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[Story]Der Junge aus Silden
So, dies ist nun meine zweite Story in diesem Forum und diese soll sich etwas weiter von der Vorgabe der Gothicspiele entfernen. Dennoch ist sie nicht vollkommen von ihr getrennt - was ja auch gegen die Richtlinien dieses Forums verstoßen würde -, sondern teilweise mit meiner anderen Geschichte verknüpft. So sind bestimmte Ereignisse dieser Geschichte auch für einen späteren Teil meiner Gothicnacherzählung von Relevanz - wenn auch nicht unbedingt die Teile, von denen man es vielleicht erwartet.
Die Idee zu dieser Geschichte hatte ich schon vor einigen Monaten, doch erst vor wenigen Wochen habe ich sie begonnen. Erwartet hier bitte keine so hohe Postfrequenz wie bei der Welt der Verurteilten. Letztere stellt noch immer mein Hauptprojekt dar und hat für mich Vorrang. An dieser Story schreibe ich nur ab und zu nebenher mal, wenn ich gerade Lust dazu habe. Ich werde sie auf jeden Fall zuende bringen, doch es dürfte sich stark ziehen.
Nun aber genug geschwafelt. Ich hoffe, auch diese Geschichte wird zu gefallen wissen.
Tja, dass es SO lange dauern würde, war mir nicht klar, als ich davon sprach, es werde sich noch stark ziehen. Doch nun ist die Story endlich fertig, und deshalb gibt es sie nun auch als bequeme PDF.
Geändert von MiMo (29.03.2017 um 22:57 Uhr)
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Es tat nicht weh, als der Stahl sich in seine Brust bohrte. Er fühlte nur Kälte, nichts als Kälte.
„…Wenn du das tust, wählst du einen Weg, von dem es kein Zurück mehr gibt…“
Er blickte in das Gesicht des Mannes vor ihm, verzerrt vor Wut und Anstrengung, die Augenbrauen zusammengekniffen.
„…Dann wirst du fallen, fallen durch einen, der größer ist als du…“
Alle Kraft wich aus seinem Körper. Seine Hand, die so lange so stark gewesen war, öffnete sich kraftlos. Er spürte, wie er sie verließ, hörte das hölzerne Klappern, als er auf dem steinernen Boden aufschlug, der Gegenstand, der so lange in seiner Hand geruht hatte.
„…Er wird dich zu Fall bringen. In dem Moment, in dem du ihn in Händen hältst, ist dein Schicksal besiegelt…“
Noch einmal blickte er in die Augen des Mannes vor ihm, der noch immer den Griff des Schwertes umklammerte, das sich durch seine Brust bohrte. Ein seltsamer Schimmer lag in diesen Augen, ein Schimmer wie er ihn noch nie gesehen hatte. Und plötzlich erkannte er, plötzlich verstand er. Er war ein solcher Narr gewesen, all die Jahre. Doch nun war es vorbei, endlich vorbei, nun war er wieder der, der er einst gewesen war, nun war er wieder…
„Will! Will! Will!“
Das Schwert seines Gegners sauste auf ihn herab. Blitzschnell wirbelte er in einer eleganten Drehung zur Seite, ließ seine Waffe kreisen.
„Will! Will! Will!“
Er vollführte einen leichten Schlag gegen die Seite seines Gegners. Dieser wehrte ihn mühelos ab. Doch er erkannte eine Lücke in der Abwehr seines Gegners. Vielleicht war dies der Weg…
„Will! Will! Will!“
Wieder schlug er nach seinem Gegner. Dieses Mal zielte sein Schlag auf die Brust des Kontrahenten. Wieder konnte dieser den Schlag mühelos abwehren. Doch da! Da war sie wieder, die Lücke in der Abwehr!
„Will! Will! Will!“
Ein Schlag gegen das Bein seines Gegners, eine Parade und noch einmal eine offensichtliche Lücke.
„Will! Will! Will!“
Er hatte seinen Gegner lange genug mit leichten Schlägen abgetastet. Er wusste, was zu tun war. Abermals schlug er nach der rechten Seite seines Gegners, abermals blockte dieser. Doch dieses Mal wirbelte Will sein Schwert herum, riss die Klinge des Gegners mit, nahm ihm so die Deckung, vollführte eine halbe Drehung und rammte ihm den Ellenbogen mitten ins Gesicht.
Stöhnend ging sein Gegner zu Boden, sein Schwert glitt ihm aus der Hand. Geschickt fing Will es auf, wirbelte herum und vollführte, beide Klingen in Händen haltend, eine elegante Verbeugung vor den Zuschauerrängen, während sein Kontrahent auf dem staubigen Boden der Arena aufschlug.
Das hölzerne Schwert
„…Und wie du ihn dann ins Gesicht getroffen hast! Und dann hast du sein Schwert aufgefangen!“
Grinsend sah Will seinem besten Freund Tom zu, wie dieser begeistert in dem kleinen Zimmer umhersprang und dabei wild mit dem Besen in seiner Hand herumruderte als sei dieser ein Schwert.
„So hab ich das ganz sicher nicht gemacht.“ Will erhob sich langsam, gespielt schwerfällig. „Dann…“ Tom sprang noch immer mit dem Besen umher, als ihn Will plötzlich packte, seinen Arm in einer blitzschnellen Bewegung auf den Rücken drehte und ihn so zwang, den Besen fallen zu lassen. „…hätte er nämlich das gemacht.“ Tom stöhnte auf.
