Auf der Suche




Der Schein der untergehenden Sonne, das erste, was ich bemerkte, als ich langsam versuchte, meine Augen zu öffnen. Oder ging sie gerade auf? Oder war das Wetter nur so trübe, das gar nicht mehr Licht nach Khorinis gelangte? War ich überhaupt auf Khorinis?
Mein Körper schmerzte, offenbar wurde mir jeder einzelne Knochen gebrochen. Wie von einem Schwarm Bienen durchlöchert fühlte sich mein Bauch an, als ob diese dämliche Lucy ihn als Kissen für ihre blöden Stricknadeln genommen hat. „Wenn ich die in die Finger bekomme … “
Doch da wurde ich von einem fürchterlichen Schmerz in den Kopf gebissen. Seine langen und spitzen Zähne rammte er durch meine Schädeldecke hindurch mitten in mein Gehirn. Ich dachte, ich muss sterben.
Erst als ich mit zusammen gekniffenen Augen da lag und mich hin und her wand, versuchend, den Schmerz zu vertreiben, wurde es besser … beinahe unmerklich, doch so erträglich, dass ich die Augen öffnen konnte. Ich befand mich auf einem feuchten, steinernen Boden. Die unter- oder aufgehende Sonne ließ die Flüssigkeit vor meinen Augen in einem blutroten Glanz aufleuchten. Ich kostete davon, ließ meine Zunge vorsichtig über den Boden gleiten, damit sie etwas befeuchtet wurde. Es widerte mich an und am liebsten hätte ich mein letztes Essen, von dem ich weder wusste, was es war oder wann ich es zu mir genommen hatte, ausgespien. Der Drang, meine Kehle zu befeuchten, wusste jedoch gekonnt, diesen Brechreiz zu unterbinden.
Es schmeckte … überhaupt nicht, widerwärtig, monoton, leblos, kein Blut also. Scheinbar normales Wasser. Ein kleines Schmunzeln trieb sich in mein Gesicht, kurz bevor der Schmerz in meinem Kopf dasselbe mit seinen Zähnen tat. Blinzelnd erspähte ich noch einmal die Pfütze der rot schimmernden Flüssigkeit, bevor sich alles langsam in ein monotones Grau wandelte. Klare Linien verschwammen, wie die Wellen des weiten myrtanischen Meeres ineinander und hinterließen ein bunten Wollknäuel auf wirren Szenerien. Überall in meinem Kopf flogen Bilder umher, kurze Szenerien irgendeines Abends, den ich einmal irgendwo verbracht haben musste. Alles wirkte so durcheinander, so völlig ohne Sinn…und folgte dennoch irgendeinem Zweck.
Eine Sequenz aus verschwommenen, jedoch nicht unkenntlichen Bildern hatte sich plötzlich vor meinem inneren Auge manifestiert: Coragons Taverne. Inmitten eines grauen Schleiers, der von roten, gelben und blauen Äderchen durchzogen schien, stand ich da. Vor mir am Tisch saßen die Handwerksmeister der Unterstadt. Nur Constantino fehlte. Man schien sich angeregt zu unterhalten, doch einzelne Stimmen konnte ich nicht verstehen. Lediglich ein monotones Brummen, welches gelegentlich abflaute und kurze Zeit später wieder intensiver wurde, schaffte es bis an meine Ohren.
„ … tot?“ hörte ich plötzlich heraus, klar und deutlich.
„ … unmöglich … “ Schon wieder! Die Herkunft dieser so klar gesprochenen Worte konnte ich mir nicht erklären, doch ganz sicher nicht von den Handwerkern vor mir am Tische. Weitere Worte drangen an meine Ohren. Doch die Stimme verlor ihre Klarheit, wurde schrill und kreischte, dass mir das Trommelfell zu platzen drohte. Ich presste die Hände auf meine Ohren, doch das Kreischen verschlimmerte sich nur noch. Ich spürte lediglich, wie ich auf dem Boden aufschlug und einen Tritt in die Rippen bekam, danach verdunkelte sich alles um mich herum.
