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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Post [Story]Für den König!

    Die Story gibt es für alle, die sie nicht im Forum lesen möchten, auch als PDF-Datei. Mein Dank geht an Eddie


    Prolog


    Langsam schritt er über den Boden. Das einst saftige Gras auf der weiten Ebene hatten sie niedergetrampelt mit ihren schweren Stiefeln. Die Erde darunter war aufgeweicht und schlammig vom starken Regen des letzten Monats.
    Auch die bunten Zelte waren durchnässt. Ein paar von ihnen waren sogar unter den Wassermassen in sich zusammengebrochen. Ihre einst prächtigen Farben schienen nun grau und verblasst. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Zelte abzubauen. In aller Eile waren sie geflohen. Vor der mächtigen Streitmacht, die von Norden her angerückt war und vor dem Wetter. Selbst für den myrtanischen Herbst waren die Regenfälle außergewöhnlich stark gewesen. Und dies war etwas, was sie nicht kannten, worauf sie nicht vorbereitet gewesen waren.
    Vielleicht war es ihr Glück, überlegte er. Er wusste nicht, ob sie all die Zeit durchgehalten hätten, wären sie mit diesem Wetter vertraut gewesen.
    Er setzte seine Schritte fort. Der Schlamm gab schmatzende Geräusche unter seinen Füßen von sich, während er seinen Kopf zu allen Seiten wandte und sich umschaute.
    Sie waren wirklich in aller Eile aufgebrochen.
    Beinahe alles hatten sie zurückgelassen. Die Zelte, die Ausrüstung, das Kriegsgerät. Das Lager wirkte auf eine seltsame Art tot, gespenstisch. Wenngleich sie schon in der Nacht geflohen waren, so schien das Lager doch als wären noch vor wenigen Minuten Menschen in ihm umhergelaufen. Ja, er konnte sich noch genau vorstellen, wie sie in diesem Zelt dort drüben geschlafen oder an dieser niedergebrannten Feuerstelle hier vorn gesessen hatten.
    Und nun? Bis zum Horizont schien sich die Zeltstadt zu erstrecken. Und weit darüber hinaus schien er der einzige lebende Mensch zu sein.
    Wie hatten sie es nur geschafft, so lange durchzuhalten? Wie hatten sie es nur geschafft, die Stadt gegen eine solche Streitmacht zu halten?
    Er hörte das Geräusch von Stiefeln auf dem schlammigen Boden. Dann erstarben die Schritte direkt hinter seinem Rücken.
    „Kommandant Lee? Marschall Rigaldo ist eingetroffen.“

    „Ihr seid also der Kommandant der hiesigen Truppen?“ Der Marschall schaute ihn nicht an. Sein Blick galt dem edlen Wein in seinem Glas.
    Lee nickte. „Ja, ich habe die Männer hier befehligt, als sie kamen.“
    „Und es ist Euch tatsächlich gelungen, Montera mehr als einen Monat zu verteidigen?“ Rigaldo nippte mit hochgezogenen Brauen an seinem Glas. Er war jung, zumindest für den hohen Posten, den er bekleidete, befand Lee.
    „Nun, wie Ihr seht, ist es das. Doch lange hätten wir wohl nicht mehr standgehalten. Ihr seid spät, Marschall.“
    „Seid nicht so anmaßend. Ihr könnt das ganze Ausmaß der Situation nicht erfassen.“ Rigaldo schenkte sich etwas Wein nach. „Während Ihr in Montera ausgeharrt habt – tapfer, gewiss – mussten wir die einfallenden Truppen in der Küstenregion zurückschlagen. Vielleicht interessiert es Euch, dass unsere Feinde an der nördlichen Küste des Myrtat gelandet sind. Wären wir euch eher zu Hilfe gekommen, würde in unserer glorreichen Hauptstadt schon jetzt eine Statue des Kalifen stehen und die heilige Kathedrale wäre einem Tempel Beliars gewichen.“
    „Und Ihr konntet alle Angreifer zurückschlagen?“
    Der Marschall verzog ärgerlich das Gesicht. „General Klauffenburg bekämpft noch immer die einfallenden Feinde. Doch zumindest ist es uns gelungen, Vengard vor ihnen zu schützen. Und auch Aalehn ist außer Gefahr. Auf kurz oder lang werden wir sie über den Myrtat zurückjagen.“
    „Was ist mit den Paladinen?“
    „Die heiligen Streiter sind dort, wo wir ihrer am meisten bedürfen. Lord Dominique weilt derzeit in der Hauptstadt.“
    „Gotha ist nur wenige Meilen entfernt. War es tatsächlich unmöglich, uns zu Hilfe zu kommen?“
    „Vergesst Eure Stellung nicht, Kommandant. Gewiss liegt weder General Klauffenburg, noch Lord Dominique und schon gar nicht seiner Majestät etwas an einem Fall Monteras. Doch der Einfall Feldherr Lukkors kam höchst überraschend und unsere Kräfte waren an der Küste gebunden, wie ich Euch erklärt habe.“
    „Und wie kann es überhaupt sein, dass wir uns derart überraschen lassen? Gewiss, der Schutz Vengards vor den feindlichen Truppen mag oberste Priorität haben, doch wie ist es möglich, dass sich das gesamte myrtanische Heer und der heilige Orden der Paladine durch einige einfallenden Assassinen derart ablenken lassen, dass sie die Westmark ohne jeden Schutz lassen und es den varantinischen Reitern ermöglichen, innerhalb von nur drei Tagen Trelis zu erobern und bis ins Herz des Reiches vorzudringen?“
    „Montera ist der Mittelpunkt des Reiches“, berichtigte Rigaldo. „Das Herz aber ist Vengard und dieses haben wir geschützt.“
    Lee öffnete abermals den Mund, doch Rigaldo hob die Hand. „Ich erinnere Euch ein letztes Mal daran, wer hier den höheren Rang bekleidet, Kommandant. Ich habe Euch auch nicht herbestellt, um mir Eure Anschuldigungen anzuhören. Dieser Krieg ist noch nicht vorbei.“
    „Er könnte es bald sein. Lukkor hat sich mit seinen Truppen zurückgezogen und in Trelis verschanzt, aber ich habe bereits einen Schlachtplan ausgearbeitet, mit dem wir ihn über den Pass zurückdrängen…“
    Der Marschall hob abermals die Hand. „Ich persönlich werde den Befehl über die Westfront übernehmen. Ich danke Euch, Kommandant, aber ich denke, Eure Dienste werden hier nicht länger benötigt.“
    „Aber…“
    „Eure Männer unterstehen ab sofort meinem Oberbefehl. Was Euch angeht…“ Rigaldo verzog leicht das Gesicht. „Ihr werdet in die Reichshauptstadt gerufen. Der König wünscht, Euch zu sprechen.“
    Lee riss die Augen auf. „Der König?“
    „Ja, der König. Ihr werdet gleich morgen aufbrechen. Und macht Euch um die Front keine Sorgen, ich habe genug Kriegserfahrung, um diese Assassinen aus der Westmark zu jagen. Ihr dürft Euch entfernen.“
    „Jawohl, Marschall.“
    Geändert von MiMo (30.03.2017 um 14:55 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Der Großmeister


    Während Marschall Rigaldo den Angriff auf das in Feindeshand gefallene Trelis vorbereitete, war Lee in Richtung Vengard aufgebrochen. Er war nach Norden geritten, durch das große Tal von Gotha mit seinen Dörfern und Gehöften und der über allem thronenden Burg der Paladine.
    Schließlich hatte er das uneinnehmbare Faring erreicht, die Festung aller Festungen. Nach einem Tag der Rast hatte er seine Reise fortgesetzt und war der Straße flussabwärts gefolgt, entlang an den Ufern der Ven. Dann und wann war er königlichen Reitern begegnet, die aus Vengard kamen und eilig Nachrichten in den Westen trugen. Auch einige Bauern mit Fuhrwerken kamen ihm entgegen, flohen von der Küste in den sicheren Norden.
    Krieg lag in der Luft.
    Und dann hatte er endlich die Küste erreicht. Schon Tage zuvor hatte er aus der Ferne die Metropole an der Mündung der Ven erblickt.
    Schon allein in den ärmlichen Hütten, die sich vor der Mauer sammelten, mussten mehr Menschen leben als in mancher Stadt Myrtanas, so schien es ihm.
    Durch das Faringtor betrat er das große Handwerkerviertel der Stadt, über dem, hoch wie die Türme des königlichen Schlosses, die Schornsteine der großen Schmelzen aufragten.
    Lee ritt quer durch die Stadt, bis er die Brücke erreichte, die ihn auf den großen Felsen in der Flussmündung führte. Hier befand sich das Obere Viertel der Stadt, in dem die Reichen und Angesehenen lebten. Und auf der dem Meer zugewandten Seite des Felsens stand die Burg, von der die Stadt ihren Namen hatte, die alte Pfalzburg, die über die Mündung der Ven wachte.

    Doch seine Ankunft in der königlichen Burg lag nun schon fünf Tage zurück. Und noch immer hatte ihn der König nicht zu sich gerufen. Der König sei durch den plötzlichen Ausbruch des Krieges sehr beschäftigt und deshalb müsse er sich etwas gedulden, hatte ihn Oberhofmeister Johan von Annburg vertröstet.
    Die anfängliche Aufregung war Ungeduld und schließlich Resignation gewichen. Vielleicht hätte er unter gewöhnlichen Umständen sogar ruhig gewartet, wäre in der königlichen Menagerie lustgewandelt oder hätte sich auf dem großen Marktplatz im Händlerviertel umgeschaut. Doch jetzt? Täglich trafen Nachrichten von der Küste des Myrtat im Süden ein. General Klauffenburg kämpfte noch immer gegen die in Ardea gelandeten Assassinen. Und Lee war sich sicher, dass auch in der Westmark noch der Krieg tobte. Rigaldo hatte ihm seine Truppen genommen und stellte sich nun selbst Feldherr Lukkor entgegen. Und er? Er saß nutzlos hier in der sicheren Hauptstadt und wartete, dass der König ihn zu sich rief.
    Lee blickte aus dem Fenster. Es zeigte zum Südufer der Ven, wo das Armen- und das Hafenviertel lagen. Flüchtlinge strömten durch das Hafentor in die Stadt. Auf der anderen Seite des Tores herrschte heilloses Durcheinander. Die Bauern und Fischer von den umliegenden Dörfern flohen vor den Assassinen. Die Schlange, die sich vor dem Tor gebildet hatte, wand sich die Hügel hinauf und schien bis zum Horizont zu reichen. Selbst hier in der Burg waren die Schreie der Esel, das Grunzen der Schweine und das Plärren der Kinder zu hören.
    Sein Blick schweifte zu den Bergen im Westen, die die Küstenregion vom Innland abschirmten. Dort lag Aalehn, die größte Siedlung an der Küste südlich der Ven. Irgendwo dort musste General Klauffenburg mit seinem Heer lagern.
    Lees Blick wanderte über die Stadt zum Hafen. Vengard verfügte über einen der größten Häfen der Welt. Dutzende von Schiffen lagen hier vor Anker. Doch genau dieser Umstand war es, der ihn störte. Weshalb lief die Flotte nicht aus? Die Varantiner setzten mit Booten von Bakaresh aus über den Myrtant. Doch die myrtanische Flotte hatte bisher noch nicht in den Krieg eingegriffen. Dabei schien es für ihn offensichtlich, dass man, wollte man die Assassinen aus der Küstenregion jagen, sie zunächst von ihrem Nachschub abschneiden musste.
    Es klopfte. Noch ehe Lee reagieren konnte, war ein Diener eingetreten.
    „Lord Dominique, wünscht Euch zu sehen“, erklärte er.
    „Der Großmeister?“, fragte Lee überrascht.
    Der Diener nickte. „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.“

    Dominique war alt. Das Licht der Kerzen spiegelte sich auf seinem völlig kahlen Schädel. Er trug ein schlichtes, aber edles Wams in den Farben der Paladine. Der Lord saß an einem kleinen Tisch und hatte sich über einige Pergamente gebeugt. Als die Tür sich öffnete, blickte er auf.
    „Ah, Kommandant! Setzt Euch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Tisch. Den Diener, der sich mit einer Verbeugung entfernte, würdigte er keines Blickes.
    Zögerlich nahm Lee auf dem Stuhl platz. „Mein Lord.“
    Dominique blickte Lee ins Gesicht. Er selbst hatte ein stolzes Antlitz. Sein Blick und seine Bewegungen passten perfekt zu einem Edelmann. Doch seine Züge und die kleinen, grauen Augen, glichen eher denen eines Bauern. „Ihr fragt Euch sicher, weshalb Ihr hier seid.“, begann der Paladin. „Nun, der König hat Euch hierher nach Vengard gerufen, doch seine Majestät ist sehr beschäftigt. Der Krieg kam höchst unerwartet.“
    „Heißt das, er wird mich nicht mehr zu sich rufen lassen?“
    Lord Dominique schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht, nein.“ Lee nickte stumm. Er hatte es bereits geahnt. Dennoch fluchte er innerlich. Er hatte Wochen vergeudet für nichts, dabei wurde er an der Front viel dringender gebraucht. „Aber ich bin befugt, in allen Angelegenheiten für seine Majestät zu sprechen“, fuhr Dominique fort. „Sagt, wie schätzt ihr die Lage an der Westfront ein?“
    „Schwer zu sagen. Wir konnten Montera mit Mühe und Not halten. Der plötzliche Regen kam uns zugute. Aber die Stadt wird so schnell keinen zweiten Angriff durchstehen. Die Vorräte sind aufgebraucht und die Erde ist voller Tunnel, die teilweise schon bis unter die Mauern reichen. Außerdem haben die Assassinen den Großteil der Höfe niedergebrannt, bevor sie sich zurückzogen.“
    „Hm.“ Dominique fuhr sich durch den weißen Bart. Lee bemerkte, dass er mehrere goldene Ringe an seinen Fingern trug. „Und Trelis ist noch immer in den Händen Lukkors. Wie schätzt Ihr seine Truppenstärke ein?“
    „Vielleicht fünftausend Mann. Er verfügt über eine sehr starke Reiterei.“
    „Ja und mit dieser wird es ihm ein leichtes sein, Trelis zu verteidigen. Die Brücken sind schmal und Marschall Rigaldo wird die Furten nicht so einfach durchqueren können.“
    „Solange wir ihn nur von Montera und Geldern aus bedrängen, wird er Trelis halten. Wir müssen ihm in den Rücken fallen.“
    Dominique nickte gedankenverloren. „Keine schlechte Idee, doch das könnte ein schwieriges Unterfangen werden. Wie stellt ihr Euch das vor?“
    „Wir werden entweder in Varant landen und den Pass überschreiten oder aber mit Schiffen im Süden der Westmark, bei Nemora, einfallen müssen.“
    Lord Dominique nickte. „Ihr scheint Euer Handwerk zu verstehen.“ Der Paladin kramte in seinen Unterlagen, zog einen Zettel daraus hervor und runzelte leicht die Stirn, während er ihn überflog. „Hm, und ihr habt eine rasche Karriere hinter Euch für jemanden, der keinem Adelshaus entstammt.“ Lee schwieg. Er wusste, dass Dominique neben dem Orden der Paladine auch den myrtanischen Geheimdienst unter sich hatte. „Oh!“ Der Paladin hob die Brauen. „Ihr stammt aus der Gegend?“
    „Ja, aus dem Norden. Unweit des Passes…“ Dominique brachte Lee mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen. Stumm blickte er auf den Zettel in seiner Hand.
    „In der Tat“, murmelte der Lord, „eine schnelle Karriere. Und der Krieg könnte sie noch einmal beschleunigen. Zeiten des Krieges sind für einen Soldaten die beste Möglichkeit, seinen Wert unter Beweis zu stellen.“
    „Ich persönlich würde den Krieg lieber heute als morgen zu einem Ende bringen“, erwiderte Lee. „Ich kann nicht an Karriere denken, während Hunderte sterben.“
    „Ihr habt also Ideale? Das findet man selten.“ Dominique blickte nicht von dem Zettel auf. „Meine Hochachtung. Ich schätze Männer mit Idealen. Was den Krieg angeht: ich bin sicher, er wird ein baldiges Ende finden.“
    „Tatsächlich?“
    Dominique nickte. „Der König wird verkünden, dass die Soldaten bis zum Lichterfest wieder bei ihren Familien sein werden.“
    „Ihr nehmt tatsächlich an, dass wir einen so raschen Sieg davontragen?“ Lee zog die Brauen hoch.
    „Ich sagte, der König wird dies verkünden. Alles Weitere wird sich zeigen.“
    „Haltet Ihr es für richtig, wenn der König den Menschen eine Lüge erzählt?“
    „Ich halte es für notwendig. Aus diesem Grunde habe ich es dem König empfohlen. Und der König pflegt auf meinen Rat zu hören. Aber kommen wir zurück zu Euch und Eurer Karriere. Ich sehe keinen Grund, weshalb Ihr nicht weiter in den Rängen der myrtanischen Armee aufsteigen solltet.“ Der Lord zögerte kurz, dann sagte er: „Morgen wird es eine Konferenz der oberen Heerführer geben, in der wir über das weitere Vorgehen entscheiden. Ich möchte, dass Ihr an dieser Konferenz teilnehmt und Eure Pläne vorlegt.“
    „Es ist mir eine Ehre, mein Lord.“
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:40 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Kriegsrat


    Die Konferenz fand an einer kreisrunden Tafel in einem großen Saal im zweiten Stockwerk der Burg statt. Auf der der Tür gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich ein großer, offener Türrahmen, der auf einen breiten Balkon hinausführte, der genau auf das Meer hinauszeigte.
    Als Lee eintrat, saßen die anderen Teilnehmer der Konferenz mit einer Ausnahme bereits an der Tafel. Es waren vier Männer. Zwei davon waren in ein Gespräch vertieft. Einer starrte auf die Karten, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lagen. Der letzte, es war Dominique, trommelte ungeduldig mit den von zahlreichen Goldringen geschmückten Fingern auf den Tisch.
    „Da seid Ihr endlich“, sagte er, als Lee eintrat. Er wies auf einen Platz ihm gegenüber. „Setzt Euch, setzt Euch.“ Dann wandte er den Kopf dem Balkon zu. „Admiral.“
    Ein Mann, der bis eben noch draußen gestanden und auf das Meer, vielleicht auch auf den Hafen, geblickt hatte, kam nun herein und setzte sich neben Lee.
    Dominique erhob sich. Bei seinem Räuspern verstummten die beiden Männer auf der anderen Seite des Tisches und wandten ihm die Köpfe zu. „Zunächst der formelle Teil“, begann der Paladinlord. „Ich habe einen Mann zu unserem Treffen geladen, der den übrigen Anwesenden unbekannt sein dürfte. Gestatt mir daher, Euch einander vorzustellen.“ Er wies auf Lee. „Bei unserem Gast handelt es sich um Lee, Kommandant der zwölften Division, der bei dem Angriff Feldherr Lukkors den Oberbefehl über die in Montera stationierten Truppen innehatte. Ohne seine Bemühungen wäre Montera nun in den Händen Lukkor Janitschas, womit es den Assassinen nicht nur möglich wäre, auch noch über Land in die Küstenregion einzufallen, sondern ihnen auch der Weg nach Gotha und Faring offen stünde, während Geldern und die nördlichen Ebenen vom Rest des Reiches abgeschnitten wären.“
    Der Mann, der sich bis eben auf dem Balkon aufgehalten hatte, nickte anerkennend, die Gesichter der anderen blieben hart und unverändert.
    „Kommandant, dies hier sind die Obersten Karl Fürst von Emsfurth“ – der Mann, der sich über die Karten gebeugt hatte, nickte Lee zu – „und Ferdinand Freiherr von Lampfberg“ – nun war es einer der beiden Gesprächspartner, der nickte. „Hier neben Euch sitzt Admiral Jacob Roddenbrugg. Und dies hier zu meiner Rechten“, Dominique wies auf den zweiten der beiden Gesprächspartner, „ist Heinrich Graf von Klauffenburg, oberster General des königlich-myrtanischen Heeres.“
    „Ich dachte, Ihr weilt an der Front“, sagte Lee an den General gewandt.
    „Ich bin heute Morgen angereist“, erklärte dieser. „Den Kampf führen ohnehin meine Adjutanten.“
    „Meine Herren.“ Dominique stand noch immer vor seinem Stuhl. „Lasst uns mit unserer Besprechung beginnen. Zunächst zu unserer Lage: Die Varantiner scheinen über zwei Hauptheere zu verfügen. Das eine der beiden setzte vor gut zwei Monaten unter der Führung des Feldherren Gellon al Shahidi Pascha über den Myrtat über und landete bei Ardea. Wir konnten sie vor Vengard zurückwerfen und selbst Aalehn vorerst vor ihnen schützen, doch halten sie die Südküste von Ardea bis Kap Dun noch immer besetzt. Außerdem haben sie die Mündung des Myrtat mit ihren Schiffen blockiert. Das zweite Heer steht unter der Führung Lukkor Janitscha Paschas. Es fiel, während wir unsere Kräfte an der Küste bündelten, überraschend über den Pass in die Westmark ein und konnte Trelis einnehmen. Lukkor stieß bis nach Montera vor, konnte dort aber von Kommandant Lee gestoppt werden. Er hat sich nun zurückgezogen und in Trelis verschanzt. Nun, dies ist die momentane Situation.“
    „Dann schlage ich vor, dass wir sie mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften über den Myrtat zurückdrängen“, erhob Oberst Lampfberg das Wort.
    Klauffenburg schüttelte den Kopf. „Das wird nicht funktionieren. Sie erhalten ständigen Nachschub aus Bakaresh und den Häfen an der Südküste Varants.“
    Oberst Emsfurth nickte. „Der Krieg im Süden ist zu einem Stellungskrieg geworden. Gellon wird keinen Fuß weichen, solange er Verstärkung aus Varant bekommt. Daher schlage ich vor, dass wir zuerst Lukkor über den Pass zurückdrängen. Sind wir erst einmal in Varant, können wir der Küstenlinie bis Bakaresh folgen und Gellon in die Zange nehmen.“
    „Selbst wenn wir Lukkor aus Trelis vertreiben könnten“, widersprach Lee, „der Einfall in die Wüste kann nur von See aus erfolgen. Der Pass ist leicht zu verteidigen. Selbst hundert Männer könnten hier eine ganze Armee aufhalten.“
    „Doch ein Angriff von See wird nicht möglich sein“, widersprach Klauffenburg.
    „Und weshalb, wenn ich fragen darf?“
    Es war Admiral Roddenbrugg, der antwortete: „Durch die Besetzung von Trelis und die Blockade an der Mündung des Myrtats sind wir von allen wichtigen Häfen mit Ausnahme Vengards abgeschnitten. Und die Schiffe in Vengard werden nicht ausreichen, um damit in Varant einzufallen.“
    „Was ist mit den Häfen des östlichen Archipels?“, wollte Lee wissen.
    „Zu weit entfernt“, sagte Emsfurth knapp.
    „Es würde sicher einen Monat dauern, bis die Schiffe des Archipels hier wären“, fügte Klauffenburg hinzu.
    „Wir halten sie schon länger als einen Monat in Schach. Außerdem sehe ich keine andere Möglichkeit. Seht.“ Lee beugte sich über die große Weltkarte auf dem Tisch und fuhr mit seinem Finger vom Östlichen Archipel langsam zur Mündung des Myrtats. „Wir werden Bakaresh nicht in einem einfachen Angriff von See erobern können. Aber wenn wir ihre Blockade an dieser Stelle durchbrechen, haben wir die Truppen in der Küstenregion zumindest vom Nachschub abgeschnitten. Außerdem können wir dann in Nemora landen, den Pass blockieren und Trelis von drei Seiten in die Zange nehmen.“
    „Es gibt noch ein anderes Problem, was die Archipelflotte anbetrifft“, sagte Dominique, der bis jetzt den Ausführungen der anderen Heerführer gelauscht hatte. „Das Archipel steht nicht sicher hinter uns. Es ist kaum drei Jahrzehnte her, dass unser König es dem Reich wieder angeschlossen hat. Der dortige Adel ist momentan höchst unzufrieden. Ein Großteil des Archipels stand nach dem ersten Orkkrieg unter der Herrschaft der Kirche und als die Magier das Land an den König übergaben, wurden große Teile des Adels übergangen. Ich habe Grund zur Annahme, dass geheime Treffen zwischen den wichtigsten Vertretern des dortigen Adels stattfinden und man darüber nachdenkt, den Krieg, der unsere Kräfte voll und ganz beansprucht, zu nutzen, um sich gefahrlos von Myrtana loszusagen. Es wäre gut möglich, dass uns die Fürsten des Östlichen Archipels ihre Schiffe verweigern.“
    „Wir kämpfen jetzt schon an zwei Fronten“, sagte Lampfberg. „Wenn die Fürsten des Archipels aufbegehren, werden wir sie nicht in ihre Schranken weisen können. Nicht, solange unsere Truppen hier gebunden sind.“
    „Aber dann müssen wir den Adel des Archipels besänftigen“, meldete sich Lee wieder zu Wort. „Und zwar bevor sie sich von uns lossagen. Ich bleibe dabei, ohne ihre Flotte werden wir nicht vorankommen.“
    „Und ich sage, wir greifen Lukkor in Trelis an“, meinte Emsfurth. „Wenn wir schnell genug zuschlagen und ihm keine Möglichkeit zur Flucht geben, ist auch niemand da, der uns am Pass aufhalten könnte. Die Soldaten in Braga werden nicht mit uns rechnen.“
    Lord Dominique schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre zu riskant. Kommandant Lee hat Recht. Ohne eine ausreichend große Flotte werden wir in diesem Krieg nicht vorankommen. Und unabhängig davon können wir es uns nicht leisten, das Archipel zu verlieren.“
    „Was schlagt Ihr also vor?“, wollte Klauffenburg wissen.
    „Wir werden den Adel des Archipels besänftigen und uns ihre Unterstützung sichern müssen. Wir müssen also mit ihnen verhandeln. Ich werde noch diese Woche zum Archipel aufbrechen.“
    „Ihr wollt selbst die Verhandlungen führen?“, fragte Lampfberg. „Was ist mit Erzmagier Barthos von Laran? Er weilt derzeit auf dem Archipel und er ist schließlich für sein diplomatisches Geschick bekannt. Nicht zuletzt stammt er selbst vom Östlichen Archipel. Die dortigen Adligen könnten ihm also mehr Vertrauen entgegenbringen als Euch.“
    Die Augen des Paladinlords verengten sich kaum merklich. „Nichts desto trotz möchte ich die Verhandlungen im Falle einer solch wichtigen Angelegenheit lieber selbst führen.“
    „Dann ist dies also beschlossene Sache“, sagte Klauffenburg langsam. „Wir werden weiterhin Vengard und Aalehn vor Gellons Truppen schützen und Marschall Rigaldo sorgt dafür, dass Lukkor vorerst nicht weiter ins Innland vorstoßen kann. Währenddessen segelt Ihr zum Östlichen Archipel und versucht, den dortigen Adel wieder auf unsere Seite zu ziehen und uns ihre Schiffe zu sichern. Mit diesen werden wir dann die Blockade an der Myrtatmündung durchbrechen, Gellon von seinem Nachschub abschneiden und schließlich in Nemora landen, wo wir Lukkor in den Rücken fallen.“
    Dominique nickte. „Dies ist der Schlachtplan. Auf diese Weise werden wir die Invasoren aus Myrtana vertreiben. Und dann tragen wir den Krieg in ihr Land.“ Der Großmeister der Paladine wandte sich an Lee. „Ihr werdet meine Abfahrt organisieren. Drei Schiffe sollten genügen. Ich selbst werde den König über das Ergebnis unserer Konferenz unterrichten. Ich möchte in spätestens vier Tagen bereit für den Aufbruch sein. Und ich möchte, dass Ihr mich begleitet und die Truppen befehligt, die wir mit uns nehmen, Major Lee.“
    „Ich bin Kommandant, mein Lord.“
    Dominique lächelte. „Ich sagte Euch, dass ein Soldat im Krieg mitunter schnell Karriere macht.“
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:42 Uhr)

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    Einmarsch in Kavaros

    Admiral Jacob Roddenbrugg ließ sich den Wind um das wettergegerbte Gesicht blasen. „Beste Bedingungen“, sagte er. „Bei dem Wind könnt ihr in drei Tagen in Kavaros sein.“ Er blickte über die Reling hinaus auf die im Licht der Morgensonne glitzernde See. „Zu schade, dat ick nicht mitkommen kann. Tse.“ Der Admiral spuckte ins Meer. „Als ob man mich hier bräuchte. Hab das Festland langsam schon satt.“
    Lee lächelte. Tatsächlich schien der Admiral auf Planken sicherer zu stehen und sich eleganter zu bewegen als auf festem Boden. Ihm selbst war dies unverständlich. Er war ganz eindeutig eher für das Land geschaffen als für die See.
    Sein Blick schweifte über das Hauptdeck des Schiffes, auf dem die Matrosen bereits geschäftig hin- und herliefen und fixierte schließlich die Planke, die die stolze Galeone mit der Kaimauer verband. In einem weißen Waffenrock mit dem roten Kreuz der Paladine auf der Brust und einem leichten Kettenpanzer darunter schritt Dominique auf das Kriegsschiff. Lee folgte dem Großmeister mit den Augen, der zielstrebig auf das Steuerdeck zuging, auf dem sie sich aufhielten.
    „Admiral.“ Der Paladin nickte dem Seemann zu.
    „Allet klar soweit“, erklärte dieser. „Die Schiffe sind beladen, die Männer an Bord. Die Kapitäne hat Major Lee auf meine Empfehlung hin ausgesucht. In ganz Vengard werdet Ihr keine besseren finden. Und die Schiffe sind alle drei nigelnagelneu. Alle in den Treliswerften gebaut und noch nicht einmal auf hoher See gefahren. Aber mit dieser neuen Bauart sind sie fast doppelt so schnell wie die regulären Kriegsschiffe, sag ich Euch.“
    Dominique nickte. „Hervorragend. Dann können wir ja aufbrechen.“
    Roddenbrugg reichte Lee die Hand und nickte Dominique zu. „Ich wünsch’ Euch viel Glück bei Euren Verhandlungen. Und möge Adanos Euch eine sichre Fahrt schenken.“ Mit diesen Worten stieg er die Treppe zum Hauptdeck hinab.
    Lord Dominique schritt langsam auf die Reling zu. „In Kavaros treffen wir Herzog Berengar“, sagte er, ohne etwas zu erklären, was Lee nicht bereits gewusst hätte. „Er ist einer der einflussreichsten Adligen auf dem Östlichen Archipel und dürfte zugleich der härteste Brocken werden.“
    „Meint Ihr nicht doch, wir sollten Meister Barthos hinzuziehen?“, fragte Lee, der ebenso wie Lampfberg auf dessen diplomatisches Geschick setzte.
    „Ich habe in meinem Leben auch schon genügend Verhandlungen geführt, um zu wissen, wie man sich bei solchen zu verhalten hat, Major.“ Dominiques Ton verriet, dass er nicht näher auf das Thema eingehen wollte.
    „Wir legen ab!“, ertönte die Stimme des Kapitäns und Lee sah, wie die Taue gelöst und die Anker gelichtet wurden.
    Langsam und majestätisch löste sich der große Fünfmaster Myrtanas Stolz von der Kaimauer und drehte den Bug der Morgensonne entgegen. Schwerfällig folgten die etwas kleineren Viermaster Innos’ Glanz und Sankt Akascha.
    Lee atmete tief die salzige Meeresluft ein und blickte hinauf zu den um den Mastkorb kreisenden Möwen. Sie waren auf See. Und zum ersten Mal in seinem Leben verließ er das große Myrtana.