Lachend gab Will seinen Freund frei und ließ sich wieder auf den Hocker fallen. Tom rieb sich derweil das Handgelenk. „Mann, ich wünschte, ich könnte auch so kämpfen wie du!“ „Wozu?“ Will seufzte. „Was hättest du davon?“ „Was ich davon hätte? Jeder hätte Respekt vor mir! Ist doch so. Sogar die Orks fürchten dein Schwert. Keiner traut sich, dich herumzuschubsen. Und du musst nicht mal vor den Blutfliegen Angst haben. Ich sag dir, ich würde alles dafür geben, es mit einem dieser Mistviecher aufzunehmen.“ „Was nützt es mir, dass sie Respekt vor meiner Kampfkunst haben? Ich bin noch immer ein Sklave, Tom, so wie wir alle.“ „Ja, aber du hast doch tausend Privilegien. Außerdem, was ist so schlecht daran? Unser Leben wäre nicht viel anders, wenn wir frei wären.“ „Doch, wir könnten gehen, wohin wir wollen.“ „Warum sollten wir hier weg? Es gibt keinen schöneren Ort auf der Welt als Silden.“ Will stieß einen weiteren Seufzer aus. „Wenn du das sagst.“ „Außerdem bist du fast frei. Ich meine, du kannst nicht gehen, aber du musst auch keine Arbeiten verrichten wie wir anderen. Und du wirst von allen bewundert. Jedes Mädchen weit und breit ist nur hinter dir her.“ „Na und? Was will ich mit denen?“ „Was du mit denen willst? Sag mal, manchmal versteh ich dich wirklich nicht. Ich sag dir, wenn die so hinter mir her wären, dann würd ich aber…“ „Was ist dein Problem?“ Will grinste. „Rosi ist doch ganz scharf auf dich. Mich hat sie noch keines Blickes gewürdigt.“ „Rosi, jetzt komm. Mein Onkel hat dickere Titten als die.“ „Das liegt aber mehr daran, dass dein Onkel fett wie´n Oger ist.“ „He!“ Tom lachte. „Trotzdem. Rosi sieht doch aus wie´n altersschwacher Lurker. Aber du, du könntest sie alle haben. Ach“ – ein Grinsen trat auf Toms Gesicht – „ich vergaß, der Herr hat ja nur Augen für Marie.“ „Jetzt hör doch mal endlich auf mit Marie. Da ist nichts! Sie ist… wie eine Schwester für mich“, sagte Will, wandte jedoch rasch den Kopf ab. Sein Freund brauchte seine rot angelaufenen Wangen nicht zu sehen. „Also Will!“, stieß dieser mit gespieltem Entsetzen aus. „Weißt du nicht, dass Inzest eine Todsünde ist?“ „Du und dein seltsamer Humor. Manchmal frag ich mich echt, warum ausgerechnet DU mein bester Freund bist.“
Tom wollte gerade etwas erwidern, als sich eine mächtige Gestalt ohne vorher anzuklopfen durch die selbst für Menschen kleine Tür zwängte. „Will!“, brummte der Orkkrieger mit tiefer, rauer Stimme. Der Angesprochene hob den Kopf. „Kriegsherr Galbrock möchte dich sehen.“ „Worum geht es?“ „Das wird er dir selbst sagen. Und jetzt stell keine Fragen, sondern folge mir, Morra.“
„Ah, Will, ich habe dich bereits erwartet!“
Der Kriegsherr wandte sich vom Fenster ab und blickte dem jungen Gladiator mit erstaunlicher Freundlichkeit ins Gesicht. Dieser verneigte sich leicht. „Ihr wolltet mich sprechen, Kriegsherr?“ Der Ork nickte. Doch anstatt zu sprechen, musterte er sein Gegenüber. Erst nach einigen Momenten des Schweigens ergriff er das Wort. „Du hast gut gekämpft.“ „Ich… Danke, Kriegsherr.“ „Das wievielte Mal in Folge gewinnst du die alljährlichen Kämpfe?“ „Das dritte, Kriegsherr.“ „Du bist siebzehn, nicht wahr?“ „Ja, Kriegsherr.“ „Beachtlich, beachtlich. Aber lass dieses ewige „Kriegsherr“.“ „Jawohl, Kriegs…“ Will brach ab. Der Ork lachte. „Ihr Morras seid schon ein seltsames Volk. Vielleicht solltet ihr weniger Wert auf all diese albernen Titel legen und euren Blick einmal auf die richten, die hinter den Titeln stehen.“ Will schwieg. Was wollte Galbrock nun von ihm?