Werde ich getragen? Oder doch nur über den Boden geschleift? Ich wollte es herausfinden und zaghaft die Augen öffnen. Ich blinzelte - und der helle Glanz der Sonne schien meine Netzhaut zu verbrennen. So stark ich nur konnte presste ich meine Lider nach unten. Es kam mir vor, als würde ich dadurch meine Augäpfel zerquetschen, doch dies war bei weitem erträglicher, als das Licht auf meinen Augen. In die Dunkelheit hinein malten sich vielerlei merkwürdige Gebilde. Figuren, die man nicht deuten konnte. Hässliche, unerträgliche Fratzen, die mich durch ihr grässliches Lachen verspotteten, sah ich neben merkwürdig entstellten Scavengern … oder auch nicht. Ich konnte es beim besten Willen nicht deuten. Doch eines wusste ich genau: Sie wurden von dem unerträglich grellen Licht hervorgerufen, mit dem Innos mich zu strafen versuchte. „Wieso?“, murmelte ich, während ich die Hände an meine Schläfe presste. Doch schon im nächsten Augenblick zog sich ein Schmerz durch meinen Bauch. Ich dachte, ich müsste mich übergeben, als sich der Krampf meiner Bauchmuskeln in jeden noch so kleinen Winkel ausbreitete. Ein Krampf, hervorgerufen wie durch einen Faustschlag … doch es hätte ebenso Harad sein können, der wutentbrannt mit seinem Hammer auf mich eingeschlagen hatte. Ich wusste es nicht und wand mich vor Schmerzen. Langsam, kaum merklich, wurde es besser und auch die Bildnisse in meinem Kopf zogen von dannen, wurden zu kleinen, weit entfernten Punkten … am khoriner Nachthimmel? Ich sah mich um und fand mich in einen grauen Nebelschleier gehüllt im Hafenviertel von Khorinis wieder. Viel zu sehen gab es nicht, der graue Schleier verbarg alles. Die alten, dem Einsturz nahen Häuser ebenso wie dessen heruntergekommenen und nach Schnaps und Bier stinkenden Bewohner.
Nur einem schwachen Licht gelang es, mir den Weg zu leuchten. Den Weg, von dem ich nicht wusste, wohin er mich führte. Doch ich folgte ihm, blind und taub für alles, was um mich herum geschah. Auf meinen Ohren lag lediglich ein schwaches, gleichmäßiges Dröhnen, das wohl mit meinen Kopfschmerzen einherging, doch es war erträglich. Auf einmal stieß ich gegen irgendetwas. Ein Zaun, so schien es mir, und augenblicklich wusste ich, wo ich mich befand. „Lucy … “ wisperte ich und betrat Alwins Haus, die Quelle des Lichts. Eine kupferne Badewanne stand darin, heißer Wasserdampf stieg daraus empor.
„Woher … “ wollte ich mich fragen, doch sprechen konnte ich nicht mehr. Auch meine Gedanken erstarben bei dem, was sich mir nun bot. Sie hatte ihr blondes, schulterlanges Haar offen und bewegte sich langsam auf die Wanne zu. Beim Anblick ihres wohlgeformten Hinterns spürte ich mein Glied erstarken. Mein Herz begann zu trommeln, förmlich zu rasen, ich wurde rastlos und machte ein paar Schritte nach vorn. „Lucy … “ Sie fuhr mit ihrer Hand durch das Wasser und lachte leise. Es war ein freudiges, erleichtertes Lachen, als hätte sie sich schon lang auf diesen Augenblick gefreut. Doch sie sagte nichts.
