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[Story]Der Hase
Der Hase
Lieber Martin,
verzeih mir bitte meine Verspätung! Ich liege derzeit im Hospital des St. Akashastifts in Trensfjord, einem kleinen Dörflein nördlich von Faring. Die örtlichen Fratres kümmern sich aufopferungsvoll um mich, sie meinen, ich litte an Ripperseuche, einer im Norden recht weit verbreiteten Krankheit. Es ist aber nicht so schlimm, ich werde sicherlich bald wieder bei Dir sein.
In Liebe,
Deine Anselma
“Es ist aber nicht so schlimm…” Nicht so schlimm? Wirklich nicht? Die Worte auf dem Fetzen Papier, das ich kurz zuvor einem Briefumschlag entnommen hatte, schienen mich zu verhöhnen: “…nicht so schlimm…” Ripperseuche? Ich wusste nicht mal, was das ist. Ich wusste nur: Es war etwas schief gelaufen. Wieder einmal. Wieder einmal musste ich auf sie warten, länger als geplant. Meine Anselma! Was tat sie nur immer wieder? Warum nur musste sie so viel herumreisen? Studienreisen, natürlich. Diplomatische Aufträge und Gesandtschaften. Zuweilen auch Hilfsprogramme, vor allem in den hohen Norden, der noch immer durch den Orkkrieg gezeichnet ist. So ist sie eben, meine Anselma: Aufopferungsvoll, engagiert, wichtig. “Anselma d’Ardea” pflegen sie sie zu nennen; klangvoll, oder? Anselma, die Wassermagierin, Gelehrte, Geografin und Heilerin. Für mich, freilich, ist sie einfach nur Anselma. Was kümmern mich schon ihre akademischen Erfolge, ihr hohes Ansehen bei Hofe, und ihre Beliebtheit beim Volke? Nichts! Nicht, dass ich mir ihrer Stärken nicht bewusst wäre, diese nicht durchaus achtete. Sie kümmern mich nur einfach nicht besonders, nicht so, wie alle anderen. Ich kann sie auch ohne all das lieben. Die anderen verehren Anselma wegen dem, was sie getan hat, und immer noch tut. Ich hingegen liebe sie einfach so, wegen dem, was sie ist. Oder sagen wir vielmehr, wegen dem, wer sie ist: Anselma, meine Frau.
Ich habe schon oft versucht, sie zu bremsen, und ihr die ein oder andere Reise auszureden. Aber vergebens. Anselma leidet unter einer furchtbaren Rastlosigkeit, die sie immer wieder hinaustreibt. Nicht, dass sie mich nicht ab und an mitgenommen hätte, wenn sich dies einrichten ließ. Im Gegenteil, sie ist stets darauf bedacht, die Zeiten unseres Getrenntseins so kurz wie möglich zu halten. Manchmal aber, da muss sie einfach alleine los. Sei es, weil sie in offizieller Funktion niemanden aus privaten Gründen mitnehmen darf, sei es, weil die Reise zu gefährlich ist. So, wie dieses Mal, da sie wieder einmal einen der Krisenherde aufsuchen musste. “Ich will nicht, dass Du mitkommst, Du könntest mir da sowieso nicht helfen. Bleib hier und pass auf das Haus auf!” Das Haus, unser schönes, großes Haus, inmitten Vengards, gleich am Esmeraldaplatz. Was sollte ich das Haus großartig beschützen? Es ist ja niemand da, der es mit Leben füllt. Für wen also auf es aufpassen? Aber ich habe sie natürlich ziehen lassen. Und nun liegt sie irgendwo in den eisigen Gefilden Nordmars danieder, durch irgendeine Krankheit geplagt.
Sorge erfasste mich. Eine furchtbare Beklemmung, die mir auf's Herz drückte, die Brust eng werden ließ.
Eigentlich war ich ja immer schon um sie besorgt. So vital sie erscheinen mag, in Wirklichkeit ist sie viel zerbrechlicher, als irgendwer meinen möchte. Nur bekommt das natürlich niemand mit. Niemand außer mir, versteht sich, der ich ja ihr Mann bin.
Ich betrachtete weiterhin das Stück Papier, den Brief, den sie mir geschrieben hatte, während meine Füße mich wie von selbst durch das Studierzimmer zu führen schienen. Ich umrundete den dunkel gemaserten Schreibtisch, und hielt auf eine Stelle der Bücherwand zu. “Griebmann Enzyklopädie”, stand auf den Rücken der dortigen Bücher. Es handelte sich um die myrtanische Fassung der großen Enzyklopädie der Biblurgoblins, die seit dem Wissensaustausch zwischen Myrtana und Biblur nunmehr dreißig Bände umfasst. Der Band “RENTH-SANTH” war schnell gefunden, und eben so der Eintrag “Ripperseuche”. “Ripperseuche: Infektiöse, vor allem durch Wildschweinangriffe übertragene Erkrankung der Lungen- und Atemwege… blablabla - man muss sich immer wundern, wie viel uninteressanter Kram in solchen Lexikonartikeln zu finden ist - …tödlich enden kann.” Da ist es: “…tödlich enden kann.”