„Du bist ein sehr guter Kämpfer, Will. Nicht nur für einen Morra – selbst die meisten meiner Krieger würden es nicht mit dir aufnehmen. Deine Siege ehren dich. Und dein junges Alter… Ein Ork lernt das Kämpfen vom dritten Lebensjahr an, doch bei euch Morras sieht das anders aus. Ich habe selten einen solchen Kämpfer aus den Reihen eures Volks gesehen. Wer hat dich das Kämpfen gelehrt?“ „Ich mich selbst.“ „Erstaunlich, erstaunlich. Wir Orks lernen es von unseren Vätern. Sie lehren uns das Kämpfen, das Schmieden und das Jagen. Und von Kindesbeinen an müssen wir diese Fähigkeiten einsetzen, um auf dem eisigen Gletscher und an den Ufern der großen Fjorde zu überleben. Dein Vater ist tot, nicht wahr, Will?“ Der junge Gladiator nickte stumm. „Ein Paladin hat ihn getötet.“ Galbrock schmunzelte. „Ein Paladin war der einzige Morra, den ich je wie dich kämpfen sah. Hrongar, würden wir Orks sagen. Ich glaube, ihr Morras nennt so etwas Ironie?“ „Vielleicht. Ich habe dieses Wort noch nie gehört. Es klingt wie aus dem Mund eines Magiers. Ich bin kein Magier, ich bin ein Sklave.“ „Du klingst nicht gerade glücklich über diesen Zustand.“ „Wie soll ich als Sklave glücklich sein?“ „Die meisten von euch sind es. Ihr genießt nicht weniger Freiheiten als ihr sie früher unter eurem König hattet. Eher im Gegenteil: Wir sorgen dafür, dass ihr gut zu essen habt und stellen euch frei, welchem Gott ihr huldigt.“ „Und doch können wir nicht gehen, wohin wir wollen. Es mag viele geben, die mit diesem Leben glücklich sind. Vielleicht ist es sogar ein gutes Leben, ich weiß es nicht, ich kenne kein anderes. Aber genau das ist mein Problem.“ „Für deine Worte könnte ich dich hinrichten lassen, Will. Aus deinem Mund spricht nicht der Respekt, der dem Kriegsherren der Orks gebührt.“ Galbrock schaute seinem Gegenüber fest in die Augen. Dieser erwiderte den Blick ebenso fest. Eine Weile schwiegen die beiden. Jeder hielt dem Blick des anderen stand. Schließlich fuhr sich Galbrock nachdenklich durch den wilden, roten Bart. „Du bist ein seltsamer Morra, Will. Nie zuvor habe ich einen solch starken Blick bei einem solch schwachen Volk gesehen.“ Er lachte. „Du sprichst ehrlich und ohne Furcht. Du bist ein Sklave – mein Sklave – und doch fürchtest du dich nicht, bist nicht unterwürfig wie die anderen deiner Rasse.“ Der Ork schwieg kurz. „Ich könnte dich für dein anmaßendes Verhalten hinrichten lassen“, wiederholte er, „aber du gefällst mir. Ich wünschte, es gäbe mehr Morras deines Schlages. Du willst also Freiheit?“ Der Ork wandte sich um, griff nach etwas, das auf der langen Tafel lag und reichte es dann dem Gladiator. Wills Augen weiteten sich. „Weißt du, was das ist?“, fragte Galbrock. „Ein… ein hölzernes Schwert. Es heißt…“ „Dass du frei bist, Will.“ Ungläubig hielt der junge Mann, der bis eben noch ein Sklave gewesen war, die hölzerne Waffe in Händen. „Frei“, murmelte er als könne er es nicht glauben. „Ja, frei. Nun kannst du gehen, wohin du willst, Will. Die Frage ist nur, ob das so viel besser ist.“ „Was ist das für eine Frage?“ Der Ork schwieg. Nach einer Weile hob er den Kopf. „Will, ich würde dir gerne ein Angebot machen: Bleibe in Silden. Nicht als mein Sklave, doch als mein Söldner. Du könntest es weit bringen unter den Söldnern der Orks.“ Will schüttelte den Kopf. „Das Angebot ehrt mich, aber ich möchte nicht hier in Silden bleiben. Ich will etwas von der Welt sehen.“ „Dein neues Leben, ja? Nun, ich werde dich nicht halten. Wir Orks kennen keine Heuchelei wie ihr Morras sie so gerne betreibt. Wenn ich sage, du bist frei, dann bist du frei. Geh, wenn du gehen willst. Doch ich rate es dir nicht. Du bist ein guter Kämpfer, Will, und auch nicht auf den Kopf gefallen, doch die große weite Welt ist nicht wie du sie dir vielleicht vorstellst. Du hast dein ganzes Leben in Silden und auf den Ebenen verbracht. Du weißt nicht, was dich dort draußen erwartet.“ „Aber ich will es herausfinden. „Tu es. Ich hoffe nur, du wirst es nicht eines Tages bereuen. Dein neues Leben könnte anders sein als du es dir vorstellst. Es ist nicht unbedingt gut, seine Welt zu verlassen, vor allem nicht, wenn sie klein und von allem anderen abgeschottet ist. Wir Orks kennen da ein Sprichwort: Krieger, bleib bei deinen Schwertern.“ „Danke für den Rat, doch mein Entschluss steht fest.“ „Dann zieh, ich wünsche dir Glück. Und falls du es dir anders überlegen solltest – ein Platz unter meinen Söldnern wird dir immer offen stehen.“ Der Ork schlug sich mit der Faust auf die Brust und streckte sie dann dem Gladiator entgegen. „Ehre und Stärke.“
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2013 um 12:34 Uhr)
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Blutfliegen im Bauch
Die Blätter der Trauerweide raschelten leise im Abendwind. Will saß auf einem großen Stein und blickte auf den See hinaus. Von Ferne wehten die Geräusche des Festes an sein Ohr. Er hatte Tom gesagt, dass er kein Fest wollte, doch sein Freund hatte ihm nicht zugehört. Mit einer Begeisterung als gäbe es seine eigene Befreiung zu feiern, hatte Tom zusammen mit den anderen Sklaven und Fischern ein Fest für seinen Freund organisiert. Und das gesamte Dorf war gekommen. Will war durchaus gerührt, dennoch wünschte er, sein Freund hätte dies nicht getan. Er wünschte, die Nachricht hätte sich nicht so schnell im Dorf verbreitet. Nun würde der Abschied noch schwerer fallen. Und er wusste ohnehin nicht, wie er sich verabschieden sollte. Was sagte man nach siebzehn Jahren? Was sagte man, wenn man das Dorf, in dem man sein ganzes Leben verbracht hatte, das alles war, was man von der Welt kannte, einfach so verließ? Will seufzte.