Ich hatte sie erreicht, der Kleider hatte ich mich beim Laufen entledigt, und fuhr nun mit meiner Hand über den Rücken. Beinahe glaubte ich, den kalten, erregenden Schauer, der ihr in diesem Moment den Rücken hinunter gefahren sein musste, in meinem Finger gespürt zu haben und am liebsten hätte ich sie sofort genommen. Sie wusste das, doch hielt sie mich erst einmal zurück. Zunächst, so glaubte ich, wollte sie in die kupferne Wanne steigen und die Wonne des warmen Wassers auf ihrer Haut und das damit einhergehende Kribbeln spüren. Ich sollte mich in dieser Reihe hinten anstellen. Doch wieso auch nicht, das Beste hob man sich schließlich immer bis zum Schluss auf. Ich küsste ihr Schlüsselbein und arbeitete mich nach und nach an ihrem Nacken nach oben. Wohlbefinden breitete sich in mir ebenso aus, wie die Erregung. Ich dachte, es würde mein Glied zerreißen, doch der Kleine hielt sich wacker und harrte der Lage solang es nötig war. Sie kicherte, schien der Situation ebenso angetan, wie ich. Nun, da das Wasser ihren wunderbaren Körper umschlossen hatte, zog sie mich zu sich. Instinktiv schloss ich meine Augen und küsste sie auf ihre schmalen Lippen. In ruckartigen Stößen presste sie die warme Luft aus ihrer Nase und ich spürte sie an meiner Wange vorbeiziehen, spürte die Lust, die von ihr ausging. Sie drückte ihre Oberschenkel an die Seitenwände der Wanne und bereitete mir so den Weg. Doch ich bekam keine Gelegenheit, mich an sie zu schmiegen. Sie zog mich zu sich, gierte förmlich nach mir. Es bereitete mir keine Mühe, ihr nachzugeben, doch ich musste meine Lippen von den ihren lösen, da die Lust drohte, mich zu ersticken. „Alwin, nicht…“ Erschrocken öffnete ich die Augen. „…Gritta?“ Mein Herz, so dachte ich, hörte auf zu schlagen. Kein einziger meiner Muskeln bewegte sich. Mein Atem stockte und setzte schließlich ganz aus. Ich drohte zu ersticken, war nur zu betäubt, es zu spüren. Eiligst stieg ich aus der Wanne und bemerkte, dass mein Glied nachwievor hart und fest war. Die Tatsache, dass meine Lust ungebrochen war, schockierte mich jedoch umso mehr. Sie war wunderschön, zweifellos, doch sie war auch meine Nichte „Bei Innos … “, doch ich stürzte.
„Na los, beweg dich, du widerliches Stück Scheiße!“ dröhnte es in meinen Ohren. Lucies … Grittas bisher so zarte, liebliche Stimme verzerrte sich, wurde rau und kratzig und glich schließlich der eines übermüdeten und betrunkenen Soldaten. Lucies milder, süßlicher Duft – ich würde unter Eid beschwören, dass es ihrer gewesen war – vermischte sich mit dem Gestank der Umgebung und irgendwelchen Schweißausdünstungen und verflog dann gänzlich.
„Na los!“ Irgendeine fremde Kraft hob mich nach oben, nur, um mich im nächsten Moment gegen irgendeine Tür zu schubsen. Ich wusste nicht, wo ich mich befand. Irgendwo in Khorinis womöglich, doch ob es nun das Haus des Richters oder die Rote Laterne war, vor deren Pforte ich zu Boden sank, konnte ich nicht sagen. Die Augen zu öffnen traute ich mich nicht. Die beißende Sonne, das Brennen auf der Netzhaut, ich hätte es nicht ertragen. Doch sehr zu meiner Freude und offenbar gegen den Willen derjenigen, die mich hierher gebracht hatten, öffnete man mir die Tür.
„Das lohnt sich doch gar nicht, den hier her zu bringen! Ein Geständnis bekommen wir doch nie. Ich mein, schau ihn dir doch mal an. Der kann doch nichtmal selber laufen“. Langsam kroch ich vorwärts in den Raum hinein.