Meine Hände erschlafften, das Buch entglitt ihnen. Der Raum begann sich um mich herum zu drehen: Der Schreibtisch, die Glasvitrinen mit den alten Schriftrollen und antiken Figürchen aus Jahrkendar, die Bücherregale, die im warmen und steten Licht der Ölleuchter eine behagliche Stimmung verbreiteten; der Kamin mit seinem fröhlich prasselnden Feuer, und die dunkle Fensterfront, in der sich Nachts der beleuchtete Raum samt allen Inhalts spiegelt.
Tödlich.
Tödlich? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Aber was, wenn doch?
Noch niemals war ich von solcher Unruhe erfasst gewesen. Ich hatte mich stets machtlos gefühlt, wenn Anselma auf Reisen gewesen war, unfähig, ihr beizustehen, wie es sich für einen ordentlichen Gatten gehört hätte. Doch niemals hatte ich mich so hilflos gefühlt, wie in jenem Augenblick. Ich hatte Angst, Angst um meine Frau, die Meilen weit entfernt, für mich gänzlich unerreichbar, womöglich mit dem Tode rang.
Was sollte ich tun? Irgendetwas musste ich doch tun, oder nicht? Ich konnte doch nicht einfach ins Bett gehen, mich schlafen legen, als wäre nichts geschehen. Ich dachte nach, oder versuchte es zumindest. Doch es half nichts: Immer wieder drangen mir die Bilder einer sich in einem verschwitzen Bett hin und her werfenden Anselma ins Bewusstsein, ernste Gesichter ausgezehrter Mönche, die schon alle Hoffnung aufgegeben hatten.
Ich musste raus. Es war spät in der Nacht, mittlerweile dunkel, doch ich musste raus. Mich bewegen, und dabei vielleicht innerlich zur Ruhe kommen.
Ich hasse das Ausgehen. Am Liebsten bleibe ich im Hause. Wenn ich mich bewegen will - und wenn ich schreibe, dann muss ich das - dann gehe ich im Arbeitszimmer auf und ab. Aber das reichte mir in diesem Augenblick nicht. Unser luxuriöses Bürgerhaus kam mir plötzlich wie ein Gefängnis vor. Also schlüpfte ich schnell in meine Stiefel, warf mir den Mantel um, und verließ eilends das Gebäude.
Die Straßen draußen waren durch Öllaternen erleuchtet. Nicht sehr gut, aber doch so, dass man sah, wohin man trat. Mit weit ausholenden Schritten wandte ich mich nicht nach links, gen Stadtkern, sondern nach rechts. Seit dem Wiederaufbau war Vengard enorm gewachsen. Die Hauptstadt des Reiches war erneut aufgeblüht, und hatte ihre Fläche nahezu verdoppelt. Während unser Haus zuvor eher am Rande gelegen hatte, gehört es nun praktisch zur Innenstadt, um die herum ganze Wohnsiedlungen errichtet worden waren, herrlich gelegen am neuen Grüngürtel der Stadt: Eine gewaltige Parkanlage, zur Erquickung der Bürger.
Es dauerte nicht lange, bis ich die Parks erreicht hatte: Grüne Wiesen, die im Mondenschein schimmerten. Hie und da Gruppen von Bäumen, Gesträuch und Blumenbeete, Kieswege, die zum Wandern, und verzierte Marmorbänkchen, die zum Verweilen einluden. Statuen im klassischen Stile, Pavillons und Pagoden, dazu kleine Teiche und angelegte Bäche, in denen wohl Zierkarpfen schwammen. Ein idyllischer Anblick, doch mir war vor allem eines wichtig: Zu dieser Nachtzeit war niemand dort. Ich war ganz alleine, hatte die ganze Anlage für mich.
Die Hände in den Taschen vergraben stapfe ich vorwärts, und nahm nur am Rande wahr, dass die Bäume bereits zu knospen begonnen, und sich bereits das Maiglöckchen auf den Rasenflächen breitmachte. Einige Schritt vor mir, vor dem Hintergrund des silbernen Mondes, hockte ein Kaninchen auf dem Weg. Die findet man dort überall, sie vermehren sich, nunja, wie die Karnickel eben. Als ich näher kam, lief es den Pfad entlang davon, um eine Biegung und aus meinem Sichtfeld.
Tödlich.
Meine Gedanken kreisten um Anselma. Immer noch. Wie sollte es auch anders sein? Natürlich machte ich mir Sorgen. Was sonst. Aber Anselma ist eine Magierin, und zwar eine sehr fähige. Alleine schon, wie sie sich als Frau in diesem von Männern dominierten Beruf hat durchsetzen können, zeigt dies nur zu deutlich. Sie ist eine Gelehrte und Heilkundige, zudem eine erfahrene Abenteuerin. Wenn jemand weiß, wie man tödlichen Gefahren begegnet, dann sie. Sicherlich, sie wird ab und an krank, manchmal sind die Belastungen eben doch zu groß. Aber sie weiß doch damit umzugehen. So war es schon immer. Wenn sie also schreibt, dass es “nicht so schlimm” sei, dann wird dem auch so sein. Oder nicht?
Tödlich.