    Die Windstärke nahm sogar noch ein wenig zu und anstatt nach drei Tagen, erreichten sie den Hafen von Kavaros, der zweitgrößten Insel des Östlichen Archipels, bereits am späten Nachmittag des zweiten Tages.
    Bereits zwei Stunden vor ihrer voraussichtlichen Ankunft befahl Dominique, alles für den Landgang bereit zu machen. Und die Soldaten kamen seinen Befehlen nach. Einhundertfünfzig Mann waren allein auf der Myrtanas Stolz mitgereist. Lee war zunächst dagegen gewesen, derart viele Soldaten mitzunehmen, wo doch am Festland der Krieg tobte, doch der Paladinlord hatte darauf bestanden. „Macht und Stärke, das ist es, was wir demonstrieren müssen“, hatte er gesagt. „Wir können nicht mit einem Dutzend zerlumpter Waffenknechte in Kavaros einlaufen, nur weil wir unsere Truppen auf dem Festland brauchen. Wir dürfen uns vor ihnen keine Blöße geben und müssen sie am besten schon einschüchtern, wenn wir von den Schiffen steigen.“
    Dass letzteres gelänge, daran hatte Lee keinen Zweifel. Dafür reichte schon allein der Anblick Dominiques. Anstelle eines einfachen Wamses oder Waffenrockes trug er heute den schweren Kriegspanzer der Paladine. Lee war beeindruckt. Er wusste, dass der Großmeister in seiner Jugend ein großer Kämpfer gewesen war, doch er hätte einem Mann in seinem Alter nicht zugetraut, die Rüstung eines Paladins tragen zu können, ohne unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen.
    Er selbst trug den silbernen Harnisch eines Majors, auf dem golden die geflügelten Hände mit dem Stern in ihrer Mitte und der Sonne darüber, das Wappen Myrtanas, prangten. Dazu trug er einen roten Umhang, der schwer auf seinen Schultern lag und Hose und Stiefel aus feinstem Hirschleder.
    Kaum hatte der letzte der Männer sein Rüstzeug angelegt, liefen sie auch schon im großen Hafen der Stadt Kavaros ein. Er mochte nicht so groß sein wie der Hafen Vengards, doch zweifellos war er imposant. Den drei königlichen Kriegsschiffen bot er mühelos Platz zum Anlegen.
    Dann verließen sie die Galeonen. Vorneweg ritt Dominique, gemächlich und in aufrechter Haltung. Seine Rüstung schimmerte im Licht der langsam untergehenden Sonne. Eine weiße Decke mit dem Wappen der Paladine schmückte das ebenso weiße Pferd, dessen Kopf und Rücken von schwerem Metall geschützt waren und an dessen Flanke Dominiques legendäre Waffen hingen: Der Schild des Feuers und das Schwert Innos’ Zorn. Es musste eine wahrhaft imposante Erscheinung sein. Der Großmeister musste aussehen wie einer der alten Paladine, einer der großen Helden aus den Sagen.
    Lee ritt dicht hinter ihm auf einem braunen Pferd daher. Im Gegensatz zu Dominique trug er einen Helm ohne Visier.
    Hinter ihnen folgten fünfzig weitere Reiter in glänzenden Rüstungen frisch aus den Schmieden von Vengard und dahinter einhundert Fußsoldaten. Von den beiden anderen Schiffen strömten weitere Krieger an Land und schlossen sich ihrem Zug an.
    Niemand war auf einen solchen Auftritt vorbereitet. Es gab keinen Empfang. Doch die Menschen, an denen sie vorbeiritten, blieben teils ehrfürchtig, teils ängstlich stehen und schauten ihnen mit offenen Mündern nach.
    Lee kam sich seltsam vor, wie er da an den einfachen Bürgern der Stadt vorbeiritt. Mit dieser Armee, die ihm und Dominique folgte, hätten sie Bakaresh belagern können und dabei waren es Verhandlungen, die sie hier herführten. Doch Lee kam sich beim Reiten durch die Straßen der Stadt und bei den Blicken der Einwohner eher vor wie ein Eroberer als wie ein Abgesandter des rechtmäßigen Herrschers.
    Eine breite, gewundene Straße führte zwischen den Häusern der Stadt hindurch auf das Schloss Herzog Berengars zu, das auf der Spitze eines über der Stadt aufragenden Berges thronte.
    Die Stadt war groß und sie ritten absichtlich langsam, um auch ja von jedem gesehen zu werden und, wie ihm Dominique auf dem Schiff zugeflüstert hatte, um sicherzugehen, dass der Herzog von ihrer Ankunft erführe und sie bereits erwartete.
    Dieser Plan ging auf. Als Dominique vor den Schlosstoren sein Pferd anhielt und dem in einen blauen Waffenrock gekleideten Wachposten befahl, die Ankömmlinge seinem Herren zu melden, antwortete dieser nur, dass der Herzog sie bereits erwarte.
    Sie ritten in den Hof und saßen ab. Die Stallknechte hatten alle Hände voll zu tun mit den zahlreichen Pferden und die Fußsoldaten mussten vor dem Schloss warten, da im Hof kein Platz mehr war. Dominique und Lee betraten allein und zu Fuß das Innere des stattlichen Baus.
    In der Eingangshalle wurden sie von einer jungen Frau in einem mit aufwändigen Stickerein verzierten Kleid erwartet. Sie machte einen Knicks als die beiden Männer vor sie traten. „Seid mir gegrüßt, edle Herren. Ich bin Seraphia, Fürstentochter von Kavaros. Mein Vater bittet zu entschuldigen, dass nicht er selbst es ist, der Euch in seinem Hause willkommenheißt, doch Euer Besuch kommt unerwartet und es weilt bereits ein anderer Gast an seinem Hof.“
    „Das macht nich…“, begann Lee, wurde aber von Dominique unterbrochen, der seine Worte völlig ignorierte:
    „Ein anderer Gast?“
    „Ja. Mein Vater bittet, dass ich Euch in den Speisesaal begleite. Er hat die Köche bereits angewiesen, Euch ein Mahl zu bereiten und wird sich in Kürze selbst zu Euch begeben. Er wird sicherlich all Eure Fragen beantworten.“
    Dominique nickte steif. „Wir danken für Eure Gastfreundschaft.“
    Geändert von Jünger des Xardas (12.11.2009 um 20:15 Uhr)

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    Die Kunst der Diplomatie

    Sie durchquerten einen kleinen Salon. Seraphia blieb stehen und wies auf eine Tür an der linken Wand. „Dort drüben könnt Ihr Euch umkleiden. Mein Vater hat bereits einige Gewänder für Euch bringen lassen.“ Sie wies auf eine zweite Tür auf der rechten Seite. „Dort findet Ihr den Speisesaal. Wartet bitte dort. Mein Vater wird in Kürze erscheinen.“
    Wortlos wandte Dominique sich der linken Tür zu, während Lee sich noch bei Seraphia bedankte. Dann folgte er dem Paladin. Dieser war bereits dabei, seine Armschienen abzulegen, als Lee die Tür hinter sich schloss.
    „Ein anderer Gast“, murmelte Dominique.
    „Denkt Ihr, es handelt sich um einen anderen Adligen vom Archipel?“
    „Vermutlich. Wir dürften den Herzog mit unserer Ankunft ganz schön überrascht haben. Doch dürfen wir uns nichts vormachen. Er wird sich keine Blöße geben. Wir haben es mit einem gerissenen Mann zu tun.“
    Lee hatte mittlerweile die schwere Rüstung abgelegt. Er war schneller als Dominique, schließlich musste er sich auch keines solchen Metallberges entledigen. Die Kleider, die man für sie bereitgelegt hatte, waren tatsächlich edel, wie er feststellte. Edler und teurer als alles, was er in seinem bisherigen Leben getragen hatte. Und so bestaunte er die Kleider zunächst nur. Der Großmeister dagegen war teure Gewänder gewohnt und ließ sich nicht so leicht beeindrucken. Dies führte dazu, dass er Lees Vorsprung beim Umkleiden wieder aufholte und die beiden Männer fast gleichzeitig fertig waren.
    „Überlasst mir das Reden“, befahl Dominique, bevor sie durch die Tür zurück in den Salon und von dort in den Speisesaal schritten.
    Lees Blick wanderte über die kunstvollen Ölgemälde an den Wänden und den imposanten, steinernen Kamin zu der großen Tafel. Ein Mann in der schlichten, roten Robe der Feuermagier saß daran. Als sie eintraten, erhob er sich lächelnd.
    „Lord Dominique, welch unerwartete Freude!“
    Der Angesprochene verharrte kurz hinter der Tür und blickte den Magier mit leicht verengten Augen an. „Meister Barthos“, sagte er dann langsam. Er musterte den greisen Erzmagier. „In der Tat, eine höchst unerwartete Freude. Sagt, was verschafft uns das Vergnügen?“
    „Eine Einladung Herzog Berengars. Wenn ich das Schauspiel am Hafen, das ich vom Fenster aus beobachten durfte, richtig deute, seid Ihr allerdings uneingeladen hier.“
    „Wir kommen auf Befehl des Königs.“
    Barthos zog überrascht die Brauen hoch. „Seit wann handelt Ihr auf Befehl des Königs, Lord?“
    „Spart Euch das. Ihr wisst sehr gut, was der Grund für unseren Besuch ist.“
    „Für Euren Einmarsch, wolltet Ihr sagen. Aber Ihr habt Recht, ich kann es mir denken. Der Krieg verläuft wohl nicht ganz wie erwartet? Verzeiht, doch hier auf dem Archipel erreichen uns die Botschaften vom Festland nicht so rasch.“
    Dominique schüttelte den Kopf. „Nein, er verläuft nicht wie geplant. Doch dies muss nicht Eure Sorge sein, Vater.“
    „Ihr wollt mir erzählen, der Tod Hunderter von Menschen sei nicht meine Sorge? Nun, noch entscheide ich, was mich sorgt und was nicht.“
    Dominique antwortete nicht. Noch immer stand er reglos inmitten des Raumes und funkelte Barthos feindselig an. Lee stand etwas unsicher an seiner Seite. Er wusste nicht ganz, wie er damit umgehen sollte, dass der Großmeister der Paladine und der Erzmagier offensichtlich gewisse Meinungsverschiedenheiten hatten, doch es erschien ihm unpassend, sich einfach an den Tisch zu setzen.
    „Berengar hat Euch ein Angebot gemacht, nicht wahr?“, fragte der Paladinlord nach einigen Momenten des stummen Kräftemessens, ohne den Blick von Barthos’ Augen abzuwenden.
    „Ich bewundere Euren Scharfssinn. Nun, ich denke, ich brauche keinen Hehl daraus zu machen, dass ich nicht zum bloßen Vergnügen hier bin.“
    „Davon wäre in der Tat abzuraten. Es würde ohnehin nicht lange unbekannt bleiben.“
    „Aber natürlich nicht.“ Barthos lächelte. „Auge, Ohr und Hand des Königs, Dominique. Nichts, was Euch entgeht, nichts, was Ihr nicht wisst, nicht wahr?“
    „Ich hoffe“, sagte der Großmeister langsam und als hätte er den letzten Satz überhört, „dass Ihr wisst, wem Eure Loyalität zu gelten hat.“
    „Meine Loyalität ist meine eigene Sache, Dominique“, sagte Barthos, noch immer lächelnd, doch mit weniger weicher Stimme als zuvor. „Seid Euch gewiss, dass sie nicht dem Herrscher Myrtanas gilt. Doch ich kann Euch beruhigen. Ich gedenke nicht, mich mit Berengar gegen den König zu verschwören. Wenn Ihr das von mir denkt, so enttäuscht Ihr mich. Gleichzeitig müsste ich mich fragen, weshalb Ihr mich so sehr fürchtet. Denn wäre ich ein einfacher Intrigant, wäre an mir nichts, was ein Mann wie Ihr zu fürchten bräuchte.“
    Die Tür wurde geöffnet und ein Mann mit graumeliertem Bart in einem Gewand aus edlem Samt und silbrigem Schattenläuferfell trat herein, Seraphia an seiner Seite.
    „Herzog.“ Barthos verbeugte sich mit gütigem Lächeln. Dann schritt er auf die Tür zu.
    „Ihr wollt uns keine Gesellschaft leisten?“, fragte der soeben Eingetroffene.
    „Verzeiht, doch ich bin ein alter Mann und brauche meinen Schlaf. Außerdem habe ich vorhin so vorzüglich gegessen, ich glaube nicht, dass ich an diesem Abend noch einmal mit Euch speisen kann.“
    „Dann wünsche ich Euch eine geruhsame Nacht.“
    „Ich danke Euch.“ Barthos schritt durch die Tür davon. Der Herzog kam unterdessen auf seine beiden anderen Gäste zu.
    „Welch eine Ehre, den Erzmagier und den Großmeister der heiligen Streiter zugleich in meinem bescheidenen Hause zugastheißen zu dürfen.“ Er verbeugte sich leicht vor Dominique. „Und Euer Begleiter?“
    „Major Lee, Herr“, antwortete Lee und verbeugte sich ebenfalls.
    Der Herzog nickte nur. „Meine Tochter habt Ihr ja bereits kennengelernt.“
    Dominique trat heran und küsste der Fürstentochter die Hand. Lee tat es ihm gleich. Dann setzten die vier sich an die Tafel.
    „Ihr müsst eine lange Reise hinter Euch haben“, sagte Berengar, während Diener hereinkamen und Wein in die goldenen Trinkpokale des Herzogs gossen.
    „Wir hatten gute Windverhältnisse“, antwortete der Paladinlord und griff nach dem Weinglas.
    „Das hört man gerne.“ Der Herzog hob seinen Pokal und betrachtete den roten Saft darin. „Ein vorzüglicher Jahrgang. 913. Gepresst aus den Reben des Archolos.“ Er zögerte kurz, blickte den Paladin aus seinem spitzen Gesicht an. „Darf ich fragen, was mir die Ehre Eures Besuches verschafft?“
    „Der Krieg, Herzog.“
    „Ja, der Krieg. Ich hörte davon. Tragisch, vor allem, da gerade Euer Orden noch von den Flammenzügen geschwächt sein dürfte.“
    „Ich kann Euch beruhigen, Herzog, das myrtanische Heer ist stärker als je zuvor in seiner Geschichte.“
    „Eine erfreuliche Nachricht. Doch was genau führt Euch nun hierher? Wird Euer taktisches Geschick nicht auf dem Festland viel eher benötigt?“
    Lees Blick schweifte von der harten Miene Herzog Berengars zu der seiner Tochter.
    „Ich will offen zu Euch sprechen“, hörte er Dominiques Stimme neben sich.
    War dies ein spöttisches Zucken in Seraphias Gesicht? Ihr Blick wanderte zu ihm, ihre Augen trafen sich. Eine Frage schien in diesen blauen Augen zu stehen. Ein kaum merkliches Nicken in Richtung Dominique, eine fragend hochgezogene Stirn. Er hob die Brauen, nicht ganz verstehend.
    Einige Diener brachten das Essen. Wahre Berge von erlesenen Speisen, angesichts derer Lee sich fragen musste, ob vier Menschen allein tatsächlich so viel essen konnten. Das Gespräch wurde kurz unterbrochen, während die Teller bis zum Rand mit Nahrung angefüllt wurden. Auch danach wurde nicht sofort weitergesprochen. Die Anwesenden widmeten sich dem Essen und für einige Zeit war nur das Klappern des Bestecks zu vernehmen.
    Schließlich erhob Berengar wieder das Wort: „Ich soll also die übrigen Fürsten des Archipels hierher nach Kavaros laden?“, fragte er, während er mit dem Messer durch ein Stück Fleisch schnitt. Lee hatte sich derart darauf konzentriert, Seraphias Blick zu ergründen, dass er die letzten Sätze überhört haben musste.
    „Korrekt. Wie Ihr richtig sagtet, ist dies eine Frage, in der Ihr nicht allein zu entscheiden habt.“
    „Ganz recht, ganz recht. Doch…“ Der Herzog ließ das Fleischstück in seinem Mund verschwinden. Er ließ sich Zeit mit dem Kauen, erprobte Dominiques Geduld. Schließlich sah Lee, wie er das Fleisch herunterschluckte und zu seinem Pokal griff. „Doch zweifle ich daran, dass sie erscheinen werden“, sagte er, nachdem er an seinem Wein genippt hatte.
    Der Paladin zog die Brauen hoch. „Weshalb sollten sie sich weigern, zu kommen?“, fragte er mit gespieltem Überraschen.
    „Sie könnten eine Falle wittern“, entgegnete der Herzog offen. „Ihr kommt nicht wie Diplomaten, sondern wie Eroberer. Dies ist – verzeiht, wenn ich das sage – wenig vertrauenerweckend.“
    „Ihr kränkt mich, Herzog. Es gibt nichts zu erobern. Vergesst nicht: Das Archipel ist eine feste Provinz Myrtanas. Und wir sind Abgesandte des Königs, des rechtmäßigen Herrn dieser Inseln, dem alle hiesigen Adligen zur Treue verpflichtet sind.“ Er hob das Weinglas vor den Mund und lächelte. „Wir befinden uns im eigenen Land, nicht in einem fremden Reich. Und solange dies so bleibt, gibt es auch nichts zu erobern.“ Der rote Saft von den Reben des Archolos benetzte die Lippen des Paladins.
    Wieder wandte Lee den Blick zu Seraphia. Abscheu lag in ihrem Gesicht. Sie merkte, dass er sie abermals anstarrte, und wandte ihm den Kopf zu. Wieder stand eine Frage in ihren Augen, doch Lee wusste sie nicht zu deuten. Während er ihren Blick zu ergründen versuchte und gleichzeitig mit Essen beschäftigt war, vergaß er das Gespräch der beiden Männer vollends.
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:43 Uhr)

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    Im Garten


    Lee öffnete das Fenster seines Zimmers. Stunden hatten der Paladin und der Herzog noch miteinander gesprochen und einen erbitterten Kampf ausgefochten, ein Kräftemessen, bei dem keiner den Kürzeren hatte ziehen wollen, nur durch Worte, Andeutungen und versteckte Drohungen.
    Die kühle Abendluft schlug ihm entgegen. Er blickte hinaus. Ein kleiner Garten befand sich unterhalb seines Fensters. Es gab keinen Vergleich zum königlichen Lustgarten in Vengard, doch hübsch war er. Lee erblickte eine Gestalt, die langsam durch den Garten schlenderte. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es sich um eine Frau handelte. Kurz überlegte er, dann zog er sich das bereits über dem Stuhl hängende Wams noch einmal über und schritt auf die Tür zu. Etwas frische Luft würde ihm gut tun.

    Seraphia stand auf einem schmalen Kiesweg am Rande einer hohen Hecke, den Blick auf einen Rhododendron gerichtet. „Guten Abend, Major“, sagte sie freundlich, als er hinzutrat.
    „Meine Dame.“ Er verbeugte sich leicht.
    Sie seufzte. „Müssen diese steifen Förmlichkeiten sein? Wir sind hier unter uns und das bedeutet, dass wir es mit den Etiketten nicht so genau nehmen müssen.“
    Er lächelte. „Ihr scheint die Etikette nicht zu mögen.“
    „Ich habe sie gehasst, als ich noch ein Kind war. Heute ermüden sie mich nur noch. Und die meisten von ihnen sind so furchtbar albern. Sagt, habt Ihr Euch nie an ihnen gestört?“
    „Ich könnte sehr gut ohne auskommen. Der ganze Hof mit all seinen Gepflogenheiten scheint mir nicht so ganz zu liegen. Aber vielleicht ist das schlicht Gewöhnungssache.“
    „Soll das heißen, Ihr seid nicht bei Hofe aufgewachsen?“
    „Nein, ich bin kein Adliger.“
    Nun war sie es, die lächelte. „Ein gemeiner Mann – und das in Euer Position.“
    „Tja, Lord Dominique scheint es gut mit mir zu meinen.“
    „Dominique…“ Nachdenklich sprach Seraphia den Namen aus. „Wollen wir ein bisschen umhergehen?“, fragte sie dann.
    „Gerne.“
    Langsam begannen sie den Weg entlangzuschlendern, auf einen kleinen Brunnen zu, aus dem vom Mondlicht silbernes Wasser sprudelte.
    „Sagt, Dominique, wie steht Ihr zu ihm?“
    „Ich kenne ihn selbst erst seit einigen Tagen. Ich konnte Montera vor den Assassinen schützen, müsst Ihr wissen. Das scheint ihn von meinen Fähigkeiten überzeugt zu haben. Zumindest beförderte er mich, ließ mich an einer wichtigen Konferenz…“
    „Das ist keine Antwort“, sagte sie schmunzelnd. „Ich fragte, wie Ihr zu ihm steht. Ihr müsst eine Meinung über ihn haben.“
    „Muss ich das?“ Lee lehnte sich auf den Rand des Brunnens und betrachtete das Spiegelbild des Mondes im Wasser.
    „Lasst mich anders fragen: Mögt Ihr ihn? Empfindet Ihr Dankbarkeit?“
    Lee verzog leicht das Gesicht. Mochte er Dominique? „Ich denke nicht. Wie gesagt, ich kenne ihn erst kurze Zeit. Und er ist sehr distanziert. Mir reicht es nicht, dass jemand mich befördert, um Sympathie für ihn zu entwickeln.“
    „Nicht?“ Seraphia schien überrascht. Dann lachte sie. „Ihr müsst tatsächlich ein gemeiner Mann sein.“
    „Wie darf ich das jetzt verstehen?“
    „Als Kompliment.“
    Sie schwiegen.
    Nach einer Weile sagte Lee, mit dem Finger über die Wasseroberfläche streifend, „Vorhin habt Ihr einen recht wortkargen Eindruck gemacht.“
    „Ihr auch. Ihr hattet Dominique an Eurer Seite, ich meinen Vater.“
    Er nickte verstehend.
    „Ich rate Euch, auf der Hut zu sein.“
    „Wovor?“
    „Vor Dominique. Er versteht sein Handwerk.“
    „Von welchem Handwerk sprecht Ihr?“
    „Ihr habt genauso gut wie ich mitbekommen, wie er mit meinem Vater gesprochen hat. Und sicherlich ist er auch nicht umsonst Chef des königlichen Geheimdienstes. Ihr werdet wenig Erfahrung mit derlei Dingen haben, denn Ihr kennt Euch am Hof nicht aus, also lasst es mich erklären: Das vorhin war nur ein harmloses Kräftemessen und Abtasten des Gegners. Es ist nichts zu dem, was Ihr erleben werdet, wenn erst einmal die übrigen Fürsten hier sind. Ich weiß nicht, wie es bei den einfachen Menschen zugeht, doch die bei Hofe scheinen unfähig, normale Gespräche miteinander zu führen. Jeder, der so etwas wie Ambitionen hat, übt sich auch im Intrigieren und Manipulieren. Und nur, wer diese Dinge zur Perfektion bringt, sich keine Blöße gibt und keine Skrupel hat, alle Karten auszuspielen, kann es am Hof zu etwas bringen. Dominique ist, genau wie mein Vater, groß in dieser Kunst. Und deshalb will ich Euch warnen, denn Ihr habt noch keine Ahnung von diesen Dingen. Lasst Euch nicht zu sehr von Dominique einwickeln. Ihr tut gut daran, auch weiterhin keine Sympathie für ihn zu entwickeln, nur weil er Euch befördert oder dergleichen. Andernfalls seid Ihr heute sein Spielzeug, morgen sein Schoßhündchen und übermorgen eine von vielen Marionetten in einem einzigen großen Spiel.“
    „Ihr scheint Euch auszukennen in derlei Dingen.“
    „Ich bin nicht stolz darauf, aber es lässt sich kaum vermeiden, wenn man die Tochter Herzog Berengars von Kavaros ist. Ich saß vorhin nicht das erste Mal mit ihm und einem Gast an der Tafel. Ich bin ein Prestigeobjekt für ihn, sein kleines, reizendes Töchterchen. Ich bin genauso eine seiner Schachfiguren, wie Ihr eine Dominiques seid. Und ich spiele die Rolle, die mir mein Vater zugedacht hat und höre zu. Und man lernt einiges, wenn man zuhört.“
    Lee schwieg. Er blickte Seraphia an, sah zu, wie sie auf den Brunnen gelehnt mit einer blonden Locke spielte.
    Plötzlich hörten sie Schritte. Lee zuckte zusammen. Aus einem ihm nicht näher nachvollziehbaren Grund hatte er das Gefühl, bei etwas Ungehörigem ertappt worden zu sein. Seraphia jedoch schien völlig gelassen. „Einen guten Abend, Meister“, sagte sie mit freundlichem Lächeln.
    „Guten Abend, meine Kinder“, erwiderte Barthos, ebenfalls lächelnd. „Wie schön, um diese Zeit noch jemandem hier draußen zu begegnen.“
    „Was macht Ihr hier?“, fragte Lee.
    „Oh, ich genieße die Schönheit Beliars. Und ich höre zu.“ Sein Lächeln wurde breiter, gewann etwas Schalkhaftes. „Man lernt so einiges dabei. Aber wenn wir uns hier draußen schon einmal begegnen, will ich die Gelegenheit nutzen, mich zu verabschieden.“
    „Oh, Ihr wollt uns schon verlassen?“, fragte Seraphia enttäuscht.
    „Ja. Was soll ich noch hier? Dem Treffen der Fürsten beiwohnen? Nein, das überlasse ich anderen. Ich bin dort weder erwünscht, noch verspüre ich ein besonderes Verlangen danach. Ich bin nur ein einfacher Mönch. Ein alter Mann, der die besten Jahre seines Lebens bereits hinter sich hat und die wenigen verbliebenen noch ein wenig genießen will.“
    „Sagt doch so etwas nicht“, bat die Fürstentochter. „Manch ein Soldat des Königs könnte sich von Eurer Vitalität etwas abschneiden und im Gegensatz zu Lord Dominique benötigt Ihr keine magischen Ringe, um Euch noch auf den Beinen zu halten.“
    Barthos lachte. „Würde ich eine solch schwere Rüstung wie die der Paladine tragen wollen, bräuchte auch ich magische Ringe der Kraft. Aber es gibt gar keinen Grund, mir erzählen zu wollen, wie jung ich doch bin. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass dem nicht so ist. Und ich bin auch sehr froh darum. Ich war lange genug jung und ich genieße das Alter.“
    „Trotzdem gefällt es mir nicht, Euch von Eurem Tod sprechen zu hören.“
    „Jeder muss sterben, kaum etwas in der Welt ist so sicher. Und nur Narren fürchten den Tod. Aber macht Euch keine Sorgen.“ Er lächelte. „Ein paar Jahre bleibe ich Euch sicherlich noch erhalten. Doch jetzt werde ich mich, wenn es Euch nichts ausmacht, zurückziehen. Ich brauche meinen Schlaf und habe morgen noch eine Schiffsreise vor mir. Ich wünsche eine gute Nacht.“
    „Euch ebenso“, sagte Lee und verabschiedete den Magier mit einem Nicken. Einen Moment sahen sie ihm schweigend nach. Dann, einige Zeit, nachdem der Erzmagier bereits verschwunden war, fragte Lee mit einem Grinsen: „Und wie steht es mit Barthos?“
    „Barthos? Barthos ist Barthos.“ Seraphia schaute nachdenklich in die Richtung, in die der Magier verschwunden war. „Ich glaube, Dominique und mein Vater hätten ihm nicht das Geringste entgegenzusetzen. Wenn er wollte, könnte er wohl den gesamten Adel um den Finger wickeln. Aber ich glaube nicht, dass ihm irgendetwas an weltlicher Macht gelegen ist. Ich mag ihn jedenfalls. Er mag etwas seltsam sein“, sie lachte, „aber so müssen weise Männer wohl sein.“
    „Ihr sprecht als würdet Ihr ihn schon lange kennen.“
    „Praktisch seit meiner Geburt. Laran ist nicht weit entfernt und ich kann mich an kaum ein Jahr erinnern, in dem er nicht aus irgendeinem Grund hier herkam. Für mich ist er beinahe so etwas wie ein lieber Onkel.“
    Sie schwiegen eine Weile. Lee sah zu, wie Seraphia wieder mit einer Locke spielte. Sie hatte schönes Haar. Schließlich wandte sie ihm den Kopf zu. „Ich wünsche Euch eine gute Nacht.“
    „Euch ebenso“, erwiderte er und schaute ihr nach, wie sie langsam davonging.
    Geändert von Jünger des Xardas (14.11.2009 um 09:32 Uhr)

