bosper gearbeitet.“
    „Bosper? Wer ist das?“
    „Das ist der Bogner und Rüstungsbauer in der Unterstadt. Er ist einer von den Handwerksmeistern der Stadt. Sie alle haben ihre Läden in der Kaufmannsgasse. Bosper gehört derzeit zu den fünf einflussreichsten Handwerkern.“
    „Warum?“
    „Weil er im Stadtrat sitzt. Jetzt, wo die Paladine in der Stadt sind, ist der Stadtrat zwar erst mal aufgelöst, aber die Handwerker, die dort eigentlich sitzen, gehören immer noch zu den einflussreichsten Bürgern außerhalb der Oberstadt.“
    „Einflussreich genug, um einen in die Oberstadt reinzubringen?“, wollte ich wissen.
    „Wär’ schon möglich. Matteo der Schneider und Krämer ist ein ziemlich reicher und angesehener Geschäftsmann, er wäre wohl am ehesten dazu in der Lage, aber möglich, dass jeder von ihnen genug Einfluss hat. Aber was will einer wie du im Oberen Viertel?“
    „Nicht wichtig. Warum arbeitest du nicht mehr für Bosper? Beißen etwa die Wölfe nicht?“
    Bartok, der meinen Witz nicht verstanden zu haben schien, schaute mich verdutzt an. „Doch, die Wölfe beißen schon. Einer hat mal mein Bein erwischt – muss ich nicht noch mal haben. Aber das ist nicht das Problem. Da draußen ist es mit der Zeit einfach zu gefährlich geworden. Nicht genug, dass alles voller Banditen ist, nein, in diesen beschissenen Zeiten scheinen nicht mal die wilden Tiere genug zu Fressen zu kriegen. Und dann sind da auf einmal überall diese Untoten.“
    „Was für Untote?“
    „An keinen alten Steinkreis und an kein altes Grab kannst du dich mehr rantrauen. Gibt einige davon auf der Insel, aber früher war da alles ruhig. Heute laufen da diese widerlichen Untoten rum. Kurzum, das Jagen ist immer gefährlicher geworden. Immer mehr Jäger haben ihren Job an den Nagel gehängt. Irgendwann wurde es auch mir und meinem Kumpel Trokar zu bunt. Wir sind zu Bosper und haben ihm erklärt, dass wir nicht mehr bereit sind, unseren Hintern für ein paar Felle zu riskieren. Tja und dann hingen wir hier in der Stadt rum und haben uns besoffen. War seitdem nicht mehr draußen und hab es auch so schnell nicht mehr vor. Jetzt soll es da draußen sogar schon einen Ork geben.“ Er seufzte. „Tja und gleichzeitig geht mir langsam das Geld aus. Harte Zeiten.“
    „Wo ist Trokar jetzt?“
    „Ach, wenn ich das wüsste. Ist jetzt schon ne Zeit her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hab. An dem Abend haben wir uns hier am Freibierstand besoffen. Irgendwann spät abends ist er dann abgehauen. Er sagte, er wolle schauen, ob er uns ein bisschen Sumpfkraut organisieren kann. Ich kann mich an kaum was von dem Abend erinnern. Ich weiß nur noch, wie ich an die Kaserne gekotzt hab und am nächsten Morgen wieder hier aufgewacht bin. Trokar hab ich seitdem nicht mehr gesehen.“
    „Hast du eine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte, um Sumpfkraut zu besorgen?“
    „Soweit ich weiß, gibt’s das Zeug am Hafen. Aber genau weiß ich das nicht. Das Zeug ist hier schließlich verboten und die Gesetze haben sich noch mal verschärft, seit die Paladine hier sind. Die wollen nicht, dass hier alle bekifft sind, wenn die Orks anrücken, hat Trokar immer gesagt.“
    „Hm, ich denke, ich werd mich mal am Hafen umsehen.“
    „Wenn du meinen Kumpel findest, sag mir Bescheid.“ Bartok seufzte. „Auch wenn ich nicht viel Hoffnung habe, dass er überhaupt noch am Leben ist.“
    Noch ein weiterer Mann am Freibierstand stach aus der kleinen Menge heraus. Mann war eigentlich schon zuviel gesagt. Der blasse Bursche, der da, einen dicken Humpen Bier in der Hand, am langen Tisch stand, konnte nicht älter als zwanzig sein. Wahrscheinlich war er sogar jünger. Doch was an ihm besonders auffiel, waren nicht sein junges Alter oder das blasse Gesicht, sondern die Kleidung, die er trug: Es handelte sich um eine schmale, rote Robe, die ihm bis zu den Knien reichte und deren Ränder mit schwarzen Flammen bestickt waren. Dazu trug er eine Schärpe aus schwarzem Stoff und einen hölzernen Kampfstab, sowie hohe, rote Stiefel. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Novizen der Feuermagier. Wahrscheinlich kam er aus dem nahen Kloster. Ich erinnerte mich, daran, was Lothar und Andre gesagt hatten. Kamen nicht neben denen, die im Dienste des Königs standen, auch die Diener Innos’ zu Lord Hagen? Vielleicht konnte ich ja auch über die Magier an Lord Hagen kommen. Und so sprach ich den Novizen an.
    „Hi.“
    „Was willst du?“, fragte er leicht herablassend.
    „Du bist ein Novize aus dem Kloster, richtig?“
    „Richtig. Mein Name ist Ulf“, sagte der Novize gelangweilt und nahm einen Schluck Bier.
    „Was macht ein Novize wie du in der Stadt?“
    „Ich habe einen Botengang zu Lord Hagen im Auftrag des Rates erledigt und nebenbei Coragon, den Wirt mit Wein aus unserem Kloster beliefert.“
    Der Novize machte nicht den Eindruck, als wolle er sich gerne mit mir unterhalten. Tatsächlich passte seine Art schon hervorragend zu der arroganten Haltung der meisten vollwertigen Magier. Doch dies störte mich momentan weniger. „Ihr Novizen kommt also einfach so ins Rathaus?“
    „Nein, nur in speziellen Fällen. Zum Beispiel, wenn wir eine Botschaft der Feuermagier überbringen. Allein die Erwählten haben uneingeschränkten Zutritt zum Rathaus.“
    „Verstehe. Meinst du, sie könnten mich auch darein bringen?“
    „Warum sollten dir die geweihten Innos’, die heiligen Priester des Feuers gestatten, das Rathaus zu betreten?“
    „Ich fragte nur, ob sie es könnten.“
    „Sicher könnten sie es, doch sie werden es nicht tun.“
    „Und wo finde ich einen Feuermagier?“
    „Hier in der Stadt? Nur im Tempel. Die meisten Magier der Insel halten sich im Kloster auf. Doch dieses darf nur von Dienern Innos’ betreten werden.“
    „Gut, danke. Das war alles, was ich wissen wollte.“
    Geändert von Jünger des Xardas (22.12.2010 um 15:36 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Die Kirche des Feuers