„Ach, der wird schon wieder.“ Wieder wurde mein Bauch von furchtbaren Krämpfen durchzogen, doch dieses Mal konnte ich zumindest mit Gewissheit sagen, dass ich getreten wurde.
„Naja, wir können es immer noch aus ihm heraus prügeln. Irgendwann gibt er sicher nach … Einen schönen Tag, Herr Richter.“ Ich öffnete meine Lider und war überrascht, wie gnädig das Licht inmitten des Hauses doch mit meinen Augen umzugehen gedachte. Ein paar Mal musste ich zwinkern, doch letztlich konnte ich meine Augen offen halten, ohne dass mir die Netzhaut verbrannte und mir höllengleiche Schmerzen bereitete. Neben mir befanden sich zwei Soldaten, die mich wohl hier hergeschafft und ihr liebes Vergnügen dabei hatten, mich zu quälen und zu demütigen.
Ich befand mich im Rathaus, dessen war ich mir nun sicher. Ich erkannte es noch nicht genau, doch ich fühlte es. Ich fühlte das Unbehagen, die Angst, den bedrohlichen Schatten, den dieses Gebäude seit jeher warf, auf meiner Haut. Die Ungerechtigkeit, die hier schon öfter gesprochen wurde, als es zu ertragen war. All das trieb die Soldaten, die mich an den Schultern gepackt hatten, voran. Man wollte mich verurteilt sehen, ob zu Recht, oder nicht. Die nächste Stunde würde grausam werden. Doch wofür?
„Setzen!“ Es musste der Richter sein, der das gesagt hatte. Daraufhin dröhnten zwei laute Schläge seines Holzhammers in meinem Ohr wider und schmerzverzerrt musste ich die Augen zusammenkneifen und mir auf die Zunge beißen, um nicht laut loszuschreien. „Ruhe Bitte!“ Das Gemurmel um mich herum flaute ab und verebbte schließlich in einer fast harmonischen Ruhe.
„Thorben, Ihnen ist bewusst, warum sie hier sitzen?“
„Nun, ich … äh … nein.“
„Nicht?“ Ich schwieg.
„Nun, soll ich Ihnen auf die Sprünge helfen?“ Ein tonloses Nicken musste ihm als Antwort genügen.
„Gut“, der Richter erhob sich von seinem Podest und lief bedächtigen Schrittes im Raum umher. „Heute Nacht, nachdem Sie, scheinbar sturzbetrunken, die Taverne verlassen hatten“, seine leuchtenden schwarzen Augen schienen mich zu durchbohren, auf irgendeine Reaktion zu warten. Doch offenbar war ich nicht einmal zu so etwas imstande. „haben sie sich zu Constantino geschlichen und ihn hinterhältig abgestochen.“ Er verstummte, vielleicht um mir eine Gelegenheit zur Rechtfertigung einzuräumen, doch womöglich nur, um meinen schockierten Gesichtsausdruck zu genießen. „Der Wunde nach war es ein spitzer Gegenstand, den sie ihm in den Rücken gerammt haben. Für einen Dolch ist die Wunde jedoch viel zu klein. Also, was war es, das sie verwendet haben, um dem alten Mann das Herz zu durchbohren.“
„Ich … “, „ … habe keine Ahnung!“, doch das brachte ich nicht heraus. Ich war dem Ersticken nahe und mein Tonfall musste wohl auf eine Infragestellung dieser wohl offensichtlichen Tatsache schließen lassen. Denn prompt schlug mir einer der Soldaten, die sich wohl wissend neben mich gestellt hatten, in den Bauch. Ich dachte, ich falle vom Stuhl, doch ebenso wohlwissend hat man mich daran festgebunden. Als wäre ich irgendein gefährlicher Verbrecher?