Ich konnte vernünfteln, soviel ich wollte. Natürlich ging es ihr vermutlich bereits besser. Wahrscheinlich war sie bereits genesen, und auf dem Weg zurück zur Hauptstadt, um dem Eilbrief, den sie mir Geschickt hat, möglichst schnell zu folgen. Aber konnte ich dessen sicher sein? Sicher genug, um einfach abzuwarten, weiterzumachen, wie bisher?
Erneut nahm ich die Silhouette des Kaninchens wahr. Einen kurzen, absurden Augenblick dachte ich an den Kaninchenbraten, wie ihn meine Mutter immer zu machen pflegt: Mit Weißwein-Senfsauce. Das Kaninchen blickte mir entgegen, die Ohren in die Höhe gereckt. Dann lief es wieder davon.
Moment: Ohren in die Höhe gereckt? Mir fiel auf, dass es ein unglaublich stattliches Kaninchen war. Hoppeln Kaninchen nicht eher, als dass sie laufen? Es war ein Hase! Ob der wohl ebenso zu Mutters Sauce passen würde? Voll Traurigkeit dachte ich daran, wie schön es doch wäre, mit Anselma zu kochen, zu essen, einfach Zeit zu verbringen und zu genießen.
Ein Hase. Ein großer, scheuer Hase. Den Kiesweg entlang lief er vor mir her, immer im gleichen Abstand, sich immer wieder umwendend und zu mir herüberblickend. Dummes Viech, wieso läufst Du nicht einfach ins Gebüsch am Wegesrand, wenn Du solche Angst vor mir hast?
Erneut versank ich in Gedanken. Das heißt: Nein, eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich bin, beobachtete ich den Hasen. Mir kam der völlig absurde und blödsinnige Gedanke, dass er etwas zu bedeuten haben könnte. Lief es nicht so in den Epen und Balladen, in denen der Held von irgendeinem Tier - gesandt von den Göttern - seinem Schicksal zugeführt wurde? Würde sich dieser Hase bald als göttlicher Sendbote entlarven? Sich verwandeln, in einen weisen, alten Mann (oder eine Frau), einen Flaschengeist oder Engel?
Ach Martin, Dummkopf! Was für närrische Gedanken! Du solltest Dich wahrlich nicht so sehr in Deinen Phantasiewelten einsperren. Ein Hase als göttlicher Bote, so ein Quatsch! Fast ebenso lächerlich, wie der Gedanke, dass die Götter MIR einen Boten schicken könnten. Trotz der Angst in meinem Herzen musste ich über meine Einfalt grinsen.
Gras und Bäume zogen an mir vorüber, Kies knirschte unter meine Sohlen. Und der Hase lief vor mir her. Er erregte meine Neugierde. Hatte er ein Ziel, oder lief er einfach nur so? Lief er vor mir davon, oder machte er sich tatsächlich so etwas, wie einen Spaß? Ohne es zu merken, folgte ich dem Hasen. Wollte ich nicht jene Abzweigung dort nehmen, da ich jenen Teil des Parks noch nicht gesehen habe? Nein, interessiert mich nicht! Lädt nicht jener Laternen beschienene Pfad zum Wandeln ein? Verlockend, ja, aber dort vorne kann ich genauso gehen. Was kann ich denn dafür, dass dieses Hoppelhäschen denselben Weg nimmt?
Schließlich wurde mir bewusst, dass ich dem Hasen wirklich folgte. Und nun tat ich es bewusst. Ich erkannte, wie lächerlich das war. Was verband ich mit diesem Tier, in dieser kühlen Frühlingsnacht, in der ich mich einsam, ängstlich und traurig fühlte? Ich begann, mich selbst zu verspotten: was, wenn der Hase den Weg verlässt, und einfach im Gesträuch verschwindet? Wirst Du ihm etwa auch dorthin folgen? Der Hase verließ den Weg aber nicht. Er blieb darauf. Ab und an verlor ich ihn, wenn er hinter einem Hügel oder einer Wegbiegung verschwand, doch kurz darauf tauchte er stets wieder auf.
Dort, die nächste Biegung. Hier zweigt sich der Weg: Entweder geht es gerade aus weiter, oder aber man nimmt die Abzweigung nach Rechts: Dort geht es wieder Richtung Innenstadt. Ich erreiche die Abzweigung, und bleibe unschlüssig stehen. Ich schaue geradeaus: Kein Hase. Ich schaue nach rechts: Kein Hase. Was tun? Wohin? Ist das dort eine Bewegung, nicht etwa ein Schemen, seidig glänzendes Fell? Tatsächlich, aber warum ist es plötzlich schwarz und weiß? Und wo sind die Ohren hin?
Eine Katze. Auf dem Weg zur Innenstadt, kurz vor dem Ausgang des Parks. Mit gelbem Leuchten betrachten mich ihre Augen, dann verschwindet sie geduckt und geräuschlos im Gestrüpp.
Ich bin noch immer unschlüssig.
Es war ganz und gar lächerlich. Doch ich wollte den Hasen wieder finden. Ich entschied mich für den Weg geradeaus, ging einige Schritte. Doch der Hase blieb verschwunden. Erneut blieb ich unschlüssig stehen, kehrte um, und nahm den anderen Weg. Ich schaute angestrengt in die Schatten, suchte nach einer Bewegung, doch vergebens.