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    Zwischen den Fronten

    Dominique blickte aus dem Fenster. Seine Augen fixierten ein Schiff, das gerade am Hafen ablegte und in Richtung Laran aufbrach. Genugtuung lag in seinem Blick.
    „Fünf Tage, dann spätestens sollten die ersten Fürsten eintreffen“, sagte er, ohne sich umzuwenden. „Dann beginnt der komplizierte Teil unserer Mission. Aber bis es soweit ist, werden wir bereits ein wenig auf den Herzog einwirken. Wenn er sich vor den anderen Fürsten für Myrtana ausspricht, ist bereits einiges gewonnen.“ Er drehte sich herum und blickte Lee an. „Worüber habt Ihr gestern Nacht mit der Fürstentochter gesprochen?“
    „Woher wisst Ihr, dass ich das getan habe?“, fragte Lee überrascht.
    „Aus dem banalen Grund, dass ich Euch vom Fenster aus gesehen habe. Nun, worüber habt Ihr gesprochen?“
    „Dies und Jenes“, sagte Lee leicht ertappt. „Nichts von Bedeutung. Es war nur ein belangloses Gespräch über Innos und die Welt.“
    „So.“ Der Paladin fuhr sich durch den Bart. „Gebt acht. Es wäre gut möglich, dass der Herzog seine Tochter auf Euch angesetzt hat. Schenkt Ihr kein Vertrauen und vor allem, verratet Ihr nichts, was von Bedeutung wäre.“
    „Was habt Ihr nun vor?“, wollte der Major wissen.
    Dominique lächelte. „Ich setze Euch auf sie an. Sie dürfte einiges wissen, was uns von Nutzem sein könnte.“
    „Ich soll sie aushorchen?“
    „Sofern Ihr die Möglichkeit dazu habt, ja. Versucht, herauszufinden, wie wir den Herzog für uns gewinnen können. Und…“, Dominique zögerte kurz, „und findet heraus, wie die Fürstentochter zu ihrem Vater steht.“
    „Ihr wollt sie gegen ihn verwenden?“
    „Ich möchte wissen, woran ich bin. Und wenn ich dies weiß, werde ich mein Wissen so einsetzen, wie es unserem Vorhaben am dienlichsten ist.“
    Lee schwieg. Ihm gefiel der Gedanke nicht, Seraphia gegen ihren Vater zu benutzen. Nachdenklich schritt der Großmeister durch das Zimmer, die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Wir werden Berengar etwas anbieten müssen, andernfalls wird er sich gewiss nicht auf unsere Seite schlagen, doch die Frage ist, was.“
    „Macht?“
    „Natürlich will er Macht“, sagte Dominique unwirsch. „Aber wir können ihm schlecht die Krone anbieten. Berengar hat jetzt schon genügend Einfluss. Wir können es uns nicht leisten, ihm zu viel Macht zu geben. Nein.“ Er seufzte. „Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Nun, wie dem auch sei. Ihr wisst, was Eure Aufgabe ist, ich werde mich der meinen widmen. Der Herzog hat mich zur Hasenjagd geladen. Dies ist eine gute Gelegenheit, weiter mit ihm zu verhandeln. Und für Euch ist es eine gute Gelegenheit, ungestört mit seiner Tochter zu sprechen.“

    Lee klopfte an Seraphias Tür. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem, was er tat.
    „Herein!“
    Vorsichtig öffnete er und trat ein. Angesichts des Luxus, der ihn umgab, kam ihm sein eigener Raum im herzoglichen Schloss mit einem Mal klein und schäbig vor.
    Die Fürstentochter hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie stand vor einem Spiegel und kämmte ihre goldenen Locken. „Was führt Euch in meine Gemächer?“, fragte sie, den Blick auf das Gesicht seines Spiegelbildes gerichtet.
    „Ich wollte nur ein wenig mit Euch plaudern.“
    „Nun, dann solltet Ihr zwei Dinge wissen, die Euch bei Hofe noch nützlich sein könnten: Erstens gehört es sich nicht, eine Dame in ihrem Gemach aufzusuchen, schon gar nicht, wenn sie einen höheren Stand hat als man selbst. Und zweitens seid Ihr ein unglaublich schlechter Lügner.“
    Lee stockte, dann fiel sein Blick auf ihr Spiegelbild und er sah, dass sie ein Grinsen unterdrückte. „Ist es so schwer zu glauben, dass ich gerne mit Euch spreche?“, frage er.
    „Das nicht unbedingt, aber dass Ihr deshalb hier reinplatzt, unmittelbar, nachdem Dominique und Vater ausgeritten sind und das, obwohl Ihr scheinbar nicht einmal ein konkretes Thema habt, über das Ihr plaudern wollt, ist zumindest verdächtig.“
    Lee seufzte. „Ich schätze, ich bin nicht für solche Aufgaben geschaffen.“
    „Vermutlich nicht. Ich weiß nicht, wie es um Eure taktischen Fähigkeiten bestellt ist, aber vielleicht solltet Ihr tatsächlich lieber bei der Kriegsführung bleiben, anstatt Euch als einer von Dominiques Agenten zu versuchen.“ Sie drehte sich herum und blickte nun dem echten Lee in die Augen. „Tut Euch selbst einen Gefallen und lasst Euch nicht von ihm einspannen, es wäre schade drum.“
    Lee schaute Seraphia in die blauen Augen. Mit einem Mal entschied er, offen zu ihr zu sein: „Dominique meint, Euer Vater hätte Euch auf mich angesetzt.“
    Sie kicherte. „Sein kleines, folgsames, aber naives Töchterchen? Das würde er gar nicht erst versuchen. Und wenn, hätte er auch wenig davon.“
    „Und woher weiß ich, dass Ihr ehrlich zu mir seid?“
    „Ihr wisst es nicht. Vielleicht soll ich Euch ja wirklich aushorchen und versuche nur, Euer Vertrauen zu gewinnen.“
    Lee seufzte. „Es scheint zu klappen. Ich glaube aber, dass Dominique das nicht gefallen wird.“
    „Ihr müsst Dominique auch nicht zu sehr gefallen. Versteht mich nicht falsch. Sich mit ihm anzulegen, wäre töricht und hätte für Euch keinerlei Nutzen, aber ich habe Euch schon gestern gewarnt, Euch nicht zu seiner Marionette machen zu lassen. Ihr entstammt keinem Adelshaus, strebt nicht nach Macht und seid mit den Gepflogenheiten bei Hofe nicht vertraut. Das macht Euch zu einem möglichen Werkzeug, das sich leicht manipulieren lässt. Andererseits habt Ihr Ideale, seid ehrlich und schlecht im Lügen, was weniger gute Voraussetzungen sind.“
    Lee ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. „Und genau deshalb werde ich das, was Ihr mir erzählt, am Ende noch ausplaudern. Und Dominique wird mir daraufhin sagen, dass nicht er mich zu manipulieren versucht, sondern Ihr und dass Ihr mir all dies nur erzählt, um mich gegen ihn aufzuwiegeln.“
    „Das, oder er verliert das Interesse an Euch und wird Euch bei der nächsten Gelegenheit loswerden, indem er Euch an die Front schickt oder dergleichen.“
    Lee verzog das Gesicht.
    Seraphia ließ sich mit mitfühlendem Lächeln auf einem Stuhl direkt vor ihm nieder. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich verstehe, wie es Euch gehen muss. Und ich weiß auch, dass Ihr mir wohl wirklich nicht vertrauen könnt. Ich versuche nur, Euch zu helfen, weil Ihr mir sympathisch seid und es schade wäre, wenn ein Mann wie Ihr zu einer bloßen Marionette Dominiques würde. Aber ich fürchte, ich mache alles nur komplizierter für Euch.“
    Lee legte seine Hand auf ihre. Seraphia zuckte leicht. „Ihr macht es viel, viel komplizierter, aber ich danke Euch trotzdem. Und ich glaube Euch, dass Ihr es ehrlich meint.“ Einen Moment schaute er in ihr Gesicht, dann sagte er, ihr Zucken deutend: „Die Hand einer Dame zu ergreifen geziemt sich für einen Mann meines Standes noch weniger als ihr Zimmer zu betreten, oder?“
    „Ihr habt Recht, es geziemt sich nicht.“
    Schweigend saßen sie da und schauten sich in die Augen, ohne dass einer der beiden seine Hand zurückzog.

    Die Zeit schien wie im Fluge zu vergehen. Während Dominique und Berengar gemeinsam auf die Jagd gingen, oder sich oft für Stunden in den Gemächern des Herzogs einschlossen und sich in Gegenwart anderer größtenteils über Belanglosigkeiten unterhielten, verbrachte Lee seine Zeit mit Seraphia.
    Und dann erreichte der erste der Fürsten die Insel. Maximilian von Parthalan war ein korpulenter Mann mit schütterem Haar, den man laut Seraphia jedoch auf keinen Fall unterschätzen sollte. Sofort nach seiner Ankunft verschwand er mit dem Herzog.
    Grimmig nahm Dominique wahr, wie sich die beiden zurückzogen. Er hatte die letzten Tage kaum mit Lee gesprochen und die meiste Zeit gegrübelt, wenn er nicht gerade mit dem Herzog geredet hatte. Selbst nach Lees Fortschritten bezüglich Seraphia hatte er nicht gefragt. Auch jetzt schwieg er.
    Am nächsten Tag traf Richard von Falkenberg, genannt der Schöne, ein. Laut Seraphia interessierte er sich mehr für seine Mätressen als für Politik und war in diesem Konflikt relativ neutral eingestellt. Vielleicht war gerade dies der Grund, dass Dominique sich geradezu auf ihn stürzte und scheinbar versuchte, ihn auf seine Seite zu ziehen.
    Bald schon wimmelte es auf dem Schloss nur so vor Adligen und jeder schien jeden für seine Sache gewinnen zu wollen. Lee fühlte sich unwohl und furchtbar fehl am Platz. Dies war ihm spätestens klar, nachdem er Baron Giselher von Vardenbrück und Graf Karl von Haggenbach zufällig im Garten hinter einem Rosenbusch bei einem vertraulichen Gespräch ertappt hatte, woraufhin ihm beide horrende Summen für sein Schweigen geboten hatten – ohne dass er tatsächlich etwas von ihren Worten gehört hätte –, Ludwig von Boulon ihn auf dem Weg zur Toilette abgefangen und versucht hatte, von ihm zu erfahren, ob im Falle eines Falles mit einem Angriff der königlichen Truppen zu rechnen war oder diese durch den Krieg vollständig gebunden waren, und er Richard den Schönen in einer recht ausgefallenen Stellung mit zwei Küchenmägden Herzog Berengars im Pferdestall des Schlosses vorgefunden hatte.
    In diesen Tagen sehnte er sich nach etwas Ruhe und Abgeschiedenheit von all dem Trubel. Am liebsten hätte er seine Zeit weiterhin allein mit Seraphia verbracht, doch zum einen fand sich kaum ein Ort, an dem sie noch ungestört hätten reden können, zum anderen hatte Seraphia alle Hände voll damit zu tun, die Gäste willkommenzuheißen und nebenbei dem Schöne klarzumachen, dass sie nichts davon hielt, die Pferde im Stall unnötig zu verängstigen.
    Und dann kam der Tag, an dem auch der letzte der Fürsten in Kavaros eintraf. Und am darauffolgenden Tag zogen sich die Adligen in den Speisesaal zurück. Mit einem Male wirkte das Schloss wie ausgestorben. Es herrschte eine angespannte Stille. Alle – Wachen, Diener und selbst die Bewohner der Stadt – schienen zu warten.
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:48 Uhr)

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    Der Lauf der Dinge


    „Und?“, fragte Lee, während er und Seraphia durch den Garten schritten. „Was erwartet Ihr von der Unterredung?“
    Seraphia lächelte. „Weshalb wohnt Ihr der Konferenz nicht bei? Dann wüsstet Ihr auch, zu welchem Ergebnis sie kommt.“
    Lee lachte. „Ich führe die Truppen hier, nicht die Verhandlungen. Lord Dominique würde mich wohl ohnehin nicht zu Wort kommen lassen.“
    „Das ist zu vermuten. Aber ich bin froh, dass Ihr hier seid. Nun, um auf Eure Frage zurückzukommen: Gar nichts. Dieses erste Treffen wird zu keinerlei Ergebnissen führen, zumindest zu keinen offensichtlichen. Es wird noch einige solcher Treffen und noch einige Intrigen im Hintergrund geben, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Und wie diese dann aussieht, das wissen wohl nur die Götter. Vielleicht habt Ihr Glück, vielleicht bekommt Ihr Eure Flotte. Aber vielleicht sagt sich das Archipel auch auf immer von Myrtana los. Nun, und dann…“
    „Was dann?“, wollte Lee wissen.
    „Myrtana wird dies kaum auf sich sitzen lassen. Andererseits haben ihm die Fürstentümer allein wenig entgegenzusetzen.“ Seraphia folgte mit den Augen einem kleinen Vogel, der über den Boden hüpfte und offenbar nach Würmern suchte. Erst als er sich flatternd vom Boden erhob und in der Krone eines Baumes verschwand, fuhr sie fort: „Einige der mächtigeren Fürsten würden gerne an des Königs Stelle den Titel des Erzherzogs des Östlichen Archipels annehmen. Einige würden die einzelnen Fürstentümer gerne zu einem Reich einen.“
    „Euer Vater?“
    Seraphia nickte. „Er und Maximilian. Noch streiten sie um die Krone dieses neuen Reiches, doch sollte es tatsächlich entstehen, wäre es Myrtana ebenbürtig, gerade jetzt, da der Krieg das Festland schwächt.“
    Schweigend schlenderten sie weiter durch den Garten, bis sich Seraphia mit einem Male auf einer kleinen Bank niederließ. Lee setzte sich neben sie.
    „Wir leben in seltsamen Zeiten, nicht wahr?“, fragte sie und wandte ihm den Blick zu.
    „Was meint Ihr?“
    „Dass die Welt sich wandelt. Mir scheint, die Zeit der kleinen Reiche und Fürstentümer ist vorbei und weicht einer Zeit der großen Imperien.“
    „Von welcher Zeit der kleinen Reiche sprecht Ihr?“
    „Nun, von früher eben.“
    Lee lächelte. „Ich bin in Geschichte nicht ganz so bewandert. Ihr müsst wissen, ich hatte keinen Hauslehrer.“
    „Oh, verzeiht. Wenn man lediglich mit einem bestimmten Kreis von Leuten verkehrt, nimmt man deren Kenntnisse wohl als gegeben, als Allgemeinwissen an und vergisst, dass andere diese Kenntnisse nicht besitzen. Aber ich will Euch erklären, wovon ich spreche: Es gab einst eine Zeit, da war praktisch jedes Dorf ein eigenes Fürstentum. Auf jedem Hügel stand ein Turm, in dem ein Ritter mit seiner Familie und vielleicht zwei Dienern lebte. An einem einzigen Tage konnte man die Gebiete von zwei Dutzend verschiedenen Herrschern passieren. Gerade hier auf dem Archipel. Auf dem Festland gab es einige große Dynastien und Reiche, gewiss – die Mehmedanen oder die Saladiden in Varant und natürlich das erste Königshaus Myrtanas. Doch auch wenn diese über große Gebiete und viele kleine Fürsten herrschten, war es anders als heute. Sie hatten weit weniger Macht und Einfluss. Die ersten Könige Myrtanas mussten sich noch von ihren Fürsten legitimieren lassen. Und sie zogen noch von Pfalz zu Pfalz. Erst im sechsten Jahrhundert wurde Vengard zur festen Hauptstadt des Reiches.“
    „Und dies ist heute anders.“ Es war mehr Feststellung als Frage.
    „Gewiss. In den letzten Jahrzehnten ist vieles geschehen. Vor rund dreißig Jahren hat Rhobar die Fürstentümer Myrtanas wieder geeint. Und es gibt große Unterschiede zwischen dem heutigen und dem früheren Myrtana. Die einzelnen Fürsten haben an Macht und Bedeutung verloren. Das Land gleicht keinem Flickenteppich mehr. Viele der kleineren Fürstentümer gingen in den größeren auf. Heute liegt viel mehr Macht beim König und alles ist viel zentralisierter. Und Varant? Die Mehmedanen herrschten einmal über die ganze Südküste des Landes von Mora Sul bis Bakaresh, doch wann in ihrer Geschichte war die Wüste je ein geeintes Reich, Myrtana ebenbürtig? Niemals. Doch innerhalb von nicht einmal zehn Jahren ist es Zuben gelungen, die Sultane zu entmachten und sich als alleinigen Herrscher einzusetzen. Und nach allem, was man so hört, hat er das ganze Land fest im Griff und herrscht noch wesentlich absolutistischer als Rhobar. Und wie es scheint, kommt auf uns hier Ähnliches zu.“
    „Und wenn sich das Archipel nicht abspaltet und kein zusammenhängendes Reich wird?“
    „Dann werden die Fürsten auf Dauer dennoch an Macht verlieren und der König wird an Einfluss gewinnen. Selbst die Ariabische Liga beginnt sich zu zentralisieren. Das bedeutet, in vielleicht hundert Jahren, wird es nicht einmal mehr auf den Südlichen Inseln so etwas wie Kleinstaaterei geben.“
    „Dann fehlen ja nur noch die Nordmarer.“
    Seraphia lachte. „Ja, dass sich die Klans zusammenschließen und ein festes Reich bilden, fehlt noch. Aber das werden wir wohl nicht mehr erleben. Dennoch…“, sie wurde wieder ernster. „Vor uns liegt eine Zeit der großen Imperien. Das ist der Lauf der Dinge. Die großen Nationen schlucken die kleinen. Das und der rasante Bevölkerungsanstieg der letzten Jahre, sowie die schnelle Weiterentwicklung der Technik führen natürlich auch dazu, dass die Kriege immer gewaltiger und verheerender werden. Früher, da waren die Reiche noch klein und auf dem Land lebten wenige Menschen. Die großen Schlachten der Geschichte wurden zwischen wenigen hundert Mann geschlagen. König Innostian I. zum Beispiel schlug die Truppen Aalehns mit nicht einmal zweihundert Kriegern. Und auf der anderen Seite kämpften auch nicht viel mehr. Heute umfasst das myrtanische Heer über fünfzigtausend Mann. Als Myrtana Khorinis eroberte, taten sie dies mit drei Kriegschiffen. Und heute, heute landet Ihr mit ebenso vielen Schiffen bei uns und fordert eine Flotte, die mehr als zehnmal so groß ist.“
    „Kurz, durch den Fortschritt werden wir mehr und mehr, größer und größer und leben immer länger und dies führt dazu, dass wir uns zu Tausenden abschlachten können“, sagte Lee.
    Seraphia nickte bitter. „Der Lauf der Dinge. Und mir ist das zuwider. Der Krieg ist ohnehin schon eine scheußliche Sache.“ Sie seufzte. „Doch ganz wie es scheint, werden wir nicht um einen herumkommen. Entweder, wir bekämpfen Myrtana oder wir ziehen an seiner Seite gegen Varant.“
    „Fürchtet Ihr den kommenden Krieg?“, fragte Lee.
    Die Fürstentochter schaute ihm in die Augen. Einige Momente des Schweigens vergingen, bevor sie antwortete: „Ich fürchte, dass Ihr eines Tages als Eroberer vor den Toren von Kavaros steht.“
    „Das wird nicht geschehen.“
    Sie lächelte matt. „Ich fürchte, nicht Ihr werdet dies entscheiden, sondern Dominique.“
    „Sollte nicht der König diese Entscheidung treffen?“
    „Ich kenne mich mit der Politik des Archipels aus, nicht mit der des Festlandes. Ich weiß nicht, welche Entscheidungen der König trifft und welche nicht.“

    Lee wandte den Kopf, als die Tür geöffnet wurde. Langsam, sich die Schläfe reibend, kam Dominique in den Raum.
    „Und?“, fragte der Major sofort.
    Der Großmeister setzte sich an einen kleinen Tisch. „Schwer zu sagen. Berengar und Maximilian haben einen Großteil des Kleinadels von Kavaros, Laran und Cavis hinter sich. Karl von Drennsvord ist auf unserer Seite. Er fürchtet den Zorn des Königs. Und Philip de Hastilla scheint sein eigenes Spiel zu spielen. Er liegt schon seit Jahren im Streit mit Berengar und sucht ihn zu schwächen. Allerdings scheint er auch an einer Ausweitung der Macht des Königs wenig Interesse zu haben.“
    „Und was habt Ihr nun vor?“, fragte Lee.
    „Wir werden noch einige Tage verhandeln, bevor ein endgültiges Urteil gefällt wird und noch ist alles offen. Was ist mit dem, was ich Euch auftrug?“
    „Wie es scheint, gibt es Bestrebungen, das Archipel zu einem Reich zu einen, das Myrtana an Macht und Stärke dann gleichkäme.“
    „Natürlich gibt es die“, entgegnete Dominique leicht ungehalten. „Selbst ohne einen meiner Agenten zu fragen, könnte ich mir dies zusammenreimen. Ich spreche von Handfestem.“
    „Ich konnte nichts in Erfahrung bringen, was wir gegen den Herzog verwenden könnten. Ich bin Offizier, mein Lord, kein Spion.“
    Dominique blickte Lee in die Augen. Sein Gesicht ließ keine Regung erkennen. „Offensichtlich“, sagte er langsam. Dann fragte er: „Und wie steht sie zu ihrem Vater? Glaubt Ihr, er hat sie tatsächlich auf Euch angesetzt? Glaubt Ihr, sie ist ihm eine treue Helferin?“
    „Nein.“ Lee schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht.“
    „Sie würde also, wenn sie in eine entsprechende Lage käme, diese nicht nutzen, um ihrem Vater zu Macht und Einfluss zu verhelfen?“
    „Sie ist nicht seine Marionette, wenn Ihr das meint.“
    „Hm.“ Dominique wandte den Kopf und fixierte ein an der Wand hängendes Ölgemälde.
    „Was habt Ihr vor?“, wollte Lee vorsichtig wissen.
    Den Blick auf das Bild gerichtet, doch ohne es tatsächlich anzusehen, antwortete der Paladin: „Nichts, noch nicht. Ich informiere mich nur über die Gegebenheiten und erwäge das Für und Wider mancher Optionen. Was mir gerade vorschwebt ist nur der letzte Ausweg, um Berengar zu ködern. Haben wir Glück, so bleibt dies ein Weg, den wir nicht gehen müssen.“
    „Wünscht Ihr, dass ich sie weiter bespitzele?“
    „Ich denke nicht, dass Ihr noch irgendetwas in Erfahrung bringen würdet. Außerdem solltet Ihr Euch vorsehen. Ihr glaubt, sie wäre ehrlich zu Euch, doch sicher könnt Ihr Euch dessen nicht sein. Und auch sonst halte ich es für ungut, wenn Ihr zu viel zeit in ihrer Gesellschaft zubringt.“
    „Fürchtet Ihr, sie könnte mich beeinflussen?“
    „Ich will auch dies nicht ausschließen.“

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    Ein politisches Mittel

    Es war der Tag vor der Entscheidung. Bei den morgigen Verhandlungen, das wusste Lee, würde der Adel des Archipels einen endgültigen Entschluss fassen. Doch davon war auf den ersten Blick wenig zu sehen. Man wahrte den Schein. Und bis auf Giselher von Vardenbrück und Franz von Greifenbach, die sich offen darüber unterhielten, wie sich das Archipel zum Königreich Myrtana verhalten sollte, führten die Fürsten nur belanglose Gespräche ohne jeden Inhalt, die bis auf einige kleine Andeutungen keine Feindschaften vermuten ließen.
    Lee ritt neben Seraphia einher. Sie waren auf der Jagd. Der gesamte in Kavaros versammelte Adel war an diesem Tag ausgeritten. Die große Jagdgesellschaft durchquerte im Trott und vertieft in Gespräche die herzoglichen Länderein im Süden der Stadt.
    Schnell hatte Lee gemerkt, dass es einige Unterschiede zwischen der Jagd gab, mit der sich der Adel die Zeit vertrieb, und der gewöhnlichen Jagd nach Fleisch und Fellen, wie er sie von den gewöhnlichen Jägern kannte. Während die Jäger alleine oder in kleinen Gruppen in die Wildnis zogen, pflegte der Adel mit einer kleinen Armee auszureiten. Auch machten die Edelmänner nicht selbst Jagd auf die Beutetiere, sondern sahen nur von den Rücken ihrer Pferde zu, wie die Knechte die Tiere lärmend aus ihren Verstecken trieben und dann die Hunde auf sie losließen. Bestenfalls ließen sie zwischendurch, wenn das Tier bereits so in die Enge getrieben und verängstigt war, dass ein Entkommen praktisch ausgeschlossen war, die Falken, die auf ihren ledernen Handschuhen saßen, fliegen.
    Lee konnte dieser Art der Jagd wenig abgewinnen und so widmete er sich der Person auf dem Pferd neben ihm. Seraphia machte sich einen Spaß daraus, Lee den Adel des Archipels auf ihre eigene Weise vorzustellen: „… Und seht Ihr den dort hinten? Dort, mit dem gefiederten Hut? Wilhelm von Klauwitz. Er soll… sagen wir, ein sehr gutes Verhältnis zu den jungen Pagen haben. Und Otto von Darbrunn, der alte Mann da neben ihm, der sich kaum noch auf dem Pferd halten kann, das ist der wahre Vater von Friedrich von Lotering, dem Kerl dort hinten mit der langen Nase. Der alte Gunther von Lotering wusste davon aber nichts und hielt sich bis zu seinem Tode für den wahren Vater, weshalb Friedrich nach dem Tod seines älteren Bruders auch der neue Baron von Lotering-Gransbach wurde. Nun ja, die alte Adelheid von Gransbach soll noch zwei gute Dutzend weitere Söhne haben, die nicht von Gunther stammen. Selbst jetzt, in ihrem Alter, soll sie ihre Liebhaber noch ganz schön auf Trab halten. Nur Kinder bekommt sie freilich keine mehr, aber nach dem Tod ihres Mannes würde das vermutlich auch nur auffallen. Es war schon seltsam genug, als sie ihr letztes Kind elf Monate nach dem tragischen Ereignis gebar…“
    Lee hörte schweigend zu, lauschte dem Klang ihrer Stimme und beobachtete ihr Profil.
    Mit einem Male fingen die Hunde weiter vorne laut zu bellen an. Seraphia verzog das Gesicht. „Scheinbar haben sie das bemitleidenswerte Tier gewittert. Angesichts einer solchen Meute wird es wahrscheinlich vor Angst gestorben sein, bis sie es erwischt haben. Sagt, vertreiben sich die gewöhnlichen Menschen etwa auf ebensolche Weise ihre Zeit?“
    Lee schüttelte den Kopf. „Die meisten von ihnen haben gar keine Zeit, die es zu vertreiben gäbe. Sie müssen von früh morgens bis spät abends arbeiten.“
    „Hm. Ich frage mich bisweilen, was das schlimmere Los ist.“
    Lee lachte. „Eine berechtigte Frage.“
    „… Autonomie vom König, ja, aber uns vollständig von Myrtana lossagen? Bedenkt doch nur die wirtschaftlichen Vorteile und die Stabilität, die uns das Reich gebracht hat…“
    „Was haltet Ihr davon, wenn wir uns noch ein Stück zurückfallen lassen?“, fragte Seraphia mit Blick auf Giselher von Vardenbrück und Franz von Greifenbach vor ihnen.
    „Ich halte es für einen exzellenten Vorschlag.“
    Beide zogen an den Zügeln, um ihre Pferde etwas zu verlangsamen. Die beiden Fürsten vor ihnen nahmen davon nichts wahr und waren ganz in ihr Gespräch vertieft. Langsam gewannen sie an Abstand zu den beiden.
    Eine Weile schwiegen sie, dann ergriff Seraphia das Wort: „Lee.“
    „Ja?“
    „Morgen wird der Adel eine Entscheidung treffen.“
    „Ich weiß.“
    „Wenn sie Myrtana unterstützen, werdet Ihr mit der Flotte zum Festland zurückkehren.“
    „Vermutlich.“
    „Und wenn sie Myrtana die Flotte verweigern, werden die Fürstentümer des Archipels von da an eigenständige Nationen sein, nicht länger an die Krone gebunden. Dann werdet Ihr auch gehen. Vielleicht wird es sogar Krieg geben – wenn nicht jetzt, so wenn die Varantiner zurückgeschlagen sind.“
    Lee schwieg. Auch er hatte schon daran gedacht.
    „Es ist nicht wahrscheinlich, dass wir uns jemals wiedersehen und ich möchte nicht, dass Ihr mich vergesst.“
    „Ich würde Euch niemals vergessen“, beteuerte Lee.
    „Dennoch will ich, dass Ihr etwas habt, was Euch an mich erinnert.“ Seraphia zog ein kleines goldenes Amulett hervor, nahm Lees Hand und legte es hinein. Dann hielt sie einen Moment inne. Sie nahm ihre Hand nicht zurück, sondern hob den Blick und lächelte ihn an. Lee erwiderte das Lächeln. Schließlich zog Seraphia ihre Hand zu seinem Bedauern doch zurück. „Macht es auf“, forderte sie ihn mit weicher Stimme auf.
    Gerade wollte Lee das kleine Medaillon öffnen, da kamen zwei Reiter in schnellem Trab von der Spitze des Zuges auf sie zu.
    „Ich habe Neuigkeiten für dich, Tochter!“, verkündete Herzog Berengar schon von Weitem und mit funkelnden Augen. „Du wirst schon bald den Titel „Kronprinzessin von Myrtana“ tragen.“
    Lee spürte einen Stich in seinem Magen als würde dieser von einem giftgetränkten Pfeil durchbohrt. Er wusste, was dies bedeutete. Langsam und wie in Trance wandte er seinen Kopf dem zweiten Reiter zu.
    Dominiques Gesicht war kalt und unbewegt.