„Leugnen willst du also? Nun, was hältst du dann davon, dass der Soldat Pablo dich bei seinem nächtlichen Rundgang durch die Stadt beobachtet hat?“
„W … was?“, presste ich erstickt heraus. Ich konnte … wollte das beim besten Willen nicht glauben. Welchen Grund hätte ich dazu haben sollen?
„Ja, da staunst du, was? Er hat deine ganze scheußliche Tat mit angesehen. Nur über die Motive sind wir uns nicht im Klaren.“ Er ging ein wenig im Raum umher, doch richtete seinen Kopf ständig in meine Richtung. „Nun gut, da du jetzt ohnehin nicht zu sprechen bereit bist, geben wir dir noch ein bisschen Zeit. In zwei Wochen findet die Hinrichtung statt, die Zeit bin ich gewillt, dir einzuräumen. Abführen!“
„Mit dem allergrößten Vergnügen!“ Noch im selben Augenblick schlug mir jemand auf den Hinterkopf und ich sank zu Boden. Die Welt um mich herum wurde in einen beruhigenden Schwarzton gehüllt und ließ mich das ganze Leid zumindest für einen Moment vergessen. Alles war so ruhig, so behaglich, so friedlich wie ich es lange nicht gekannt hatte. Doch leider viel zu kurz. Die Wonne dieses herrlichen Augenblicks wurde von merkwürdigen Bildern in tausende Bruchstücke zerrissen. Diese wieder richtig zusammenzusetzen war ein Ding der Unmöglichkeit.
Coragon zeichnete sich vor meinem inneren Auge ab, wie er gerade zwei Bierkrüge auf dem Tisch abstellte. Einer für mich und einer für meinen Tischnachbarn. Doch dieser glänzte gerade mit Abstinenz, was wohl auch der Grund war, weswegen nun beide vor mir standen. Doch welcher war meiner? Welcher war der Richtige? Kalter Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn. „Der Linke, der Linke … “, hörte ich die Stimme des Wirts in meinem Ohr säuseln. „Der Linke … “ Unsicher griff ich nach dem linken Krug und nahm einen Schluck. Es schmeckte bitter … genauso, wie jeder Schluck Bier, den ich bisher bei Coragon getrunken hatte. Erleichtert nahm ich noch ein paar Schlücke, nur um dann festzustellen, dass die Welt um mich herum sich zu drehen begann. Ich sah noch, wie ich mich unsicher wankend von meinen Platz erhob und allen eine angenehme Nacht wünschte. Alles wurde trübe, die Formen verschwammen zu merkwürdigen Wellenlinien und plötzlich wurde alles wieder schwarz.
„Er wacht auf. Innos sei gepriesen.“ Es war Coragons Stimme, die da an meine Ohren drang, viel zu laut, um irgendwie beruhigend zu wirken. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, wusste ja nicht einmal, wo ich überhaupt war. „Mensch, wir dachten schon, du wachst gar nicht mehr auf!“ Seine Worte hämmerten auf mein Trommelfell ein, als wollten sie ihm den Gnadenstoß verpassen.
„Red nicht so viel, helf mir lieber hoch!“, wollte ich sagen, doch mehr als ein krächzendes Flüstern brachte ich nicht zustande. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich auf irgendeiner Liege in einem einsamen Raum lag und Coragon offenbar nicht einmal neben mir stand.
„Oh Onkel, Onkel … “, hörte ich die Stimme meiner Nichte, doch abrupt musste ich mir die Ohren zuhalten. Wenn ich nach all diesen Strapazen noch immer nicht taub war, hatte ich wohl gute Chancen, im hohen Alter immer noch gut zu hören. Doch noch war es nicht überstanden.
„Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist, es … ich … “ Sie brach ab, ihre Sorgen und Ängste lösten sich in Tränen auf und sie sank zu Boden. Schwach konnte ich es durch die Gitterstäbe hindurch, welche den Eingang meiner Zelle versperrten, erkennen.