Ich seufzte. Merkwürdigerweise machte mich das Verschwinden des Hasen traurig. Er hatte mir ja irgendwie Gesellschaft geleistet, in meiner Einsamkeit, meinen Weg ein Stück begleitet. Aber nun war er verschwunden. Ich würde ihn wohl niemals wieder sehen. Niemals wieder.
Tödlich.
Mit hängenden Schultern verließ ich den Park, tauchte wieder in das Häusermeer ein. Fast wünschte ich mir, mich verlaufen zu haben, nicht recht zu wissen, wie ich nach Hause kommen könnte, damit der Spaziergang noch etwas länger dauern würde. Doch allzu schnell fand ich mich zurecht: Ich befand mich in der Girionsallee, die schnurstracks auf den Esmeraldaplatz zuführte. Zwar hatte ich fast die ganze Länge der Prachtstraße zurückzulegen, doch würde das nicht sehr lange dauern. In der Nacht, ohne die Passanten und Fuhrwerke, ohne das Gewühl, wurde mir bewusst, wie klein Vengard doch in Wirklichkeit ist. Dass sich die gesamte Innenstadt binnen einer Stunde durchqueren ließe. Was ist schon eine Stunde? So viele Menschen, auf so wenig Platz! Was war mit Anselma, mit ihren Reisen? War die Welt wirklich so groß, wie ich es immer gedacht hatte? War Myrtana wirklich das gewaltige Reich meiner Vorstellung? Plötzlich schien die Hauptstadt mir eng und unbedeutend, kaum mehr als ein kleines Dörflein. Und ebenso sehr ein Gefängnis, wie unser Haus.
Dort, der Esmeraldaplatz, schon kann ich die Statue der verstorbenen Königin sehen, die den prachtvollen Springbrunnen ziert: Ein gekröntes Haupt, ein überlebensgroßes Abbild, zum Zeichen der Liebe des Königs für seine Königin. Die Pflastersteine knirschen nicht, wenn ich darauf gehe, sie klacken nur ein wenig unter meinen Sohlen. Dort, links um die Ecke, da wird unser Haus stehen. Obwohl sich nichts geändert hat, beschleunigen sich meine Schritte: Plötzlich will ich nach Hause, die Sicherheit meiner vier Wände erreichen. Mir wird ein wenig warm. Hätte ich den Mantel weglassen sollen? Nein, dann wäre es zu kalt gewesen. Verfluchtes Wetter, bei dem man nicht weiß, ob man heizen soll, oder nicht, bei dem es mit Mantel zu warm, und ohne zu kalt ist!
Ich bin erleichtert, als ich den Schlüssel endlich ins Schloss stecken, die Türe endlich öffnen und dann hindurchschlüpfen kann.
Zuhause.
Nichts hat sich geändert.
Noch immer liegt Anselma in irgendeinem Kloster, noch immer weiß ich nicht, wie es wirklich um sie steht. Noch immer bin ich ängstlich.
Tödlich.
Meine Rastlosigkeit hat ein wenig nachgelassen. Das heißt: Mein Bewegungsdrang. Er ist einer anderen Rastlosigkeit gewichen: Dem Schreibdrang.
Was das Ganze soll? Ich weiß nicht. Sowas sagen mir normalerweise meine Kritiker. Zum Beispiel der Herausgeber von “Myrtana in literarischen Bildern”, Dyrian aus Trelis. Oder vielleicht auch Dyrian in Trelis, das weiß ich nicht so genau. Er würde sich sicherlich dazu äußern wollen. Oder dieser Rakus, der meint, dass er als Magier des Feuers auch von Kunst eine Ahnung hätte (was man ihm komischerweise sogar allgemein abnimmt). Spätestens bei dieser Zeile wird er den Vorsatz fassen, dies hier zu verreißen - sollte es denn jemals veröffentlich werden. Und was würden sie wohl sagen? Wie würden sie mit diesem Text umgehen? Gattung, Inhalt, Stilmittel? Intention des Autors, autobiografische, textexterne Interpretation? Parabelhafte, figurale Inhaltsebene? Irgendeine Moral vielleicht?
Der Hase. Der ist wichtig! Wieso, weiß ich nicht. Ist er nicht vielmehr irrelevant? Wie das hier doch alles bloß Irrelevanzen sind, eine ziemlich große Aneinanderreihung davon? Aber nein, das kann nicht sein. Es darf nicht sein! Ein Lynardpreisgewinner schreibt keinen Nonsens, das muss alles eine tiefere Bedeutung haben. Der Hase ist also ein Symbol. Für Vergeblichkeit, das Unerreichbare. Oder was weiß ich. Irgendwas halt.
Die bittere Wahrheit ist: Es gibt nicht immer eine Intention. Nur ein Motiv: Rastlosigkeit, Schreibdrang. Mehr nicht.
Ich sitze nun wieder in meinem Arbeitszimmer, das Feuer im Kamin ist fast heruntergebrannt, und glimmt nur noch ein wenig. Natürlich denke ich noch an Anselma, woran denn sonst. Aber auch an den Hasen. Er war nur ein Hase, ganz gewiss. Kein Symbol oder gar göttlicher Sendbote. Ein Tier, ein Lebewesen. Ich schäme mich fast dafür, solche Trivialitäten zu Papier zu bringen. Aber besser das, als den Quatsch der Kritiker!