    Eine Straße führte vom Galgenplatz wieder auf den Tempelplatz. Ich ging an mehreren auf dem Boden ausgebreiteten Teppichen vorbei, auf denen einige Wasserpfeifen aufgestellt waren, und folgte der Straße in Richtung Tempelplatz. Diesmal betrat ich den Platz von der anderen Seite aus. Zu meiner linken stand Coragons Kneipe, zu meiner rechten der Innostempel.
    Ich lenkte meine Schritte direkt auf den Tempel und das große Eingangsportal zu. Dahinter lag ein langer, rechteckiger Raum mit langen Bankreihen zu beiden Seiten. Ein schmaler Weg führte zwischen den Bänken hindurch auf den runden Altarraum an der Spitze des Tempels zu. Auf der linken Seite lag eine Tür, die in das kleine Seitengebäude führte, in dem die Feuermagier lebten. Ich kannte solche Tempel. Die Bauweise der Innostempel war in allen Teilen des Reiches mehr oder weniger gleich.
    Um diese Zeit war der Tempel fast völlig leer. Es fand gerade kein Gottesdienst statt. Nur eine einzige Gestalt stand am anderen Ende der Halle. Es war ein Feuermagier, wie ich sofort an der weiten, roten Robe mit den schwarzen Flammen an den Rändern, der ebenso schwarzen, nietenbesetzten Lederschärpe und dem auf dem Rücken hängenden Kampfstab erkannte. Der Magier, wenngleich er mich offensichtlich bemerkt hatte, machte sich nicht die Mühe, mir entgegenzukommen, sondern wartete mit in die weiten Ärmel geschobenen Händen auf mich.
    „Innos zum Gruß, mein Sohn“, sagte er, als ich ihn endlich erreicht hatte. Er war etwas beleibt und trug im Gesicht einen schmalen, braunen Bart und eine leicht hochmütige Miene.
    „Ich grüße Euch, Ehrwürdiger“, sagte ich mit einer kleinen Verbeugung.
    „Willkommen in diesen innosgeweihten Hallen. Dein Gesicht ist mir nicht bekannt.“ Der Magier sprach mit einer langsamen, gemächlichen Stimme.
    „Ich kam erst gestern in die Stadt.“
    Der Magier lächelte. „Ich verstehe, ich verstehe. Und nun kommst du in den Tempel des Strahlenden. Das ist löblich, mein Sohn. Ich bin Daron, einer der Magier dieses Tempels. Ich hüte die Schafe des Herrn – und nebenbei empfange ich die Spenden der Schafe an ihren Hirten. Möchtest du ein Gebet an unseren Herren richten und seiner Kirche etwas spenden? Oder soll ich dir die Beichte abnehmen? Innos ist gütig und gerecht. Gegen eine entsprechende Spende an die heilige Kirche wird er dir all deine Verfehlungen vergeben und dir Einlass in sein himmlisches Reich gewähren, gleich, welche Untaten du begangen haben magst.“
    „Eigentlich hatte ich erst einmal nur eine Frage.“
    Das Lächeln verschwand aus Darons Gesicht. „Aber aber, mein Sohn. Willst du dem Herrn nicht deine Ehrerbietung erweisen?“
    „Selbstverständlich. Aber meine Frage ist dringend. Verzeiht mir bitte.“
    „Nun gut, mein Sohn. Stell deine Frage. Bist du dir ungewiss über den Willen des Herrn? Suchst du geistigen Beistand? Fürchtest du, nicht innosgefällig gehandelt zu haben?“
    „Nein, nichts dergleichen. Es geht um Lord Hagen. Ich hörte, Ihr Feuermagier hättet uneingeschränkten Zutritt zum Rathaus.“
    „Das ist richtig mein Sohn. Wir sind die Erwählten Innos’, die sein Wort verkünden. Allein wir kennen den Willen des Herren. Deshalb vertrauen die Paladine auf unsere Weisheit und erbitten mitunter unseren Rat. Auch der Großmeister – Innos halte seine schützende Hand über ihn – bildet hier keine Ausnahme. Er steht auch in Kontakt mit unserem heiligen Kloster und dem Rat des Feuers. Doch sag, mein Sohn, weshalb interessiert dich das?“
    „Ich muss dringend mit Lord Hagen sprechen.“
    „Und warum, mein Sohn? Die Paladine sind die heiligen Streiter, die im Namen des Gerechten in den Kampf ziehen. Ihre Aufgabe ist es, wider die schändlichen Diener der Finsternis zu streiten und sie für ihre Verfehlungen zu strafen. Wenn du aber eine Spende an den Herrn entrichten willst, so können wir, die Erwählten, dir eher helfen.“
    „Nein, Ihr habt mich falsch verstanden. Ich habe eine Nachricht für Lord Hagen.“
    „Eine Nachricht?“ Daron schien verwundert.
    „Ja und ich muss sie ihm unbedingt überbringen. Es ist sehr wichtig.“
    „Sag, mein Sohn, was ist dies für eine Nachricht?“
    „Es… geht um den Feind. Eine Armee Beliars bedroht die Stadt.“
    Daron schien einen Augenblick erschrocken, fasste sich jedoch sofort wieder. „Wenn dem so wäre, mein Sohn, so wüssten wir davon. Sei dir versichert, dass wir, die Erwählten Innos’, allzeit über die Geschehnisse dieser Welt Bescheid wissen. Der Rat des Feuers richtet seinen Blick auch in die Ferne und wacht über die Geschicke dieser Welt. Es gibt nichts, was unseren Augen entgeht. Glaube mir, mein Sohn, würden die Feinde des Gleißenden diese Stadt bedrohen, so würde uns dies nicht entgehen und in einem solchen Falle würden die heiligen Streiter die verderbten Kreaturen Beliars im Namen des Gütigen strafen.“
    „Aber…“
    „Zweifelst du an meinen Worten, Sohn?“
    „Nein, Ehrwürdiger. Aber dennoch. Ich muss mit Lord Hagen sprechen.“
    „Unmöglich. Der Großmeister muss sich um wichtigere Dinge als die Belange des gemeinen Volkes kümmern. Er handelt im Auftrag des Erwählten selbst. Unser großer König, Rhobar II., sandte ihn aus. Von ihm, dem höchsten Erwählten des Feurigen, wurde er mit einer heiligen Mission betraut. Deshalb kann er sich nicht um die unwichtigen Belange der niederen Bürger sorgen. Allein wir Magier haben das Recht, ihn zu jeder Zeit aufzusuchen. Denn wir sind die Erwählten. Durch uns spricht Innos. In seinem Namen handeln wir, nach seinem Willen sprechen wir Recht und sein Wort verkünden wir.“
    „Könnt Ihr mich nicht ins Rathaus bringen?“
    „Freilich hätten wir, die Erwählten, die Macht dazu, doch werden wir es nicht tun. Es gibt keine Bedrohung und somit auch keinen Grund, den Großmeister des heiligen Ordens der Paladine zu belästigen. Wenn du aber gewillt bist, dich in den Dienst Innos’ zu stellen, so kannst du ein Novize unseres Klosters werden. Wir nehmen jeden auf, der reinen Herzens ist und ein innosgefälliges Leben führt. Bei deinem Eintritt ins Kloster werden dir all deine Sünden vergeben. Alles, was du tun musst, ist, deine Hingabe an den Herrn zu beweisen, indem du dem Kloster eine kleine Spende von einhundert Goldmünzen und einem Schaf als Tribut entrichtest. Dann sind wir gewillt, dich als Novizen aufzunehmen. Als solcher hättest du die heilige Pflicht, der Gemeinschaft zu dienen. Du müsstest die im Kloster anfallenden Arbeiten verrichten und so Innos dienen.“
    „Nein danke, kein Interesse.“ Enttäuscht wollte ich mich zum Gehen wenden.
    „Warte, mein Sohn!“, hielt Daron mich auf. „Du willst doch nicht diese geheiligten Hallen verlassen, ohne ein Gebet an den Herrn und eine Spende an seine Kirche entrichtet zu haben, auf dass dir deine Verfehlungen vergeben werden.“
    „Doch, genau das hatte ich vor“, entgegnete ich und wandte mich zum Gehen.
    „Der Gerechte wird dich strafen!“, rief Daron mir hinterher. „Der Herr sagt, gebt, wenn ihr habt. Wer aber geizig ist und sich weigert, der heiligen Kirche eine Spende zu entrichten, dem werden seine Sünden nicht vergeben werden und der wird keinen Einlass finden in Innos’ himmlisches Reich, sondern der wird hinabgerissen werden in die Schatten und auf ewig in den schwarzen Hallen Beliars schmoren!“

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    Ein Gefallen für Matteo


    Ich verließ den Tempel wieder. Zugegeben, ich hatte nicht wirklich daran geglaubt, dass die Magier mir weiterhelfen würden. Tatsächlich war das Gespräch genauso gelaufen, wie ich es nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Feuermagiern erwartet hatte.
    Mein nächstes Ziel waren die Handwerksmeister der Unterstadt. Ich hatte vor, die einflussreichsten von ihnen, von denen Bartok gesprochen hatte, aufzusuchen. Vielleicht hatte ich bei ihnen mehr Glück. Bartok hatte erwähnt, dass Matteo den meisten Einfluss unter den Handwerkern hatte. Und so brauchte ich auch nicht lange zu überlegen, wohin ich meine Schritte lenken sollte.
    Da ich den genauen Weg nicht kannte, fragte ich einen an einer Hauswand sitzenden Bürger nach dem schnellsten Weg zur Kaufmannsgasse. „Bist wohl nicht von hier, was?“, fragte der Bürger. Ich verneinte mit einem Kopfschütteln. „Mach dir nichts draus, ich auch nicht.“ Der Kerl machte einen recht abgerissenen und ungepflegten Eindruck. Ich vermutete, dass er die meiste Zeit vor dieser Hauswand verbrachte. „Ich bin Regis“, erklärte er inzwischen. „Ich komme eigentlich vom Festland.“
    „Und warum sitzt du jetzt hier?“
    „Ach.“ Mein Gegenüber fuhr sich durchs verfilzte Haar. „Der verdammte Krieg. Irgendwann haben die Grünfelle Montera erobert und da war mir klar, dass es aus ist. Hab dann ein Schiff hierher genommen. Ist schon ne Weile her. Mein letztes Geld ist damals für die Überfahrt draufgegangen. Seitdem sitze ich hier und ab und zu besauf ich mich am Freibierstand. Hm, kann wohl nur noch zur Miliz gehen. Aber das will ich nicht. Hab keine Lust, mich für den König von den Orks abschlachten zu lassen. Aber du wolltest ja in die Kaufmannsgasse. Hm. Siehst du das große Haus da vorne auf der anderen Seite des Platzes? Und den Durchgang, der da durchführt? In dem Durchgang hat Constantino seinen Laden. Das ist hier der örtliche Giftmischer.“ Regis gluckste. „Und dahinter ist dann auch schon die Kaufmannsgasse mit den Läden von all den Handwerkern.“ Er grinste. „Hast du übrigens schon gehört? Bosper, dem Bogner, haben sie einen Bogen gestohlen – am helllichten Tage! Die Diebe werden auch immer dreister. Die Miliz hat den ganzen Hafen auf den Kopf gestellt – aber natürlich haben die Deppen nichts gefunden.“ Er lachte.
    „Na gut, danke jedenfalls“, verabschiedete ich mich.
    Ich ging auf das Haus zu, das Regis mir gezeigt hatte. Ein schmaler Durchgang führte durch das große Fachwerkhaus. Auf einer Seite des Durchgangs lag eine Tür, über der ein Schild mit einer darauf abgebildeten Flasche und der Aufschrift „Apotheke zum brodelnden Trank“ hing. Dies musste der Laden des Alchemisten Constantino sein.
    Ich ignorierte den Laden und folgte dem kurzen Durchgang. An dessen Ende lag auch schon die breite Straße, die am Südtor begann und die ich schon beim Betreten der Stadt gesehen hatte. Dieses Mal jedoch befand ich mich genau am anderen Ende der Straße. Zu meiner Rechten endete sie vor einem einstöckigen, steinernen Gebäude. Direkt gegenüber dem Tunnel begann eine weitere breite Straße, die quer zu dieser nach Westen verlief. Diese Straße jedoch war staubig und nicht ganz so breit. Sie führte bergab in ein tiefer gelegenes Viertel voller einfacher Holzhütten – das Hafenviertel. Die relativ gerade Straße endete an der Kaimauer des Hafens.
    Ich folgte der breiten Kaufmannsgasse. Zu beiden Seiten erhoben sich die Läden und Werkstätten der hiesigen Handwerker. Geschäftiges Treiben herrschte in dieser Straße. Neugierig schaute ich mich um. Khorinis war wirklich eine große, reiche Stadt. Hier gab es alles, was man sich nur vorstellen konnte – einen Hufschmied und einen Steinmetz, einen Korbbinder und einen Seiler, einen Maurer und einen Dachdecker, einen Metzger und einen Bäcker und vieles, vieles mehr.
    Schließlich hatte ich das Ende der Straße erreicht und stand wieder vor dem Südtor, durch das ich die Stadt am Vortag betreten hatte. Ich stand nun zwischen den beiden letzten Häusern der Straße. Über dem linken hing ein Schild mit der Aufschrift „Zum tödlichen Pfeil“. Das Schild über dem rechten verkündete „Matteos Allerlei“. Hinter den beiden Häusern lag zur Linken der Eingang zum Oberen Viertel, zur Rechten ein kleiner Hof zwischen Matteos Laden und der Stadtmauer. Ein Milizsoldat stand vor dem Hof und schien ihn zu bewachen.
    Ich selbst betrat ohne Umschweife Matteos Laden. „Ah willkommen, willkommen!“, begrüßte mich Matteo überschwänglich. Er war in ein feines und doch schlichtes Wams gekleidet. Sein dunkelbraunes Haar war an den Schläfen stark ergraut, ebenso der schmale Schnurrbart. „Ich bin Matteo, Schneidermeister und Händler für Diverses. Ich bitte um Entschuldigung, doch meine Auswahl ist derzeit nicht sonderlich groß. Vor wenigen Tagen haben die Paladine meinen Hinterhof mit allen dort befindlichen Waren beschlagnahmt. Sie haben sogar eine Wache aufgestellt.“
    „Ich hatte auch nicht vor, etwas zu kaufen“, erklärte ich.
    „So? Was führt dich dann zu mir?“
    „Ich hörte, du bist sehr einflussreich.“
    „Nun, das will ich nicht leugnen. Tatsächlich kann ich ohne falsche Bescheidenheit behaupten, der reichste Mann dieser Stadt außerhalb des Oberen Viertels zu sein. Ich habe viele Kunden und viele gute Beziehungen. Des Weiteren will es die Tradition, dass stets fünf der Handwerksmeister von Khorinis im Stadtrat sitzen und dort die Handwerkszünfte vertreten. Wie es der Zufall so will, bin ich einer dieser fünf Handwerksmeister und das nun schon seit vielen Jahren. Die anderen vier Handwerker im Stadtrat wechseln praktisch mit jeder Wahl. Allein ich bin über lange Zeit ein stetiges Mitglied des Stadtrates geblieben. Und auch wenn dieser von den Paladinen vorübergehend aufgelöst wurde, so verfüge ich dennoch über weitreichende Beziehungen.“
    „Gut und wärest du in der Lage, mich ins Obere Viertel zu bringen?“
    „Zu den Paladinen?“ Matteo zog die Augenbrauen hoch. „Was willst du denn von denen? Nun es geht mich ja eigentlich nichts an“, ergänzte er rasch. „Und was für ein Geschäftsmann wäre ich, wenn ich Fragen stellen würde. Hm. Hast du denn schon einmal versucht, an den Wachen vorbeizukommen?“
    Ich schüttelte den Kopf. „Und ich denke, das kann ich mir sparen.“
    Matteo nickte. „Höchstwahrscheinlich. Die beiden Paladine dort oben werden keine Ausnahme machen. Du könntest ihnen auch erzählen, dass im Hafen gerade eine Flotte orkischer Kriegsgaleeren anlegt, sie würden sich keinen Millimeter von der Stelle rühren – weil sie ihre Befehle haben.“
    „Und bist du jetzt in der Lage, mich an ihnen vorbeizubringen?“
    „Hm, einfach wird es nicht. Neulich wollte ich selbst in die Oberstadt. Da haben mich die beiden Witzfiguren dort am Tor doch tatsächlich gefragt, was ich dort wolle.“
    „Und?“
    „Natürlich haben sie mich schließlich doch noch reingelassen. Ich hatte meinen Laden schon in dieser Stadt, da haben die meisten von diesen Wichtigtuern noch mit Holzschwertern Schweine gejagt. Nun, aber ich denke, es sollte mir möglich sein, dir über meine Beziehungen Zutritt zur Oberstadt zu verschaffen. Natürlich erwarte ich eine kleine Gegenleistung. Die Frage ist, wie wichtig ist dir der Zugang zum Oberen Viertel?“
    „Wie meinst du das?“
    „Ich will dreißig Goldstücke.“
    „Du Halsabschneider!“, entfuhr es mir.
    „Reg dich ab. Es ist ja nicht dein Gold, das ich haben will. Im Grunde ist es mein Gold.“
    „Wie soll ich das verstehen?“
    „Ganz einfach: Es geht um Gritta, die Nichte von Thorben. Sie ist ganz verrückt nach neuen Kleidern. Ich habe sie noch nie zweimal dasselbe tragen sehen. Und immer muss es etwas Extravagantes sein. Die Kleine putzt sich gern fein raus und benimmt sich, als wäre sie eine von den Damen aus der Oberstadt. Doch sie gerät ständig mit den Zahlungen in Verzug. Und jetzt schuldet mir dieses kleine Gör dreißig Goldstücke. Du sollst sie mir wiederbeschaffen.“
    „Wenn’s weiter nichts ist.“
    „Sei vorsichtig. Thorben ist der hiesige Tischler und Schlosser und ebenfalls Mitglied im Stadtrat. Du solltest ihn nicht verärgern. Wie ich ihn kenne, dürfte er aber selbst recht wütend auf sie sein, wenn er davon erfährt. Ich denke nicht, dass er dir Probleme macht.“
    „Gut, dann werde ich mich gleich darum kümmern.“
    „Wunderbar!“ Matteo grinste.
    „Thorbens Haus findest du am anderen Ende der Straße. Schräg gegenüber von Harad dem Schmied.“