Dann hörte er das Geräusch weicher Schritte im feuchten Gras. Eine Gestalt setzte sich neben ihn auf den Stein. Will wusste, wer es war. Sein Magen zog sich zusammen, begann zu kribbeln. Wie ein Schwarm wilder Blutfliegen, die in seinem Körper umherflatterten, breitete sich das Gefühl aus, bis in seine Fingerspitzen.
Er wandte den Kopf. Dort saß eine zierliche Gestalt in einem unscheinbaren Kleid. Ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter. Ihr goldenes Haar schimmerte leicht im Licht des vollen Mondes. Sie lächelte ihn an. Oh, sie hatte so ein wundervolles Lächeln!
„Ich wusste, dass ich dich hier finde.“ Ihre glockenhelle Stimme drang wie von fern an sein Ohr. Er war völlig gefangen von dem Anblick ihres makellosen, engelsgleichen Gesichts, der Sommersprossen auf ihrem niedlichen kleinen Näschen und der blauen Augen, die dem See bei strahlendem Sonnenschein glichen.
„Du bist ziemlich schnell verschwunden.“ „Was?… Äh, ja. Ich hatte Tom gesagt, er soll das mit dem Fest sein lassen. Hat sonst noch jemand bemerkt, dass ich nicht da bin?“ Marie schüttelte den Kopf. Will spürte, wie das Kribbeln in seinem Bauch noch stärker wurde. Niemand hatte bemerkt, dass er, der Ehrengast fehlte; niemand, außer IHR!
„Die, die nicht auf der Tanzfläche ihren Rausch ausschlafen, vergnügen sich alle in den Büschen“, erklärte Marie grinsend. „Es ist niemand mehr übrig, der noch auf dich achtet. Die meisten dürften so betrunken sein, dass sie nicht einmal mehr wissen, zu wessen Ehren sie dieses Fest feiern.“ Will lächelte. „Soll mir recht sein. Diese Feier, dieser ganze Trubel…“ „Du hattest auf einen ruhigen Abgang gehofft, nicht?“ Will erschrak. Dabei hätte er es doch wissen müssen. Manchmal hatte er tatsächlich das Gefühl, Marie könne seine Gedanken lesen. Schon immer hatte sie gewusst, wie es ihm gerade ging, was er vorhatte. Es gab wohl niemanden, der ihn so gut kannte wie sie – nicht einmal Tom.
Eine Weile schwiegen die beiden, blickten hinaus auf die spiegelglatte, schwarze Oberfläche des Sees. In der Ferne sah man dunkel die Silhouetten der Türme der alten Paladinburg aus dem Wasser aufragen. Dazwischen glitzerten die Spiegelbilder des Mondes und abertausender Sterne.
Will ergriff wieder das Wort: „Warum bist du nicht mehr auf dem Fest?“ „Weil ich dich gesucht habe.“ „Schon klar, aber warum? Du könntest dich auch amüsieren. Alle anderen sind schon völlig betrunken, sagst du, aber du hast doch nicht ein Glas getrunken oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Und… naja… du könntest jetzt auch… du weißt schon…“ „Und mit wem?“ „Da gäbe es genug. Du hast doch das ganze Dorf zur Auswahl. Jeder Junge hier würde alles für einen einzigen Tanz mit dir geben.“ Marie hob die Augenbrauen. „Jeder?“ „Ähm…“ Will wurde rot und war insgeheim froh, dass es Nacht war. „Naja… du bist sehr hübsch.“ Er war sich nicht sicher, aber war es nun Marie, die errötete? „Du findest, dass ich hübsch bin?“, fragte sie. „Hübsch? Wunderschön!“
Er hatte doch sonst eine so feste Stimme, weshalb kamen ihm seine Worte plötzlich mehr wie ein unbeholfenes Krächzen vor? Er klang gerade furchtbar albern, da war er sich sicher. Warum war es nur so kompliziert? Warum musste er sich nur so ungeschickt anstellen? ER, der sonst immer bei allem, was er tat, so sicher war. Konnte das hier denn wirklich so viel schwerer sein als ein Kampf in der Arena? Aber er musste es endlich hinter sich bringen. So viele Jahre schmachtete er ihr nun schon nach. Und nun? Nun wollte er das Dorf verlassen. Nicht für immer, doch gewiss würde er sie eine lange Zeit nicht mehr sehen. Womöglich mehrere Jahre. Sie war inzwischen beinahe siebzehn und damit schon seit fast einem Jahr im heiratsfähigen Alter. Und er hatte nicht gelogen – jeder Junge im Dorf war hinter ihr her. Bis jetzt hatte sie sie alle abblitzen lassen, doch gewiss beabsichtigte sie nicht, sich ewig keusch zu halten. Was, wenn es bei seiner Rückkehr zu spät wäre? Nein, er musste es ihr sagen, jetzt!
„Marie, hör mal…“ Sie wandte ihm ihren Kopf zu. Warum musste sie das tun? Der Anblick ihres bezaubernden Gesichts raubte ihm schier die Sinne. Konnte sie ihm nicht den Rücken zukehren? Es wäre so viel einfacher gewesen, ihrem Rücken seine unsterbliche Liebe zu gestehen. Es hätte doch ausgereicht, wenn sie sich hinterher zu ihm umgedreht hätte, also warum tat sie das jetzt?