    „Wir haben erreicht, was wir wollten“, sagte Dominique beim Eintreten in den Stall, wo Lee gerade mit einigen der Soldaten gesprochen hatte, die sich um die Pferde kümmerten. Der Paladin nahm Lee beiseite, während er den anderen Anwesenden mit einem Blick bedeutete, dass das Folgende sie nicht weiter zu interessieren hatte. „Der Herzog von Kavaros hat sich vor den versammelten Fürsten des Östlichen Archipels für Myrtana ausgesprochen. Und er hatte den gesamten Kleinadel von Kavaros und große Teile des laranischen Kleinadels hinter sich. Die Fürsten haben entschieden, uns ihre Schiffe zur Seite zu stellen. Schon morgen werden die meisten von ihnen wieder in ihre Herrschaftsgebiete aufbrechen und innerhalb der nächsten anderthalb Monate sollten die Schiffe in Vengard eintreffen. Noch dazu haben wir uns die Loyalität der wichtigsten Fürsten vorerst gesichert und eine Abspaltung des Archipels verhindert.“
    „Wir?“ Lee blickte auf. „Ihr meint Euch.“
    „Euch scheint etwas zu missfallen.“
    Lee versuchte die Wut zu bändigen, die er auf Dominique verspürte und sich nichts anmerken zu lassen. „Es ist nur… Ihr habt einfach entschieden, Seraphia an den Prinzen zu verheiraten. Nicht einmal der König weiß von dem Versprechen, das Ihr Berengar gegeben habt.“
    „Ich sagte es Euch bereits einmal und ich wiederhole mich für gewöhnlich nur ungern: Der König pflegt auf meinen Rat zu hören.“
    „Meint Ihr nicht, dass Ihr etwas viel über den Kopf des Königs hinwegentscheidet?“
    „Ein Soldat kann im Krieg schnell Karriere machen, Major“, sagte Dominique kühl. „Doch er kann auch schnell sein Leben lassen.“
    Lee verkniff sich seine nächsten Worte. Wütend blickte er in das Gesicht des Paladins vor ihm. Er wusste, ihm verdankte er, was er war, und er hatte die Macht, es ihm wieder zu nehmen – auf die Art, die ihm gefiel. Und doch wäre er dem Großmeister am liebsten an die Gurgel gegangen. Er verspürte einen unbändigen Hass auf diesen Mann, der meinte, alles und jeden in der Hand zu haben und so benutzen zu können, wie es ihm beliebte, der meinte, derart in das Leben eines anderen Menschen eingreifen und frei über sein Schicksal entscheiden, ihn verkaufen zu können wie ein Tier. Ja, wie ein Tier. Natürlich hatte Lee um die politischen Ehen des Adels gewusst, doch nie waren sie ihm so gegenwärtig gewesen. Über den Kopf eines Menschen hinweg wurde hier sein zukünftiges Schicksal bestimmt, auf drastischste Weise in sein Leben eingegriffen. Mit einem Male begriff Lee, dass es Dominique gleich war. Er hatte sie alle wie in einem großen Spinnennetz gefangen. Sie waren tatsächlich nicht mehr als seine Marionetten. Er setzte sie ein, wann und wie er wollte. Politische Mittel waren sie für ihn und keine Menschen. Und er, Lee, er war machtlos. Er hatte nur die Wahl, es schweigend hinzunehmen oder alles zu verlieren, vielleicht sogar sein Leben.
    Geändert von Jünger des Xardas (25.11.2009 um 14:54 Uhr)

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    Wieder der Krieg

    Schon eine Woche nach der Entscheidung des Adels landeten die drei mächtigen Galeonen wieder im Hafen von Vengard.
    Ein kleines Empfangskomitee mit Johan von Annburg an der Spitze erwartete sie bereits, als sie die Myrtanas Stolz verließen. Der Oberhofmeister neigte vor Dominique leicht den Kopf. „Willkommen zurück, Großmeister. Verzeiht, dass wir Euch nicht gebührend empfangen, doch wir wussten nicht um Eure Ankunft. Nur durch Zufall erblickten wir Eure Schiffe von den Fenstern der Burg aus und so blieb uns wenig Zeit, den Empfang vorzubereiten.“
    Ohne auf die Worte seines Gegenübers einzugehen, erklärte Dominique, „ich muss umgehend mit dem König sprechen.“
    „Seine Majestät ist erkrankt und empfängt daher momentan niemanden.“
    „Mich wird er empfangen“, sagte Dominique scharf. „Ich muss in einer überaus wichtigen Angelegenheit mit ihm sprechen.“
    „Natürlich, ganz wie Ihr wünscht.“ Der Oberhofmeister verbeugte sich leicht.
    „Was Euch angeht“, fuhr der Paladinlord fort. „Ihr werdet ein Fest organisieren.“
    „Sehr wohl, mein Lord. Doch zu welchem Anlass, wenn ich fragen darf?“
    „Anlass ist die Vermählung Seraphias, Fürstentochter von Kavaros, mit Rhobar, Kronprinz von Myrtana.“ Überrascht wandte Johan von Annburg seinen Kopf zu der zukünftigen Prinzessin. Dominique schritt unterdessen ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen an ihm vorbei. „Ich erwarte eine dem Anlass angemessene Feier, zu der alle wichtigen Fürsten, sowie Vertreter der Kirche und sämtlicher verbündeter und neutraler Staaten geladen sind“, waren seine letzte Worte an den Oberhofmeister.
    „Natürlich, natürlich.“ Eifrig nickte Johan von Annburg dem Rücken des sich entfernenden Paladins zu. Dann wandte er sich an Seraphia und verbeugte sich auch vor ihr. „Herrin. Ich werde sofort veranlassen, dass Ihr in die Burg geleitet werdet und man Euch angemessene Gemächer zur Verfügung stellt.“
    Seraphia nickte. „Ich danke Euch.“
    Lee blieb zurück. Er musste sich um die Soldaten und das Entladen der Schiffe kümmern. Es war ihm ganz recht so. Schon in den letzten tagen hatte er Dominique gemieden und die Einsamkeit vorgezogen.

    In den nächsten Tagen fühlte Lee sich einmal mehr deplaziert und nutzlos, doch zugleich auch einsam. Seraphia hatte er seit ihrer Ankunft nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auch Dominique schien das Interesse an ihm vorerst verloren zu haben, was ihm ganz recht war. Er selbst saß einfach nur herum oder wanderte ziellos durch die Gänge der Burg oder den königlichen Lustgarten. Noch nie hatte er es als so quälend empfunden, einfach vor sich hinzuleben, ohne gebraucht zu werden, ein festes Ziel oder eine Aufgabe zu haben. Am liebsten wäre er an die Front gezogen. Dort hätte er sich wenigstens nützlich machen können. Und er wäre weit weg gewesen von Seraphia und Dominique und hätte seine Gedanken auf anderes konzentrieren müssen. Doch dies blieb ihm verwehrt.
    Schließlich fand er doch noch jemanden, mit dem er sprechen und sich zumindest ein wenig ablenken konnte. Admiral Jacob Roddenbrugg saß ähnlich wie er in Vengard fest und konnte die Entwicklungen des Krieges höchstens aus der Ferne verfolgen. Wobei man nicht von Entwicklungen sprechen konnte. Tatsächlich hatte sich gar nichts verändert. Die Linien an der Küste hatten sich weiter verhärtet und bis auf einige Scharmützel zwischen den Armeen General Heinrich Graf von Klauffenburgs und Gellon al Shahidi Paschas tat sich nichts. Marschall Rigaldo hatte Trelis einmal zu stürmen versucht, war von der mächtigen Reiterei Lukkor Janitscha Paschas jedoch zurückgeworfen worden und beschränkte sich seitdem darauf, die Straße zwischen der Westmark und dem Mittelland zu blockieren. Roddenbrugg hoffte darauf, mit den Schiffen des Archipels endlich in See stechen zu können und die Blockade an der Mündung des Myrtat zu durchbrechen. Doch noch musste er sich gedulden.
    In der Burg herrschte derweil geschäftiges Treiben. Es wurden Vorbereitungen für die Verlobungsfeier des Prinzen und der Fürstentochter getroffen und Boten mit der Nachricht in alle Teile Myrtanas geschickt. Gleichzeitig gingen Offiziere ein und aus und immer wieder wurden neue Truppen von frisch rekrutierten Soldaten zur Front im Süden geschickt. Dominique hatte mittlerweile in jeder Stadt, ja in jedem Weiler, die Herolde verkünden lassen, dass alle jungen Männer zu den Waffen gerufen wurden und Familie, Heimat und Glauben gegen die verderbten Anhänger Beliars verteidigen sollten. Wer sich nicht freiwillig meldete, wurde von Werbern überredet oder zwangsrekrutiert. Doch auch weiterhin konnte Lee nur zusehen.
    Dann kam die Flotte. Siebzehn große Galeeren, neun Galeassen, sowie dreiundzwanzig kleinere Kriegsschiffe. Vier Tage nach ihrem Eintreffen lief die Flotte wieder aus und Roddenbrugg mit ihr. Nun war Lee völlig allein. Und er konnte nur ahnen, was im Süden geschah.
    Zur gleichen Zeit trafen aber auch die Gäste der Verlobungsfeier ein. Lee sah einige bekannte Gesichter. General Klauffenburg war gekommen, ebenso einige Adlige vom Archipel, darunter Berengar selbst, und auch Barthos von Laran blieb den Feierlichkeiten nicht fern. Doch die meisten der Gäste waren Lee unbekannt. Es waren Adelige aus allen Teilen Myrtanas und von den Inseln, Paladine und Feuermagier. Auch Ariabia und Kitai, die beiden größten der Südlichen Inseln, hatten Boten entsandt, welche durch ihre dunkle Haut aus der Masse der übrigen Gäste hervorstachen. Und sogar eine kleine Delegation von Nordmännern war gekommen.
    Zwei Tage vor der Feier kehrten fünfundzwanzig Schiffe in den Hafen von Vengard zurück. Es hatte eine gewaltige Seeschlacht auf dem Myrtat gegeben, bei der beide Flotten große Verluste erlitten hatten. Doch der Plan war nicht aufgegangen. Sie hatten die Blockade der unvorbereiteten Varantiner zwar kurzzeitig durchbrochen und waren an der Küste hinabgesegelt bis Kap Dun, doch bevor sie die großen Häfen der Westmark hatten erreichen können, hatten ihnen die schnelleren und wendigeren Kriegsschiffe der Assassinen den Weg versperrt. Weitere Schiffe aus den südlichen Häfen Varants waren ihnen in den Rücken gefallen und hatten sie im Myrtat eingekesselt. Das Schiff, auf dem Oberst Lampfberg und ein Großteil seiner Truppen, die in der Westmark hatten an Land gehen sollen, sich aufgehalten hatten, war versenkt worden. Admiral Roddenbrugg hatte schließlich erkannt, dass es nun keinen Sinn mehr machte, sich noch weiter aufreiben zu lassen. Er hatte die Kräfte der großen Galeonen auf einen Punkt in der Blockade konzentriert und war an dieser Stelle ausgebrochen. Die Varantiner hatten bei alledem zwar herbe Verluste hinnehmen müssen, doch schon wurden die gesunkenen Schiffe durch neue aus den südlichen Häfen der Wüste ersetzt.

    All dies hatte eine neuerliche Konferenz am Vorabend der Verlobungsfeier zur Folge.
    „Ich habe es von Anfang an gesagt: Wir müssen unsere Kräfte in der Westmark konzentrieren und Lukkor über den Pass drängen!“ Zur Verdeutlichung seiner Worte zeichnete Oberst Emsfurth die geplanten Truppenbewegungen mit dem Finger auf der Karte nach.
    Rigaldo, der erst vor wenigen Stunden eingetroffen war, nickte eifrig. „Wenn ich nur mehr Truppen zur Verfügung hätte, wäre es mir ein leichtes, in einem Schlag Trelis einzunehmen und bis nach Braga vorzustoßen.“
    „Aber damit werden sie rechnen.“ Klauffenburg deutete auf die Stelle, die auf der Karte die Front an der Südküste markierte. „Hier haben die Späher eine Lücke in ihren Linien entdeckt. Wir könnten bis nach Kap Dun vorstoßen.“
    Energisch schüttelte Rigaldo den Kopf. „Lukkor über den Pass zu drängen, ist riskant, doch das waren alle ruhmreichen Schlachten. Gebt mir genug Truppen und ich werde die Westmark befreien und den Weg bis nach Braga freikämpfen.“
    „Was denkt Ihr, Major?“, fragte Dominique.
    Lee schreckte aus seinen Gedanken. Am liebsten hätte er an diesem Treffen gar nicht erst teilgenommen. Er konnte die Niederlage im Myrtat noch immer nicht fassen. Ihre ganze Reise zum Archipel war umsonst gewesen. Alles, was dort geschehen war, hätte nicht geschehen müssen.
    Er seufzte stumm. Langsam beugte er sich vor. Dabei vermied er es, Dominique anzusehen, wie er es schon die ganze Zeit über getan hatte. „Ich denke…“ Er besah sich widerwillig die Situation. Weshalb sollte er überhaupt seine Meinung kundtun? War es nicht sein Plan gewesen, der hier gescheitert war? „Ich denke, wir müssen sie endlich von ihrem Nachschub abschneiden.“
    Rigaldo lachte spöttisch auf. „Die Flotte wurde bereits auf dem Myrtat geschlagen und Ihr wollt Bakaresh angreifen?“
    „Ich spreche nicht von Bakaresh, sondern von den südlichen Häfen. Von dort kommen die meisten ihrer Schiffe. Wenn wir den Myrtat und Bakaresh links liegen lassen und ihre wichtigsten Häfen im Süden in einem einzelnen Schlag einnehmen oder zerstören, solange wir noch das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben, können wir sie schwächen. Gleichzeitig könnte dort im Süden dann eine Streitmacht an Land gehen und gegen Mora Sul ziehen, womit sie weitere Kräfte aus dem Norden abziehen müssten.“
    „Viel zu riskant“, widersprach Rigaldo kühl.
    „Das waren alle ruhmreichen Schlachten“, ließ sich Dominique vernehmen.
    „Wollt Ihr etwa auf den Rat eines einfachen Majors niederen Standes hören?“, fragte der Marschall aufgebracht. „Noch dazu, wo schon sein letzter Plan in einem Fiasko endete?“
    „Das wird dieses Mal nicht geschehen. Und ich höre immer auf klugen Rat, gleich aus welchem Munde er kommt.“
    „Verzeiht, Großmeister, aber ich betrachte diesen Plan auch als nicht umsetzbar“, mischte Klauffenburg sich wieder ein.
    „Den Angriff würdet auch kaum Ihr führen. Also sollten wir denjenigen fragen, der dies tun wird.“ Der Paladin richtete seinen Blick auf Admiral Roddenbrugg.
    „Nun, ein Risiko besteht sicher“, sagte dieser langsam. „Aber es ist die wohl beste Idee, die ick dazu bisher gehört hab. Bisher haben wir uns in allen Überlegungen nur auf die Front und die Grenze beschränkt, aber nie über die Berge südlich des Myrtat hinausgeschaut. Die Wüste ist groß, warum das nicht ausnutzen?“
    Dominique nickte. „Sehr richtig. Dann werdet Ihr die Flotte umgehend für den Angriff auf die Häfen im Süden vorbereiten. Und Ihr werdet einige Truppen mit Euch nehmen, die an der Südküste an Land gehen und Mora Sul einschließen.“
    „Und wer soll diese Truppen führen?“, fragte Klauffenburg.
    „Da Marschall Rigaldo weiterhin mit Lukkor beschäftigt sein wird und wir Euch und Emsfurth an der Südfront brauchen, bleibt wohl nur ein Mann übrig.“
    „Ihr wollt einem Major die Befehlsgewalt über eine derart große Armee geben und ihn mit dem Angriff auf Mora Sul betrauen?“, fragte Rigaldo.
    „Ihr habt Recht, einem Major können wir diese Aufgabe nicht übertragen.“ Dominique wandte den Kopf. „Lee, Ihr nehmt ab sofort die Position des gefallenen Oberst Lampfberg ein.“
    „Oberst? Ihr wollt diesen Mann, der bis jetzt so gut wie nichts geleistet hat und der keinen Tropfen blaues Blut in seinen Adern hat einfach zum Oberst machen?“, fragte Rigaldo zornig.
    „Genau das will ich.“ Dominique erhob sich. „Ich denke, die Konferenz ist damit beendet. Admiral, Oberst, ich erwarte, dass Ihr in einer Woche bereit seid, abzulegen.“ Und mit diesen Worten rauschte der Großmeister hinaus.
    „Meinen Glückwunsch.“ Roddenbrugg klopfte Lee auf die Schulter. „Dann will ick mich gleich mal auf den Weg machen.“
    Lee nickte nur. Langsam erhob er sich. Klauffenburg und Lampfberg ignorierten ihn. Als er auf die Tür zuging, hörte er Schritte hinter sich. Am Ausgang des Raumes schloss Marschall Rigaldo zu ihm auf. Ohne Umschweife begann er: „Vor der Konferenz war nicht die Zeit für eine Konversation. Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch wiederzusehen, nachdem Ihr in die Hauptstadt aufgebrochen wart und nun seid Ihr gar ein Oberst. Eine rasante Karriere, vor allem in Anbetracht Eurer Herkunft.“
    „Und Ihr wollt?“, fragte Lee etwas unfreundlicher als beabsichtigt.
    „Nun, ich frage mich, wie weit Ihr noch hinaufstrebt. Ich hoffe, Euch ist bewusst, dass Eure Karriere nun ihren Höhepunkt erreicht hat. Wie es scheint, habt Ihr im Großmeister einen einflussreichen Gönner gefunden, doch sofern Ihr in der Geschichte unserer Armee bewandert seid, wisst Ihr, dass noch niemals ein Mann niederer Herkunft einen höheren Posten als den des Oberst bekleidet hat und zum Marschall oder gar zum General aufgestiegen ist. Ich sage Euch dies, weil ich nicht will, dass Ihr Euch falschen Illusionen hingebt. Ihr werdet in die Geschichtsbücher eingehen als der Mann, der die Assassinen daran gehindert hat, Montera zu erstürmen und den Goldenen Apfel für sie damit vorerst in weite Ferne gerückt hat. Begnügt Euch damit, es ist mehr, als ein Mann Eurer Herkunft zu erwarten hat.“
    „Verstehe.“ Lee seufzte. Hatten diese verfluchten Adligen nichts anderes im Kopf? Er war es langsam leid. „Ihr selbst bekleidet zwar einen höheren Posten, doch Ihr habt noch nichts getan, weshalb man sich später an Euch erinnern könnte. Und nun fürchtet Ihr auch noch, jemand könnte Euch Euren Platz als Klauffenburgs Nachfolger streitig machen.“
    „Habe ich Euch nicht bereits einmal geraten, weniger anmaßend zu sein? Ein kluger Mann würde diesen Rat befolgen.“
    „Wie schade, dass ich dem dummen, ungebildeten Pöbel entstamme.“ Lee nickte seinem Gegenüber zu. „Marschall.“ Ohne Rigaldo weiter zu beachten wandte er sich ab und ging davon.
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:49 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Des Nächsten Weib


    Lees Blick schweifte durch den Saal. Die meisten Gäste hatten sich mittlerweile von den u-förmig angeordneten Tischen erhoben und sich auf die Tanzfläche begeben. Diese hatte sich damit in ein buntes Meer edler Stoffe in allen Farben verwandelt. Dieses Bankett war eher eine Modenschau als eine Verlobungsfeier.
    Lees Blick streifte das junge Prinzenpaar. Auch sie tanzten. Und wie die meisten der Tänzer wirkten auch sie, als täten sie dies nur, weil es erwartet wurde, Teil der Zeremonie war. Wenngleich sie miteinander tanzten waren sie distanziert, als wären sie nicht mehr als flüchtige Bekannte, und schienen letztlich die Nähe des Anderen zu meiden. Dennoch konnte Lee nicht hinsehen.
    Sein Blick wanderte über den leeren Thron in der Mitte der langen Tischreihe. Der König war noch immer krank und konnte dem Fest nicht beiwohnen. Rechts davon saß Dominique und redete auf den Abgesandten Kitais ein, dessen Kopf in einem violetten und mit einer Pfauenfeder geschmückten Turban steckte. Einige Stühle weiter war Rigaldo in ein Gespräch mit dem Vetter des frisch verlobten Prinzen vertieft, einem jungen Paladin namens Hagen. Auch Barthos von Laran entdeckte Lee. Er stand etwas abseits und redete mit einem khoriner Magier, den man Lee zuvor als Xardas vorgestellt hatte.
    „Ist hier frei?“
    Lee blickte auf. Das rote, zu einem dicken Zopf geflochtene Haar und der aus weißem Pelz gewebte Umhang des Mannes vor ihm verrieten dem Oberst, dass er es mit einem der Nordmarer zutun hatte. Er nickte stumm.
    Sofort ließ sich der Nordmarer auf den leeren Stuhl neben ihm fallen. Sein Blick schweifte über den Tisch und blieb an einem halbvollen Weinglas hängen. Der Mann aus dem Norden ergriff es und trank es in einem Zug leer. Dann verzog er das Gesicht. „Wie könnt Ihr diesen scheußlichen Traubensaft nur Alkohol nennen? Ein Fass davon macht ungefähr so betrunken wie ein Tropfen Wasser.“
    Lee lächelte. „Ihr wollt Euch betrinken?“
    „Nein, zumindest sollte ich das nicht. Ich muss ja einen einigermaßen guten Eindruck machen. Sonst heißt es wieder, wir seien Barbaren ohne Anstand und Manieren, die kein Fest feiern können, ohne sich zu besaufen, die Reste des Essens direkt in die Mäuler der Hunde zu werfen und den Weibern auf die Ärsche zu klopfen.“
    „Es klingt allerdings nach einer wesentlich interessanteren Art des Feierns.“
    Der Nordmarer lachte. „Ihr gefallt mir. Wer seid Ihr?“
    „Lee. Ich bin Oberst in der Armee.“
    „Hm. Wenn wir Krieg führen, dann ziehen unsere Anführer mit ins Feld und feiern keine Feste im Haus ihres Herren. Und ich habe jetzt schon Euren General, Euren Marschall und sicher ein halbes Dutzend von Euren Paladinen auf diesem Fest getroffen.“
    „Tja und genau deshalb werdet Ihr auch Barbaren genannt. Weil Eure hohen Herren nicht nur im Kopf haben, sich selbst in Sicherheit zu bringen oder den Ruhm für die Siege Ihrer Untergebenen einzuheimsen, sondern sich selbst in den Schlachten schmutzig machen.“
    Wieder lachte der Nordmarer. „Das Gefühl hab ich auch. Hab mich selbst noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Wiglaf. Ich komme als Bote vom Feuerklan.“
    „Dann habt Ihr wohl einen weiten Weg hinter Euch.“
    „Nicht weit genug, wenn es nach ihm geht.“ Wiglaf nickte zu Dominique hinüber.
    „Was wollt Ihr damit sagen?“
    „Ha, der Kerl will doch glatt, dass wir Euch in dem Krieg, den Ihr führt, zur Seite stehen! Er meint, es sei unsere Pflicht, weil Euer König auch einer von uns war und weil er der Erwählte unseres Gottes ist. Pah. Was, frage ich Euch, geht uns dieser Krieg an? Varant, das kennen die meisten dort, wo ich herkomme, nicht einmal aus Legenden. Wir haben uns nie für die Angelegenheiten des Flachlandes interessiert und jetzt sollen wir bis in die Wüste?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Schon gar nicht jetzt, wo wir unsere Krieger selbst brauchen. Die Scharmützel mit den Orks werden wieder heftiger.“
    „Dann rate ich Euch, Euch vor Dominique in acht zu nehmen. Sonst findet Ihr Euch schneller vor den Mauern Ishtars wieder als Euch lieb ist.“
    „Werd’s mir merken.“ Wiglaf erhob sich. „Ich werd doch noch mal schauen, ob die in der Küche hier nicht noch was anderes als Traubensaft haben.“

    Wieder war Lee allein. Und nach einigen Momenten ertappte er sich dabei, schon wieder das tanzende Prinzenpaar zu beobachten. Nein, das stimmte nicht. Sein Blick galt nicht dem Paar, sondern einzig Seraphia.
    „Sie ist hübsch, nicht wahr?“
    Lee schreckte auf. „Was?“, fragte er leicht überrascht.
    Vergnügt lächelnd ließ sich Barthos von Laran neben ihm nieder. „Oh, stimmt Ihr mir etwa nicht zu?“
    „Ich…“
    Barthos lachte leise. „Ihr braucht Euch nicht zu verstellen.“
    „Wovon sprecht Ihr überhaupt?“, fragte Lee, auch wenn er dies längst wusste.
    „Sowohl meinem Freund Xardas, als auch mir selbst ist nicht entgangen, wie Ihr sie anseht.“
    „Und wie sehe ich sie an?“
    „Nicht so wie ein Offizier seine zukünftige Königin ansehen sollte.“
    „Es ist nicht…“
    „Sagte ich nicht, dass Ihr Euch nicht zu verstellen braucht? Ihr seid ohnehin nicht sonderlich gut darin.“
    „Aber Ihr seid der Erzmagier und was ich tue ist Sünde.“
    „Ego te absolvo.“
    Lee schwieg.
    „Wisst Ihr“, hob Barthos nach einiger Zeit wieder an, „es heißt, des Nächsten Weib zu begehren, sei Sünde. Doch scheint sich niemand die Frage zu stellen, was mit „begehren“ gemeint ist. Was ist mir Euch? Begehrt Ihr sie?“
    „Ich…“
    „Was ist mit reinem, fleischlichem Begehren.“
    „Darum geht es nicht.“
    „Eben. Und wie steht es mit Liebe?“
    Lee nickte stumm.
    „Nur welche Art des Begehrens mag die Schrift meinen?“, sagte Barthos nachdenklich. „Ich frage mich, ob es Sünde ist, seinem Herz zu folgen. Kann Liebe, egal zu wem, eine Sünde sein? Kann man überhaupt wählen, wen man liebt?“
    „Ich befürchte, Eure Glaubensbrüder werden das etwas anders sehen.“
    „Meine Glaubensbrüder werden dies genauso sehen wie ich. Was meine Ordensbrüder angeht, dürftet Ihr aber Recht haben. Doch mehr als davor, dass sie davon erfahren, solltet Ihr Euch davor fürchten, dass der gute Dominique es erfährt. In seinem Ärmel stecken schon genug Karten, die nur darauf warten, ausgespielt zu werden. Ich denke nicht, dass Ihr ihm eine weitere geben solltet.“
    „Ihr meint also, ich sollte sie einfach vergessen?“
    „Das wäre das Klügste. Sie ist die zukünftige Königin, Ihr seid ein einfacher Oberst der myrtanischen Armee. Allerdings“, wieder lächelte Barthos, „haben Verliebte die Angewohnheit, nicht unbedingt immer das zu tun, was am klügsten ist.“
    „Was wollt Ihr damit sagen?“
    „Tut, was Euch Euer Herz sagt, nicht, was besonders klug wäre. Sollte Euer Herz sie vergessen und loslassen können, so tut es. Sollte es dazu aber nicht in der Lage sein, so ist es besser, eine Abweisung oder gar eine Hinrichtung – denn diese erwartet Euch zweifellos, wenn die falschen Leute hiervon erfahren – zu riskieren, als für den Rest Eurer Tage hier vor Euch hinzuvegetieren und in Sehnsucht zu vergehen.“
    „Das würdet Ihr also tun?“
    „Ich würde in ihre Augen schauen und darin erkennen, dass sie mit ihrem Schicksal nicht zufrieden und von ihrem zukünftigen Gatten angewidert ist. Und ja, ich würde etwas riskieren.“ Barthos erhob sich lachend. „Aber ich bin nicht an Eurer Stelle – ich bin nur ein einfacher Mönch und dazu noch ein ziemlich alter. Was weiß ich schon von den Wirren der Liebe?“ Und mit diesen Worten ging er langsam davon, während Lee ihm nachschaute.