    Ich machte mich direkt zu Thorbens Tischlerei „Zur guten Truhe“ auf. Ein großer Stapel Bretter lag vor der Tür. Im Innern standen mehrere halbfertige Regale, eine Truhe ohne Deckel und eine an der Wand lehnende Tischplatte – die zugehörigen Beine lagen direkt daneben. Der Tischler, ein Mann mittleren Alters mit Sägemehl in den aschblonden Haaren, saß jedoch an einem Tisch und schien an einem Schloss zu arbeiten. „Guten Tag“, grüßte ich.
    Der Tischler, der mich zuvor anscheinend überhaupt nicht bemerkt hatte, blickte nun auf. „Innos zum Gruß. Ich bin Meister Thorben, Tischler dieser Stadt und ebenso der hiesige Schlosser – denn was nützt eine stabile Truhe ohne ein gutes Schloss? Kann ich etwas für dich tun?“
    „Ich komme wegen Gritta.“
    „Was?! Es geht doch nicht etwa um Geld oder?“
    „Doch, sie schuldet Matteo dreißig Goldstücke.“
    „Dieses kleine Miststück! Das darf doch nicht wahr sein! Seit sie bei mir wohnt, bringt sie mir nichts als Ärger. Sie hat sich mittlerweile bei so gut wie allen namhaften Händlern dieser Stadt verschuldet. Ich musste schon einen riesigen Kredit bei Lehmar dem Geldverleiher wegen ihr aufnehmen. Wenn das so weitergeht, lande ich wegen ihr noch im Schuldenturm.“ Er seufzte. „Nur zu, geh ruhig nach oben und sprich mit ihr. Aber sie hat das Geld nicht.“
    „Wir werden sehen. Zuvor hätte ich aber noch eine andere Frage.“
    „Stell sie.“
    „Ich hörte, du vermisst deinen Lehrling.“
    Thorben seufzte abermals. „Ja, manchmal frage ich mich, was ich getan habe, dass Innos mich so straft. Doch wir dürfen nicht zweifeln.“
    „Was ist denn passiert?“
    „Nun, mein Lehrling – Elvrich hieß er – hat mir nichts als Ärger gemacht. Er war als Tischler ganz brauchbar, aber hatte nur Flausen im Kopf. Jeden Abend verbrachte er am Freibierstand und jedem Weiberrock hat er hinterher geschaut. Nun und eines Tages war er dann verschwunden.“
    „Einfach so?“
    „Ich weiß es nicht. Er hat sich häufig in diesem schmierigen Bordell am Hafen rumgetrieben. Gewarnt hab ich ihn noch, dass das nicht innosgefällig sei und dass er sein Geld lieber im Tempel spenden soll, wie alle frommen Menschen. Eines Tages jedenfalls kam er nicht mehr von dort zurück. „Vielleicht liegt er noch bei so einer Dirne im Bett“, hab ich mir gedacht, aber er kam einfach nicht wieder. Ich war sogar bei der Miliz, aber auch die wussten keinen Rat.“
    „Gut“, sagte ich zögerlich. „Danke für die Auskunft.“
    Thorben nickte. „Ich habe inzwischen wenig Hoffnung, den Jungen noch mal wieder zu sehen.“
    „Ich werd dann mal hochgehen und nach Gritta schauen.“
    „Tu das, doch du wirst kein Geld bei ihr finden.“
    Während ich die schmale Treppe in den Wohnbereich hinaufstieg, nahm ich mir fest vor, mich noch heute am Hafen umzusehen. Alle Spuren schienen dorthin zu führen. Die meisten Vermissten stammten von dort und auch von den Vermissten, die aus der Unterstadt stammten, schienen einige unten am Hafen verschwunden zu sein.
    Gritta stand oben vor einem Spiegel mit goldenem Rahmen und schien gerade dabei zu sein, ihr hüftlanges, blondes Haar zu kämmen. Matteo hatte nicht übertrieben, was ihren Geschmack bei Kleidern betraf. Sie trug ein fließendes, hellgrünes Gewand aus feinstem Stoff. Als sie mich im Spiegel erblickte, wirbelte sie herum. „Wer bist du? Was willst du hier?“, fragte sie hysterisch.
    „Schon gut, ich tu dir nichts“, beschwichtigte ich sie.
    „Dann geh – oder ich schreie!“
    „He, immer schön langsam, Mädel. Ich komme von Matteo. Mir scheint, du schuldest ihm noch das eine oder andere Goldstück.“
    Grittas Miene verfinsterte sich. „Er will sein Geld? Wofür denn? Er hat mir fehlerhafte Ware verkauft: Schlechter Stoff und schlechte Nähte. Und hast du mal diese Farben gesehen? Das sind nicht die Farben, die ich bestellt hatte. Das ist Betrug!“
    „Du hast dir von ihm Kleider nähen lassen und sie nicht bezahlt. Der Rest ist mir egal.“
    „Ich bin nur eine arme Witwe! Dieser elende Halsabschneider Matteo. Damals, als mein Mann noch lebte, hätte er sich das nicht getraut! Oh mein armer Mann. Was war er doch für ein guter Kerl: Intelligent, gutaussehend, ein Kavalier der alten Schule. Wir hatten alles: Liebe, Glück, Vermögen. Manchmal wurden wir sogar eingeladen, zur feinen Gesellschaft. Oh, was waren das für wundervolle Feste. All die schönen Kleider und Frisuren! Und die kultivierten Unterhaltungen. Es war einfach alles perfekt. Damals hätte sich niemand getraut, das Herz einer armen Witwe mit solch lächerlichen Forderungen zu beschämen. Womit soll ich die Kleider denn bezahlen? Das Geld reicht ja kaum zum Leben. Seit Wochen kam kein Schiff mehr in die Stadt. Als mein Mann noch lebte, war alles viel besser. Er selbst war Handelsschiffskapitän. Ja nicht nur Kapitän – das Schiff gehörte ihm! Er unternahm damit Reisen in ferne Länder und brachte mir stets kostbare Geschenke mit: Edle Kleider vom Festland oder feine Gewürze von den Südlichen Inseln – die meisten Menschen kennen so etwas doch gar nicht! Doch eines Tages hatte das Glück ein Ende. Eines Tages erreichte mich die Nachricht vom Untergang der Gritta – so hieß sein Schiff, er hatte es aus Liebe zu mir so getauft! Oh was habe ich geweint und gefleht. Tagtäglich habe ich zu Innos gebetet, er möge mir doch meinen Mann zurückbringen. Doch er kam nicht. Seitdem lebe ich bei meinem Onkel Thorben, hier in diesen ärmlichen Verhältnissen und muss mich auch noch um das Haus kümmern. Und jetzt kommt dieser schmierige, kleine Matteo und verlangt von mir, einer armen Witwe…“
    „Schluss jetzt, mir wird sonst noch schlecht. Wenn du das Gold nicht hast, können wir ja einfach ein paar von deinen Kleidern verkaufen.“
    „Was?!“, schrie Gritta spitz auf. „Wag es nicht, du Rüpel! Ist ja gut, ist ja gut, hier hast du dein Gold.“ Sie marschierte zu einem kleinen Schrank, nahm einen schweren Geldbeutel daraus hervor und gab ihn mir. „Und nun geh!“, verlangte sie mit theatralischer Stimme.