Will hätte sich am liebsten gegen die Stirn geschlagen. Was tat er hier eigentlich? Das war doch albern. Er musste sich einen Ruck geben, seine Gedanken ordnen. Es war ganz simpel: Da waren nur sie beide. Sie saßen dicht nebeneinander. Nur er und das schönste Geschöpf, das es auf Erden gab. Und es brauchte nichts weiter als drei kleine Wörtchen. Danach musste er sie nur in den Arm nehmen und seine Lippen auf die ihren legen – alles ganz simpel. Waren all die Manöver, die Finten und Paraden, die er sich selbst beigebracht hatte, nicht wesentlich komplizierter? Doch seine Gegner waren auch nie so unbeschreiblich schön. Wie konnte nur ein einzelner Mensch so schön sein? Das war doch nicht fair! Sicher wäre es um einiges einfacher gewesen, wenn sie hässlich gewesen wäre.
„Will? Du wolltest mir etwas sagen?“ Warum musste er es ihr eigentlich sagen? Hatte sie nicht eben noch – wie schon unzählige Male zuvor – eindrucksvoll bewiesen, dass sie offensichtlich in der Lage war, seine Gedanken zu lesen? Warum tat sie das jetzt nicht? Sie wusste doch sonst immer, was er fühlte, was er wollte. Warum konnte sie es jetzt nicht wissen? Das hätte es so viel einfacher gemacht. Sie musste doch nur sagen, dass sie das selbe empfand. Warum tat sie es denn nicht? Warum musste er den Anfang machen? Machte es ihr Spaß, ihn zappeln zu lassen? Es war doch so einfach. „Will, ich liebe dich.“ Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Dann würde er sie in den Arm nehmen und…
„Will? Du kannst mir alles sagen, egal, was es ist.“ Das sagte sie so einfach! Was, wenn sie wirklich nur eine Freundin war? Was, wenn sie sonst nichts empfand? Es traf ihn wie ein Pfeil, der sich in sein Herz bohrte. Es gab doch schließlich so viele andere Jungen in ihrem Alter in diesem Dorf. Warum sollte sie ausgerechnet für ihn etwas empfinden? Er sah noch nicht einmal besonders gut aus. Sein Gesicht war schmal, seine Nase krumm und seine Wangen waren hohl. Sicher, er hatte das ganze Jahr über nicht einen Arenakampf verloren, aber was wollte sie mit einem Krieger? In Silden war man vollkommen sicher. Warum sollte ein so liebreizendes Geschöpf, das absolut jeden Mann haben konnte, ausgerechnet ihn nehmen, der nichts anderes konnte als sich in der staubigen Arena zu prügeln? Er wusste weder wie man Fische fing, noch wie man ein Feld bestellte oder gar wie man Dinge reparierte. Was wollte sie mit so einem Mann? Welche Frau wünschte sich für ihre Kinder einen Vater, der ihnen kein anderes Gewerbe als das Kämpfen beibringen konnte?
„Will? Ist alles in Ordnung?“ Verdammt! Es wurde nur komplizierter, umso länger er wartete. Durch sein Verhalten machte er sich doch höchstens lächerlich. Will gab sich einen Ruck. Er versuchte, das Gefühl in seinem Magen, das wirkte als hätte er glühende Kohlen verschluckt, zu ignorieren.
„Marie… Ich wollte dir etwas sagen. Schon seit… seit Jahren.“ Sie blickte ihn erwartungsvoll aus ihren großen, klaren Augen an. „Wie gesagt, du bist wunderschön… Und… und… und ich mache mich hier gerade lächerlich“, dachte er. „Und immer, wenn ich dich sehe…“ Er brach ab. Ein gewaltiger Kloß schien seinen Hals zu verstopfen, jedes weitere Wort daran zu hindern, seinen Mund zu verlassen. Hatte er einen Stein verschluckt?
Plötzlich fühlte er, wie sie seine Hand nahm. Ein Schauer durchlief seinen Körper. Ihre Haut war so wunderbar weich. Nicht wie die seine, die rau und abgeschürft war. Abermals blickte er in ihre Augen. Sie lächelte. Es war ein aufmunterndes Lächeln. Als wollte sie ihn ermutigen.
Tatsächlich gelang es ihr für einen Moment und Will setzte aufs Neue an. „Marie, ich lie…“ Er brach ab. Einen Moment blickte er sie an, dann nahm er allen Mut zusammen und presste seine Lippen auf ihre. Wenn die Worte ihm nicht gehorchen wollten, dann musste es eben so gehen.
Marie schmiegte ihren Körper eng an den seinen, ließ sich in Wills Arme sinken und erwiderte den Kuss. Da war es wieder, das Kribbeln. Rasant breitete es sich in seinem ganzen Körper aus. Es war unbeschreiblich. Will glaubte, vor Glück explodieren zu müssen. Stattdessen genoss er das Gefühl ihrer warmen, weichen Lippen, während eine leichte Brise ihre Körper umspielte und ihnen eine zarte Gänsehaut bescherte.
Er wusste nicht, wie lange ihr Kuss angedauert hatte. Vielleicht waren es fünf Minuten gewesen, vielleicht aber auch fünf Stunden. Alles, was er wusste, war, dass es das schönste war, das er je erlebt hatte. Viel schöner als ein Sieg in der Arena.
Irgendwann hatten sich ihre Lippen voneinander gelöst. Eine Weile hatten sie sich noch verliebt in die Augen geschaut und angelächelt, dann hatten sie sich wieder dem mondbeschienenen See zugewandt.
So hatten sie die nächsten Stunden dagesessen, eng umschlungen, die kühle Abendluft und den herrlichen Anblick des Sees genossen und ab und an zärtliche Küsse getauscht, bis sie schließlich eingeschlafen waren.