    Entschlossen klopfte Lee an die Tür zu Seraphias Gemach. Er hatte den ganzen Abend über das nachgedacht, was er nun tat. Als sich im Innern des Zimmers nichts regte, klopfte er ein weiteres Mal. Erst nach dem dritten Klopfen wurde die Tür geöffnet.
    Seraphia trug ein Nachthemd und rieb sich die Augen. Sie schien bereits geschlafen zu haben.
    „Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“
    „Lee!“ Überrascht riss sie die Augen auf. „Was tut Ihr hier?“
    „Ich muss mit dir reden.“
    „Es gibt nichts zu reden.“
    „Doch, das gibt es.“ Energisch schob sich Lee an ihr Vorbei ins Innere des Zimmers.
    Rasch schloss sie die Tür. „Ist Euch klar, was man denken wird, wenn man uns um diese Zeit allein hier vorfindet?“
    „Das ist mir egal.“
    „Aber mir nicht. Lee, ich bin die Kronprinzessin. Ein einfacher Major sollte mein Zimmer gar nicht betreten. Schon gar nicht zu einer Zeit, zu der das halbe Schloss bereits schläft.“
    „Ich bin Oberst.“
    „Das freut mich für Euch, aber das ist kein Grund, so spät noch in mein Gemach einzudringen.“
    „Auf Kavaros hat dich das auch nicht gestört.“
    „Auf Kavaros war es Tag und ich war Fürstentochter, nicht Kronprinzessin.“
    „Wann sonst sollte ich mit dir sprechen? Ich habe dich von dem Moment unserer Ankunft bis zu der Feier heute Abend nicht einmal zu Gesicht bekommen.“
    „Daran werdet Ihr Euch gewöhnen müssen.“
    „Tu nicht so kalt, Seraphia, das bist du nicht.“
    „Spielt das eine Rolle?“
    Lee trat auf sie zu.
    „Lee.“ Seraphia wich zurück.
    Er ergriff ihre Hüfte. „Dass ich dich liebe, spielt eine Rolle.“ Er näherte sein Gesicht dem ihren.
    „Lee!“ Energisch stieß sie ihn von sich. „Ich bin verlobt!“
    Er schnaubte. „Als würdest du irgendetwas für ihn empfinden.“
    „Was ich empfinde, ist ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist, dass ich meinem zukünftigen Gemahl ein gutes Weib sein muss. Von Bedeutung ist, dass ich dem Volk eine gute Königin sein muss. Von Bedeutung ist, dass ich einen Thronfolger gebären muss. Vielleicht ist auch von Bedeutung, dass ich meinem Vater helfen soll, an Macht und Einfluss zu gewinnen. Doch was ich empfinde, ist es ganz sicher nicht.“
    „Und so willst du leben?“
    „Ja, dieses Leben ziehe ich der Alternative vor.“ Lee öffnete den Mund, doch Seraphia ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Wisst Ihr, wie die Alternative aussieht? Nein, so weit habt Ihr nicht gedacht. Wie habt Ihr Euch das vorgestellt? Eine Affäre? Die Kronprinzessin mit dem treuen Offizier? Soll ich tagsüber auf dem Thron sitzen, Ehefrau und Königin sein, um mich dann nachts heimlich mit Euch zu treffen, so wie jetzt? Und was, wenn Ihr an die Front müsst, vielleicht für Monate – oder für Jahre? Natürlich, ich werde mir nach außen nichts anmerken lassen, während ich innerlich vor Sehnsucht und Sorge vergehe. Und wenn uns die Nachricht erreicht, Ihr wärt gefallen, dann lasse ich mir ebenso nichts anmerken. Schließlich seid Ihr offiziell nur ein unbedeutender Offizier für mich, den ich kaum kenne. Aber vielleicht überlebt Ihr ja und kehrt zurück. Dann werden wir uns wieder heimlich des nachts treffen oder während mein Gemahl gerade nicht daheim ist, sondern die Alchemisten von Geldern besucht oder die Fürsten des Archipels oder den Mogul von Ariabia. Dann haben wir etwas Zeit für uns und wühlen die Bettwäsche etwas auf. Und dann, dann kommt ein neuer Krieg und Ihr müsst wieder an die Front. Wer weiß, vielleicht schenke ich Euch ja sogar einen Sohn. Vielleicht wird ihn mein Gemahl für den eigenen halten wie Gunther von Lothering. Vielleicht wird er ihn ja sogar wie Gunther auf den Thron setzen, wer weiß? Und vielleicht werdet Ihr ihn nie zu Gesicht bekommen, weil Ihr längst in irgendeinem fernen Land gefallen seid. DAS ist die Alternative. Und ja, ich gebe dem Leben an der Seite Rhobars als seine treue Gemahlin den Vorzug vor dieser Alternative.“
    „Dann sag es.“
    „Was?“
    „Ich werde mich dir nicht aufdrängen, ich werde deine Wünsche respektieren. Sag, dass du nichts für mich empfindest, und ich lasse dich in Frieden.“
    „Geht jetzt.“
    „Sag es zuerst.“
    „Denkt an die Etikette, Oberst.“
    „Bitte, Seraphia.“
    „Als Eure zukünftige Königin befehle ich Euch, zu gehen!“ Halb war es ein wütendes Schreien, halb ein verzweifeltes Flehen.
    Einen Moment schaute Lee sie stumm an. Sie hielt den Kopf gesenkt. Dann wandte sie sich plötzlich ab und verbarg so ihr Gesicht. Lee nickte mechanisch. „Wie Ihr wünscht… Herrin.“
    Geändert von Jünger des Xardas (25.12.2009 um 22:12 Uhr)

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    Die Sklavenburg im Süden

    Lee blickte auf die Türme der langsam kleiner werdenden Burg. Es würden Monate, vielleicht Jahre vergehen, bevor er sie wiedersehen würde. Wenn er sie wiedersehen würde. Doch zunächst war ihm etwas Abstand mehr als recht.
    „Bei dem Wind könnten wa in einem halben Tag am Myrtat sein“, ließ sich Jacob Roddenbrugg vernehmen.
    „Denkt dran, den zu umschiffen. Wir wollen die Varantiner dort nicht auf uns aufmerksam machen“, mahnte Lee.
    „Oberst?“, fragte eine zaghafte Stimme.
    Lee drehte sich herum. Es war einer der jungen Offiziere, der Rüstung nach ein einfacher Hauptmann. „Ja?“
    „Wie lange wird diese Fahrt dauern?“
    „Je nach Wind und Strömung zwei bis fünf Tage, dann sind wa in Sihaam, dem ersten großen Hafen an der Südküste“, antwortete Roddenbrugg.
    „Zwei bis fünf Tage?“ Der junge Hauptmann seufzte resigniert.
    „Dir sagt die See wohl nicht ganz zu, was?“, fragte Lee belustigt.
    Der Hauptmann schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein, bin ich froh, wenn ich von diesem Schiff wieder herunterkomme.“
    Lee lachte. Dann fragte er, „wie ist dein Name?“
    „Ewald, Oberst.“
    „Und woher kommst du?“
    „Silden, Oberst.“
    „Hm.“ Lee nickte stumm. Silden. Das war das andere Ende der Welt. Das waren die großen, endlosen Ebenen am Rande der Wälder von Okara und zu Füßen der weißen Berge Nordmars. Ein Umschlagplatz für Felle, Holz und Fische, an dem sich Jäger aus den Bergen mit Händlern aus dem nahen Geldern trafen. Und nun sollte dieser Junge, noch ein halbes Kind, in die ferne Wüste ziehen. Der Großteil seiner Truppen bestand aus einfachen Bauernsöhnen aus den nördlichen Regionen Myrtanas, die voller Euphorie waren. Sie rechneten fest damit, zum Lichterfest im Winter wieder daheim zu sein, wie es ihnen Dominiques Propaganda versprochen hatte. Und viele von ihnen erhofften sich Ruhm, Ehre, reiche Beute…
    Die Wahrheit war, dass die meisten von ihnen von der Welt nicht mehr gesehen hatten als die Felder des väterlichen Hofes und sich nicht im entferntesten ausmalen konnten, was sie erwartete. Lee bezweifelte, dass viele von ihnen bei Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren würden.

    Schweißgebadet fuhr Lee in die Höhe. Während er sich die Haare mit zitternden Händen aus dem Gesicht strich, blickte er sich um. Erst langsam realisierte er, wo er sich befand. Noch immer zuckten die Bilder, die ihm eben noch so real erschienen waren, durch seinen Kopf.
    „Oberst.“ Ewald trat in sein Zelt. Als er Lee erblickte, wie er dort aufgerichtet in seinem Bett saß, hielt er inne. „Schon wieder ein Alptraum?“
    Lee nickte nur.
    „Bei mir auch. Ich sag Euch, das geht nicht mit rechten Dingen zu“, sagte der Hauptmann, während Lee sich langsam erhob und nach seinen über einem Stuhl hängenden Kleidern griff.
    „Was wolltest du von mir, Ewald?“, fragte er.
    „Es sind wieder drei Mann desertiert. Die Soldaten fürchten sich.“
    Lee seufzte. „Das tun wir alle.“
    „Und außerdem hat uns eine Botschaft aus Myrtana erreicht.“
    „Worum geht es?“
    „Scheinbar war Euer Plan ein voller Erfolg. Zumindest scheinen Gellons Truppen stark geschwächt, jetzt, wo sie nur noch den Hafen von Bakaresh haben. General Klauffenburg ist im Westen der Küstenregion durchgebrochen und konnte Kap Dun zurückerobern.“
    „Na das ist dann wenigstens eine gute Nachricht. Jetzt müssten wir nur endlich mit Mora Sul fertig werden.“ Lee hatte sich fertig angezogen und trat nun an Ewald vorbei aus dem Zelt. Die sengende Hitze der varantinischen Wüste empfing ihn.
    Ja, der Plan war ein voller Erfolg gewesen. Sihaam, Assim, Ziyad – die drei größten und bedeutensten Häfen an der Südküste Varants hatten sie zu Fall gebracht. Mit Sihaam war das Tor zu den Südlichen Inseln in ihre Hände gefallen. Danach hatten sie die großen Werften von Assim fast vollständig vernichtet, als sie sie nicht hatten halten können. Und schließlich hatten sie – wenn auch unter starken Verlusten – den Kriegshafen in Ziyad erobert. Und dies alles war ihnen in nicht einmal zwei Wochen gelungen. Die Varantiner waren völlig unvorbereitet gewesen. Sie hatten all ihre Kräfte im Norden, bei Bakaresh und auf dem Myrtat konzentriert. In Ziyad waren sie von Bord gegangen. Und während Roddenbrugg mit dem Großteil der verbliebenen Schiffe weiter an der Küste entlanggefahren war, um nun auch die kleineren Häfen anzugreifen, waren sie gen Nordosten gezogen.
    Und damit hatten die Probleme angefangen.
    Lee ließ seinen Blick über die entkräfteten und resignierten Soldaten schweifen. Die unter ihnen, die nur einen Sonnenbrand hatten, waren noch glücklich davongekommen.
    Die Paladine hatten die Soldaten zunächst noch mit ihren Worten über den heiligen Krieg begeistern können. Terra Sancta, heiliges Land, so hatten sie die Wüste genannt. Die gewaltigen Ruinen, an denen sie vorbeigekommen waren, hatten sie als Zeichen der Herrlichkeit ihres Gottes gedeutet. Hier, in dieser Wüste, hatten sich die ersten Menschen Innos zugewandt, hier war die erste Hochkultur entstanden und hier hatte Akascha, der große Krieger und Heilige, Begründer des Feuerklans und Vorfahr ihres Königs, gelebt. Doch der Marsch nach Mora Sul hatte länger gedauert als sie erwartet hatten. Die heiße Sonne hatte ihnen zu schaffen gemacht. Als die Hitze und das knapper werdende Wasser ihre ersten Opfer unter den Soldaten gefordert hatten, während die Paladine in ihren prunkvollen Zelten gesessen und die edlen Speisen aus der Heimat genossen hatten, waren die ersten unzufriedenen Stimmen laut geworden. Und wenngleich die Türme und Kuppeln von Mora Sul während all der Zeit am Horizont aufgeragt waren, war es ihnen lange Zeit so vorgekommen, als kämen sie um keinen Meter voran.
    Nun waren sie angekommen und dies schon vor beinahe vier Monaten, doch gebessert hatte sich ihre Lage deshalb nicht. Die myrtanische Armee war für den Kampf in der Wüste nicht ausgerüstet und auch Lee hatte nur erahnen können, was sie erwartete. Das schwere Kriegsgerät hatten sie schon in Ziyad zurücklassen müssen. Es blieb ihnen also nur, die Sklavenburg zu belagern. Doch Mora Sul war reich und groß. Vermutlich würde es Jahre dauern, bis die Stadt die Waffen streckte. Und immer wieder drangen nachts Assassinen in ihr Lager ein. Lautlos wie Schatten und bewaffnet mit in tödlichem Dicht getränkten Klingen. In ihren Rüstungen waren sie schneller und besser an die Hitze angepasst als die Myrtaner und so waren sie ihnen im Kampf zumeist überlegen.
    Und dann war da diese seltsame Angst, die sich des ganzen Lagers bemächtigt hatte und immer wieder Männer Hals über Kopf in die Wüste fliehen ließ.
    Lee seufzte, als er seinen Blick über die verängstigten und ausgehungerten Männer schweifen ließ, die träge vor den Zelten saßen, während die Kuppeln der Stadt in der Sonne glänzten und sie geradezu zu verhöhnen schienen.
    Nein, so konnte es nicht weitergehen.
    Und die Paladine unter seinem Kommando saßen ihm auch schon im Nacken. Ihr Anführer Walther von Gernho hatte eine genaue Vorstellung davon, was zu tun war. Einen der Assassinen, die nachts das Lager angriffen, hatten sie gefangen nehmen können. Und aus ihm wollte Paladin Walther herauspressen, über welchen Weg die Assassinen bei ihren Ausfällen die Stadt verließen. Dies war im Grunde genommen keine schlechte Idee, musste Lee zugeben. Auch er hätte liebend gerne gewusst, wie dieser Weg aussah. Doch solange er das Kommando über diese Truppen hatte, würde er nicht zulassen, dass man den Gefangenen etwas zuleide tat. Lieber riskierte er eine Niederlage, als durch Folter an die Informationen zu gelangen, die sie brauchten. Die Paladine jedoch sahen das anders und wurden mit ihm als Befehlshaber immer unzufriedener.
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:50 Uhr)

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    Neues aus dem Norden

    Am Eingang des Dorfes baumelte eine Leiche, offenbar ein Einheimischer, an einem Galgen.
    „Warum habt Ihr den dort aufgehängt?“, wollte Lee wissen.
    „Er hat Sumpfkraut an die Soldaten verkauft“, antwortete Oberst Emsfurth. „Wir haben die Sumpfkrautfelder alle niedergebrannt, als wir hier ankamen, aber es scheint trotzdem noch Unmengen von diesem Beliarszeug zu geben. Die Soldaten sollen kämpfen und nicht rauchen!“
    Lee blickte sich um. Lago war ein kleines Dorf – eine von vielen Neugründungen der letzten zwei Jahrhunderte, die alle von der reichen Minenstadt Ben Erai ausgingen. Der Bergbau florierte in dieser Gegend Varants immer stärker. Das hohe Gebirge, das sich an der südlichen Küste des Myrtat erhob und vom Pass bis nach Bakaresh reichte, war voller Goldadern. Ben Erai war dort errichtet worden, wo sich die meisten dieser Adern befanden und lebte fast ausschließlich von seinen zahlreichen Minen. Doch die Gier der Varantiner nach dem wertvollen Metall war immer größer geworden und beim Erschließen neuer Adern hatten sie sich immer weiter von Ben Erai entfernt. Wann immer sie eine vielversprechende Stelle gefunden hatten, die weiter als einen Tagesmarsch von der Minenstadt entfernt war, war dort binnen kürzester Zeit eine neue kleine Siedlung entstanden. Lago gehörte wohl zu den kleinsten dieser Enklaven. Das Dorf verfügte nur über einen einzelnen Stollen. Abgesehen von diesem gab es noch einige Fischer und einen Bootsbauer. Allein die großen, nun nur noch aus verkohlter Erde bestehenden, Sumpfkrautfelder hatten die Siedlung von den Dutzenden anderen namenlosen Dörfern abgehoben.
    Doch die Myrtaner waren hier nicht wegen des Krauts – zumindest nicht die Kommandanten der Armee. Noch etwas anderes machte das Dorf zu etwas Besonderem und verlieh ihm eine strategische Bedeutung: Der gesamte Norden Varants wurde von einem hohen Gebirge abgetrennt. Davor gab es nur einen breiten, sumpfigen Küstenstreifen mit einigen Fischerdörfern, doch Truppen konnten dort nur schwerlich landen. Aus diesem Grunde war der einzige größere Hafen im Norden Bakaresh, am äußersten Ausläufer jenes Gebirges. Hier, bei Lago, tat sich aber eine kleine Lücke zwischen den Bergen auf, sodass das Dorf sich nicht wie die zahlreichen anderen an den schroffen, braunen Fels schmiegte, sondern direkt an der Küste gebaut war. Dies ermöglichte erst den Fischfang und den Anbau des Sumpfkrautes. Und dies ermöglichte es, vom nahen Kap Dun auf der anderen Seite des Myrtat hierher überzusetzen.
    Emsfurth hatte Lee zum Strand geführt. Nun stiegen sie beide den Steg zur Myrtanas Stolz, der mächtigen Galeone, die hier vor Anker lag, hinauf. Es war ein seltsames Bild, dieses riesige Schiff neben diesem kleinen Dorf zu sehen, das fast vollständig von dem Schatten, den der Fünfmaster warf, eingehüllt wurde.
    Lord Dominique, General Klauffenburg und Marschall Rigaldo standen bereits ungeduldig um einen Tisch in der prunkvollen Kapitänskajüte.
    Ohne Lee zu begrüßen, begann Dominique mit seiner Ansprache: „Wie keinem der Anwesenden entgangen sein sollte, war Oberst Lees Plan erfolgreich. Wir konnten Kap Dun einnehmen und von dort aus nach Lago übersetzen. Während wir bisher in der Defensive waren und sich der Krieg ausschließlich auf unserem Boden abspielte, tragen wir ihn nun in ihr Land. Und mit Lago als Brückenkopf können wir endlich in den Norden der Wüste einfallen. Gleichzeitig werden Eure Aktionen im Süden sie zwingen, weitere Truppen aus dem Norden abzuziehen, Oberst.“
    „Ich hoffe, Ihr habt mich nicht hierher rufen lassen, um mich zu beglückwünschen. Noch ist Mora Sul nicht gefallen.“
    „Eure Männer werden einige Tage ohne Euch auskommen. Wir müssen unser weiteres Vorgehen besprechen.“ Der Paladin entrollte eine Karte der Wüste. „Es gibt zwei Orte, auf die wir uns konzentrieren müssen.“ Er zeigte mit dem Finger auf die entsprechenden Punkte auf der Karte. „Bakaresh und Ishtar. Ersteres ist von großer strategischer Bedeutung. Es ist der größte Hafen Varants und liegt direkt an der Mündung des Myrtat. Solange Bakaresh nicht in unserer Hand ist, werden wir dort niemals die Seehoheit erringen. Zudem ist Bakaresh das religiöse Zentrum des Beliarkults und wir können nicht hoffen, diesen auszulöschen, solange nicht die Banner Innos’ auf dem großen Tempel von Bakaresh wehen und die Statue Beliars in Trümmern liegt. Was Ishtar anbetrifft, so ist es aus strategischer Sicht nur von geringer Bedeutung. Es mag eine starke Festung sein, doch liegt es zu abgeschieden und verfügt über zu wenig Rohstoffe als dass die Herrschaft über diese Stadt von Nutzen für uns wäre. Doch Ishtar ist der Sitz des Kalifen. Und wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, muss Zuben fallen.“
    „Ihr schlagt also vor?“, wollte Klauffenburg wissen.
    „Wir werden von Lago aus in zwei Richtungen marschieren. Ein Heer zieht unter Eurer Führung nach Süden gen Bakaresh. Das andere wird Oberst Emsfurth führen. Ihr werdet nach Norden ziehen und Braga angreifen. Wenn dies geschieht, werdet Ihr Trelis stürmen, Marschall Rigaldo. Haben wir Lukkor erst einmal in die Zange genommen, so wird dies sein Ende sein. Danach werden sich beide Heere vereinigen und gemeinsam nach Ishtar ziehen.“
    „Das dürfte ein gefährlicher Marsch werden“, gab Lee zu bedenken. „Der Weg nach Ishtar führt durch eine Gegend der Wüste, in der es keinerlei Siedlungen gibt. Die Einheimischen nennen diese Gegend das Land der Nomaden. Und wir wissen nicht, wie diese auf uns reagieren werden.“
    „Mit ein paar Nomadenstämmen werden wir noch fertig“, sagte Rigaldo kühl. „Lord Dominique hat Recht, Ishtar muss so bald wie möglich fallen. Und unter meiner Führung wird es das.“
    „Gut.“ Dominique nickte zufrieden. „Wenn alles nach Plan verläuft, könnte dieser Krieg in einem Jahr zuende sein.“
    „Das hieß es schon letztes Jahr“, sagte Lee.
    „Dann solltet Ihr etwas dafür tun, dass sich die Prognose dieses Mal bewahrheitet, Oberst. Ihr werdet nach wie vor das Kommando im Süden führen. Wenn Mora Sul erst einmal in unserer Hand ist, haben wir die größte Stadt der südlichen Wüste in unserer Hand. Ihr werdet Euch dann den übrigen bedeutenden Städten und Festungen dort zuwenden und die wichtigsten Karawanenstraßen in Eure Hand bringen.“
    Lee nickte. „Wie Ihr wünscht.“
    „Gut“, sagte der Großmeister. „Damit sollte das grobe Vorgehen geklärt sein. Ihr werdet noch zwei Tage in Lago verweilen. Es gibt noch einige taktische Fragen zu klären. Für heute haben wir jedoch alles Wichtige besprochen.“

    Als Lee hinaus aufs Deck trat, rief jemand seinen Namen.
    Zwei sichtlich unter der Hitze leidende Gestalten standen an der Reling und winkten ihn zu sich.
    „Hey, die Welt ist klein, was?“, fragte Wiglaf, während er sich etwas Schweiß von der Stirn wischte.
    „Es scheint ganz so. Ihr seid die Temperaturen hier nicht gewohnt, habe ich den Eindruck.“
    „Nicht gewohnt?“ Der andere Nordmarer schnaufte. „Dieses Land ist heißer als die Schmelze des Hammerklans!“
    „Mein Kumpel Beowulf“, erklärte Wiglaf. „Toller Kämpfer, hat es sogar mal mit einem Troll aufgenommen.“
    Beowulf rollte mit den Augen. „Wie oft noch, es war ein verdammter Oger, mehr nicht! Demnächst wird man sich noch erzählen, ich hätte einen Drachen erschlagen.“
    Wiglaf lachte. „Wie auch immer. Das hier ist jedenfalls Lee.“
    Beowulf nickte dem Oberst zu. „Noch ein Offizier“, stellte er fest.
    „Ja, aber einer, der nicht unter einem Baldachin sitzt und sich Luft zufächern lässt, während er seinen Männern beim Kämpfen zusieht“, sagte Wiglaf und gab Lee einen Klaps auf die Schulter.
    „Was macht Ihr eigentlich hier?“, wollte dieser nun wissen.
    „Wir sind die Anführer der Kämpfer des Feuerklans. Einhundert Mann hat der Jarl in die Wüste geschickt. Ha!“ Wiglaf lachte. „In die Wüste geschickt, ja, das passt.”
    Lee nickte. Er frage nicht weiter nach, wollte gar nicht wissen, wie es Dominique gelungen war, auch dieses Mal sein Ziel zu erreichen.
    „Und, wie ist die Lage im Norden?“, wollte er stattdessen wissen.
    „Ach, das Übliche“, winkte Wiglaf ab. „Die Jäger aus’m Wolfsklan beklagen sich über die Zölle in Faring und bei den Hammerklanern schlagen sich ein paar Orktöter mal wieder gegenseitig die Köpfe ein, weil sie sich nicht einigen können, wer den letzten Orkhäuptling erschlagen hat. Nur die marodierenden Orkbanden im Norden machen mir derzeit etwas Sorgen.“
    „So interessant die Geschichten aus Eurer Heimat sind, Wiglaf, ich dachte bei meiner Frage an Vengard.“
    „Vengard? Bin jetzt schon fast zwei Monate da weg. Euer König war immer noch krank, als ich die Stadt verlassen habe. Na, ich schätze mal, inzwischen sollte es ihm besser gehen. Ist ja schon einige Zeit her. Kommt wahrscheinlich vom vielen Grünzeug. Das macht halt schwach. Ach ja, und Euer Prinz ist immer noch nicht verheiratet. Verdammt, Ihr betreibt aber auch einen Aufwand wegen so einer Scheiße. Bei uns schaut man sich um, bis man ein Weib findet, dass einem gefällt, rennt dann zu ihrem Vater und wenn der einem seinen Segen gibt, nimmt man sie mit nachhause und raubt ihr ihre Jungfräulichkeit. Und wenn noch ein anderer ein Auge auf sie geworfen hat, haut man dem halt in die Fresse und geht dann zu ihrem Vater.“
    Lee lächelte leicht. „Danke, Wiglaf. Und erinnere mich beizeiten, mich bei Euch in den Bergen zur Ruhe zu setzen.“
    Geändert von Jünger des Xardas (04.12.2009 um 22:37 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Ein entbehrungsreicher Krieg


    Walther von Gernho nahm Lee in Empfang, als er in das Heerlager am Fuße des großen Plateaus von Mora Sul zurückkehrte.
    „Frohe Kunde, Oberst, wir wissen nun, wie wir die Mauern dieser Stadt erstürmen können!“, rief er ihm entgegen, noch ehe er vom Rücken seines Pferdes gestiegen war.
    Lee sprang hinab auf den staubigen Boden und blickte den Paladin fragend an.
    „Es gibt ein altes Abwassersystem, durch welches die Assassinen die Stadt verlassen, um uns in der Nacht zu überfallen und im Schlaf zu erdolchen. Doch wir kennen seine Eingang. Und wir wissen, dass es bis in den Palast der Stadt führt. Außerdem konnten wir in Erfahrung bringen, dass die verderbte Magie eines Schwarzmagiers für die Angst unter den Soldaten und die Alpträume der Männer verantwortlich ist. Sie nennen ihn Mustafa.“
    Lee zügelte die Freude, die in ihm aufstieg, denn er hatte einen schrecklichen Verdacht. „Woher wisst Ihr das?“
    „Von diesem verfluchten Meuchelmörder, den wir gefangen nehmen konnten. Die Dämonen, die in diese Männer gefahren sind, sind stark und ihr Geist ist mit Drogen vernebelt, doch vor Innos’ geheiligter Magie muss jeder Dämon weichen und kein Sklave Beliars, mag er noch so gut geschult sein, vermag es, etwas vor den heiligen Streitern des Flammenden zu verbergen.“

    Die Informationen, die sie dem Assassinen entlockt hatten, brachten ihnen den Sieg; Lee war es ein Leichtes, einen Plan auszuarbeiten, um die Stadt zu erobern: Eine vergleichsweise kleine Truppe stürmte den Palast bei Nacht über die Kanalisation. Der Schwarzmagier Mustafa wurde im Schlaf ermordet, bevor er seine Magie zum Einsatz bringen konnte. Als auf den Kuppeln des Palastes die roten Fahnen Myrtanas wehten und die Leichen des Schwarzmagiers und des Stadtherren gut sichtbar über dem Tor aufgehängt wurden, streckte der Rest der Stadt am Morgen kampflos die Waffen.
    Dennoch war Lee nicht stolz auf diesen Sieg, als er das sah, was von dem gefangen Assassinen geblieben war. Insgeheim nahm er sich vor, den Feind kurz und schmerzlos zu töten, sollte er erneut in eine solche Situation kommen, anstatt ihn in die Hände der Folterknechte fallen zu lassen – selbst auf die Gefahr einer Niederlage hin.