„Da hast du dir was eingebrockt, Junge Junge.“ Plötzlich war es Coragon, der sprach. Entweder hatte er sich um eine leisere und mildere Tonlage bemüht, oder aber meine Ohren haben sich wieder ein bisschen beruhigt. Dennoch hätte er für diesen Satz Eine verdient gehabt. „Ich hab es dir doch gesagt: Der Linke war für Valentino. Mensch, fast hätten wir ihn soweit gehabt.“ Und für den noch zwei obendrauf.
„Warum musstet du die auch so hinstellen?“, versuchte ich ihn zu tadeln, doch jedweder Versuch, Emotionen durch meine Stimme auszudrücken, versiegte wie ein Tropfen Wasser im goldgelben Wüstensand von Varant.
„Es sollte nicht auffallen … Aber womöglich hattest du auch schon zu viel getrunken.“
„Danke auch … “
„Coragon? Würdest du mich bitte mit meinem Onkel alleine lassen.“ Sie seufzte nach wie vor. „Ich … ich muss mit ihm reden.“ Der Wirt war so anständig und ließ sich nicht zweimal bitten. Als er verschwunden war, winkte Gritta mich zu sich. Ich schleppte mich zum Gitter der Zelle und setzte mich neben meine Nichte.
„Gestern Abend … da … “, begann sie. „da … ich dachte, du … du bist Alwin. Ich war so ... so verrückt nach ihm, dass ich alles um mich herum vergessen hatte ... " Sie schien zu zerbrechen, war wie aufgelöst. „Bei Innos, ich habe meinen Onkel verführt! Ich hätte es doch merken müssen, verdammt ... “
„Nicht so laut!“ Ich versuchte sie zu beruhigen, doch es gelang mir nicht besonders gut. Erst, als ich meine Hand auf ihren blonden Schopf legte, konnte sie sich beruhigen. „Weißt du, ob ich Constantino getötet habe? Ich … kann mich nicht erinnern.“
„Ich kann es dir auch nicht sagen. Du bist aus Alwins Haus geflüchtet und … dann warst du weg. Aber ich kann es mir nicht vorstellen.“ Sie seufzte, doch versuchte sie, mich anzulächeln. Es war kein besonders gut ausgebildetes Lächeln, doch es vermochte mich zu trösten und meinen Schmerz zu lindern. So saßen wir wohl noch eine geraume Zeit da, bis ich irgendwann wieder einschlief.
Die darauffolgenden Tage vergingen einfach, ich bekam nicht mit, wie die Sonne aufging, wann die Wachen mir etwas zu trinken brachten, oder dass Gritta mich besuchen kam. Es war, als würde die Dämmerung am Ende eines Tages nie vergehen und man immerzu im trüben Zwielicht sitzen, darauf wartend, dass die Nacht endlich über einen hereinbricht. Ich hatte gehofft, dass mein Lebensabend nun endlich über mich hereinbrach. Ich war ausgemergelt und schwach, hatte kaum noch Kraft, aufrecht zu stehen … und die Menge gaffte mich an. „Hängt ihn, diesen Mörder!“
„Alles zu seiner Zeit.“ Es musste der Herold sein, der da sprach. Nur er konnte in dieser Situation so viel Nüchternheit an den Tag legen und den Worten „Hier und heute wird der Tischler Thorben wegen Mordes am Alchemisten Constantino durch den Strang exekutiert. Er wurde bei frischer Tat ertappt und zeigte keinerlei Reue für sein Vergehen. Möge Innos sich seiner verkommenen Seele annehmen und ihr gnädig sein.“ die nötige Authentizität verleihen. Eigentlich dachte ich, dass daraufhin die Kiste, auf der ich stand, weggetreten würde und ich mich dieses Elends erlöst wissen konnte.
Doch alles kam ganz anders.