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2013 um 12:33 Uhr)
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Abschied
Sie war so wunderschön! Wie sie dort lag, friedlich schlafend. Das goldene Haar schimmerte leicht rötlich in der aufgehenden Sonne.
Will lächelte. Als er erwacht war, hatte er sich gefragt, wie er es die Nacht über auf diesem harten Stein ausgehalten hatte. Vermutlich hätte er sich unter normalen Bedingungen geweigert, auf ihm zu schlafen, doch in dieser Nacht hatte es ihm seltsamerweise nicht das Geringste ausgemacht.
Doch nun wurde es Zeit für den Aufbruch. Noch war die Sonne gerade erst aufgegangen und Will hoffte, dass die meisten noch ihren Rausch ausschliefen. Er hatte beschlossen, sich von niemandem zu verabschieden – auch nicht von Tom. Er wusste nicht, für wen es schwieriger geworden wäre, für ihn oder für seinen Freund.
Doch was war mit Marie? Er blickte sie an. Sie lächelte im Schlaf. Es war das selbe glückliche Lächeln, das sie ihm schon nach ihrem Kuss geschenkt hatte. Konnte er es ihr wirklich antun, einfach zu gehen, ohne sich zu verabschieden? Konnte er sie wirklich einfach weiterschlafen lassen? Er stellte sich ihr Gesicht vor, wenn er bei ihrem Erwachen nicht mehr da wäre. Nein, es hätte ihr das Herz gebrochen. Er konnte es nicht.
Mit einem zärtlichen Kuss weckte Will seine Angebetete. Verschlafen öffnete diese die Augen. Er musste lächeln. Sie gab so ein süßes Bild ab. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ Sie erwiderte sein Lächeln. Dann schaute sie an ihm vorbei auf den See, dessen Wasser von der aufgehenden Sonne in ein sanftes Rosa getaucht wurde. „Herrlich, nicht wahr?“, fragte sie. Er nickte. „Wunderschön – wie du.“ Marie schlang lächelnd die Hände um seinen Nacken und küsste ihn. Will zog sie an sich heran, hielt sie fest in den Armen. Er spürte wieder jenes Kribbeln in sich aufsteigen, genoss ihren schlanken Körper, der sich eng an seinen schmiegte.
Auch als sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten, hielt er sie noch fest in seinen Armen. Am liebsten hätte er sie niemals wieder losgelassen, doch dies war nicht möglich und sie wusste das: „Du wirst jetzt gehen, nicht wahr?“ „Ja.“ Sie nickte stumm. Sie vergoss nicht eine Träne. Er musste leise schmunzeln. Eine der Eigenschaften, die er so an ihr liebte. Oh ja, sie war schon immer stark gewesen. Alles hatte sie mit Fassung getragen, selbst den Tod ihrer Mutter, wenngleich dieser ihr beinahe das Herz gebrochen hatte.
Sie lächelte traurig. „Ich hab es schon immer gewusst. Ich weiß noch, als wir klein waren: Tom war noch felsenfest davon überzeugt, es gäbe keinen anderen Ort als Silden und jenseits der großen Ebenen läge der Rand der Welt, da hast du schon davon geträumt, das Dorf zu verlassen.“ „Es muss sein. Marie, ich bin nicht für das Leben als Bauer oder Fischer geboren. Es hat mich schon immer von hier weggezogen. Ich will mehr von der Welt sehen, will wissen, wie es anderswo ist.“ „Ich weiß. Aber was ist mit mir?“ Will zog sie noch etwas fester an sich heran. „Ich liebe dich – mehr als alles andere. Für mich ist es auch nicht einfach, aber ich kann nicht anders. Aber ich bleibe ja nicht für immer weg. Vielleicht für ein, zwei Jahre. Kannst du solange warten?“ Marie nickte. „Ich könnte bis ans Ende aller Tage warten.“ „Das musst du nicht. Es wird nicht lange dauern, glaub mir.“ „Ich glaube dir.“ Sie lächelte. „Bis du zurück bist, sind wahrscheinlich alle Mädchen in meinem Alter schon verheiratet. Und mich werden sie eine alte Jungfer nennen.“ „Marie, ich…“ Sie gab ihm einen sanften Kuss. „Ist schon in Ordnung. Das macht mir nichts. Ich warte hier, bis du zurück bist, das verspreche ich dir.“ Will spürte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Beinahe war er überrascht, dass nun nicht ihm die Tränen kamen. „Aber du musst mir auch etwas versprechen.“ „Alles.“ „Nun, da draußen… Da gibt es sicher noch andere Mädchen…“ „Keines von ihnen kann so schön sein wie du. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich liebe dich – nur dich. Die anderen werde ich nicht eines Blickes würdigen – versprochen.“ Marie lächelte.
Einen Moment schwiegen sie, dann löste Marie sich aus seiner Umarmung, griff sich in den Ausschnitt und holte ein kleines Medaillon heraus, das an einem ledernen Band um ihren Hals hing. Sie zog sich das Band über den Kopf, nahm Wills Hand und legte es hinein. „Damit du an mich denkst“, flüsterte sie. „Aber… Das ist das Medaillon von deiner Mutter…“ Sie lächelte. „Bei dir ist es in guten Händen.“ „Aber du hast sonst nichts mehr von ihr, seit…“ „Ich habe noch immer meine Erinnerungen an sie. Bitte, Will. Ich möchte, dass du es trägst und ich glaube, sie hätte es auch gewollt.“ Will war gerührt. Ihm fehlten die Worte. Er konnte nichts tun, als es sich um den Hals zu hängen und das Medaillon dann unter sein Hemd zu schieben. „Ich werde es immer bei mir tragen“, sagte er.