    Die Eroberung Mora Suls war ein bedeutender Sieg. Und unter Lees Führung sollten viele weitere folgen. Zunächst wurden die großen Karawanenstraßen nach Bakaresh und Braga blockiert und die wichtigsten Oasen besetzt. Dann machte Lees Heer sich daran, den Rest des Südens einzunehmen. Nacheinander fielen ihnen die Oasenstadt Abu Rhaba, das große Ben Ara und die mächtige Bergfeste Hikm in die Hände.
    Doch ein Ende des Krieges war trotzdem nicht in Sicht. Die Märsche durch die Wüste waren verlustreich, die Belagerungen dauerten viele Monate und in den kleinen Städten und Garnisonen sammelten sich immer wieder neue Truppen des Feindes.
    Auch im Norden verlief der Krieg nicht wie geplant. Lee war durch den regen Verkehr von Boten und die häufigen Konferenzen mit den anderen Heerführern mehr oder weniger auf dem Laufenden.
    Klauffenburg war es tatsächlich gelungen, bis nach Bakaresh vorzudringen, auch wenn dies weit länger gedauert hatte, als es ursprünglich geplant gewesen war. Er hatte begonnen, die Stadt im Süden zu belagern. Dies und seine immer unsicher werdende Position in der Küstenregion, hatten Kriegsherr Gellon bewogen, sich über den Myrtat zurückzuziehen und sich mit all seinen Truppen auf die Verteidigung Bakareshs zu konzentrieren. Zurückgelassen hatte er geplünderte Dörfer und niedergebrannte Gehöfte; den Myrtanern hatte er bei seinem Abzug nichts geschenkt. Und nun stand das Heer vor Bakaresh, ohne auch nur einen Meter Boden zu gewinnen. Nicht einmal die Inseln vor der Stadt oder die sumpfige Küste jenseits der Berge, deren Fischer und Bauern die große Tempelstadt noch immer mit Nahrung versorgten, konnten erobert werden.
    Auch Rigaldo war zunächst erfolgreich gewesen. Er hatte Lukkor aus Trelis vertreiben und damit den letzten Teil Myrtanas, der noch unter varantinischer Herrschaft gestanden hatte, von der Besatzung befreit. Doch nach dem Schlachtplan hätte Oberst Emsfurth dem varantinischen Heer in den Rücken fallen sollen. Stattdessen hatte er sich bei Braga lange aufhalten lassen und wurde von Lukkors Truppen bei deren Flucht über den Pass geradezu hinweggefegt, während sie gleichzeitig den Verfolgern unter Rigaldo schwere Verluste zugefügt hatten. Nun blockierte Lukkor die Straße nach Ishtar. Braga war umkämpft und die umliegenden Ruinen des Alten Volkes hatten sich in ein Schlachtfeld verwandelt, in dem die alten Mauern als Palisaden und Schutzwälle für die beiden Armeen herhalten mussten.
    Doch dies waren nicht die einzigen Probleme, mit denen sie momentan zu kämpfen hatten. Es gab Unruhen unter den Soldaten, welche inzwischen großenteils desillusioniert waren. Die Begeisterung war Resignation gewichen.
    Auch die Bewohner der eroberten Städte waren unzufrieden. Die Androhung der Todesstrafe auf das Anrufen Beliars nahmen sie weniger als Befreiung, denn als Unterdrückung ihres Glaubens an den gütigen Gott, der sie vor Innos’ sengendem Fluch beschützte, wahr. Den König betrachteten sie bestenfalls als neuen Herrscher, der weder besser noch schlechter als der Kalif war, schlimmstenfalls als Despoten, der den weisen und gerechten Zuben zu verdrängen suchte. Gegen die Unzufriedenen und die immer wiederkehrenden Aufstände gingen die Heerführer Myrtanas mit äußerster Härte vor.
    Als wäre dies noch nicht genug, hatten die Myrtaner auch im eigenen Land noch immer mit Problemen zu kämpfen. Auf den Feldern arbeiteten nur noch Kinder, Frauen und alte Männer. Die zahlreichen Höfe in der südlichen Küstenregion, der Westmark und rund um Montera waren niedergebrannt. Die lange Blockade des Myrtat hatte das Fischen dort unmöglich gemacht. Und dadurch, dass alle größeren Häfen mit Ausnahme Vengards für einige Zeit unter der Herrschaft der Assassinen gestanden hatten, hatte der Handel stark gelitten und die Schiffe von den Südlichen Inseln waren ausgeblieben. All dies brachte eine Hungersnot mit sich, an der die Bürger Myrtanas ihren Herrschern die Schuld gaben. Lee wusste, dass es im ganzen Land Bauernaufstände gab, auch wenn Dominique sehr darauf bedacht war, diese Nachricht nicht bis zu den einfachen Soldaten vordringen zu lassen.
    Und so zog sich der Krieg hin. Lee hörte auf, die Monate zu zählen. Er wusste nur, dass Dominiques Prognose sich auch dieses Mal nicht bewahrheitet hatte und er vermutete, dass dem Großmeister dies von Anfang an klar gewesen war.

    Lee hielt sich gerade in der Stadt Bahiyaa auf, die erst zwei Tage zuvor in ihre Hände gefallen war, als ihn ein Bote aus Lago erreichte.
    Er wurde zu einer weiteren Besprechung mit den übrigen myrtanischen Heerführern gerufen. Ein weiteres Mal würden sie darüber diskutieren, wie sie Bakaresh einnehmen oder Lukkors Widerstand brechen sollten. Und ein weiteres Mal würden darauf einige Monate der vergeblichen Versuche und verlustreichen Schlachten folgen.
    Doch etwas war dieses Mal anders: Die Königsfamilie würde zugegen sein. Nachdem der noch immer schwache König, seine beiden Kinder und seine zukünftige Schwiegertochter die Alchemisten von Geldern besucht und mit ihnen das Fest der Sommersonnenwende gefeiert hatten, würden sie nun in Trelhaven ein Schiff besteigen, das sie zurück nach Vengard bringen sollte. Unterwegs würden sie dabei auch für einige Tage in Lago verweilen. Der König würde an den Besprechungen der Heerführer teilnehmen und sich vor Ort über die aktuelle Lage des Krieges informieren. Dann würde die Königsfamilie wieder das Schiff besteigen und mit ihnen General Klauffenburg, Marschall Rigaldo, Lord Dominique und der junge Paladin und Neffe des Königs Hagen. Gemeinsam würden sie nach Vengard reisen, wo Erzmagier Barthos von Laran das Kronprinzenpaar in der großen Kathedrale der Hauptstadt trauen würde.
    Lee spürte, wie sich sein Magen beim Lesen des Briefes zusammenzog. Nun würde sie also heiraten. Beim Gedanken, sie kurz davor sehen und dabei ihr und ihrem zukünftigen Mann Glück wünschen zu müssen, stieg Übelkeit in ihm auf. Am liebsten wäre er Lago so fern geblieben wie nur möglich. Wenigstens, so sagte er sich, war er nicht zur Hochzeit geladen. Er und Oberst Emsfurth würden vorübergehend den Oberbefehl über die Truppen in Varant übernehmen. Lee war froh darum. Er wollte nicht einmal daran denken, wie es wäre, zuzusehen, wie sie auf den Altar zuschritt, die Worte des Erzmagiers zu hören und schließlich vor dem frisch vermählten Paar niederzuknien.

    Und so begab es sich, dass er nach Lago aufbrach. Einige hundert Mann begleiteten ihn. Ihrer bedürfe man im Süden nicht länger, hatte Dominique ihm in seinem Brief mitgeteilt. Sie sollten fortan die Belagerung Bakareshs unterstützen.
    Geändert von Jünger des Xardas (04.04.2011 um 20:51 Uhr)

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    Eine schwere Niederlage


    Zwei Tage später als vorgesehen erreichten sie Lago. Ein Sandsturm hatte sie aufgehalten.
    Noch bevor sie das Dorf sahen, erblickten sie die Masten des mächtigen Kriegsschiffes, mit dem die Königsfamilie angereist war.
    Dann sahen sie auch die Häuser selbst. Augenblicklich stockte ihnen der Atem vor Schreck. Das einst belebte Dorf war nur noch eine verkohlte Ruine.
    Angst durchzuckte Lee, Angst um Seraphia. Ohne sich um seine verwirrten Männer zu kümmern, gab er dem Pferd die Sporen und galoppierte in das Dorf hinein.
    „Lee!“
    Der Oberst riss an den Zügeln. Er war geradewegs auf das Schiff zugeprescht und hatte die zwischen den verkohlten Häusern umherirrenden Gestalten gar nicht beachtet. Nun jedoch kam eine von ihnen auf sein Pferd zu und er erkannte, um wen es sich handelte.
    „Wiglaf!“, rief er vom Rücken seines Reittieres hinab. „Was ist hier geschehen?“
    „Die Assassinen.“ Der Nordmarer kam neben ihm zu stehen und blickte zu ihm hinauf. „Sie haben das Dorf überfallen, mitten in der Nacht. Keiner war darauf vorbereitet. Ehe wir zu den Waffen greifen konnten, hatten sie schon Dutzenden von uns niedergemetzelt und die Lagerhäuser in Brand gesteckt. Sie…“ Er senkte den Kopf. „Sie haben Beowulf erwischt.“
    „Was ist mit den Mitgliedern der königlichen Familie?“
    „Ich weiß es nicht. Sie waren alle in einem großen Zelt – Euer König mit seiner Familie, Eure General, diese Giftmischer aus Geldern, die mitgereist waren. Ich hab nur gesehen, wie das Zelt umgerissen wurde, hab die Schreie gehört… mehr nicht. Kurz darauf kamen ein paar Paladine angerannt, dann war es still. Ein paar Leute, die im Zelt waren, haben wohl überlebt und wurden aufs Schiff gebracht. Der Prinz war ganz sicher darunter. Er hat sich gleich am Morgen gezeigt, verkündet, dass es ihm gut geht und kein hinterhältiger Diener Beliars so leicht den Sohn eines Erwählten Innos’ töten könne. Aber sonst weiß ich von nichts. Euer Paladin, Dominique, lässt keinen aufs Schiff.“
    Ohne ein weiteres Wort an den überraschten Wiglaf galoppierte Lee wieder los. Der Prinz war am Leben, doch warum hatten sich die anderen Mitglieder der Königsfamilie nicht gezeigt? Schürte es nicht nur unnötige Gerüchte, wenn der Prinz verkündete, er sei unversehrt, während der König sich nicht zeigte? Lee fiel nur eine Erklärung dafür ein und diese durfte nicht wahr sein.
    Er ignorierte die beiden Paladine, die den Aufgang zum Schiff bewachten und ritt sie fast über den Haufen. Erst auf dem Hauptdeck sprang er von seinem Pferd. Zu Fuß marschierte er auf die Kapitänskajüte zu. Wie besessen hämmerte er auf die Tür ein.
    Gerade als die Paladine, die ihm gefolgt waren, ihn erreichten, wurde die Tür geöffnet.
    „Lord Dominique!“, rief einer der Paladine. „Verzeiht uns. Dieser Mann hat sich unbefugten Zugang zum Schiff verschafft. Wir werden ihn umgehend…“
    „Geht wieder auf Eure Posten!“, befahl Dominique barsch.
    „Aber…“, stotterte nun der andere Ritter.
    „Das war ein Befehl!“
    Die beiden Paladine zuckten zusammen. „Jawohl!“, riefen sie wie aus einem Mund, bevor sie sich eilig davonmachten.
    Lord Dominique ließ Lee an sich vorbeitreten und schloss dann die Tür. „Ihr seid also auch endlich eingetroffen“, stellte er ruhig fest.
    „Wie konnte das passieren?“, fragte Lee ohne Umschweife.
    „Eine kleine Gruppe Assassinen hat sich von Bakaresh durch die Sümpfe bis hierher geschlichen und uns des nachts überfallen. Wir waren auf diesen Angriff nicht vorbereitet und so gelang es ihnen, die Lagerhäuser niederzubrennen und einige Männer zu töten, die das Pech hatten, ihnen über den Weg zu laufen. Letztlich konnten wir sie dann dennoch schlagen. Ein, zugegeben, unglücklicher Vorfall und ein Verlust, was die Vorräte in den Lagerhäusern angeht, doch keine schwere Niederlage.“
    „Ist das die Version, die Ihr den Soldaten dort draußen erzählt habt?“
    Dominique antwortete nicht. Wortlos schritt er auf das Fenster zu.
    „Ich bin kein einfacher Soldat. Ich bekleide den dritthöchsten Rang, den die Armee Myrtanas zu vergeben hat und ich verlange, dass Ihr mir die Wahrheit erzählt!“
    „Dann solltet Ihr Euch in Erinnerung rufen, wer Euch diesen Rang verschafft hat“, entgegnete Dominique kühl, den Blick aus dem Fenster gerichtet. „Verlangt von Euren Soldaten, nicht von Euren Vorgesetzten, Oberst.“
    Wütend blickte Lee den Paladin an. Dann sagte er langsam, „gut, dann verlange ich nicht, dass Ihr mir die Wahrheit erzählt – ich bitte Euch, mir zu erklären, wie es kommt, dass sich der Kronprinz direkt nach dem Angriff den Soldaten zeigt und sie beruhigt, ihm sei nichts geschehen, über seine Verlobte und seinen Vater aber geschwiegen wird.“
    Dominique wandte sich langsam um und blickte Lee in die Augen. Es verging einige Zeit, bevor er endlich antwortete: „Die Assassinen drangen in das Zelt ein, in dem sich die hohen Herren aufhielten – unvorbereitet und unbewaffnet. Kronprinz Rhobar konnte das Zelt unversehrt verlassen. Die meisten anderen der Anwesenden fielen den Schwertern der Angreifer zum Opfer. General Klauffenburg ist tot, ebenso Alberto la Voisier, der Großvater Paladin Hagens. König Rhobar wurde von einem Dolch am Hals verletzt.“
    „Der König ist tot?“ Obwohl er es geahnt hatte, traf ihn die Nachricht und ließ ihn für einen winzigen Moment sogar Seraphia vergessen.
    „Nein. Offenbar hat der Assassine in all dem Chaos seine Schlagader verfehlt. Momentan kümmern sich die Heiler um ihn. Aber es ist fraglich, ob er die nächsten Tage überlebt. Der Dolch war vergiftet und der König ist noch immer durch die Krankheit geschwächt.“
    „Und Seraphia? Was ist mit ihr?“
    „Die Fürstentochter wurde entführt.“
    „Entführt?!“ Lee taumelte. In seinem Kopf schien sich für einen Moment alles zu drehen.
    Dominique nickte nur. „Die Paladine kreisten einen der Assassinen ein. Er ergriff sie, hielt ihr sein Messer an die Kehle und drohte, sie umzubringen. Also ließen die Männer ihn ziehen.“
    „Ihr habt ihn einfach so gehen lassen?“
    „Natürlich nicht!“, erwiderte Dominique wütend und fuhr herum. „Ich habe einige Paladine ausgeschickt, um die Verlobte des Prinzen zurückzuholen. Aber der ausbrechende Sandsturm zwang sie, die Verfolgung abzubrechen.“
    „Wie konntet Ihr das tun?“
    „Zügelt Euer Gemüt, Oberst. Es war Nacht und dort draußen tobte ein Sandsturm. Sie unter diesen Bedingungen weiter zu verfolgen, hätte nur bedeutet, weitere Männer in den Tod zu schicken und in dieser Nacht waren schon genug gefallen.“
    „Aber Ihr habt die Verfolgung wieder aufgenommen, als der Sturm vorbei war?“
    „Welchen Sinn hätte dies gehabt? Der Sturm hatte alle Spuren verwischt und die Wüste ist groß. Die Chancen, den Assassinen und die Fürstentochter jetzt noch dort draußen zu finden, dürften bei null liegen. Mittlerweile werden beide ohnehin längst tot sein. Sollten sie nicht bereits im Sturm umgekommen sein, sind sie inzwischen den Sandcrawlern zum Opfer gefallen.“
    „Der Tod der zukünftigen Königin ist Euch völlig gleichgültig?“, fragte Lee kochend vor Wut.
    „Er ist alles andere als das – Herzog Berengar wird über die Nachricht alles andere als erfreut sein – aber ich bin fähig, eine Niederlage als solche zu erkennen. Seraphia von Kavaros ist höchst wahrscheinlich tot und sollte dem nicht der Fall sein, so wird sie doch innerhalb der nächsten Tage mit Sicherheit umkommen. Wir dagegen haben keine Möglichkeit, sie aufzuspüren. Deshalb verschwende ich keine weiteren Gedanken an eine vergebliche Rettungsaktion, sondern befasse mich mit dem wirklich wichtigen: Wir befinden uns mitten in einem kräftezehrenden Krieg, General Klauffenburg ist tot, Marschall Rigaldo ist aus unbekannten Gründen noch nicht in Lago eingetroffen, wir haben durch diesen Angriff unser Gesicht verloren und werden noch einiges mehr verlieren, wenn die Soldaten erst erfahren, wie schwer er die Königsfamilie getroffen hat, und Berengar von Kavaros wird wenig erfreut sein, zu hören, dass seine Tochter noch vor der Eheschließung entführt wurde und in der Wüste zu Tode kam.“
    Lee stand schweigend da und blickte Dominique an, nein, schaute viel mehr durch ihn hindurch. Eine seltsame Leere bemächtigte sich seiner.
    „Und nun geht“, befahl der Großmeister. „Ihr wisst nun mehr als vielleicht gut für Euch ist. Was mich angeht, so habe ich wenig Zeit. Da der König momentan nicht bei Bewusstsein ist und alle anderen Würdenträger und Heerführer des Reiches entweder weit entfernt oder tot sind, ist es an mir, die Probleme zu bewältigen, die nun auf uns zukommen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass Ihr ein angemessenes Zelt im Heerlager auf der anderen Seite des Dorfes erhaltet. Ihr werdet dort bleiben und Euch um die Soldaten kümmern, bis ich Euch wieder zu mir rufe. Und über das, was ich Euch soeben erzählt habe, verliert Ihr kein Wort – zu niemandem.“

    Lee lag auf seinem Bett in dem Zelt, das Dominique ihm gegeben hatte, starrte an die Decke und kramte mit einer Hand gedankenverloren in seiner Satteltasche. Leere, mehr empfand er nicht. Er wollte wütend sein, wollte jemanden dafür hassen, was geschehen war, doch er konnte nicht. Da war niemand zum hassen. Nur ein gesichtsloser Assassine, dessen toter Körper in diesem Moment vermutlich neben dem Seraphias lag und den Geiern ein Festmahl bot. Nicht einmal auf Dominique konnte er Hass empfinden. Er fühlte sich einfach leer.
    Seine Hand in der Satteltasche stieß auf etwas kleines, hartes. Verwundert zog er es heraus und hielt es sich vor die Augen. Es war ein kleines, goldenes Amulett. Lee seufzte. Langsam drehte er es zwischen den Fingern. Dann, einem Impuls folgend, klappte er es auf. Zum Vorschein kam ein kleiner Edelstein, kaum so groß wie sein Fingernagel, in einer Fassung, die ein wenig an einen Kompass erinnerte. Er leuchtete rötlich. Nachdenklich betrachtete Lee ihn. Der Stein schien in eine bestimmte Richtung zu weisen. Wie er das Amulett auch drehte, der Stein behielt seine Richtung bei. Doch er zeigte nicht nach Norden, sondern nach Westen. Lee runzelte die Stirn. Weshalb sollte ihm Seraphia einen Kompass schenken, noch dazu einen kaputten?
    Aber vielleicht war er ja gar nicht kaputt, dachte er, während er das Amulett noch immer in seinen Händen drehte. Vielleicht war es nur nicht seine Aufgabe, den Träger nach Norden zu führen.
    Kurzentschlossen sprang er auf, stopfte Proviant in seine Satteltasche, schnappte sich einige Wasserschläuche und machte sich auf den Weg zu seinem Pferd. Er hatte einen verzweifelten Plan.
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:52 Uhr)

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    Der Magier des Wassers

    Stöhnend brach Lee unter der heißen Sonne zusammen. Die Sandkörner stachen wie Nadeln in die Haut seines Gesichts, die Sonne brannte in seinem Nacken und seine Kehle war so trocken wie die Wüste selbst.
    Er war ein Narr gewesen. Ohne zu überlegen, ohne noch mit irgendjemandem zu sprechen, hatte er Lago hinter sich gelassen und war allein in die Wüste geritten. Dort hatte er sich hoffnungslos verirrt. Zwar hatte er das Amulett gehabt, das stetig in eine Richtung zeigte, doch war er immer wieder auf der Suche nach einer Oase vom Weg abgekommen, war auf Fatamorganen hereingefallen und hatte dabei weit und breit keine Quelle finden können.
    Sein Pferd war vor zwei Tagen verendet. Vor einem Tag hatte er den letzten Tropfen seines Wassers getrunken. Und nun? So weit er schaute, nur Sand. Hinter jeder Düne erstreckte sich nur eine weitere unendliche Fläche ohne jeden Unterschied zu der hinter ihm. Wohin er auch blickte, es sah alles gleich aus. Keine Stadt, keine Oase, nur Sand.
    Über sich glaubte er schon die Geier kreisen zu sehen. Er war zu schwach, um wieder aufzustehen. Hier, an dieser Stelle, würde sein Leben ein Ende finden. Er war allein, fernab der Heimat und er hatte alles verloren. Und nun würde Innos ihn verbrennen; Innos, in dessen Namen er ins Feld gezogen, dessen Feinde er bekämpft hatte.
    Vielleicht war es auch besser so. Vielleicht würde er wenigstens im Tod mit Seraphia vereint sein und ihm würde gewährt werden, was ihm im Leben nicht vergönnt gewesen war.
    Ein langer Schatten fiel auf ihn. Unter Aufbringung seiner letzten Kräfte hob Lee den Kopf. Dort, auf einer Düne, stand eine Kreatur und schaute zu ihm herab. Er ließ den Kopf wieder in den Sand fallen. Ihm fehlte die Kraft, ihn weiter oben zu halten. Vermutlich war es ohnehin nur eine Fatamorgana. Zu oft war er nun auf diese hereingefallen, war vom Weg abgewichen, um sich zu einer vermeintlichen Oase zu schleppen.
    Doch plötzlich vernahm er weiche Schritte im Sand direkt neben sich. Jemand schien sich zu ihm hinabzubeugen. Er fühlte, wie eine warme, feuchte Nase über seine Wange streifte. Eine goldene Mähne berührte seine Haut. Dann ertönte ein markerschütterndes Brüllen. Keine Fatamorgana, ein Löwe! Doch Lee war es inzwischen gleich. So würde also nicht die Sonne, sondern dieses Tier ihn umbringen.

    Lee spürte, wie kühles, klares Wasser seine Kehle hinabrann. Er fühlte sich als hätte er nie zuvor in seinem Leben einen Tropfen Wasser auf der Zunge gespürt. Er wusste nicht, wo er war, wo das Wasser herkam, doch er trank wie er noch nie getrunken hatte und genoss das belebende Gefühl der klaren Flüssigkeit, die seinen Hals hinabrann.
    Dann wurde der Schlauch von seinen Lippen genommen. Er hörte eine ruhige, tiefe Stimme etwas in einer fremden Sprache sagen. Eine hellere Stimme gab eine knappe Antwort. Als nächstes vernahm Lee sich entfernende Schritte.
    „Wie geht es dir?“, fragte die erste Stimme nun auf Myrtanisch.
    „Ich…“ Lee öffnete die Augen und blickte an eine Zeltdecke. „Gut… Aber wo bin ich?“
    „Meine Antwort würde dir nicht weiterhelfen. Nur ein Nomade könnte mit ihr etwas anfangen. Du bist am Leben und du bist in Sicherheit, das sollte das Wichtigste sein.“
    Lee wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein dunkelhäutiger Mann mittleren Alters saß in einer weiten, blauen Robe direkt neben ihm und lächelte ihn aus dem von vollem, schwarzem Haar umrahmten und von einer großen Hakennase gekrönten Gesicht gütig an.
    „Ihr… Ihr seid ein Wassermagier, nicht wahr?“, fragte Lee.
    Sein Gesprächpartner nickte. „Ja, ich bin ein Diener Adanos’. Vatras werde ich genannt, Vatras von der Sippe des Ataru.“
    „Und Ihr habt mich gefunden?“
    „Nein, die Sippen haben ihre Wanderungen beendet. Wir ziehen nicht mehr durch das Land. Es war der Löwe, der dich fand. Er kam zu uns ins Grüne Tal und berichtete uns von dir. Daraufhin brach ich mit einigen mutigen Kriegern auf, um dich zu retten.“
    „Der Löwe?“ Lee, der sich nun langsam erholte, setzte sich auf. „Ein Tier?“
    Vatras lachte. „Er ist kein Tier, zumindest nicht das, was du darunter verstehst. Aber ihm wurde die Gabe zuteil, die Gestalt eines solchen anzunehmen.“
    „Ihr sprecht von einem Druiden?“
    „So nennt ihr jene Menschen bei euch in Myrtana, die diese Fähigkeit besitzen, ja. Hier in Varant gibt es seit jeher nur einen einzigen Druiden. Der Löwe ist so alt wie das Volk der Nomaden. Er ist Teil dieses Volkes wie wir Wassermagier. Doch seine Aufgabe ist es nicht, unserem Volk beizustehen. Er ist der Wächter der Wüste. Er ist ein Einzelgänger und dort, wo er gebraucht wird. Und in diesen Tagen ist er einer der wenigen unseres Volkes, die das Grüne Tal noch verlassen.“
    Lee stutzte. „So alt wie Euer Volk? Wie ist das möglich?“
    „Oh, du musst wissen, ich sprach vom Löwen als solchem. Der Löwe ist ein Geist, der einem Druidenstein innewohnt. Der Träger des Steines wechselt. Heute ist es einer der Nomaden, morgen ein anderer. Und übermorgen, so Adanos will, wird vielleicht sogar ein Fremder den Stein empfangen. Der Löwe aber bleibt bestehen.“ Vatras erhob sich. „Ruh dich jetzt aus. Wir kamen in letzter Minute und dein Körper benötigt noch immer etwas Erholung.“
    Lee nickte nur. Bei den Worten des Magiers erwachte in ihm wieder das Gefühl der Erschöpfung und er nahm die Strapazen der letzten Tage wieder wahr, die erst so kurze Zeit hinter ihm lagen.
    Es verging keine Minute, da war er eingeschlafen. Sein Schlaf sollte tief sein und lange andauern. Und er sollte geprägt sein von angenehmen Träumen. Später vermutete er manchmal, dass Vatras’ Magie dafür verantwortlich gewesen war, doch er sollte den Wassermagier nie danach fragen.