Ob der Hase jetzt auch in seinem Bau hockt, ob er in einem Erdloch verschwunden ist, und ich ihn deshalb nicht mehr gesehen habe?
Mein Blick wandert zur Enzyklopädie, zu jener Sammlung des gesamten Wissens der zivilisierten Welt. Dort drinnen stehen keine Irrelevanzen. Ich stehe auf, und gehe auf das Regal zu. Mich beschäftigt eine Frage: Wohnen Hasen überhaupt in Erdlöchern?
Geändert von MiMo (30.03.2017 um 15:54 Uhr)
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Es war einer jener wunderschönen Abende im Mai, wie sie so oft in Geschichten und so selten in der Wirklichkeit vorkommen. In der Dämmerung verwandelte sich das Blau des Himmels über dem Unterland Farings in samtiges Dunkelviolett. Das prächtige Farbenspiel umfloss die schroffen, schneebedeckten Berge am Horizont wie ein Schleier aus Rosenblüten, und der Strom, der hier im Norden von Faring entsprang und sich nahe meiner Heimat Ardea ins Meer ergießt, strahlte in tiefem Dunkelblau. Auch das Wasser schien von dieser herrlichen Dämmerung ergriffen zu sein, denn es hatte seine Rastlosigkeit für einen Augenblick vergessen und lag ganz still, wie ein dunkler Spiegel. An seinen Ufern begannen trotz des rauen Wetters die ersten Frühlingsblumen zu knospen, und eine Woge von glühendem Gelb schwappte in den Fluss, Narzissen, Krokusse, Schneeglöckchen. An Abenden wie diesen sind Erinnerungen niemals bitter und obwohl man insgeheim vom Gegenteil überzeugt war, wusste man an Abenden wie diesem, dass nach dem Frühling der Sommer kommen würde.
Alles in allem hätte man sich keinen schöneren Abend erhoffen können, um sich mit einer tödlichen Krankheit zu infizieren.
Aus der Menge, die sich im Barthos von Laran-Auditorium versammelt hat, hört man nur gedämpfte Geräusche. Obwohl jeder Platz im Saal besetzt ist und einige Menschen sogar in den Gängen sitzen, hört man nur unterdrücktes Murmeln und Flüstern. Heute hat es zum ersten Mal seit Wochen in Vengard geregnet; zuerst nur ein leises Nieseln, das schon am frühen Morgen in der Luft gehangen hatte und uns eher wie ein Nebel umfing. Doch auch jetzt, wo sich hunderte von Menschen im Barthos von Laran-Auditorium eingefunden haben, kann man das Geräusch des Regens auf dem Dach hören.
Ich suche Martins Hand, und obwohl er ohne jede Anspannung auf seinem Platz am linken Rand der ersten Reihe zu sitzen scheint, ist sie kalt und feucht. Ich nehme seine Hand nicht nur, um ihm Mut zu machen: In erster Linie will ich verhindern, dass er, wie er es so oft tut, wenn er nervös ist, aus den säuberlich gefalteten Blättern, die er bei sich hat, Schiffe oder kleine Enten faltet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er versucht, mein Lächeln zu erwidern, und es ist ein strahlendes Lächeln, aber es ist ein Imitat wie die Glassteine an dem prächtigen Kronleuchter, der über unseren Köpfen schwebt.
Ich drücke seine Hand noch einmal und schaue zu dem breiten, seidenweißen Band hinauf, das sich von einer Seite der Bühne zur anderen spannt: „107. Verleihung der Ryan-Medaille“, so schlicht kündigen die Buchstaben die Vergabe eines der wichtigsten Literaturpreise Myrtanas an.
Martin hat vor einigen Jahren die wohl langweiligste Laudatio über sich ergehen lassen müssen, die seit Akashas Zeiten jemals auf irgendein Werk gehalten wurde. Nachdem Rakus’ Lobrede in gemächlichem Trab über Martins Leben und schriftstellerisches Wirken mäandert war, war aus der Dankesrede, die er zuhause entworfen hatte, eine kleine Flotte von Papierschiffchen geworden, und er hatte sich ohne die Hilfe seiner Notizen für den Lynardpreis bedanken müssen. Was würden seine Hände heute falten? Einen Hasen?
Dyrian tritt auf die Bühne. Seine elegante schwarzblaue Robe strahlt hell und klar im Licht des gewaltigen Kronleuchters. Sein wirres, silbernes Haar hat offenbar jedem Versuch, es zu zähmen, widerstanden. Irgendwo in der Mitte des Saals brandet Applaus auf, der nach zögerlichem Beginn zu einem wahren Orkan anschwillt. Dyrian ist eine umstrittene Person seit der Sache mit der entsetzlichen Kurzgeschichte, die er in seiner vorletzten Anthologie veröffentlicht hat. Schrille Pfiffe mischen sich in den Applaus, aber als Dyrian das Rednerpult erreicht hat, ebben Jubel und Pfiffe allmählich ab und weichen dem Auditoriumsrauschen, das zugleich still und laut ist: Geflüsterte Unterhaltungen, Füßescharren, verlegenes Stühlerücken.