Einen Moment blickten sie sich schweigend an, dann räusperte er sich. Er hatte schon wieder einen Kloß im Hals, doch dieses Mal fühlte es sich völlig anders an als am vorigen Abend. „Marie, könntest du Tom lebe wohl von mir sagen? Ich könnte es nicht.“ Sie nickte. „Aber er wird es nicht verstehen.“ „Ich weiß. Deshalb will ich es auch nur ungern selbst tun.“
Wieder schwiegen sie. Dann nahm Will sie in den Arm. „Wenn ich wiederkomme, befreie ich euch auch. Du und Tom, ihr werdet auch frei sein und dann bleiben wir beide zusammen – für immer.“ „Für immer…“ Es war nur ein Flüstern. Will zog sie noch enger an sich. Beide verschmolzen zu einem langen, zärtlichen Kuss. Er spürte etwas Nasses an ihren Wangen. Als er sie nach einer halben Ewigkeit endlich wieder losließ, erkannte er, dass sie dieses eine Mal doch den Tränen nachgegeben hatte. Er wollte etwas sagen, doch er konnte es nicht. Sein Magen verkrampfte sich. Er spürte, wie er zitterte.
„Tu es nicht. Bleib“, hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Er ignorierte sie, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging durch das vom Tau nasse Gras auf den Fluss im Süden zu. Ein Schluchzer, das war das letzte, was er von Marie hörte. Er wusste, dass sie ihm nachblickte, wusste, dass sie ihm noch nachblicken würde, wenn er lange nicht mehr zu sehen wäre.
Will umfasste durch den Stoff seines Hemds das Medaillon, das sie ihm gegeben hatte.
Ja, er würde wiederkommen, schon bald. Dann würde er sie befreien und sie würden glücklich werden. Bald.
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 09:55 Uhr)
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Zur verwitterten Steintafel
Die Tür knarrte, als er sie hinter sich schloss. Es war dunkel und stickig. Licht fiel nur durch einige schmale Ritzen zwischen den Brettern der hölzernen Wände hinein. An den zahlreichen, dicht aneinandergedrängten Tischen saßen grobschlächtige und finstere Gestalten mit großen Humpen vor sich.
Offenbar schien ihn niemand zu beachten.
Will begann, sich zwischen den Tischen hindurch zu der Theke auf der anderen Seite des Schankraums zu schlängeln. Am Tresen angelangt, ließ er sich auf einen der dortigen Hocker fallen.
Ein rundlicher Kerl mit einer Schürze, deren ursprüngliche Farbe beim besten Willen nicht mehr zu identifizieren war, und nicht viel mehr als einigen schwarzen Haarbüscheln auf dem Kopf, kam mit gelangweiltem Blick auf ihn zu. „Bier oder Schnaps?“, brummte er. „Ähm… Bier.“ Der Wirt griff unter den Tresen und holte einen verdreckten Humpen hervor. Er schien mit der Zunge an den Innenseiten seiner Wange entlangzufahren und spuckte dann kräftig in seine Schürze, mit der er daraufhin den Humpen auswischte. Will verzog angewidert das Gesicht. Der Wirt drehte sich unterdessen zu einem großen Fass um und ließ den Humpen volllaufen. Schließlich knallte er ihn schwungvoll vor Will auf die Theke, wobei ein beträchtlicher Teil des Inhalts über den Rand schwappte.
„Macht drei Kupferlinge“, brummte er. Mit noch immer gerümpfter Nase legte Will das Geld auf die Theke. Er hatte sich seinen Gewinn nach den Arenakämpfen immer aufgespart und war so an ein kleines Vermögen gekommen, von dem viele der übrigen Dorfbewohner nur hatten träumen können.
Der Wirt ließ das Geld in seine Tasche gleiten, nahm seine Schürze und nieste herzhaft hinein. Will beschloss, nichts von seinem Bier zu trinken.
„Wie heißt diese Schenke?“, fragte er stattdessen. „Zur verwitterten Steintafel. Steht über der Tür oder kannst du nicht lesen?“ „Nein“, sagte Will wahrheitsgemäß. „Hm.“ Der Wirt spuckte abermals aus, diesmal auf den strohgedeckten Boden. „Und woher kommt der Name?“ „Na weil du rund um diese verdammte Stadt lauter verwitterte Steintafeln und son Zeugs findest.“ „Was meinst du mit „son Zeugs“?“ „Na so magische Artefakte halt.“ „Und was sind das für Dinger?“ Der Wirt lachte. „Bist wohl echt nich von hier, was? Na ich mein so Ringe, Amulette, son Kram halt. Die liegen hier in der ganzen Gegend rum. Und wenn du die anziehst, dann wirst du stärker oder schneller oder was weiß ich.“ Nun war es Will, der lachte. „Ach komm, du verschaukelst mich.“ „Seh ich etwa so aus?“, fragte der Wirt leicht erbost. „Junge, das hier ist Geldern, die Stadt der Artefakte! Die ganze Gegend ist voll mit diesem Zeugs.“ „Das ist doch Schwachsinn. Du ziehst einen Ring an und wirst stärker? Ja klar.“ „Ja klar.“ Der Wirt schien gereizt. „Die wurden halt von irgendsolchen Robenträgern verhext.“ „Robenträger?“ „Na Hexer, Zauberer, Magier, du weißt schon. Kannst ja mal mit dem Einäugigen Jack reden.“ Der Wirt deutete auf einen Tisch in einer dunklen Ecke. „Der verkauft son Zeug. Schau’s dir doch einfach an, wenn du mir nicht glaubst.“
Neugierig drängte Will auf den Tisch Jacks zu, der ganz auf der anderen Seite des Raumes lag. Schmuck, der einem besondere Kräfte verlieh? Das konnte er einfach nicht glauben. So etwas gab es doch höchstens in Märchen. Aber wenn doch? Wenn es so etwas gab, musste er es unbedingt ausprobieren, mehr darüber erfahren.