    „Deine Nichte hatte das Gold“, sagte ich, als ich wieder unten in Thorbens Werkstatt stand.
    „Was?! Diese kleine Schlange! Das war mein Gold!“ Thorben seufzte. „Nun gut, behalte es. Grittas Schulden bei Matteo müssen so oder so beglichen werden. Innos weiß, wie ich jetzt jemals wieder meine Schulden bei Lehmar bezahlen soll.“

    Ich verließ schließlich Thorbens Werkstatt und gab Matteo sein Gold zurück. Dieser zeigte sich sehr zufrieden und bat mich, ihm einige Tage Zeit zu lassen.
    Geändert von Jünger des Xardas (22.09.2010 um 09:13 Uhr)

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    Der König der Diebe

    Kurz stattete ich auch Bosper einen Besuch ab. Neben seiner Tätigkeit als Bogner, stellte dieser auch leichte Rüstungen aus dem Leder, das seine Jäger ihm brachten, her. Eine solche kaufte ich mir bei ihm. „Bestes Snapperleder, doppelt gehärtet, bietet leichten Schutz, ohne dabei die Bewegungsfreiheit einzuschränken, perfekt für Jäger und Abenteurer“, schwärmte er.

    Nun folgte ich der Kaufmannsgasse wieder in Richtung Harads Schmiede. Es wurde Zeit, mich am Hafen genauer umzusehen. Zum einen hoffte ich, mehr über die Vermissten herauszufinden, zum anderen hatte Vatras mir geraten, hier seinen Vertrauten, den mir aus der Kolonie wohlbekannten Lares, aufzusuchen.
    So bog ich bei Harads Schmiede in die große, staubige Straße, die bergab in den tiefer gelegenen Hafen führte. Das Bild der Stadt änderte sich schlagartig. Wo eben noch mächtige Fachwerkhäuser aufragten, waren nun ringsum nur kleine, schäbige Holzhütten zu sehen, von denen jede nur einen Raum besaß. Die Straßen waren staubig und verdreckt und aus den Seitengassen stank es unangenehm. Die Leute machten einen ärmlichen, abgerissenen Eindruck. Ratten tummelten sich in den Gassen und Bettler hockten am Straßenrand. Ein Mann rauchte mitten auf offener Straße einen Stängel Sumpfkraut, dabei grüne Rauchwolken ausstoßend, obwohl die Droge hier in der Stadt verboten war. Doch von der Miliz fehlte jede Spur. Weit und breit konnte ich keinen der Ordnungshüter entdecken.
    Als ich mich dem Ende der Straße und damit der Kaimauer näherte, schlug mir eine salzige Brise entgegen und ich konnte über mir das Gekreische von Möwen hören.
    Schließlich endete die Straße direkt an der Kaimauer und damit auch die Häuser. Zu meiner Rechten erhob sich ein größeres Gebäude. Ein Mann lag reglos in einer Lache Erbrochnem zu Füßen des Gebäudes. Ich hatte mich in der Kolonie mit der Zeit an solche und ähnliche Anblicke gewöhnt, dennoch war ich nicht allzu erpicht darauf, abermals mit ihnen konfrontiert werden zu müssen.
    Ich trat an dem Haus vorbei an die breite, steinerne Kaimauer. Die Straße hatte mich ziemlich in die Mitte des Kais geführt.
    Ich blickte nach Norden. Am Ende des Kais konnte ich eine breite Rampe ausmachen, die auf einen kleinen, an die Kaserne anschließenden Platz hinaufführte. Dahinter ragte eine große Klippe auf, auf der sich wiederum ein alter Leuchtturm erhob.
    Auf der anderen Seite wurde die Stadt ebenfalls von einem Felsen begrenzt. Ein langer, schmaler Ausläufer des Felsens ragte, einem großen Arm gleich, hinaus ins Meer. Die Kaimauer endete an dem Felsen. Eine zweite, wenn auch wesentlich kürzere, begann hier jedoch. Sie schmiegte sich an den Berg und verlief so fast quer zu der, an der ich stand. Durch den langen Felsarm im Süden und die Klippe im Norden entstand eine Bucht vor der Stadt. Weiter draußen, vielleicht zwei Kilometer vom Hafen entfernt, konnte ich zwei kleine Inseln ausmachen, die beide kaum größer schienen als es ein gewöhnliches Haus in der Unterstadt war.
    Kräne zum Verladen von Kisten standen an der Hafenmauer. Ebenso fanden sich Poller in regelmäßigen Abständen und hie und da ein zusammengerolltes Tau. Schiffe lagen jedoch keine am Hafen, lediglich einige wenige Fischerboote.
    „He, kenn ich dich nicht?“ Ich wandte den Kopf. Ein Mann, der bis eben an der Hafenmauer gestanden hatte, war auf mich aufmerksam geworden und hatte mich angesprochen. In seiner einfachen, braunen Kleidung unterschied er sich kaum von den anderen Bürgern, doch nun musterte ich ihn genauer. Er hatte schwarzes Haar und einen schmalen Vollbart. Eine feine Narbe lag knapp oberhalb seines rechten Auges und verlieh seinem Gesicht einen verwegenen Ausdruck.
    „Lares!“ Er war es tatsächlich. Der größte Dieb aller Zeiten, der Führer der Banditen des Neuen Lagers, die rechte Hand des Söldnerhauptmanns Lee.
    „Wie er leibt und lebt. Du kommst doch auch aus der Kolonie oder? Du bist doch der Kerl, der zu uns übergelaufen ist und erst unsere Mine befreit hat, um dann dem Erzhaufen seine Energie zu entziehen.“ Lares lachte. „Mann, das war vielleicht ne Aktion. Die Wassermagier haben ganz schön blöd aus der Wäsche geguckt.“
    Ich grinste. „Ja, das bin ich.“
    „Hätte nicht gedacht, dich noch mal wieder zu sehen.“
    „Und was machst du hier?“
    „Taschen füllen“, grinste Lares. „Ein Dieb kann seine alten Gewohnheiten nun mal nicht so leicht ablegen. Aber ehrlich gesagt, hatte ich mir mehr erhofft. Diese Stadt ist nicht mehr das, was sie mal war. Dabei gab es hier früher so schön viel zu holen. Ich meine, Khorinis ist nicht Geldern, aber dennoch. Ich hab hier einige lohnende Raubzüge durchgeführt. Und die Kollegen…“ Er grinste breit.
    „Kollegen?“
    „Na die andren Diebe halt. Ich hab ja nicht alles allein gemacht. Ab und zu hatte ich einen Partner oder besser eine Partnerin. Und sie war ziemlich gut. Natürlich konnte sie es nicht mit mir aufnehmen, aber sie hatte dennoch Talent – und nicht nur im Klauen, wenn du verstehst.“ Lares’ Grinsen wurde noch breiter. „Na, wie dem auch sei. Ich bin natürlich nicht nur hier, um die Leute um ihr Geld zu erleichtern.“
    „Sondern?“
    „Nun, du hast doch sicher vom Bauernaufstand gehört?“
    „Klar.“
    „Tja, dann weißt du auch, dass Onar Söldner aus der alten Kolonie angeheuert hat. Das sind die Jungs.“
    „Deine Jungs?“
    „Meine Jungs, Lees Jungs. Was noch vom Neuen Lager übrig ist. Viele haben sich natürlich verstreut und sitzen jetzt als Banditen irgendwo in den Wäldern, aber einige der Söldner sind bei Lee geblieben und einige Banditen haben sich ihnen auch angeschlossen. Sie stehen jetzt im Dienst des Großbauern.“
    „Und warum bist du nicht bei ihnen?“
    „Bin ich doch! Nur eben nicht auf dem Hof. Ich soll die Stadt und die Paladine im Auge behalten – und natürlich das Schiff!“
    „Das der Paladine? Diese… Esmeralda?“
    „Tja, viele andere Schiffe gibt’s hier nicht oder?“
    „Und wieso sollst du das im Auge behalten?“
    „Damit es nicht ohne uns abfährt. Lee will uns alle von dieser verdammten Insel wegbringen. Er hat große Pläne.“
    „Wie will er das anstellen?“
    „Da fragst du ihn am besten selbst. Du solltest dich ohnehin mal auf Onars Hof blicken lassen. Einige von den Jungs werden sich sicher freuen, dich zu sehen. Ha, Lee wird Augen machen!“
    „Ja, aber erst mal muss ich versuchen, ins Obere Viertel zu kommen.“
    „Was willst du denn da oben bei den reichen Schnöseln?“
    „Ich muss zu den Paladinen. Sie haben ein mächtiges Artefakt, das Auge Innos’. Ich muss es haben.“
    „Und du glaubst, sie werden es dir so einfach geben?“
    „Nein, aber ich muss es versuchen. Es ist sehr wichtig.“
    „Nun, ich kann dir nicht helfen. Reinkommen ist zwar leicht, aber ich denke, wenn du mit den Paladinen reden willst, musst du auf legalem Weg rein und darfst nicht einfach ins Rathaus einbrechen.“
    „Ja, das denke ich allerdings auch.“
    „Hm. Sprich doch mal mit Lee. Könnte mir vorstellen, dass dem mal wieder irgendein genialer Plan einfällt.“ Lares lachte. „Kannst natürlich auch den Bürgern ihren Arsch hinterher tragen.“
    „Könntest du mich zum Hof des Großbauern führen?“, fragte ich.
    „Nein. Zumindest nicht im Moment. Ich kann hier nicht weg.“
    „Warum nicht.“
    „Ich kann hier nicht weg. Mehr kann ich dir nicht sagen.“
    „Hat es mit dem Ring des Wassers zu tun?“
    Lares schien kurz überrascht, dann jedoch lachte er. „Davon weißt du also auch schon. Mann, du steckst ja überall mit drin. Was weißt du alles?“
    „Nicht allzu viel. Aber ich will mich euch anschließen. Ich war auch schon bei Vatras. Er hat mich auch zu dir geschickt.“
    „Nun, wenn Vatras dich schickt.“
    „Wie kommst du zum Ring?“
    „Ich? He, ich hab die Wassermagier in der Kolonie so stark unterstützt, die konnten gar nicht anders, als mich aufzunehmen.“
    „Kannst du mir vielleicht noch etwas mehr erzählen?“
    „Nein, besser nicht. Ich denke, Vatras hat dir schon alles nötige gesagt. Wir sind eine Geheimgesellschaft und das soll auch noch eine Weile so bleiben. Gerade hier im Hafen gibt es zu viele Ohren.“
    „Gut, aber du kannst mir doch wenigstens sagen, was du für den Ring hier machst oder?“
    „Im Augenblick nichts Großes. Ich soll halt den Hafen im Auge behalten. Hier sind immer einige zwielichtige Gestalten unterwegs. Vor allem soll ich aber Ausschau halten und aufpassen, dass nicht noch mehr Leute verschwinden.“
    „Heißt das, du bist auch hinter den Vermissten her?“
    „Nein, ich behalte nur den Hafen im Auge. Wir haben an allen wichtigen Punkten der Stadt und auf der Insel Männer postiert, die diese Punkte im Auge behalten. Unter anderem wegen der Vermissten, aber nicht nur. Außerdem behalten wir diese Orte nur im Auge, wir stellen eher keine Nachforschungen an. Das machen wieder andere. Aber was sollte das „auch“?“
    „Vatras gab mir den Auftrag, herauszufinden, wieso die Leute verschwinden und wohin. Es ist meine Aufnahmeprüfung.“
    „Verstehe. Weißt du was? Vatras hat dich zu mir geschickt. Ich werd dir so gut helfen, wie ich kann.“
    „Danke. Was weißt du denn bereits?“
    „Vor allem, dass die Kaimauer kein guter Ort für ein Gespräch ist. Wie wär’s mit nem Bierchen in der Kneipe?“
    „Bei Coragon? Warum nicht.“
    „Nein, nicht Coragon.“ Lares deutete auf das große Gebäude, vor welchem ich noch immer den Mann in der Lache Erbrochenem ausmachen konnte. „Ich dachte da an Kardifs Hafenkneipe.“
    „Soll mir auch recht sein.“
    Geändert von Jünger des Xardas (16.08.2010 um 17:44 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Die Spelunke am Hafen