„Sehr verehrte Damen und Herren…“
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Martins Hände nach den Papierbögen auf seinem Schoß greifen wollen. Wieder lege ich meine Hand auf seine.
„…dieses bedeutenden Preises, den zu verleihen ich heute Abend die Ehre habe…“
Eine kleine Schweißperle rollt an Martins Schläfe hinab. Ich sehe fasziniert zu, wie sich das Licht des Leuchters über uns darin funkelnd bricht, bis er sie mit einer verlegenen Handbewegung wegwischt. Ich flüstere ihm ins Ohr: „Folge einfach dem Hasen.“
„Ripperseuche: Infektiöse, vor allem durch Wildschweinangriffe übertragene Erkrankung der Lungen- und Atemwege, die zu Schwellungen im Gesichtsbereich, hohem Fieber, Ohnmacht und Paralyse führt. Bei mildem Verlauf ist mit einer vollständigen Genesung innerhalb weniger Tage zu rechnen, während eine schwerwiegende oder verschleppte Infektion zu bleibenden Beeinträchtigungen führen oder tödlich enden kann.”
Im düsteren Licht, das sich nach Sonnenuntergang, aber noch vor der wahren Dunkelheit über das Land senkt, in einer der wenigen Minuten, die man auch die „magische Stunde“ nennt, erwachte ich aus einem grün schillernden Delirium zu kurzer geistiger Klarheit. Es war ein Gefühl, wie wenn man sich aus Treibsand herausquält.
Ich sterbe, dachte ich, und die Worte hallten seltsam durch meinen Verstand, was mich in dem Glauben wiegte, sie laut ausgesprochen zu haben, obwohl ich mittlerweile annehme, dass es nicht so war.
Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Mein Gesicht kam mir fremd vor, die Haut spannte sich über meine geschwollenen Wangen. Mein Hals war ein einziger, tobender Schmerz, und mein Atem pfiff durch eine schrecklich winzige Verbindung mit der Welt hinein und hinaus. Es war, als würde ich ertrinken. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mir jemals so heiß gewesen war, nicht einmal damals, als ich stellvertretend die Leitung des Nothilfeeinsatzes in Ben Sala übernommen hatte. Zwischen den sterbenden Sklaven und den Trümmern der Tempel hatte die Luft vor Hitze so geflimmert, dass ich ständig ein verwirrendes Schwindelgefühl empfand. Damals war mir heiß gewesen, aber das hier war schlimmer. Mir war innen heiß, so als hätte ich die Sonne verschluckt.
Erinnerungsfetzen flogen an mir vorbei wie Schwalben. Ein wunderschöner, purpurfarbener Abend im Mai. Schneereste in der sinkenden Sonne. Ein Rascheln im Gebüsch. Ein weiterer Verletzter! Wie weit konnte er sich geschleppt haben nach dem Einsturz der Mine? Trübgelbe Augen und ein tiefes Grollen aus einer wilden Kehle. Dunkelrotes Licht, das sich auf den mattglänzenden Hauern bricht. Dunkelrotes Blut im Schnee, immer mehr.
Über mir, wie der blasse Vollmond, das sorgenvolle Gesicht eines hageren Mannes. Eine kühle Hand legte sich auf meine Stirn. Ich versuchte, die Decke wegzustrampeln, hatte aber keine Kraft dazu. Ich stöhnte und warf den Kopf auf dem Kissen hin und her. Wie war ich hergekommen? Ich konnte mich an Träume erinnern, heiße Phantome mit klebrigen Augen. Meine Mutter war in das schlichte, holzverkleidete Schlafzimmer gekommen, und sie hatte zu mir gesagt: „Anselma, hab’ ich’s dir nicht gesagt? Lass dich nicht mit solchen Leuten ein, hab’ ich gesagt. Du bist dafür viel zu schwach, du solltest lieber zuhause bleiben. Hab’ ich dir das nicht immer wieder gesagt?“ Dann war ihr Gesicht entzweigebrochen, ein Schwarm Käfer aus den aufgerissenen Pergamentfalten hervorgebrochen … Ein verwundeter Minensklave hatte im Sand gelegen, sein Gesicht eine glänzende Maske aus Blut, das im erbarmungslosen weißen Licht der Mittagssonne beinahe schwarz wirkte. Ich hatte versucht, ihm auf die Füße zu helfen, und er hatte seine Maske beiseite geschoben und ein grinsendes flammendes Gesicht enthüllt, und ich hatte geschrieen, denn es war der Jemand oder das Etwas gewesen, worauf ich gewartet hatte, und meine Schreie hatten die Substanz des Fiebertraums zerschmettert wie feines Kristallglas.
„Ihr werdet wieder gesund“, flüsterte das Gesicht über mir, und ich dachte an ein Kaninchen, das in langen, eleganten Sprüngen durch die Abenddämmerung lief, ein großes, scheues Geschöpf. Folge dem weißen Kaninchen, so hieß es in einer meiner Lieblingsgeschichten. Ein Kaninchen? War es nicht vielmehr ein Hase?