Gritta kam plötzlich angerannt, drängte sich durch die Menge hindurch, die es schon danach lechzte, mich an meinem Strick baumeln zu sehen, und rannte auf mich zu. „Onkel, du bist frei. Sie haben deine Unschuld bewiesen.“
„Ja, aber … “ Offenbar war nicht nur ich mehr als nur überrascht von dieser plötzlichen Wende der Tatsachen.
„Ja, es ist vorbei. Sie haben die Waffe gefunden.“
„Was war es denn?“, wollte einer der Schaulustigen wissen, konnte sein Unbehagen ob der geplatzten Hinrichtung jedoch nicht verbergen. „Seine Reißnadel.“
„Und wie bitte beweist SEINE Reißnadel, das ER unschuldig ist.“
„Nun, darüber haben wir lange nachgedacht.“ Wulfgar, der Oberbefehlshaber der Miliz meldete sich nun zu Wort. Er war mit Gritta gekommen und wohl einer der Hauptverantwortlichen für diese Wendung der Tatsachen.
„Man hat die Nadel in Alwins Wohnung gefunden … “
„Weil Thorben sie dort versteckt hat. Ist doch klar, er ist schuldig.“
„Die Nadel war jedoch so gut versteckt, das Thorben sie an diesem Abend bei seinem Zustand nie dort hätte verstecken können. Hätte er es getan, so hätte er die Nadel einfach in Constantino stecken lassen. Schließlich hatte man ihn schlafend dort aufgefunden. Er war zu diesem Augenblick den Toten näher als den Lebenden … “
„Na und? Dann hat jemand anders Alwin das Ding eben untergeschoben. Überhaupt, welchen Grund hätte Alwin gehabt, Constantino zu töten?“
„Welchen hätte der Tischlermeister denn gehabt?“ Der Schaulustige verstummte und zog wenig später von dannen. Der Richter, den ich bislang gar nicht bemerkt hatte, meldete sich nun zu Wort. Der Grund für dessen grimmiges Gesicht war sicher derselbe, wie auch bei dem Schaulustigen, doch das interessierte mich nicht. „Im Namen des Königs hebe ich das Urteil, das gegen den Tischlermeister Thorben gesprochen wurde, auf und erkläre ihn für … “, er rang förmlich damit, das Wort auszusprechen. „ … unschuldig.“ Als nun auch die Schlinge von meinem Hals genommen und ich vom Podest abgestiegen war, fiel mir meine Nichte direkt um den Hals.
„Hach, ich bin so froh, dass dir das erspart geblieben ist.“
„Vorsicht, drück mich nicht so doll, das tut weh.“
„Oh, Verzeih mir. Komm, ich bring dich nach Hause.“ Was an diesem Tage kein allzu leichtes Unterfangen sein sollte, schließlich galt es, sich durch einen enttäuschten und auch aufgebrachten Mob zu kämpfen, der mit dem Ausgang dieses Tages alles andere als zufrieden war.
„Gritta. Hast du etwas … “, wollte ich meine Nichte fragen, doch sie blockte mich ab. „Pss. Du sollst doch nicht so viel reden. Ruh dich jetzt erst einmal aus.“ Sie lächelte mich an, doch mir war eigentlich gar nicht nach Lachen zumute. „Alwin wollte sich bei dir rächen, weil du ihn mit seiner Frau betrogen hast. Das hat er nicht verkraftet.“
„Nun, er hatte meine Nichte, ist das nicht Rache genug?“ Sie wandte den Blick von mir ab und starrte an die Wand.
„Für ihn offenbar nicht.“ Eine Träne rann ihre Wange hinab, doch ich war zu müde, um sie zu trösten.
„Wo ist er eigentlich? Haben die Milizen ihn nicht gleich verhaftet?“ Ich bemerkte, wie ihre Knie bei diesen Worten weich wurden. Sie schlotterten und drohten, dem Gewicht ihres Körpers nachzugeben.
„Nein, offenbar ist er verschwunden.“ Doch sie konnte sich gerade so auf den Beinen halten. Dann wurde es wieder dunkel um mich herum...