    „Die Kneipe ist neben dem Puff die größte Attraktion hier am Hafen“, erklärte Lares, während wir auf das Gebäude zugingen. „Da trifft sich alles. Vor allem aber die Unterwelt von Khorinis. Dort wird über Geschäfte verhandelt, dort werden Informationen getauscht. Die meisten Besucher dort sind ziemlich zwielichtige Gestalten, aber solange du keine Fragen stellst, wirst du geduldet. Und der Wirt, Kardif, kriegt ne Menge mit. Ich sag dir, der Kerl hört und sieht alles und was er nicht hört und sieht, das wird ihm zugetragen. Vielleicht solltest du ihn auch mal nach den Vermissten fragen. Selbstverständlich sind seine Informationen nicht umsonst.“

    „He, du willst doch nicht etwa in die Kneipe oder?“, hielt mich ein grobschlächtiger Türsteher auf.
    „Lass ihn, Moe, er ist sauber“, mischte Lares sich ein. Der Türsteher musterte mich misstrauisch, ließ mich dann jedoch passieren. Ich warf einen kurzen Blick auf das Schild über der Tür, bevor ich eintrat. „Zum ein Beinign Klabauta“, stand darauf. Dann betraten wir die Kneipe. Im Schankraum war es duster. Fenster gab es keine. Und nur das wenige Licht, das durch die Tür drang, erhellte den Raum. Zudem war es auch recht eng. Die zahlreichen Tische, die allesamt von einfachen Hockern umgeben waren, standen dicht beieinander. Zwielichtige Gestalten, nicht wenige davon in dunklen Umhängen oder mit Kapuzen und beinahe alle bewaffnet, saßen an den Tischen, tranken Bier oder Schnaps und unterhielten sich in gedämpftem Ton oder spielten Würfel, wie ich es an einem Tisch sah. Über allem hing eine schwere, wabernde Wolke grünlichen Dampfes, der von zahlreichen Sumpfkrautstängeln aufstieg und unter der Decke hängen blieb.
    Lares führte mich direkt an die Theke, wo wir uns auf zwei Hocker setzten. Ein schmutzigblonder, stämmiger Wirt in einer verdreckten Schürze schlurfte hinter der Theke langsam auf uns zu. Dabei putzte er ein dreckiges Glas mit einem noch viel dreckigeren Lappen. „Was darf’s sein?“, fragte er mit brummiger Stimme.
    „Zwei Bier für mich und meinen Kumpel“, bestellte Lares. Dann drehte er sich schwungvoll auf seinem Hocker herum, sodass er in den Raum hineinschaute und lehnte sich nach hinten an die Theke. „Wie ich’s dir gesagt hab: Die ganze Unterwelt von Khorinis.“ Auch ich drehte mich herum. „Siehst du zum Beispiel den Kerl dahinten am Würfeltisch? Da, das glatzköpfige Muskelpaket mit dem Sumpfkrautstängel. Das ist Meldor, der Geldeintreiber von Lehmar, dem Geldverleiher. Oder der Typ da in der Ecke. Nagur heißt der Kerl. Arbeitet für Halvor, den Fischhändler.“
    „Den Fischhändler?“ Ich zog die Augenbrauen hoch.
    „Nunja, sagen wir’s so: Halvor verkauft noch etwas mehr. Der dahinten mit dem Schnauzer ist übrigens Jesper. Er hat ein echtes Händchen für Schlösser. Der da, der kräftige, das ist Alrik. Ziemlich guter Kämpfer. Er veranstaltet illegale Kampfwetten hinter den Lagerhäusern. Glaub mir, hier triffst du alle wichtigen Leute des Hafens an. Wenn du hier was rausfinden willst, ist das der beste Ort dafür – neben der Roten Laterne. Tja und das gute daran ist, neben Informationen kannst du an beiden Orten noch anderes bekommen.“ Der Wirt kehrte zurück und stellte zwei verdreckte Humpen vor uns auf den Tisch. „Hier eben Bier und drüben im Puff…“ Lares grinste, nahm seinen Humpen und trank einen Schluck. „Der Laden ist übrigens nur zu empfehlen. Aber zurück zu den Vermissten.“
    „Warum kümmert sich eigentlich nicht die Miliz darum?“
    Lares lachte laut auf. „Die Deppen von der Miliz haben doch nichts drauf. Außerdem trauen die sich eh nicht an den Hafen. Sieh dich doch mal um. Hast du hier unten schon einen von diesen Wichtigtuern in ihren lächerlichen Hofschranzenuniformen gesehen? Nein, hier gibt es keine Patrouillen. Zum einen ist denen die Gegend zu heiß, zum anderen sind die Menschen hier am Hafen es im Gegensatz zur ehrbaren Bevölkerung im Oberen Viertel nicht wert, beschützt zu werden. Ich meine, schau dir die Gegend mal an! Der Hafen war schon immer ein armes, heruntergekommenes Viertel, aber dieser Tage ist es noch schlimmer.“
    „Ja“, bestätigte ich. „So viel habe ich schon mitbekommen. Gibt es hier auch jemanden, der keinen Dreck am Stecken hat?“
    „Weißt du“, begann Lares und stellte seinen Humpen ab. „Auch wenn die in der Oberstadt gern so tun, ist hier lange nicht jeder ein Gauner oder Halsabschneider. Die meisten hier sind einfach arme Schlucker, die nichts haben. Aber dieser Tage geht es ihnen schlechter als je zuvor. Früher hatten die meisten hier wenigstens Arbeit, wenn auch verdammt mies bezahlte. Die meisten haben sich als Hafenarbeiter verdingt. Viele von ihnen standen im Dienst Fernandos.“
    „Wer ist Fernando?“
    „Einer von den Säcken aus der Oberstadt. Ihm gehörten die Schiffe, die das Erz ans Festland und die Waren für Gomez, sowie die neuen Gefangenen hierher gebracht haben. Der Kerl hat sich ne goldene Nase mit dem Erz verdient und viele der Leute hier im Hafen haben die Erzkisten auf seine Schiffe geladen – für einen erbärmlichen Hungerlohn. Heute aber kommen keine Schiffe mehr und es wird auch kein Erz mehr gehackt. Fernando hat seine Ersparnisse, die armen Schlucker hier unten haben gar nichts. Hinzu kommt, dass alles immer knapper wird und die Preise steigen. Wer glaubst du, kriegt den Bauernaufstand in dieser Stadt als erstes zu spüren? Sicher nicht die Erzsäcke in der Oberstadt. So landeten viele, die hier unten lebten, auf der Straße, wurden noch ärmer als zuvor und mussten schließlich in krumme Geschäfte einsteigen. Nicht die, die du hier siehst. Das ist Stammkundschaft, das hier waren schon immer linke Vögel und die hier ziehen nur große Sachen durch. Die einfachen Hafenbewohner kommen hier nicht her und die steigen auch nicht in der Oberstadt ein. Diese Kerle bleiben mit ihren Gaunereien am Hafen, trauen sich höchstens mal in die Unterstadt. Das sind die, die hier wirklich zu leiden haben, die, die für ein paar Brotkrumen vor der Miliz wegrennen, die, deren Kinder hier unten Sumpfkraut verkaufen müssen. Aber glaubst du, um die kümmern sich die Erzsäcke da oben? Oder die Paladine? Glaubst du, da ist irgendjemand, der die Miliz wegen denen hier runterschickt? Nein, die Milizen kommen hier höchstens her, um sich in der Laterne zu vergnügen und die einzigen Paladine hier unten stehen bei ihrem Proviantlager am Weg zum Hochseehafen, bewachen ihre Ausrüstung und die Esmeralda. Nicht ein Milizionär oder Paladin lässt sich für gewöhnlich hier blicken, aber neulich, da haben sie Bosper, einem der wohlhabendsten und einflussreichsten Handwerksmeister in der Unterstadt, einen Bogen gestohlen – einen! – und sofort hat Andre die Milizen losgeschickt, die daraufhin das ganze Hafenviertel durchsucht haben. Gefunden haben sie natürlich nichts, aber war klar, dass sie so was wieder auf die armen Schlucker schieben.“ Lares schüttelte den Kopf. „Verdammt schlechte Zeiten sind das, sag ich dir. Ich will ja nicht so tun, als wäre hier früher alles perfekt gewesen, aber in letzter Zeit geht dieser Hafen wirklich vor die Hunde. Und für unser Geschäft ist das auch nicht gut.“
    Wir schwiegen eine Weile. Schließlich jedoch kamen wir wieder auf die Vermissten zu sprechen. „Der erste, der verschwunden ist, war ein Fischer namens William. Vielleicht solltest du mal runter zu den Fischern am Aufgang zum Hochseehafen. Dort lebt ein Kumpel von ihm, Farim. Der Ring hat allerdings schon mit ihm gesprochen und ist nicht viel weiter gekommen, soweit ich weiß. Na jedenfalls dachte man sich anfangs nicht viel dabei, aber dann verschwanden immer mehr Leute. Weitere Fischer, andere Hafenbewohner…“
    „Gibt es denn sonst irgendwelche Anhaltspunkte?“
    „Keine, von denen ich wüsste. Ich krieg hier auch nicht alles mit. Es gibt hier eine ziemlich einflussreiche Diebesgilde. Ich hatte früher… Kontakte zu ihr, aber seit ich wieder in der Stadt bin, hab ich mich eher von ihr fern gehalten. Hab höchstens mal mit den kleineren Fischen gesprochen, aber nie mit den wirklich bedeutenden Personen. Fremdes Territorium halt. Außerdem will ich mich etwas bedeckt halten. Solange es nicht nötig ist, muss nicht jeder wissen, dass ich wieder in der Stadt bin. Hast du denn schon etwas herausgefunden?“
    „Ich war bis jetzt nur in der Unterstadt. Dort sind weniger verschwunden, aber wie es scheint auch einige. Und alle Spuren führen zum Hafen. Die beiden heißesten Spuren, die ich bis jetzt hab, sind die von Elvrich, dem Lehrling von Thorben und von einem Jäger namens Trokar.“
    „Was weißt du über die beiden?“
    „Elvrich trieb sich häufig im Bordell rum und Trokar ist runter zum Hafen, um Sumpfkraut zu holen, kam aber nicht zurück.“
    „Nun, ich hab dir ja schon gesagt, dass du mal in die Laterne solltest und das nicht nur wegen der Informationen. Der Laden ist wirklich empfehlenswert. Und Sumpfkraut… Hm. Es gibt hier einige kleinere Dealer, die alle für denselben Kerl arbeiten. Ich weiß nicht so gut Bescheid über den Sumpfkrauthandel hier, aber ich glaube, das Zeug lagern sie in den Lagerhäusern.“
    „In den Lagerhäusern?“
    „Ja am nördlichen Ende der Kaimauer stehen drei große Lagerhäuser. Sie gehören Gerbrandt, noch so einem fetten Sack aus der Oberstadt. Die Wachen arbeiten ebenfalls für ihn. Entweder sie werden von irgendwem geschmiert oder Gerbrandt kontrolliert den Sumpfkrauthandel. Wenn man sich anschaut, in wie vielen krummen Geschäften der Kerl steckt, ist letzteres wohl nicht allzu unwahrscheinlich.“
    „Gut, danke für den Tipp.“
    „Pass aber auf, wenn du vorhast, dich da umzusehen. Die Wachen mögen es nicht, wenn man da rumschnüffelt. Und Gerbrandt hat einige passable Kämpfer engagiert. Du solltest dich also nicht mit ihnen anlegen.“
    „Keine Sorge, ich hab erst mal nicht vor, dahin zu gehen. Schließlich verschwindet nicht jeder, der dort Sumpfkraut kauft. Es hat also wahrscheinlich nichts mit dem Krauthandel zu tun. Der Kerl war ziemlich besoffen, als er los ist, um das Kraut zu kaufen. Was immer die Leute am Hafen verschwinden lässt, könnte auch ihn auf dem Hin- oder Rückweg erwischt haben. Solange ich noch andere Spuren habe, werd ich mich denen widmen.“
    Lares nickte anerkennend. „Gar nicht schlecht. Bist ein schlauer Kerl.“ Er grinste. „Hoffe nur, dass du nie zur Miliz gehst. Wär’ nicht gut fürs Geschäft.“
    Ich lächelte. „Noch irgendwelche Tipps?“
    „Nein, viel mehr kann ich dir momentan nicht raten. Am besten, schaust du wirklich mal in der Roten Laterne vorbei, redest mit diesem Fischer Farim und schaust dich, wenn sonst nichts hilft, doch mal bei den Lagerhäusern um. Ansonsten musst du wohl einfach die Leute hier am Hafen fragen. Wie gesagt, der Wirt könnte was wissen. Dann gibt es da noch Halvor. Der hat seinen Fischstand im Süden. Als Hehler kriegt der auch einiges mit.“
    „Gut.“ Ich trank den letzten Schluck Bier aus. „Dann fang ich am besten direkt an.“
    „Wohin willst du?“
    „Was ist denn am nächsten?“
    „Die Laterne“, grinste der Dieb.
    Ich zuckte mit den Schultern. „Soll mir auch recht sein.“
    Lares grinste. „Dann empfehl’ ich dir Nadja. Glaub mir, die kleine ist ihr Gold dreimal wert.“ Ich erhob mich.
    Gerade als ich mich zur Tür wandte, fiel mir noch etwas ein. „Beinahe hätt’ ich’s vergessen: Ich soll dir das hier von Vatras geben.“ Ich überreichte Lares das Ornament. „Er sagte, es muss zurückgebracht werden.“
    Lares seufzte. „Na klar, es bleibt mal wieder an mir hängen. Ich muss damit jetzt über die halbe Insel latschen.“
    „Soll ich es für dich überbringen?“
    „Ne, lass mal. Du kennst ja noch nicht mal den Weg. Aber wenn du willst, kannst du mich begleiten. Ich wette, Vatras hätte nichts dagegen. Da ist nur das Problem, dass ich nicht so einfach vom Hafen wegkomme. Hm… Hör mal.“ Lares zog sich einen bläulichen Ring vom Finger, wie ich ihn schon an Cavalorns Hand gesehen hatte. „Hier, das ist ein Aquamarinring, unser Erkennungszeichen. Wenn du den trägst, wird jeder, der zu uns gehört, denken, du wärst auch ein Mitglied des Rings. Geh damit bitte zum Marktplatz. Wir haben dort jemanden, der das Osttor im Auge behält, es ist Zuris, der Trankhändler. Zeig ihm den Ring und sag ihm, er soll mir ne Ablösung besorgen. Vorher kann ich hier nicht weg.“
    Ich nickte. „Wird gemacht.“
    „Danke.“ Lares grinste.
    Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 14:25 Uhr)