Martin.
Ich bemühte mich verzweifelt, den grauen Nebelvorhang zu durchdringen, aber es kamen nur Stimmen hindurch, ferne Stimmen ohne Namen.
Für mich war die magische Stunde vorbei.
„…noch kaum eine stringente Analyse erfahren. Die Motivik lässt den Autor auf den ersten Blick als Dichter des Kairos, des erfüllten Augenblicks, erscheinen, der die Aporien einer gesellschaftlich-utopistischen Glücksvorstellung durch den ewigen Moment eines in der Erzählung stillgelegten Unruhegeschehens unterläuft. Die motivische Fassung des Augenblicks verstellt den Blick auf seine chronopoetologische Konstruktion, die…“
Dyrian scheint heute Abend in ausgezeichneter Form zu sein. Das Publikum hängt gebannt an seinen Lippen. Ich würde gerne zu Martin hinüberschielen, seinen Blick einfangen, und ich weiß, dass er darauf wartet. Aber ich wage es nicht. Es ist ein altes Spiel zwischen uns, und ich befürchte, dass er es heute haushoch gewinnen würde. All die ernsten Mienen um uns herum…so aufmerksam…damit ihnen ja kein einziges kluges Wort entgeht. Und ich weiß, dass er weiß, was ich gerade durchmache. Ich sehe Dyrian mit seiner eleganten Robe und seinen störrischen Haaren an, die in alle Richtungen abstehen, und obwohl seine Rede wirklich gut ist, muss ich mich beherrschen, um das Kichern zu unterdrücken, das in mir aufsteigen will. Es hat nicht einmal etwas mit Dyrian persönlich zu tun, es ist die Art, wie sie ihn ansehen, mit diesem heiligen, erwartungsvollen Ernst. Martin hat es immer als Herausforderung betrachtet, meine Beherrschung auf die Probe zu stellen. Heute würde ich ihm unterliegen. Ein spöttisches Zwinkern seinerseits würde heute ausreichen.
„…in allegorisch-beschwichtigender Lektüre, wie das fundamentale Atopie-Verhältnis von Anlass, Aussage und Struktur ignoriert wird…“
Martin und ich sind heute Abend gemeinsam in das Barthos von Laran-Auditorium gegangen. Er hatte mich an den Stufen des Hauses am Esmeraldaplatz abgeholt, das wir früher gemeinsam bewohnten. Obwohl ich wusste, dass ihm die Preisverleihung eine Heidenangst einjagte, hatte auf seinem Gesicht ein hoffnungsvolles Lächeln gestanden. Im Laufe unserer Ehe war Martin alles Mögliche gewesen, aber hoffnungslos hatte nie dazugehört.
Wir hatten uns, nachdem ich ihm geholfen hatte, seine Sachen zu packen, einige Male gegenseitig besucht - er mich öfters als ich ihn, weil es mir schwerfällt, angesichts der teuren, aber seltsam leeren Wohnung, die er gemietet hat, nicht in Tränen auszubrechen -, aber unser Umgang war immer nur höflich gewesen. Wie gut erzogene Fremde, die sich an einem Gespräch versuchten.
Auf dem Weg zum Barthos von Laran-Auditorium war es anders gewesen. Wie früher hatten wir über die zu erwartenden Fragen des Publikums gelacht.
„Wieso fragen sie das immer?“, hatte Martin in der Kutsche geflüstert. „Woher ich meine Ideen nehme. Was ist denn das für eine Frage, was soll man da sagen?“
„Antwortest du ihnen immer noch, dass…?“
„Ja“, hatte er gesagt und gelacht, „ich werde ihnen wieder erzählen, dass ich alle Ideen beim Spazierengehen habe. Das reicht ihnen. Das freut sie sogar.“
Natürlich, das hatte ich gewusst. Wie oft hatte ich ihn zu Empfängen begleitet, in Residenzen und Hallen auf Hügeln hoch über den zitternden Lichtpunkten der Stadt. Livrierte Männer hatten kleine Tabletts umhergetragen, die Menschen hatten aufrecht und ernst gestanden, Gläser in der hand, steif, mit angespannten Gesichtern: Meistens war Martin sofort von drei oder fünf Herren in die Mitte genommen worden; und wenn ich mich der kleinen Gruppe genähert hatte, konnte ich sehen, wie seine Augen vor Zorn geleuchtet hatten und wie der Widerwillen in Wellen von ihm ausgegangen war, so stark, dass es jeder hätte spüren müssen. „…beim Spazierengehen“, hatte ich ihn oft in diesen Augenblicken sagen hören, „Alles, was mir je eingefallen ist. Immer.“
„Die Hasenszene lässt sich nicht nur lesen als Archigenealogie epigrammatischer Improvisationskunst, sondern auch als Parodie auf die Nichtigkeit und Unberechenbarkeit der Anlässe des Schreibens überhaupt...“
Ich schaue nun doch zu Martin hinüber. Und einen Moment lang ist es wie früher.