    Einen Tage lang ließ Lee sich gesund pflegen. Er schlief lange und trank viel. Am Mittag verließ er erstmals das Zelt. Sie befanden sich in einer kleinen Oase, wie er feststellte. Außer Vatras und ihm selbst lebten noch fünf Männer in den langen, braunen Gewändern der Nomaden in den hier aufgestellten Zelten. Doch keiner von ihnen war der myrtanischen Sprache mächtig und wenngleich sie ihn gerettet hatten, schienen sie seltsam abweisend, ja sogar feindselig.

    Am Morgen des nächsten Tags saß Vatras im Schneidersitz neben Lees Lagerstätte, als dieser erwachte. Er schien zu meditieren. Doch kaum hatte Lee sich aufgerichtet, öffnete auch er die Augen.
    „Guten Morgen“, wünschte er.
    „Morgen“, sagte Lee leicht überrascht.
    „Und, wie geht es dir heute?“, fragte Vatras freundlich.
    „Gut soweit.“
    Vatras nickte. „Ja, ich denke auch, du solltest dich mittlerweile vollends erholt haben. Und damit wird es Zeit für uns, aufzubrechen. Hier draußen ist es für das Volk der Nomaden nicht sicher. Die Krieger, die dich retteten, begleiten mich aus freien Stücken, doch ich will sie nicht unnötigerweise zu lange in Gefahr bringen. Und du wirst auch nicht ewig hier in dieser kleinen Oase bleiben wollen.“
    Lee nickte. „Ich danke Euch für meine Rettung und dafür, dass Ihr Euch für einen Fremden wie mich in Gefahr begebt.“
    „Du brauchst dich nicht zu bedanken. Adanos lehrt uns die Achtung vor allem Leben. Wenn jemand in Gefahr ist, so werden wir ihm helfen, sofern es unserer Macht steht – gleich ob Freund oder Feind. Was nun dich angeht, so können wir dich zu einem eurer Heerlager geleiten, so du es wünschst.“
    „Danke, ich nehme gerne an. Aber eine Frage hätte ich noch.“
    „Frag.“
    „Habt Ihr noch andere Menschen hier draußen vor dem Tod gerettet?“
    „Du fragst nach jemand bestimmtem“, sagte Vatras ruhig. Es war eine Feststellung.
    „Ich suche eine Frau. Sie ist der Grund, weshalb ich allein in die Wüste geritten bin.“
    „Und dein Verhältnis zu ihr?“
    „Sie ist die Verlobte meines zukünftigen Königs.“
    „Aber es sind nicht das Pflichtgefühl oder die Treue zu deinem Herrscher, die dich antreiben. Sprich frei, mein Sohn, du hast nichts zu befürchten.“
    Lee zögerte einen Moment, dann antwortete er, „ich liebe sie.“
    Vatras nickte stumm. Er schwieg kurz, dann hob er den Kopf. „Wir fanden eine myrtanische Edeldame und einen Assassinen in den Dünen, umzingelt von Sandcrawlern. Beide sind nun im großen Tal.“
    Lee wollte aufspringen vor Freude und sich umgehend zu Seraphia führen lassen, doch dann verfinsterte sich sein Blick und er fragte erbost, „Ihr habt auch diesen Assassinen gerettet?“
    „Adanos lehrt uns die Liebe zu allem Leben. Im Übrigen mögen die Assassinen Jagd auf unser Volk machen, aber auch deine Landsleute haben schon viele der unsrigen getötet seit sie hier sind. Wenn überhaupt hätte es also nur Sinn gemacht, beide sterben zu lassen.“
    „Und stattdessen habt Ihr sie gefangengenommen?“
    „Das Grüne Tal ist ein heiliger Ort, kein Gefängnis. Sie sind unsere Gäste. Es mangelt ihnen an nichts und sie können uns jederzeit verlassen, so sie es wünschen.“
    „Dann bringt mich in dieses Tal.“
    Vatras schaute Lee in die Augen. „Deine Liebe scheint aufrichtig. Du liebst eine Frau, die einem anderen versprochen ist, aber du liebst sie und das zählt. Etwas Höheres, Größeres als die Liebe zu einem anderen Wesen kann es vor Adanos nicht geben und einzig ein Narr würde in ihr etwas schlechtes sehen.“ Er nickte. „Liebende soll man nicht trennen – ich kann dich ins Grüne Tal bringen, doch wisse, dass das Grüne Tal ein heiliger Ort des Friedens ist; zugleich Rückzugs- und Versammlungsort für unser Volk. In diesen Tagen, da kein Nomade in der Wüste sicher ist – weder vor Assassinen noch vor Myrtanern – haben fast alle Sippen dort ihr Lager aufgeschlagen. Dieser Ort steht unter dem Schutz Adanos’ und der Magier des Wassers. Wir werden dort keinerlei Blutvergießen dulden, noch zulassen, dass Fremde von ihm erfahren. Aus diesem Grunde müssen wir dir auch die Augen verbinden, wenn wir dich dorthin führen.“
    Lee nickte. „Wenn dies die Bedingung ist, werde ich sie akzeptieren.“
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:53 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Wiedersehen im Grünen Tal


    „Du kannst die Augenbinde jetzt abnehmen.“
    Lee folgte Vatras’ Worten und was er sah, raubte ihm für einen Moment den Atem. Das Tal war größer als er es vermutet hätte. Hohe, bräunliche Felsen schirmten es zu allen Seiten hin ab. Drei Wasserfälle stürzten die Berge hinab. Zwischen fruchtbaren Wiesen hindurch floss das Wasser in die Mitte des Tals, wo es sich zu einem kleinen See vereinigte. Doch die Idylle wurde durch Hunderte von Zelten getrübt, die sich dicht an dicht auf dem Boden des Tals drängten.
    Langsam ritten sie auf ihren Kamelen weiter in das Tal hinein. Die Nomaden, an denen sie vorbeikamen, starrten Lee unverhohlen an. Sie alle hatten das dunkle Haar und die einfachen braunen Gewänder gemeinsam. Bald schon wurde das Gedränge von Nomaden allen Alters und deren Vieh in den ohnehin schon schmalen Gassen zwischen den Zelten so dicht, dass sie absteigen und ihren Weg zu Fuß fortsetzen mussten.
    Die fünf Nomadenkrieger an ihrer Seite verabschiedeten sich mit einigen knappen Worten in ihrer Sprache von Vatras. Dieser führte Lee weiter durch das Tal bis an sein anderes Ende. Dort führte eine Treppe aus beinahe halbmeterhohen Stufen auf ein kleines Plateau. Vatras und Lee erklommen es über einen Hang am Rande der Stufen.
    Oben angelangt, erblickte Lee neben weiteren Zelten auch einen Tunnel, der in den Berg hineinführte. Er schien natürlichen Ursprungs zu sein. Schweigend traten sie ein. Sofort wurden sie von einer angenehmen Kühle in Empfang genommen. Wie Lee feststellte, schien es sich nicht um einen einzigen Tunnel, sondern um ein ganzes Höhlensystem aus unzähligen von verzweigten Gängen zu handeln.
    Vatras schien sich jedoch genau auszukennen und lief zielstrebig voraus.
    Nicht lange und sie erreichten eine kleine Höhle, deren Eingang von einem Vorhang verdeckt wurde. Der Wassermagier blieb stehen. „Meine Tochter.“
    „Meister Vatras?“, ertönte eine bekannte Stimme von der anderen Seite des Vorhangs.
    Noch ehe der Adanospriester antworten konnte, hatte Lee das Tuch schon zur Seite gerissen und war hereingestürmt.
    Seraphia stand inmitten der Höhle, gekleidet in einfache Gewänder wie sie alle Nomaden trugen und nur noch durch die hellen Farben ihrer Haare, Augen und Haut von diesen zu unterscheiden. Offenbar hatte sie ihren Gästen gerade entgegenkommen wollen. Nun jedoch verharrte sie überrascht einige Meter hinter dem Eingang. Und ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte Lee sie schon in die Arme geschlossen und drückte sie an sich als wolle er sie nie wieder loslassen.
    „Lee?“ Die junge Fürstentochter schien ihren Augen nicht zu trauen. „Was…? Was machst du denn hier?“
    „Als ich in Lago hörte, was geschehen ist, bin ich in die Wüste geritten, um dich zu retten.“
    „Und wie hast du mich gefunden? Die Wüste ist riesig.“
    Lee griff sich unter das Hemd und zog das goldene Amulett heraus.
    „Du hast…“ Seraphia starrte zunächst den Anhänger an, dann Lee selbst. Dann lächelte sie. „Ich bin damals gar nicht mehr dazu gekommen, dir zu erläutern, worum es sich eigentlich handelt.“
    „War nicht schwer zu erraten“ entgegnete Lee grinsend und schob es zurück unter sein Hemd.
    Jemand räusperte sich in Lees Rücken. Er und Seraphia richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Höhleneingang, wo ein zweiter Wassermagier erschienen war – vielleicht war auch Vatras kurzzeitig verschwunden und hatte ihn herbeigeholt.
    „Meister Quarius.“ Seraphia neigte leicht das Haupt.
    Der alte Wassermagier richtete seinen Blick auf Lee. „Du bist also unser neuer Gast.“
    „Oberst Lee von der myrtanischen Armee.“
    „Von jener Armee, die in unser Land einfiel?“, fragte der Magier scharf und blickte Lee durchdringend an.
    „Von eben jener.“
    Der Wassermagier nickte. „Die deinen haben schon viele der unsrigen getötet, seit sie die Wüste betreten haben. Sie brachten Leid und Tod.“
    „Wenn Ihr mich nicht in diesem Tal haben wollt…“
    „Du wirst bleiben, solange dir beliebt. Und solange du unter dem Schutz Quarius’, des obersten der ehrwürdigen Magier vom Kreis des Wassers, stehst, wird jeder deine Anwesenheit hier akzeptieren müssen. Ich will dich nur warnen: Erwarte nicht, dass jeder in diesem Tal dir mit Freundschaft begegnet oder deine Anwesenheit gutheißt. Wisse auch, hier in diesem Tal sind alle Menschen gleich. Ob du bei deinem Volke eine hohe Position bekleidest oder ein angesehener Mann bist, ist hier ohne Bedeutung. Du sollst nicht schlechter behandelt werden als ein Nomade, doch auch nicht besser. Diener darfst du hier keine erwarten. Selbst wir Magier, auch wenn dir dies aufgrund eurer Kultur fremd vorkommen mag, sorgen für uns selbst und lassen nicht unsere Kinder für uns arbeiten, wenngleich sie uns gewiss keinen Wunsch abschlügen.“
    Lee nickte. „Ich danke für Eure Gastfreundschaft.“
    „Danke Adanos, nicht seinem Diener“, sagte Quarius und wandte sich zum Gehen. Vatras folgte ihm, nachdem er Lee und Seraphia noch einmal lächelnd zugenickt hatte.
    Einen Moment schauten sie den beiden Magiern stumm nach, dann vernahm er ihre Stimme dicht neben seinem Ohr: „Soll ich dich etwas herumführen oder gefällt es dir in dieser muffigen Höhle?“
    Lee lächelte. „Zeig mir das Tal.“

    „Seraphia“, ergriff Lee das Wort, nachdem sie hinaus in das Tal getreten und eine Weile durch das hohe Gras gelaufen waren.
    „Hm?“ Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
    „Als wir uns das letzte Mal gesehen haben…“
    Sie senkte den Kopf. „Es tut mir leid. Ich hätte nicht so reagieren sollen wie ich es tat. Ich wollte dich nicht verletzen. Und ich gebe zu, ich habe mich gefürchtet, dich in Lago wiederzutreffen. Ich wusste nicht, ob ich dir in die Augen hätte sehen können.“
    „Kannst du es denn jetzt?“
    Sie hob den Blick. Dann lächelte sie. „Ja, jetzt kann ich es.“
    Lee ergriff ihre Hand. „Seraphia, ich…“
    „SERAPHIA!“
    Die beiden wandten die Köpfe. Lee hielt den Mann, der da auf sie zukam, ob der langen, dunklen Haare, der leicht dunklen Haut und des schlichten Gewandes zunächst für einen Nomaden. Doch der Akzent in seiner Stimme wollte nicht so recht zu einem solchen passen, ebenso wenig die zwei geschwungenen Klingen an seinem Gürtel.
    Inzwischen hatte der vermeintliche Nomade sie erreicht und auch Lee bemerkt. „Wer ist dein Begleiter?“, fragte er an Seraphia gewandt.
    „Mein Name ist Lee“, erklärte dieser. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
    „Ahmad ibn Assad.“
    Lees Verdacht bestätigte sich. „Du bist dieser verfluchte Assassine!“, rief er und wollte schon auf sein Gegenüber losgehen.
    „Lee, lass ihn!“, rief Seraphia und packte ihn am Arm.
    „Dieser Assassine hier hat dich entführt! Dank ihm wärst du fast gestorben!“
    „Das nennt man Krieg, Myrtaner. Sag mir, wie viele unschuldige Frauen sind durch dich bereits gestorben?“, sagte der Assassine ruhig.
    „Das ist nicht dasselbe.“
    „Sag das ihren Töchtern und Söhnen.“
    „Lee, jetzt lass ihn endlich in Ruhe!“
    „Wenn dir so viel an Seraphia liegt, solltest du ihren Wünschen vielleicht Folge leisten“, meinte Ahmad und wandte sich zum Gehen.
    „Recht hat er“, sagte Seraphia und funkelte Lee wütend an, während der Assassine ruhig davonging. „Was sollte das?“
    „Seraphia, dieser Assassine hat dich entführt!“
    „Und mir sein letztes Wasser gegeben, während er am Verdursten war – und sich fast von den Sandcrawlern in Stücke reißen lassen, als er mich vor diesen gerettet hat, anstatt sich einfach in Sicherheit zu bringen.“
    „Aber…“
    „Ich finde es ja schön, dass du mich verteidigen willst, aber das hier hat mit verteidigen nichts zu tun. Ich lebe und bin unversehrt, welchen Grund gibt es also, Ahmad anzugreifen? Und selbst wenn ich tot wäre, was würdest du dann durch seinen Tod gewinnen? Rache ist eine widerliche Sache, Lee, und ich will nicht gerächt werden.“
    Lee nickte. „Es tut mir leid, Seraphia.“
    „Schon gut. Ahmad wird es überleben. Komm, gehen wir weiter.“
    Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Lee hatte den Kopf gesenkt. Das eben Geschehene trübte die Freude des Wiedersehens. Warum hatte er nicht gleich auf Seraphia gehört, als sie ihn aufgefordert hatte, den Assassinen in Ruhe zu lassen? Gewiss, er war ein Feind, ein Assassine, er hatte viele Menschen getötet und Seraphia entführt, doch durfte er deshalb seinen Verstand abschalten und blind über ihn herfallen? Lee dachte an das, was Seraphia über das Wasser und die Sandcrawler gesagt hatte. Warum hatte er nicht sofort auf sie gehört? Immerhin musste sie es am besten wissen. Und wenn er ihr nicht vertraute, wem dann?
    Seraphias Hand schob sich in seine und drückte sie kurz. „Danke, dass du hier bist.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er erwiderte den Druck ihrer Hand.
    Geändert von Jünger des Xardas (12.12.2009 um 21:44 Uhr)

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    Unter anderen Umständen


    „Seraphia, doch nicht so!“, lachte Lee. Er nahm ihr das Tuch aus der Hand, das sie zu waschen versuchte, und tauchte es in das Wasser des Sees. „Du sollst damit nicht die Wasseroberfläche betupfen. Hier, ordentlich abschrubben. Oder hast du etwa Angst vor verschrumpelten Fingerkuppen?“
    Sie lachte. „Verschrumpelte Fingerkuppen sind bei Hofe beinahe so schlimm wie schwarze Ränder unter den Nägeln oder Schnitte auf den Handrücken.“
    „Aber wir sind nicht bei Hofe.“
    „Ich weiß, aber daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Seltsam, nicht, dass ich die Etikette nicht einfach ablegen kann, obwohl ich sie doch immer verabscheut habe? Aber ich gebe zu, ich hätte nicht gedacht, dass das Leben der einfachen Leute so… einfach ist.“
    „Wünschst du dich in den Palast zurück?“, fragte Lee grinsend.
    „Innos bewahre! Ich muss mich nur noch etwas umgewöhnen.“
    „Glaub mir, das geht schnell. Noch zwei Monate, dann hast du dir sämtliche Fingernägel abgebrochen, deine Frisur ist endgültig hinüber und du bist nicht mehr von einer Nomadin zu unterscheiden.“ Noch ehe er ausgeredet hatte, duckte Lee sich, um dem Wasser zu entgehen, das Seraphia auf ihn spritzte.
    „Sehr witzig. Meine Frisur ist übrigens jetzt schon im Eimer. Meine Amme wäre bei so einem Anblick sicherlich in Ohnmacht gefallen. Sag mir lieber, wie ich diesen Stoff jetzt trocken kriege.“
    „Wie schon.“ Lee nahm ihr das Tuch ab und wrang es kräftig aus. „Und für den Rest hängst du es einfach irgendwo an die Sonne.“
    Seraphia seufzte. „Manchmal beneide ich dich.“
    „Dafür, dass ich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten, zusammen mit den Fleischwanzen in einem Haufen Stroh schlafen und mich im Winter zwischen die Schweine legen musste, um nicht zu erfrieren?“
    „Ja, auch dafür. Lieber hart arbeiten, als sich auf Bällen zu Tode langweilen. Lieber als Kind nicht spielen können, weil einem die Zeit fehlt als weil es sich nicht geziemt. Lieber mit anderen gemeinsam schuften als alleine nichts tun.“
    „Ist dir mal der Gedanke gekommen, dass wir einfachen Leute das genau anders herum gesehen haben?“
    „Natürlich und das täte ich wohl auch. Dennoch… Ich wäre gerne mit dir auf dem Land aufgewachsen.“
    „Was wäre denn anders gewesen?“
    Sie schaute ihm in die Augen. „Ich hätte jemanden gehabt, mit dem man sich unterhalten kann und der nicht bei jedem Satz nur daran gedacht hätte, wie er seinen Einfluss damit vergrößern kann. Und ich wäre frei gewesen.“
    Lee lächelte. „Ja, das stelle ich mir schön vor – mit dir.“
    Schweigend blickten sie sich an, als einige schwatzende Nomadenfrauen daherkamen, um ihrerseits Kleider und Stoffe im Wasser des Sees zu waschen. Dies ließ auch Seraphia wieder an ihre Arbeit denken. Rasch verabschiedete sich und lief davon, um das Vieh der Nomaden zu melken, womit sie längst hätte anfangen sollen.
    Lee schaute ihr nach. Nach einer Weile erhob er sich und begann ziellos am Ufer entlangzulaufen, bis sein Blick auf eine Gestalt fiel, die ein Stück weiter einsam am Wasser saß.

    Ähm… ich würde gern mit dir sprechen, Assassine.“
    „Ich habe einen Namen“ – der Wüstensohn wandte Lee lächelnd seinen Kopf zu – „Myrtaner.“
    „Entschuldige.“ Lee setzte sich neben ihn. „Weißt du, ich habe noch nicht mit vielen von euch gesprochen.“
    „Du wolltest mit keinem sagen.“
    Lee nickte. „Wollte ich.“
    Ahmad lächelte. „Mir geht es mit deinem Volk ganz ähnlich – macht es einfacher, euch umzubringen.“
    „Tust du das etwa gerne?“
    „Wenn dem so wäre, müsste ich nicht die Bekanntschaft zu euch vermeiden. Haltet ihr uns Varantiner tatsächlich für skrupellose Monster, die nichts lieber tun als Beliar Jungfrauen zu opfern?“
    „So ähnlich wird es uns zumindest erzählt.“
    „Tja, da haben wir noch etwas gemeinsam. Dein Volk hat bei uns nämlich auch nicht den besten Ruf. Man ist sogar fast gewillt, die Geschichten zu glauben, nicht wahr? Dann lernt man einen der anderen persönlich kennen und merkt, dass sie ganz normale Menschen wie man selbst sind.“
    „Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Was ich eigentlich wollte… Entschuldige. Ich war wohl etwas voreilig.“
    Ahmad lächelte. „Ich bin verheiratet. Ich weiß, wie es ist, wenn die Frau, die man liebt, in Gefahr gerät.“
    „Bin ich so leicht zu durchschauen?“
    „Sagen wir, ich würde nicht so reagieren wie du gestern, wenn es beispielsweise um Kriegsherr Gellons Frau ginge.“
    Sie schwiegen eine Weile.
    „Es stimmt“, sagte Lee schließlich. „Die Geschichte von den Dämonen in Menschengestalt ist schwerer zu glauben, wenn man erst mit einem der Dämonen gesprochen hat, wenn man weiß, dass er eine Frau, vielleicht auch Kinder, hat.“
    „Ein Glück, dass ich es nicht so mit Beliar habe. Ich käme langsam ins Zweifeln“, entgegnete der Assassine mit schiefem Grinsen.
    „Wieso kämpfst du dann für Zuben?“
    „Wieso kämpfst du für Rhobar?“
    Lee blieb die Antwort ihm schuldig.
    „Eben“, sagte Ahmad gedankenverloren. Er ließ einen Stein über den See springen. „Ich frage mich, kämpfen wir wirklich darum, ob wir uns lieber vor einer Staue mit einer gehörnten Maske oder einer mit goldenem Helm verneigen?“
    „Daran glauben zumindest die Bauern, die auf den Schlachtfeldern sterben. Was diejenigen denken, die von den Hügeln aus zusehen, ist doch ohne Bedeutung, oder?“
    „Vermutlich.“
    Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann ergriff Lee das Wort: „Glaubst du, wir wären Freunde geworden – unter anderen Umständen?“
    „Wer vermag das zu sagen? Mein Sohn starb vor Bakaresh. Vielleicht wären er und sein Mörder auch Freunde geworden – unter anderen Umständen. Vielleicht wären sogar Rhobar und Zuben Freunde geworden, wären sie nicht die Erwählten ihrer Götter, sondern zwei dumme Kameltreiber. Dieser ganze Krieg ist doch eine einzige Farce.“
    Lee nickte. „Ich weiß, was du meinst. Eigentlich ist es lächerlich, wie Tausende dort gegeneinander ins Feld ziehen und einander die Väter, Söhne und Brüder rauben, ohne zu wissen, wofür sie eigentlich kämpfen. Es ist lächerlich, wie zwei junge Burschen, die ihr Leben noch vor sich haben und die unter anderen Umständen vielleicht die besten Freunde geworden wären, einander auf dem Schlachtfeld erbittert bekämpfen, wie sie einander abgrundtief hassen, ohne sich je zuvor getroffen, ohne irgendeinen Streit miteinander zu haben.“
    „Es wäre lächerlich, wenn einem das Lachen nicht im Halse stecken bliebe“, entgegnete Ahmad. Dann, nach einer Weile, fragte er, „was wirst du nun tun, da du dies hinter dir hast?“
    Lee schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich es hinter mir habe oder ob die größte Prüfung nicht noch vor mir liegt. Ich wollte mit Seraphia darüber sprechen. Von ihr hängt es ab, was ich tue. Was ist mit dir?“
    „Ich werde morgen aufbrechen. Die Wassermagier haben mir zugesichert, mich sicher nach Bakaresh zu geleiten.“
    „Du willst in die belagerte Stadt zurück und wieder in den Krieg ziehen?“
    „Bleibt mir eine Wahl? Mein Sohn ist tot, doch ich habe noch immer Weib und Tochter dort. Vermutlich halten sie mich bereits für tot, doch das macht meine Rückkehr nur umso dringender. Und selbst wenn dort niemand wäre… hier ist kein Platz für mich. Die Nomaden verachten mich. Ich spüre es. Sie akzeptieren den Willen der Wassermagier, doch insgeheim verachten sie mich. Und ich kann es ihnen nicht verdenken. Mein Volk jagt und versklavt sie. Es gibt kaum einen unter ihnen, der nicht einen Angehörigen als Sklaven an uns verloren hat.“
    Lee nickte. „Dann tu, was du tun musst. Ich wünsche dir Glück bei der Verteidigung deiner Familie. Und danke, dass du Seraphia das Leben gerettet hast. Das werde ich dir nicht vergessen.“
    Ahmad nickte. „Ich wünsche dir Glück mit ihr. Du scheinst viel für sie zu empfinden – und sie für dich. Und ich bete, dass wir uns auf dem Schlachtfeld nie begegnen werden.“
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:58 Uhr)