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    Die Rote Laterne


    Die rote Laterne stand weiter südlich an der Kaimauer. Ebenso wie Kardifs Kneipe handelte es sich um ein großes Gebäude, das aus der Masse der kleinen, ärmlichen Hütten aufragte. Sie war tatsächlich kaum zu übersehen. Noch dazu wurde ich auch von dem Türsteher sofort darauf aufmerksam gemacht, vor welchem Gebäude ich mich befand. „He Fremder, wo gehst du hin? Ganz egal, was du vorhast, dafür ist später noch Zeit. Du stehst hier vor der Roten Laterne, der Perle von Khorinis! Seefahrer aus aller Herren Länder legten schon in diesem Hafen an, nur um ein paar Nächte in der Roten Laterne verbringen zu können. Und du hast jetzt die Chance, ja sogar die Ehre, einige Stunden mit den leidenschaftlichsten Blüten der Götter zu verbringen. Worauf wartest du noch? Geh rein! Die nächsten Stunden deines Lebens wirst du so schnell nicht vergessen.“
    Durch die Tür betrat ich einen großen, recht dunklen Raum, in dem mehrere Sessel standen und dessen Boden mit einem alten, mottenzerfressenen Teppich ausgelegt war. Erhellt wurde er nur von einer großen, roten Laterne knapp unterhalb der Decke. Um diese Zeit schien das Bordell nicht allzu gut besucht. Ich konnte lediglich einen Gast ausmachen. Dieser – es handelte sich, der Rüstung nach zu urteilen, um einen Milizsoldaten – saß gerade in einem der Sessel, eine leichtbekleidete Frau auf seinem Schoß.
    Als ich eintrat, näherte sich mir lächelnd eine weitere, ebenso leichtbekleidete, recht junge und ausgesprochen hübsche Frau mit hüftlangem, braunem Haar. „He, Süßer.“ Sie schmiegte ihren Körper an mich und hauchte mir ins Ohr, „ich bin Nadja. Wie wär’s mit uns beiden?“
    „Ich hätte erst mal nur ein paar Fragen.“
    Ihre Miene verhärtete sich. „Was glaubst du, wo du hier bist? Wenn du quatschen willst, such dir ne Frau und heirate sie.“
    „Ich will nicht quatschen. Ich habe Fragen, wegen der vermissten Leute.“
    „Die Vermissten?“ Nadja horchte auf. „Hm. Ich könnte dir schon was über sie erzählen. Aber nicht hier. Bromor sieht es nicht gern, wenn wir uns während der Arbeit unterhalten. Geh erst zu ihm und handle den Preis aus, dann gehen wir hoch.“ Ich nickte und begab mich in Richtung des Tresens auf der anderen Seite des Raumes.
    Ein kleiner Mann mit grauem Haar und fleckiger Stirn wartete hinter dem Tresen. „Willkommen in der Roten Laterne!“, grüßte er mit öliger Stimme und breitem Grinsen. „Ich bin Bromor. Das hier ist mein Haus.“ Er wies grinsend auf die beiden anwesenden Freudenmädchen. „Und das sind meine Mädels. Ich mag meine Mädels. Und wenn du meine Mädels auch magst, dann bezahlst du mir dafür…“ Er legte den Kopf leicht schief und musterte mich einen Moment. „Einhundert Kupferlinge – pro Stunde.“
    „Ich hätte da eine Frage: Sind deine Mädchen alle vollzählig?“
    „Was?“, Bromor starrte mich entrüstet und misstrauisch an. „Aber natürlich sind sie das! Oder glaubst du, ich will wegen so etwas in den Knast kommen?“
    „Hä?“ Ich blickte ihn leicht irritiert an. „Nein, nicht volljährig – VOLLZÄHLIG!“ Tatsächlich bezweifelte ich aber auch ersteres, wenn ich mir die junge Frau in dem Sessel genauer ansah.
    „Ach so!“ Bromor grinste wieder breit. „Nun, jetzt wo du’s sagst. Mir fehlt tatsächlich eines meiner Mädels. Lucia hieß die kleine Schlampe.“
    „Weißt du, wo sie ist?“
    „Nein, aber sie ist vermutlich mit einem ihrer Freier abgehauen. Was viel schlimmer ist, ist, dass mich dieses kleine Miststück auch noch bestohlen hat, bevor sie abgehauen ist. Die Einnahmen einer ganzen Woche hat sie… He.“ Der Zuhälter kniff die Augen zusammen und musterte mich misstrauisch. „Was geht dich das eigentlich an? Willst du dich jetzt amüsieren oder nicht?“
    „Doch doch. Hier ist das Geld.“
    „Gut!“ Bromor hatte sofort wieder sein schmieriges Grinsen aufgesetzt. „Dann nimm dir eines meiner Mädels und geh mit ihr nach oben. Viel Spaß!“
    Wie auf Abruf stand Nadja wieder neben mir und nahm mich bei der Hand. „Komm mit, Süßer“, hauchte sie. „Die nächsten Stunden gehören nur uns.“
    Nadja führte mich eine Treppe auf der anderen Seite des Raumes hinauf und auf einen langen Gang. Zu beiden Seiten des Ganges lagen Türen. Die meisten waren geöffnet. Die kleinen Räume dahinter, die mit nichts weiter als einem Bett ausgestattet waren, waren zum Teil leer, zum Teil saßen die übrigen leichten Mädchen des Hauses darin – entweder allein oder zu mehreren und sich unterhaltend. Zwei Türen waren jedoch auch geschlossen. Gedämpfte, aber eindeutige Geräusche drangen daraus hervor.
    Nadja führte mich zu einem der leeren Zimmer und schloss die Tür hinter uns ab. „So, jetzt sind wir ungestört“, erklärte sie. „Bromor rastet leicht mal aus. Er will nicht, dass wir mit den Gästen sprechen.“
    „Und was weißt du nun über die Vermissten?“
    „Viel nicht, die Gerüchte, die hier am Hafen kursieren halt, aber ich kann dir von Lucia erzählen.“
    „Bromor hat sie erwähnt. Sie war eine von euch, nicht?“
    „Oh ja. Und sie war auch recht beliebt bei der Kundschaft. So manchem jungen Burschen hatte sie es angetan. Aber eines Tages war sie dann verschwunden. Wenn du mich fragst, ist sie mit einem ihrer zahlreichen Freier abgehauen. Sie hat oft genug erwähnt, dass sie die Stadt am liebsten verlassen würde.“
    „Und welcher der Freier käme deiner Meinung nach in Frage?“
    „Hm. Der Lehrling von Thorben dem Tischler – Elvrich hieß er, glaube ich – war fast jeden Tag bei ihr. Der muss sein gesamtes Geld hier bei Bromor ausgegeben haben. Und uns andere hat er nie auch nur eines Blickes gewürdigt. Ich glaub, der war echt verschossen in sie.“ „Weißt du, wohin sie gegangen sein könnten?“
    „Nun, auf jeden Fall können sie nicht mehr in der Stadt sein. Und außerhalb gibt es nicht so viel. Eigentlich nur Bauernhöfe, das Kloster, die Taverne und ein paar Jägerlager. Vermutlich sind sie zu einem der Höfe geflohen. Glaube nicht, dass sie sich die Taverne leisten können. Und ins Kloster kommen ja nur die Pfaffen und die Paladine rein.“
    „Hm.“ Ich überlegte kurz. Hatte das Verschwinden von Elvrich und Lucia am Ende gar nichts mit dem der anderen Menschen zu tun? Es konnten kaum alle Vermissten aus der Stadt geflohen sein und dass die meisten am Hafen verschwunden waren, war sicher auch kein Zufall. Dennoch war es ja möglich, dass zwei der Vermissten aus völlig anderen Gründen verschwunden waren. Doch Nadja konnte sich auch irren. Ich musste noch mehr über die beiden herausfinden, bevor ich eindeutig sagen konnte, was passiert war. Nur hatte ich jetzt zwei Spuren, zwei Orte, an denen ich nachforschen musste: Den Hafen und die Umgebung der Stadt.
    „Mehr kann ich dir leider auch nicht sagen“, erklärte Nadja bedauernd. „Tut mir Leid.“
    „Ist schon gut. Das ist besser als nichts.“
    Nadja warf ihr hüftlanges, braunes Haar in den Nacken. „Was ist jetzt mit uns beiden?“, fragte sie mit verführerischer Stimme und legte eine Hand auf meine Brust. „Immerhin hast du dafür bezahlt“, meinte sie lächelnd und ließ die Hand langsam tiefer gleiten.
    Ich packte sie, nicht grob, aber bestimmt. Nadja blickte mich verwirrt an. „Stimmt was nicht?“
    „Ich…“ Langsam ließ ich ihre Hand los. „Ich kann nicht.“
    „Was denn?“ Nadja grinste. „Kriegst du keinen hoch? Keine Angst, bei mir hat noch jeder…“
    Ich schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht.“
    „Was dann? Bin ich dir nicht gut genug?“
    „Nein, es liegt nicht an dir. Du siehst toll aus, wirklich. Noch vor einigen Monaten hätte ich nicht nein gesagt, aber jetzt…“
    „Tse!“ Nadja marschierte empört zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss herum und stieß sie schwungvoll auf. „Das Problem mit euch Männern ist, dass ihr lieber Orks abschlachtet, anstatt zu vögeln!“, schimpfte sie.