Lieber Martin,
verzeih mir bitte meine Verspätung! Ich liege derzeit im Hospital des St. Akashastifts in Trensfjord, einem kleinen Dörflein nördlich von Faring. Die örtlichen Fratres kümmern sich aufopferungsvoll um mich, sie meinen, ich litte an Ripperseuche, einer im Norden recht weit verbreiteten Krankheit. Es ist aber nicht so schlimm, ich werde sicherlich bald wieder bei Dir sein.
In Liebe,
Deine Anselma
Ich hatte nicht die Kraft, den Brief eigenhändig zu schreiben, aber ich ließ es mir nicht nehmen, ihn zumindest zu unterzeichnen. Ich war in die Hölle geraten, ohne zu wissen, weshalb. Die Zeit verging in merkwürdigen Sprüngen, und in den Momenten geistiger Klarheit dachte ich an Martin und daran, dass er bereits in großer Sorge sein musste. Meistens jedoch dachte ich gar nicht, weil eine Sonne von Schmerzen den Horizont meines Geistes vollständig ausfüllte: Erst hatte ich Angst zu sterben, dann hatte ich Angst, nicht zu sterben. Alles tat mir ständig weh. Mein linkes Auge war ebenfalls von der Infektion betroffen, so dass ich die Welt durch einen blutigen roten Nebel sah – und immer noch kaum wusste, was die Welt überhaupt war. Die Dinge hatten keine Namen mehr. Wenn alles um mich verschwamm, dachte ich an den Hasen, der in langen, eleganten Sätzen durchs Buschwerk lief.
Man glaubt nicht, dass solche Schmerzen jemals wieder vergehen, aber das tun sie. Dann wird man nach Hause verfrachtet und versucht, sich dort den Martern der Erinnerung zu entziehen. Martin schloss mich in die Arme, als er mich abholte, und wir beide spürten, dass es anders war. Ich dachte, dass mich der Umstand, dem Tod so nahe gewesen zu sein, verändert hätte. Aber es stellte sich heraus, dass er ein anderer geworden war. Wir stritten uns nicht, wir schrieen einander nicht an, aber wenige Wochen nach meiner Rückkehr half ich ihm, einige Dinge zu packen.
„…eine Ehre, den Preisträger selbst auf die Bühne zu bitten!“
Unter donnerndem Applaus erhebt sich Martin, als er auf der Bühne steht, sieht er einen Augenblick lang entsetzlich verloren aus, ein nicht allzu hoch gewachsener Mann mit schmalen Gesicht und großen grünen Augen. Er sieht verloren und einsam aus, der einsamste Mensch einer von allen Göttern verlassenen Welt, aber der Augenblick vergeht so schnell, dass ihn kaum jemand außer mir bemerkt haben dürfte. Dann stellt er die Verbindung her, und es scheint, als ob jemand das Podium unter Magie gesetzt hätte, die zwischen Martin und dem Publikum eine Hochspannung erzeugt. Ich glaube, er liebt diesen Moment am allermeisten. Alle Augen ruhen nun auf ihm, und dieser Umstand, der ihm vor wenigen Minuten noch kalte, feuchte Hände beschert hat, beflügelt ihn jetzt regelrecht. Seine Rede ist großartig.
Ich liebe es, ihm zuzusehen.
Nachdem er unter anhaltendem Jubel der Menge die Bühne wieder verlassen und geduldig die Fragen der eleganten Damen und Herren beantwortet hat – „Beim Spazierengehen. Alles, was ich schreibe. Immer.“ -, verlassen wir das Barthos von Laran-Auditorium und gehen in die Nacht hinein, die niedrig und dunkel über der Stadt hängt. Es sind keine Sterne zu sehen. Ich wende mich in Richtung seiner Kutsche, aber Martin hält mich sanft am Arm fest.
„Lass uns durch den Park gehen“, sagt Martin leise, „ich möchte dir etwas zeigen.“
Es dauert nicht lange, bis wir den Park erreichen: Grüne Wiesen, die im Mondenschein schimmern. Hie und da Gruppen von Bäumen, Gesträuch und Blumenbeete, Kieswege, die zum Wandern, und verzierte Marmorbänkchen, die zum Verweilen einladen. Statuen im klassischen Stile, Pavillons und Pagoden, dazu kleine Teiche und angelegte Bäche, in denen Zierkarpfen schwimmen.
Vor dem Hintergrund des silbernen Mondes hockt ein Kaninchen auf dem Weg, ein ungewöhnliches großes Tier mit seidig schimmerndem Fell. Als es in langen, eleganten Sätzen einige Schritt weit den Kiesweg entlang läuft, erkenne ich es. Es ist ein Hase. Es ist mein Hase.
„Es ist mein Hase“, sagt Martin so leise zu mir, als wolle er das Tier nicht durch den Klang einer menschlichen Stimme verscheuchen.
Der Hase verweilt einen Moment gesenkten Hauptes am Fuße eines sanften Hügels und läuft weiter, bis er die Anhöhe erreicht. Dort verharrt er, das Gesicht der Weite zugekehrt. Plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem Impuls, wendet er sich zu uns um, ein Götterbote, ein Psychagoge, und Martin nimmt mich an der Hand. Wir machen uns auf, ihm zu folgen.
Geändert von Sir Ewek Emelot (03.10.2009 um 15:15 Uhr)
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