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    Schmerz


    „Seraphia?“ Lee trat in ihre Höhle. „Ich wollte mit dir sprechen.“
    „Und worüber?“ Sie erhob sich und trat einen Schritt auf ihn zu.
    „Über die Zukunft – unsere Zukunft.“ Er trat gänzlich in die Höhle. „Du sagtest, du hättest gerne ein einfaches Leben zusammen mit mir geführt. Jetzt haben wir die Möglichkeit dazu. Inzwischen hält man uns vermutlich schon für tot und selbst wenn nicht, würden sie uns niemals finden. Wir könnten hierbleiben, bei den Nomaden.“
    Seraphia senkte den Kopf. „Ich wusste, dass das kommen würde. Ich habe selbst eine zeitlang darüber nachgedacht. Es war eine schöne Vorstellung, aber es geht nicht, Lee. Wir müssen zurückgehen.“
    „Warum?“, fragte er tonlos. „Seraphia, wir haben die Chance, hier ein völlig neues Leben zu beginnen, alles hinter uns zu lassen…“
    „Die haben wir nicht. Wir gehören nicht hierher.“
    „Was soll das heißen, wir gehören nicht hierher?“
    „Es soll heißen, dass hier kein Platz für uns ist.“
    „In Myrtana gibt es auch keinen Platz für uns.“
    „Doch Lee, dort gibt es Platz für uns. Nicht für uns gemeinsam, aber für jeden von uns einzeln.“
    „Und wieso glaubst du, hier gäbe es keinen?“
    „Sei doch nicht blind, Lee!“ Seraphia seufzte und senkte den Kopf. „Vorhin war da ein Junge – vielleicht vier – er kam zufällig zu mir, als ich mit Waschen beschäftigt war. Ich habe mit ihm gespielt. Dann erschien seine Mutter und hat ihn mir förmlich aus den Armen gerissen. Sie hat mich beschimpft. Ich muss ihre Sprache nicht kennen, um zu wissen, dass sie mich mit den schrecklichsten Flüchen belegt hat. Lee, diese Menschen verachten uns. Ich nehme es ihnen nicht übel. Im Gegenteil, ich rechne es ihnen hoch an, dass sie uns noch nicht gesteinigt haben, aber das ändert nichts daran, dass sie uns hassen.“
    „Aber wir stehen unter dem Schutz der Wassermagier; uns passiert nichts.“
    „Glaubst du, darum geht es? Nein, sie werden uns kein Leid zufügen. Aber sie werden uns immer mit Hass und Abscheu begegnen. Wir können noch so lange unter ihnen leben, wir können ihre Sprache lernen – wir werden doch Fremde bleiben. Mehr als Fremde.“
    „Glaubst du nicht, dass sie sich an uns gewöhnen werden?“
    „Natürlich werden sie sich an uns gewöhnen. Aber ich will nicht geduldet werden und gleichzeitig nichts als Hass zu spüren bekommen. Gewöhnen und verzeihen sind zwei verschiedene Dinge. Und es gibt Wunden, die heilt nicht einmal die Zeit. Unsere Armee hat diesem Volk zuviel angetan, als dass sie uns eines Tages vergeben könnten.“
    „Und deshalb willst du wieder zurück in dein altes Leben?“, fragte Lee verständnislos.
    „Es ist die einzige Alternative. Und ich ziehe das mir vorherbestimmte, wenn auch nicht erfüllende Leben nach wie vor dem voller Schmerz vor.“
    „Aber wir wären zusammen.“
    „Es gibt Dinge, die lassen sich nicht einmal gemeinsam ertragen. Ich will keine Fremde an der Seite eines Fremden inmitten eines Volkes sein, das uns mit Verachtung straft. Nicht einmal, wenn du dieser Fremde bist, Lee.“
    „Aber ich will es. Das ist mir immer noch lieber als das Leben, das wir bisher geführt haben.“
    „Wenn du damit leben kannst, von allen um dich herum gehasst zu werden und zu wissen, dass du es verdient hast, dass du für das Leid derer verantwortlich bist, die dich nun hassen – ich kann es nicht.“
    „Wieso haben wir es verdient? Ich kann ihren Hass verstehen, Seraphia, aber uns trifft keine Schuld, ganz besonders dich nicht.“
    „Noch nicht, Lee, noch nicht. Wir beide sind mächtig. Ich bin die zukünftige Königin, du einer der ranghöchsten Offiziere. Wenn wir uns beide für dieses Volk einsetzen, wenn wir uns von ihnen retten und zu unseren Landsleuten zurückbringen lassen, dann können wir vielleicht erreichen, dass die Verfolgung endet und die Nomaden endlich wieder in Freiheit und Frieden leben können.“
    „Du willst dich also für sie opfern? Du willst unser Glück für diese Menschen aufgeben?“
    „Das ist das mindeste, was wir ihnen schulden.“
    „Verdammt, Seraphia, sei nicht so furchtbar selbstlos!“, fuhr Lee sie an. „Glaube nicht, dass mich das Leid dieser Menschen nicht kümmert, aber irgendwo muss auch für uns selbst Platz sein.“
    „Ich hab es dir doch erklärt“, sagte Seraphia verzweifelt. „Ich könnte so nicht leben. Selbst wenn sie uns nicht verachten würden, sondern uns akzeptierten als wären wir ebenso Angehörige ihres Volkes, sie – wir – würden weiterhin verfolgt, versklavt und getötet, und zwar von unseren Leuten. Und es wäre unser beider Schuld, weil wir die Macht haben, es zu verhindern. Könntest du mit diesen Menschen durch die Wüste ziehen und zusehen, wie sie wie Tiere gejagt und in den Städten als Sklaven verkauft werden? Könntest du den Frauen, die ihre Männer, Väter und Söhne an unsere Landsleute verloren haben, noch in die Augen sehen, mit dem Wissen, dass du diese Tode hättest verhindern können?“
    Lee senkte den Kopf. „Nein, das könnte ich nicht. Aber was ist mit uns, Seraphia?“
    Sie schloss für einen Moment die Augen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie und hob die Lider wieder. „Für uns scheint es keinen Platz auf dieser Welt zu geben. Ich dachte, ich könnte einfach weiterleben und dich vergessen, aber das funktioniert nicht. Es ist wie ein Fluch der Götter, der uns aneinanderkettet und uns doch verwehrt, zusammenzusein. Und doch würde ich diese Gefühle nicht einmal aufgeben wollen, wenn ich es könnte, trotz all dem Schmerz, den sie mir bereiten.“ Sie seufzte. „Ich weiß es wirklich nicht, Lee.“
    Er nickte nur. „Du hast ja Recht. Du hast Recht und ich war ein Narr. Hier ist kein Platz für uns, dort auch nicht.“ Er seufzte. „Wir sollten uns beeilen, bald zurückzukehren. Sagen wir den Wassermagiern gleich morgen Bescheid. Sollen sie uns nach Lago bringen. Wir werden uns für ihr Volk einsetzen und dann… dann machen wir irgendwie weiter.“ Er starrte sie noch einen Moment stumm an, dann wandte er sich um. „Gute Nacht, Seraphia.“
    „Lee?“
    Die Hand schon an dem Schleier, der die Höhle abschirmte, hielt er inne und drehte sich noch einmal um. „Ja?“
    „Bleib hier.“ Ihre Stimme zitterte leicht. Langsam kam sie auf ihn zu. „Ich will, dass du hier bleibst. Ich will, dass du die Nacht hier verbringst – mit mir.“
    Lee spürte feuchte Lippen auf seinen. „Was willst du Rhobar in der Hochzeitsnacht sagen?“
    „Dass es mich stark wundern würde, wäre ich die erste, die mit ihm das Lager teilt – oder gar die letzte.“ Sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
    „Seraphia…“
    „Sag nichts Lee“, bat sie leise. „Sag jetzt nichts.“

    Gleich am nächsten Tag brachen sie auf. Vatras und einige Nomaden würden sie nach Lago führen. Eine weite und beschwerliche Reise, vorbei an den Ruinenfeldern von Braga wo ihres Wissens nach noch immer der Kampf zwischen den Truppen Rigaldos und Lukkors tobte. Doch die Nomaden waren in der Wüste zuhause. Jede einzelne Oase, ja jede Düne schienen sie genauestens zu kennen. Und so dauerte es nur wenige Tage, bis sie das Dorf an der Küste des Myrtat erreichten.
    Dieses hatte sich von einem Schlachtfeld in eine Baustelle verwandelt. Die gröbsten Spuren des Kampfes waren verschwunden und man hatte begonnen, die Lagerhäuser wieder aufzubauen. Das Heerlager vor dem Dorf war dagegen geschrumpft. Ein Großteil der Truppen schien abgezogen zu sein. Lee vermutete, dass man sie nach Bakaresh geschickt hatte.
    Die Wachen am Schiff trauten ihren Augen nicht, als sich Seraphia von Kavaros und Oberst Lee gefolgt von einigen Nomaden und auf Kamelen reitend näherten. Die beiden hielten sich jedoch nicht lange mit Erklärungen auf. Schließlich führte ein Paladin sie gemeinsam zur Kapitänskajüte des Schiffes, während Vatras und die Nomaden in Lago zurückblieben.
    Schon als sie durch den schmalen Gang auf die Kajüte zugingen, hörten sie Stimmen aus ihrem Inneren dringen. Ihr Führer klopfte an die mit Schnitzereien verzierte Tür. Augenblicklich verstummten die Stimmen. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet und ein bekanntes Gesicht zeigte sich ihnen.
    „Habe ich nicht gesagt, dass ich keine Störungen…?“ Dominiques Blick fiel auf Seraphia, dann auf Lee. „Ihr seid am Leben“, stellte er fest. Dann riss er die Tür gänzlich auf und bat die beiden mit einer Handbewegung herein, bevor er sie wortlos vor der Nase des Paladins zuschlug.
    Lee erkannte sofort, mit wem Dominique gesprochen hatte. Ein alter, grauhaariger Hochmagier stand inmitten des Raumes, die Hände in den Ärmeln seiner Kutte. Offenbar nicht weiter über das Auftauchen der Todgeglaubten überrascht, nickte er den beiden nur kurz zu. Lee kannte diesen Magier irgendwoher, konnte das Gesicht in diesem Moment jedoch keinem Namen zuordnen.
    „Wir hielten Euch für tot“, erklärte Dominique nun. „Und wir hatten alle Mühe, Eure Entführung und Euren törichten Rettungsversuch vor den Soldaten zu verschleiern.“
    „Glaubt Ihr, das hättet Ihr ewig gekonnt?“, fragte Seraphia.
    „Nicht ewig, aber lange genug. Nun, wie dem auch sei, die Tatsache, dass Ihr noch am Leben seid, macht vieles einfacher.“
    „Gewiss“, sagte der Magier belustigt. „Nun müsst Ihr Euch keine Sorgen mehr machen, Herzog Berengar könnte eine Verschwörung in der Tatsache wittern, dass seine Tochter noch vor der Eheschließung entführt wird.“
    Dominique überging den Kommentar und sagte stattdessen an Lee gewandt, „meinen Glückwunsch. Als Ihr Lago derart übereilt verließt, hielt ich Euch für nichts weiter als einen Narren, doch wie es scheint, hattet Ihr tatsächlich Erfolg.“
    „Es tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, Lord Dominique, aber wir beide verdanken unser Leben den Nomaden. Sie fanden uns, retteten uns vor dem Verdursten und führten uns zurück nach Lago.“
    „Die Nomaden, ja?“ Dominique fuhr sich durch den Bart. „Interessant. Man sollte meinen, sie stünden uns etwas feindseliger entgegen.“
    „Ihr solltet mehr Vertrauen in die Verbundenheit der Wassermagier mit den Lehren Adanos’ setzen, Dominique“, schlug der Magier vor. „Es gibt noch jene auf der Welt, für die das Leben ein höheres Gut ist als die Macht.“
    „Lord, den Nomaden verdanken wir unsere Rettung“, begann nun Seraphia. „Ohne sie wären wir beide tot. Diese Menschen sind nicht unsere Feinde und wir sollten aufhören, sie wie die solchen zu jagen und zu bekämpfen.“
    „Überlasst dies mir, Fürstentochter“, erwiderte der Paladin. „Die Nomaden sind nicht bereit, sich ihrem neuen Herrn zu fügen, also werden wir ihnen Gehorsam beibringen müssen.“
    „Damit werdet Ihr keinen Erfolg haben“, sagte der Magier. „Die Nomaden haben sich von Zuben nicht unterwerfen lassen, sie werden auch Euch nicht gehorchen. Nicht einmal dem Alten Volk ist es je gelungen, sie zu bändigen. Die Nomaden sind Verfolgung gewohnt und sie werden ihre Freiheit um nichts in der Welt aufgeben. Und Ihr habt nichts, womit Ihr sie unterjochen könntet. Gegen die Assassinen könnt Ihr einen Krieg führen, doch der gegen die Nomaden ist bereits verloren, bevor er begonnen hat. Zu gut kennen sie die Wüste.“
    „Lord Dominique“, sagte Seraphia, nun in schärferem Ton. „Die Nomaden haben uns gerettet. Ich erlaube nicht, dass ihnen Leid zugefügt wird. Und wenn Ihr endlich aufhören würdet, sie zu bekämpfen, würden auch sie uns nicht mehr angreifen. Ihnen ist nichts an einem Krieg gelegen und sie interessiert nicht, wer über die Städte der Wüste herrscht. Alles, was dieses Volk will, ist seine Freiheit.“
    „Dann sollen sie diese auch bezahlen.“
    „Ich werde für die Freiheit der Nomaden kämpfen. Ich werde für sie sprechen – beim König, wenn es sein muss.“
    Dominique blickte Seraphia ins Gesicht. Seine kalten, grauen Augen trafen ihre warmen, blauen. Sie hielt seinem Blick stand.
    „Der König“, sagte Dominique langsam, „ist tot. Myrtana hat keinen König mehr.“
    Der Feuermagier schnaubte. „Myrtana hatte schon lange keinen König mehr“, sagte er. „Myrtana wurde regiert von seiner Exzellenz Dominique I.“
    „Der König ist tot?“, fragte Lee fassungslos. „Wissen die Soldaten davon?“
    „Nein, und sie werden es auch nicht erfahren. Schon jetzt gibt es genug Gerüchte. Der König wird nicht in einem heruntergekommenen Feldlazarett fernab der Heimat an einer Wunde sterben, die ihm ein Feind bei einem hinterhältigen Angriff zufügte. Der König wird im Winter an seinem Alter und den Strapazen des Krieges sterben. Doch zuvor wird er den Menschen noch seine Macht und Größe beweisen, wird ein letztes Mal zeigen, dass er der Erwählte Innos’ ist. Dann kann er in Frieden sterben und niemand wird mehr an ihm zweifeln. Und dann kann Barthos von Laran die wiedergekehrte Fürstentochter von Kavaros mit des Königs Sohn und Erben vermählen und beide krönen.“
    „Barthos wird niemanden mehr vermählen oder krönen“, sagte der Magier ruhig. „Dies ist der Grund meines Kommens, Dominique: Barthos von Laran ist vor zwei Wochen in Vengard verstorben. Für Euch gewiss eine frohe Kunde.“
    „Ich weiß nicht, wie Ihr zu der Annahme kommt, der Tod des Erzmagiers, noch dazu in derart schweren Zeiten, wäre frohe Kunde für mein Ohr, Meister Xardas.“
    „Bitte, Dominique“, sagte der Magier namens Xardas müde. „Lasst die Spielchen. Wir sind unter uns. Hier ist Eure Propaganda nicht vonnöten. Hier ist niemand, der so töricht wäre, Euch Eure Lügen abzukaufen und niemand, den Ihr belügen müsstet.“ Kurz blickte er dem Großmeister stumm ins Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. „Meine Botschaft ist überbracht. Wenn es Euch also nichts ausmacht, kehre ich nach Vengard zurück. Man bedarf meiner nun dort und ich möchte meinem Freund die letzte Ehre erweisen. Was ich hier vorfinde, widert mich an. Dieser Krieg ist etwas für Euch, Lord, Euch steht die Rolle, die es hier zu spielen gibt.“ Er wandte sich der Tür zu, wo Lee und Seraphia standen. Xardas senkte leicht das Haupt und nickte den beiden zu. „Fürstentochter. Ich bin erfreut, Euch lebendig wiederzusehen. Euch ebenso, Oberst. Und verzweifelt nicht. Wo immer ein Schatten auf das Leben fällt, muss es irgendwo auch ein Licht geben, nach dem zu suchen sich lohnt.“ Und mit diesen Worten rauschte er durch die Tür davon.
    „Eure Rückkehr trifft sich gut“, begann Dominique an Lee gewandt, ohne Xardas weiter zu beachten. „Da General Klauffenburg bei dem Angriff auf Lago ums Leben kam, habe ich beschlossen, Euch zum Oberbefehlshaber des königlich-myrtanischen Heeres zu ernennen.“
    „Mich, aber… ich bin nicht einmal Marschall. Was ist mit Rigaldo?“
    „Marschall Rigaldo ist nicht hier. Er hat sich mit seinen Truppen bei Braga von Lukkor einschließen lassen.“
    „Aber trotzdem. Ich entstamme keinem Adelsgeschlecht.“
    „Es ist der Wille des Königs, dass Ihr seine Armeen führt.“
    Lee runzelte die Stirn. „Des toten Königs?“
    „Ihr habt keine Ambitionen“, erklärte Seraphia. „Rigaldo schon.“
    Dominique überging auch diesen Kommentar. „Ich verlasse mich auf Eure Loyalität, General.“ Dann wandte er sich an Seraphia. „Wenn Ihr uns nun bitte entschuldigen wollt, Fürstentochter“, sagte der Paladin. „Ich habe mit dem General noch etwas zu besprechen. Wir müssen diesen Krieg nun zu einem Ende bringen. Die Diener werden sich Eurer annehmen. Und seid beruhigt. Ich werde mich noch mit den Nomaden befassen.“
    Seraphia nickte nur und ging mit einem letzten, flüchtigen Blick in Lees Augen davon.
    Geändert von Jünger des Xardas (06.10.2010 um 18:55 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Der steinerne Wächter


    „Bogenschützen, nehmt das Tor unter Beschuss!“, donnerte Lee.
    Sofort flog eine Salve von Pfeilen auf das Stadttor Bakareshs zu und warf die ersten Männer des Ausfallkommandos in den Staub.
    „Ewald!“, rief Lee dem Hauptmann vom Rücken seines Pferdes aus zu. „Stoßt in ihre linke Flanke!“
    Der jungen Bauernsohn folgte dem Befehl und führte seine Krieger gegen die ausfallenden Assassinen. Sofort wurden die ersten von ihnen von den Bolzen der auf der Stadtmauer postierten Armbrustschützen durchbohrt.
    „Hagen!“, schrie Lee nun dem jungen Paladin entgegen. „Nehmt die Reiter und treibt sie zurück!“
    Der General beobachtete, wie der Vetter des Kronprinzen die übrigen Ritter um sich sammelte und sie gemeinsam auf die Assassinen zustürmten. Lanzen splitterten und Pferde wieherten, als sie von den Klingen durchbohrt wurden.
    Alles in allem lief es gut für die myrtanische Armee. Gellon würde mit diesem Ausfall keinen Erfolg haben. Nachdem sie unter Lees Führung erst Braga endgültig Lukkors Händen entrissen hatten – womit ein Großteil der in Nordvarant stationierten Truppen nach Bakaresh hatte abgezogen werden können –, und schließlich auch die Inseln vor der großen Tempelstadt eingenommen hatten, war Gellons Position weiter geschwächt worden und seine Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit.
    Allein die Söldner von den Südlichen Inseln machten ihnen im Moment Probleme. Wie im Blutrausch wüteten sie mit ihren Krummsäbeln unter den myrtanischen Soldaten.
    „Wiglaf.“ Lee beugte sich leicht zu dem Nordmarer neben seinem Pferd herab. „Nehmt Euch Eure Männer und greift diese Söldner von der Seite an.“
    Wiglaf nickte nur. Er blies in sein mächtiges Horn und stürmte dann, die Axt schwingend, voran.
    Lee zerrte an den Zügeln seines Pferdes, das leicht unruhig wurde. Das Tier tänzelte ein wenig auf der Stelle, während sein Reiter den Verlauf des Kampfes beobachtete. Ja, es lief gut. Die rechte Flanke der Ausfallenden hatten sie vollständig aufgerieben. Einen Turm hatten die Katapulte in Schutt und Asche gelegt. Die Schützen waren vom angrenzenden Mauerabschnitt geflohen.
    Plötzlich ertönten laute Rufe und entsetzte Schreie. Der General drehte den Kopf. Erst konnte er ihren Ursprung nicht ausmachen, dann sah er einige Soldaten entsetzt auf das Tor der Stadt deuten. Und was Lee dort sah, ließ auch ihm das Blut in den Adern gefrieren.
    Eine Gestalt, groß wie zwei Männer und so breit, dass sie das halbe Tor ausfüllte, kam mit langsamen Schritten aus der Stadt. Sie schien geformt aus dem brauen Fels des angrenzenden Gebirges. Runen und verschlungene Symbole zierten den mächtigen Körper und im kleinen Kopf glühten zwei bläuliche Augen.
    Schon hatte der Golem die Kämpfenden erreicht. Wie ein umstürzender Baum sauste sein Arm herab und zermalmte zwei Soldaten zugleich.
    Ein Ritter gab seinem Pferd die Sporen und stürmte mit gesenkter Lanze auf das Ungeheuer zu. Dieses jedoch brachte Tier und Reiter mit einem einzigen Schlag seiner Hand zu Fall.
    „Bogenschützen, zielt auf die Augen!“, schrie Lee, wohl wissend, dass Pfeile dem steinernen Körper der Kreatur nichts anhaben würden. Er glaubte nicht, dass die Augen des Wesens leichter zu verwunden waren, doch er musste es auf diesen Versuch ankommen lassen.
    Dieser schlug wie erwartet fehl. Der Pfeilhagel prallte von dem steinernen Golem ab, ohne den geringsten Schaden anzurichten und die Kreatur schien ihn nicht einmal wahrzunehmen.
    Die ersten Soldaten wandten sich angesichts des Monstrums zur Flucht. Einige andere stürmten todesmutig auf ihn zu. Lee erkannte Ewald, der sich von hinten auf die Kreatur stürzte. Seine Klinge zerbrach an dem steinernen Rücken als wäre sie aus Holz. Nur knapp verfehlte die Pranke des Golems den jungen Soldaten. Stattdessen wurde er von einem seiner Mitstreiter getroffen, den der Schlag des Golems in die Luft gehoben hatte, und fiel zu Boden. Lee sah, wie das Ungetüm Ewald packte, auf die Höhe seines Kopfes hob und dann von sich schleuderte. Sand wurde aufgewirbelt, als der junge Hauptmann auf dem Boden aufschlug. Dann blieb er liegen und rührte sich nicht mehr.
    Für einen Moment schloss Lee die Augen, dann öffnete er den Mund, um den Rückzug zu befehlen. Dieser Kampf war verloren. Gegen ein solches Ungetüm kamen sie nicht an.
    Da drangen plötzlich neue Rufe an sein Ohr. Und diesmal war es Hoffnung, die in den Stimmen mitschwang, nicht entsetzen.
    „Der König! Der König ist gekommen!“
    „Der König ist da! Der heilige Rhobar!“
    „Der Bestientöter!“
    Die hinteren Reihen der Soldaten lichteten sich und eine Gestalt kam auf einem weißen Hengst aufs Schlachtfeld geritten. Am Leib trug sie eine in der Abendsonne rötlich schimmernde Rüstung, auf deren Brust der goldene Schattenläufer, das Wappen der Rhobaren, prangte. Auf dem schweren Helm, dessen Visier heruntergeklappt war, saß ein goldener Reif. Dazu trug die Gestalt einen schweren Schild in der einen und das sagenumwobene Flammenschwert in der anderen Hand.
    Ehrfürchtig richteten alle auf dem Schlachtfeld ihren Blick auf den mächtigen Reiter. Der Kampfeslärm erstarb langsam. Sogar die Assassinen, die Südländer und die Nordmarer vergaßen für einen Moment das Kämpfen und schauten auf den gewaltigen Krieger.
    Dann begann das Hauen und Stechen wieder. Der Mann in des Königs Rüstung gab seinem Pferd die Sporen. Wie in Zeitlupe sah Lee ihn auf den Golem zureiten. Die goldenen Ringe an seinen Fingern blinkten, sein Schild leuchtete jetzt wie Innos’ Antlitz selbst und warf das Licht der Sonne auf den Golem. Langsam hob er die Klinge mit der der heilige Rhobar die Bestie erschlagen hatte. Flammen züngelten an der Schneide empor.
    Dann traf der erste Hieb den steinernen Wächter von Bakaresh, wie er später in den Legenden heißen sollte. Noch ehe dieser seine Faust gehoben hatte, war der Krieger mit dem Schattenläufer auf der Brust außer Reichweite. Sein Schwert fällte einen der dunkelhäutigen Söldner aus den Sümpfen Kitais, ehe er das Pferd wendete und wieder auf den Golem zustürmte. Ein weiterer Hieb traf den braunen Fels, doch dieser wollte auch jetzt nicht nachgeben. Ein drittes Mal galoppierte das Pferd auf das Ungetüm zu. Dieses Mal sauste der Arm des Golems blitzschnell herab.
    Das Pferd stieß ein stumpfes Wiehern aus, als es zusammenbrach.
    Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Soldaten.
    „Der König ist gefallen!“, rief jemand.
    Doch da erhob sich die Gestalt in der glänzenden Rüstung schon wieder und ließ das Flammenschwert auf das Bein des Golems niedersausen. Knapp entging sie darauf dessen nächstem Hieb. Vor dem darauffolgenden konnte sie jedoch nicht mehr ausweichen. Der Mann in der mächtigen Rüstung riss den Schild in die Luft. Die Faust des Golems schlug ihm diesen aus der Hand. Nur knapp entging der Krieger selbst dem wuchtigen Hieb. Wieder sauste das Flammenschwert durch die Luft. Klirrend traf es das Bein der steinernen Kreatur, doch ohne einen sichtbaren Schaden zu hinterlassen.
    Blitzschnell fuhr die Faust des Golems nach vorn und riss dem Widersacher das Schwert geradezu aus der Hand. Nun stand er dem Ungetüm mit seinen bloßen Händen gegenüber.
    Langsam kam der Golem auf den Gegner zugestampft und hob dabei die Faust in die Höhe.
    Da riss der Krieger mit dem goldenen Schattenläufer auf der Brust mit einem Mal einen mächtigen Hammer aus seinem Gürtel. Mit beiden Händen packte er den langen hölzernen Stil und warf sich nach vorne.

    Später hieß es in den Erzählungen immer, König Rhobar der Heilige hätte sich mit Innos’ Namen auf den Lippen auf den steinernen Wächter gestürzt. Tatsächlich jedoch war kein Laut unter dem Visier des Helms hervorgedrungen. Was darauf geschah, sollte jedoch genauso in den Geschichten erzählt werden: Mit einem einzigen Hieb fällte der heilige Rhobar den steinernen Wächter. Und tatsächlich traf der Heilige Hammer, wie er von da an heißen sollte, die Brust des Golems nur ein einziges Mal. Ein einziges Mal sollte genügen, um tiefe Risse in den Körper des Golems zu schlagen und ihn zerbrechen zu lassen.
    Die Assassinen waren daraufhin in die Stadt zurück geflohen. Jene, welche zu langsam waren, waren von den Bogenschützen Myrtanas niedergeschossen worden.
    Der König aber, war so schnell verschwunden wie er gekommen war.

    Lees Blick schweifte über das Schlachtfeld, während das Tor von Bakaresh sich hinter den letzten der Assassinen schloss und neue Bogenschützen die Wälle um den zerstörten Turm erklommen.
    Der Ausfall war für beide Seiten verlustreich gewesen. Von Lanzen durchbohrte Assassinen, mit Pfeilen gespickte Pferde, von Dolchen aus dem Sattel gestochene Paladine und von vergifteten Klingen niedergestreckte Landsknechte lagen im heißen Sand. Und in der Mitte des Schlachtfeldes fanden sich die großen, braunen Trümmer des Golems und daneben der verbeulte Königsschild – die letzten Zeugen des Kampfes, der bald zum Mythos werden sollte.
    Lee blickte über die Köpfe der Männer hinweg, die an ihm vorbeiliefen.
    „Hey!“ Er packte einen Nordmarer mit blutüberströmter Stirn an der Schulter. „Wo ist dein Anführer? Wo ist Wiglaf?“
    Der Nordmarer deutete kraftlos auf das Schlachtfeld. Lee richtete seinen Blick auf die Stelle, auf die der Finger des Kriegers wies. Unweit der Stadtmauer erkannte er dort eine Gestalt, die sich durch den gehörnten Helm von den umliegenden Assassinen abhob.
    Für einen Moment glaubte er, gleich vornüber von seinem Pferd fallen zu müssen. Nun also auch noch Wiglaf. Doch dann sah er plötzlich wie die Gestalt mit dem gehörnten Helm leicht zuckte. „Er lebt noch!“, rief Lee freudig. „Männer, los! Holt die Verwundeten vom Schlachtfeld!“
    Schon wollte er losgaloppieren, doch da packte jemand die Zügel seines Pferdes und hielt es zurück. „Wenn Ihr losreitet, gelangt Ihr nur in die Reichweite Ihrer Schützen, General“, sagte der junge Hagen, der weitestgehend unversehrt schien. „Ihr wollt Euer Leben doch nicht für ein paar Bauern und einen Barbaren riskieren.“
    Lee blickte dem Paladin ins Gesicht. Dies also war der Vetter des Mannes, der Seraphia heiraten und den Thron besteigen sollte. Dies also würde eines fernen Tages Dominiques Nachfolger als Großmeister des Paladinordens werden. Sein Blick hob sich; er fixierte Wiglaf. „Doch“, sagte er leise, aber mit fester Stimme, dann gab er seinem Pferd die Sporen.
    Einem vorbeilaufenden Soldaten riss er den Speer aus der Hand. Dann beugte er sich zu dem toten Pferd eines Paladins herab und riss ein Stück Stoff aus dem weißen Rossmantel, dass er um die Spitze der Speers band.
    Noch ehe Hagen oder die anderen Paladine und Soldaten wirklich registriert hatten, was er da tat, hatte er seinem Pferd schon wieder die Sporen gegeben und war, das weiße Stück Stoff schwenkend, auf die Mauer zugeritten.
    Lee dachte in diesem Moment nicht darüber nach, ob das, was er hier tat, klug war, oder was passieren würde, würden die Schützen auf den Mauern einfach das Feuer eröffnen. Es war ihm nicht einmal gleichgültig, er dachte schlicht nicht daran. Er dachte an nichts. Alles, was er tat, war auf das Stadttor von Bakaresh zuzureiten.
    Ein Mann in einem prunkvollen schwarzen Gewand und mit einem purpurnen Umhang über den Schultern stand auf dem Tor. Das bereits ergraute Haar fiel ihm um das frühzeitig gealterte und von tiefen Falten durchfurchte Gesicht und unter seinen Augen lagen tiefe Ringe.
    Lee sah, wie der Mann die Hand hob und den Schützen, die die Bögen schon gespannt hatten, damit Einhalt gebot. Dann beugte er sich über die Zinnen und rief, „BIST DU DEINES LEBENS MÜDE, REITER, DASS DU DICH ALLEIN DIESEN MAUERN NÄHERST?“ Der Mann konnte die Müdigkeit in seiner Stimme nicht verbergen.
    „ICH BIN LEE, GENERAL DER KÖNIGLICH-MYRTANISCHEN ARMEE!“, schrie Lee zurück. „SEID IHR DER KOMMANDANT DIESES MAUERABSCHNITTS?“
    Der Mann auf der Mauer zögerte kurz, dann nickte er.
    „DANN ERBITTE ICH VON EUCH EINEN ZWEISTÜNDIGEN WAFFENSTILLSTAND, DAMIT WIR UNSERE TOTEN UND VERWUNDETEN VOM SCHLACHTFELD HOLEN KÖNNEN!“
    Wieder nickte der Mann auf der Mauer. „IHR SOLLT DIE ZWEI STUNDEN HABEN.“ Kurz zögerte er, dann rief er, „NEIN, WARTET – IHR HABT DREI STUNDEN.“
    Nun war es Lee, der nickte. Dann stieß er dem Pferd die Stiefel in die Seite.

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