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    Ermittlungen


    Meinen Gedanken nachhängend setzte ich meinen Weg an der Kaimauer entlang nach Süden fort. Das eben Geschehene hatte mir einen Stich versetzt. Und nun, nun dachte ich wieder an Velaya. Ich hatte gegenüber Nadja nicht gelogen. Sie war ausgesprochen attraktiv. Und noch vor meinem Reinwurf in die Barriere hätte ich nicht einen Moment gezögert. Zwar war ich für gewöhnlich nicht der Typ, der Bordelle besuchte, doch wenn sich diese Gelegenheit nun einmal ergab. Ja, früher hätte ich nicht gezögert, hätte den Rest der Stunde, für die ich bezahlt hatte, mit Nadja verbracht. Doch seit jenem Abend in der Arena war alles anders. An diesem Abend hatte ich sie getroffen. Ich erinnerte mich als sei es gestern gewesen. Vom ersten Moment an hatte sie mich in ihren Bann gezogen, vom ersten Moment an war ich völlig fasziniert von ihr gewesen. Und seitdem gab es nur noch sie. Im Minental hatte es kaum andere Frauen gegeben und so wurde es mir erst jetzt richtig bewusst, doch seit jenem Moment damals in der Arena gab es keine anderen Frauen mehr für mich. Keine und mochte sie noch so attraktiv sein, konnte es mit Velaya aufnehmen. Sie alle verblassten neben ihrer Schönheit.
    Ich stieß einen Seufzer aus. Jetzt war mir wieder klar geworden, wie sehr ich sie vermisste. Ich musste sie finden, so bald wie möglich.

    Vor dem letzten Haus an der Kaimauer war ein Stand aufgestellt worden, der über und über mit Fischen beladen war. Ein Schild mit der Aufschrift „Zur glittschign Forele“ war darüber angebracht. „He Mann“, sprach mich der Händler, dem der Stand gehörte, an. Ich wandte mich zu ihm um. „Brauchst du Fisch?“, fragte er. Seine Stimme klang heiser, ein wenig als hätte er Sumpfkraut geraucht. Auch der leise Ton, in dem er sprach, hätte eher zu einem Dealer oder Hehler gepasst als zu einem Fischhändler. „Ich bin Halvor. Bei mir bekommst du Fisch – ganz frisch aus den Tiefen des Meeres.“
    Ich erinnerte mich, dass Lares Halvor erwähnt hatte und auch, dass er noch anderen Geschäften nachging. „Sag mal, du kriegst hier am Hafen doch sicher ne Menge mit oder?“
    Halvor grinste schief. „Kann man so sagen, ja.“
    „Ich hörte, hier werden einige Leute vermisst.“ Halvor lachte. „Was ist so lustig? Viele Leute fragen sich, wo die Vermissten sind.“
    „Ja und genau das ist so lustig.“
    „Wie darf ich das verstehen?“
    „Gar nicht“, erwiderte der Fischhändler grinsend.
    „Weißt du etwas darüber?“
    „Junge, das hier ist ein Hafen! Da ist es doch nicht ungewöhnlich, dass Leute verschwinden. Passiert an jedem Hafen.“
    „Und wie passiert das deiner Meinung nach?“
    „Die See ist tückisch. Da geht schon mal der eine oder andere über Bord. Damit die Mannschaft wieder vollzählig ist, muss der Käptn dann im nächsten Hafen neue Leute anheuern. Und wenn sich nicht genügend Freiwillige finden, wird der eine oder andere schon mal mit Gewalt an Bord gebracht.“
    „Und welches Schiff sollte das gewesen sein?“
    Halvor grinste breit. Er machte eine kurze Künstlerpause, bevor er in höhnischem Ton antwortete, „tja, das ist die entscheidende Frage, was? Ist schon richtig, in letzter Zeit waren nicht mehr so viele Schiffe hier.“
    „Du weißt doch etwas!“
    Halvor zuckte grinsend mit den Schultern. „Schon möglich. Fische, frische Fische!
    Eine Hafenbewohnerin gesellte sich mit einem kleinen Korb zu uns. „Innos zum Gruß.“
    „Ebenso, Edda, was darf’s heute sein?“
    Ich wandte mich ab. Mir war klar, dass ich vorerst nicht viel mehr aus Halvor herausbekommen würde. Doch er wusste eindeutig noch mehr. Ich würde später noch einmal Lares nach dem Fischhändler fragen. Zunächst setzte ich jedoch meinen Weg zu den Fischern fort.
    Die kürzere, an der Felswand entlanglaufende Kaimauer führte zu einem kleinen Strand. Gleich daneben führte ein natürlicher Torbogen durch den langen, schmalen Felsarm hindurch. Ich konnte dahinter noch eine weitere Kaimauer und einen Haufen Kisten erkennen. Meine Aufmerksamkeit galt jedoch eher den kleinen, selbst im Vergleich zu denen des restlichen Hafens, ärmlichen Fischerhütten. Zwischen den schäbigen Bretterbuden fanden sich hölzerne Gestelle, an denen man die Netze zum Trocknen aufgehängt hatte. Einen der Fischer fragte ich nach Farim.
    Dieser war gerade damit beschäftigt, die Netze zu flicken. „Tag, du bist Farim?“, begrüßte ich ihn.
    „Ja, bin ich.“
    „Und wie beißen die Fische so?“
    „Nicht gut. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel.“
    „Du wirkst ziemlich missmutig.“
    „Wärst du auch, wenn die Milizen jeden Tag herkämen und den halben Fang mitnehmen würden.“
    „Warum tun sie das?“
    „Für die gerechte Sache und für den König, sagen sie. Tatsache ist, dass die gierigen Schweine glauben, mit den Paladinen im Rücken könnten sie sich alles erlauben. Das Problem ist, dass sie damit völlig Recht haben. Als sie den Bauern immer mehr von ihren Erträgen weggenommen haben, haben die Kerle Söldner angeheuert, aber wir sind nur arme Fischer, wir müssen es über uns ergehen lassen.“
    „Ich habe gehört, das ist nicht euer einziges Problem.“
    Misstrauisch schaute Farim mich an. „Du willst doch irgendwas.“
    „Ja, in der Stadt verschwinden Leute und ich habe gehört, dass viele von euch darunter sind. Dein Kumpel soll der erste gewesen sein.“
    „William? Ja, schon möglich. Ist zumindest schon ne Weile her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hab.“
    „Weißt du, was passiert sein könnte?“
    „Nun, William war etwas größenwahnsinnig, musst du wissen. Ständig hat er sich am Hafen rumgetrieben, ist in die Kneipe, hat krumme Geschäfte gemacht… Wollte hoch hinaus, der Kerl. Ich hab ihm gesagt, Fischer, hab ich gesagt, bleib bei deinen Fischen. Aber er wollte nicht auf mich hören. Bevor er verschwunden ist, hab ich ihn ein paar Mal bei so einigen schrägen Vögeln gesehen.“
    „Wo war das?“
    „Draußen, im Norden der Stadt gibt’s ne kleine Bucht. Ist praktisch nur einige hundert Meter von der Kaimauer entfernt. Aber durch die Klippe dahinten kannst du sie von der Stadt aus nicht sehen. Nun, manchmal hab ich ihn von meinem Boot aus dort gesehen, in Gesellschaft einiger zwielichtiger Gestalten. Ich glaube, er hat mit denen gehandelt und wahrscheinlich war’s auch was ellegales oder wie man das nennt, was die da gemacht haben. Ich hab mich aber nie näher rangetraut. Und William wollte mir nie erzählen, was er da macht. Tja, eines Tages war er dann jedenfalls weg. Und ich wette mit dir, diese Kerle haben ihn mitgenommen.“
    „Hm, diese Bucht würde ich mir gerne mal näher ansehen. Kannst du mir vielleicht dein Boot leihen?“
    „Und am Ende kommst du auch nicht wieder? Ne lass ma.“
    „Ich kann es dir auch bezahlen.“
    „Das müsste aber schon einiges sein, damit ich mir zur Not ein neues Boot kaufen kann. Außerdem haben wir zur Zeit, wie gesagt, kaum genug zum Leben. Wird also nicht billig.“ „Sag schon, wie viel?“
    „Hm. Fünf Goldmünzen.“

    Ich ruderte durch das Hafenbecken nach Norden. Nun hatte ich eine heiße Spur! Vielleicht würde ich an diesem Strand Antworten finden. Wäre dies nicht der Fall, blieben mir vorerst nur die Lagerhäuser. Es dauerte eine Weile, bis ich durch den ganzen Hafen und um die Klippe mit dem Leuchtturm darauf gerudert war. Schließlich jedoch erreichte ich einen schmalen Strand. Ich fuhr mit dem Boot ans Ufer und stieg dann heraus. Vorsichtig, die Hand am Schwertgriff, blickte ich mich um. Vorerst konnte ich nur einige trockene Sträucher und etwas Strandgut erkennen.
    Langsam entfernte ich mich vom Boot und begann, weiter in Richtung Norden zu gehen. Der Strand war kaum zweihundert Meter lang. Das Meer rauschte ruhig und gleichmäßig, der Sand knirschte leicht unter meinen Füßen. In der Ferne hörte ich einige Möwen und am Horizont hatte der Himmel einen rosa Farbton angenommen. Ich konnte keine Personen entdecken, doch ich hatte auch nicht erwartet, dass die zwielichtigen Gestalten, von denen Farim gesprochen hatte, rund um die Uhr an diesem Strand saßen. Aber vielleicht gab es irgendwelche Spuren. Dann fand ich eine abgebrannte Feuerstelle. Hier waren also tatsächlich Menschen gewesen. Und es konnte höchstens eine Woche her sein, den verkohlten Scheiten nach zu urteilen. Doch das reichte noch nicht.
    Ein Zweig knackte hinter mir und ich hörte ein seltsames Glucksen. Ruckartig fuhr ich herum und ließ das Schwert aus der Scheide sausen. Ein Lurch, größer als ein Schäferhund, mit glitschiger, gelber Haut, blaugrauen Streifen auf dem Rücken, großen, mit Schwimmhäuten versehenen Klauen und großen, runden Augen an den Seiten seines schmalen Kopfes stand vor mir. Ich atmete erleichtert auf. Nur ein Lurker. Vor dieser Kreatur brauchten sich höchstens die Fische zu fürchten.
    Ich sah mich noch kurz weiter um, doch Hinweise konnte ich keine mehr entdecken. Das einzige, was ich noch fand, war ein zerklüfteter, natürlicher Pfad, der an der Felswand hinaufführte. Man konnte also von der Klippe aus hier hinabsteigen. Es gab also auch einen Landweg, der auf diesen Strand führte. Mehr würde ich hier zunächst nicht finden. So setzte ich mich wieder in das Boot und brachte es Farim zurück.

    „Wenn ich irgendwas über deinen Kumpel herausfinde, sage ich dir Bescheid“, versprach ich.
    „Danke“, erwiderte Farim müde. „Aber ehrlich gesagt, habe ich die Hoffnung schon so ziemlich aufgegeben.“

    Ich lenkte meine Schritte nun wieder in Richtung Kneipe. Wenn der Wirt soviel wusste, wie Lares sagte, konnte er mir auch etwas über die Bucht verraten. Moe ließ mich diesmal ungehindert passieren und so betrat ich zum zweiten Mal an diesem Tag den Einbeinigen Klabauter und stellte mich dort an den Tresen. „Was darf’s sein?“, fragte Kardif.
    „Im Moment nur Informationen.“
    „Verstehe. Nun, hier gibt es nichts umsonst. Für Informationen wirst du ebenso zahlen wie für was zu trinken.“
    „Und wie viel willst du?“
    „Zwei Kupfermünzen für jede Information.“
    Ich schob das Geld über die Theke, dann fragte ich, „was weißt du über die Bucht vor der Stadt?“
    „Die Bucht vor der Stadt?“ Wie in Gedanken wischte Kardif mit seinem schmutzigen Lappen über die zerkratzte Oberfläche der Theke. „Nun, ich denke, du willst nicht wissen, wie malerisch die Sonnenuntergänge von dort aus anzuschauen sind?“
    „Ich dachte eher daran, zu erfahren, wer sich da so rumtreibt.“
    „Für gewöhnlich niemand, aber ab und zu treffen sich dort die Piraten mit den Hehlern der Stadt.“
    „Piraten?“
    „Zwei Kupferlinge?“
    Ich seufzte und reichte dem Wirt sein Geld. „Also, was für Piraten sind das?“, fragte ich.
    „Na die berüchtigte Crew von Käptn Stahlbart, die seit Jahrzehnten die Gewässer um die Khorinseln unsicher macht. Niemand weiß so genau, wo sie ihren Stützpunkt haben, aber er kann nicht allzu weit weg sein. Ab und zu schippern sie nämlich mit einem kleinen Boot rüber zur Stadt. Manchmal, um in meiner Kneipe was zu trinken. Aber sie sind vorsichtig. Immerhin sind sie berüchtigte Verbrecher. Bis vor kurzem wär’ jeder von ihnen in der Barriere gelandet, wenn die Miliz ihn erwischt hätte. Deshalb kamen nur selten welche von ihnen hierher. Und wenn, dann hielten sie sich bedeckt. Meist sind sie nur bis zu der kleinen Bucht gefahren und haben da Handel mit einigen aus der Stadt betrieben.“
    „Mit Hehlern wie Halvor?“
    „Genau. Der handelt öfter mit ihnen.“
    „Weißt du, wann die Piraten wieder in der Bucht auftauchen?“, fragte ich und schob zwei weitere Kupfermünzen zu Kardif hinüber.
    „Nein. Die Jungs haben keine festen Zeiten. Aber ich denke, Halvor weiß sicher, wann sie sich das nächste Mal dort blicken lassen. Und Nagur dahinten arbeitet für Halvor. Der Alte ist sich viel zu schade, um selbst in die Bucht zu latschen. Für die Drecksarbeit hat er Nagur. Kannst den ja mal fragen. Der hat schon öfters mit denen gehandelt. Aber er ist nicht grad der hellste.“
    Letzteres war meinem Vorhaben wohl eher zuträglich als ihm zu schaden, dachte ich mir. Ich bedankte mich bei Kardif und ging dann zu Nagur, der allein in einer Ecke saß.
    Als ich mich zu ihm an den Tisch setzte, blickte er auf. „Was willst du?“
    „Ich hätte Lust auf ein kleines Spielchen“, antwortete ich freundlich und nickte zu den zwei Würfeln, die vor Nagur auf dem Tisch lagen.
    „Oh, du spielst auch? Na gut, aber wir spielen um einen Kupferling.“
    „Soll mir recht sein“, sagte ich und warf die Münze auf den Tisch.
    Nagur tat es mir gleich, dann würfelte er. „Ha, zwei Vieren!“
    Ich nahm nun meinerseits die Würfel in die Hand. „Du arbeitest für Halvor, richtig?“
    „Was? Ja… ich… bin sein Lieferant. Ich kaufe den Fischern ihren Fang ab und bringe den zu ihm.“
    „Keine Sorge“, sagte ich, während die von mir geworfenen Würfel über den Tisch rollten. „Ich weiß, dass Halvor noch in einem anderen Gewerbe tätig ist.“
    „So?“ Nagur nahm meine Kupfermünze an sich. Er hatte gewonnen.
    Ich warf eine weitere auf den Tisch. „Noch ein Spiel.“
    Nagur grinste. „Du kennst also Halvors spezielles Angebot?“
    „Oh ja. Ich hab auch schon mit ihm Geschäfte gemacht.“
    „Tatsächlich?“
    Nickend nahm ich die Würfel an mich. „Ja, ging um Zeugs, das einige Banditen erbeutet hatten. Halvor hat ja verdammt gute Beziehungen. Ich wüsste sonst nicht viele, die mit den Banditen Handel treiben.“
    „Ja, allerdings“, pflichtete Nagur bei und erklärte dann stolz. „Ich bin dabei immer sein Bote. Ich war sogar schon hinter Akils Hof bei einigen Banditen. Die Kerle haben sogar den Waffenhändler Hakon überfallen.“
    „Nicht möglich!“
    „Doch, doch! He, du hast zwei Fünfen. Verdammt! Komm, noch ein Spiel. Den Kupferling hol ich mir zurück.“
    „Meinetwegen. Ich habe gehört, Halvor handelt sogar mit den berüchtigten Piraten, der Crew von diesem Käptn Stahlbart.“
    „Jaja, echt gefährliche Kerle! Ja! Sechs!“
    Ich nahm die Würfel an mich. „Das hab ich auch schon gehört. Man muss schon mutig sein, um mit denen Handel zu treiben, denk ich mir – und gerissen. Die Kerle versuchen bestimmt ständig, einen übers Ohr zu hauen.“
    „Das kannst du laut sagen! Darum handelt Halvor auch nicht direkt mit ihnen. Nur ich bin gerissen und mutig genug!“
    „Wow!“ Ich machte ein möglichst beeindrucktes und ehrfürchtiges Gesicht und scheinbar wirkte es. „Das machst du ganz alleine? Alle Achtung! Aber sag mal, wo trefft ihr euch überhaupt? Kann mir nicht vorstellen, dass die Kerle sich in die Stadt trauen.“
    „Nein.“ Nagur winkte milde lächelnd ab. „Die haben viel zu viel Schiss vor der Miliz. Eigentlich unnötig, schließlich bin ich ja dabei. Ich bin schlau genug, mich nie von der Stadtwache erwischen zu lassen. Aber die bestehen drauf, dass wir uns in so einer kleinen Bucht vor der Stadt treffen.“ Abermals warf ich die Würfel. „Ha!“ Nagur grinste. „Wieder gewonnen, sag ich’s doch!“
    „Diese Bucht, haben die da ihr Lager oder was?“
    Nagur schüttelte den Kopf, während er die Würfel wieder an sich nahm. „Natürlich nicht. So dicht vor der Stadt, tse.“ Er warf die Würfel. „Wow, jetzt versuch mal, den Wurf zu überbieten!“ Während ich die Würfel wieder in die Hand nahm, fuhr er fort: „Also ihr Lager ist woanders. Die Bucht ist nur unser Treffpunkt. Einer von ihnen kommt ab und an mit seinem Boot dahin.“
    „Also ist er nur dann und wann dort? Woher weißt du dann, wann er das nächste Mal kommt?“
    „Na das sagt er mir immer. Übermorgen ist er beispielsweise wieder da. Er ist dann meist so ziemlich den ganzen Tag dort. Ich selbst komm schon morgens, aber er wartet wohl auch auf andere. Ich handle zwar sehr oft in Halvors Auftrag mit diesem Piraten, aber es gibt durchaus noch andere, die dann und wann mal zu ihm in die Bucht kommen. Sind natürlich nicht viele und sie kommen auch weniger regelmäßig als ich. Wahrscheinlich lassen sie sich auch ziemlich über den Tisch ziehen. Ist halt nicht jeder so intelligent, wie ich.“
    „Und es ist wohl auch nicht jeder so ein guter Würfelspieler. Du hast schon wieder gewonnen.“ Ich deutete auf die soeben von mir geworfenen Würfel. „Ich glaub, ich hör jetzt lieber auf, sonst hab ich bald gar nichts mehr. Hat Spaß gemacht. Vielleicht sieht man sich ja noch mal.“
    Nagur nickte. „Bin jederzeit für ne Revanche zu haben.“
    Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 14:27 Uhr)

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