Der Tisch, auf den der Wirt gezeigt hatte, lag völlig im Dunkeln. Eine einzige Gestalt saß auf einem Hocker am Tisch, den Kopf tief über einen Humpen gebeugt, sodass ihm das fettige, verfilzte und graussträhnige Haar ums Gesicht fiel und dieses völlig verbarg.
Will setzte sich auf die andere Seite des kleinen Tisches. Der Mann schien ihn nicht zu bemerken, saß weiter tief gebeugt da, die Hände an den Seiten seines Humpens.
Will räusperte sich – keine Reaktion. Er wartete einen kurzen Moment, dann räusperte er sich etwas lauter.
„Hast du Husten?“, erklang eine kratzige Stimme aus dem Gewirr der verfilzten Haare. „Ich… Nein.“ „Was soll dann das dämliche Räuspern?“ Der Mann hob den Kopf leicht, ohne sich aus seiner gebückten Haltung aufzurichten, sodass die fettigen Haare sich einem Vorhang gleich beiseite schoben. Will erkannte eingefallene Wangen und ein stoppeliges Kinn. Während das rechte Auge tief in seiner Höhle lag, war das linke hinter einer ledernen Augenklappe verborgen. Der Mann hatte Will kurz durchdringend angestiert und erhob nun wieder die kratzige Stimme: „Ich bin nur auf einem Auge blind und taub bin ich erst recht nicht. Ich merk schon noch, wenn sich wer an meinen Tisch setzt. Also sag, was du willst und dann hau wieder ab.“
Er senkte den Kopf wieder, sodass sein Gesicht abermals hinter dem grausträhnigen Haar verschwand und hob den Humpen mit beiden Händen an die Lippen.
„Ähm… bist du der Einäugige Jack?“, fragte Will. Sein Gegenüber ließ den Humpen langsam wieder auf den Tisch sinken, hob abermals langsam den Kopf und blickte Will mit schiefem Grinsen an. „Jack werd ich genannt, ja. Und was das Einäugig betrifft…“ Der Mann hob eine Hand zu seiner Augenklappe und schob sie kurz nach oben. Will wandte den Blick angewidert ab. Sein Gegenüber lachte, was eher nach einem trockenen Hüsteln klang, und schob die Augenklappe wieder an ihren Platz.
„Und was willst du vom guten Jack, Bürschchen?“ „Nun, mein Name ist Will, ich komme aus…“ „Vom Land, so viel merkt man gleich.“ Der Einäugige hob abwesend seine Hand. „Die erste Regel, die du dir merken sollst: Erzähl nicht jedem deine Lebensgeschichte, solang er nicht danach verlangt.“
Eine wohlproportionierte junge Frau – wobei der Ausdruck Frau stark übertrieben war; sie konnte nicht viel älter sein als Marie – trat auf das Handzeichen Jacks an den Tisch heran und stellte dessen leeren Humpen auf ein kleines Tablett in ihrer Hand. „Bring mir noch einen, Kindchen“, sagte dieser ohne aufzublicken. Die Kellnerin wandte sich in Richtung Tresen, um einen weiteren Humpen für den Einäugigen zu holen, als ihr dieser noch einen Klaps auf den Hintern gab. „Und beeil dich ein bisschen!“
Wieder beugte der Einäugige Jack sich weit vor, hielt den Kopf gesenkt und verbarg sein Gesicht auf diese Weise hinter seinem Haar. Seine Ellenbogen ruhten dabei auf der Tischplatte, während seine Hände lose in der Luft hingen.
„Was willst du jetzt von mir?“, unterbrach er nach einer Weile die Stille. „Ähm… der Wirt meinte, du verkaufst magischen Schmuck.“ Wieder ließ Wills Gegenüber ein krächzendes Lachen ertönen. „Schmuck? Schmuck ist was für Weiber!“ Er packte die junge Kellnerin, die gerade seinen neuen Humpen vor ihm auf den Tisch stellte, unsanft am Arm und hielt sie auf diese Weise davon ab, sich wieder zu entfernen. Das Mädchen erschrak und blickte unsicher auf das Gewirr verdreckter Haare hinab. „Ist doch so, mein Kind, nicht?“, fragte der Einäugige. Sie nickte nervös. „Ähm… ja, ja.“ Jack hob den Kopf und drehte ihn der Kellnerin zu. Gleichzeitig verstärkte er seinen Griff um ihren Arm noch, sodass sie sich mit schmerzerfülltem Gesicht auf die Unterlippe biss und zog an ihm, was das Mädchen zwang, sich weit vorzubeugen. Mit schiefem Grinsen starrte Wills Gegenüber in den üppigen Ausschnitt der Kellnerin. Mit der anderen Hand griff er in die Tasche und holte eine Kupfermünze daraus hervor. „Hier, Kindchen, kauf dir was davon“, sagte er und schob die Münze langsam und genüsslich in den Ausschnitt des Mädchens. Einen Moment verharrte er mit seiner Hand dort, wo er die Münze hingesteckt hatte, dann zog er sie zurück, ließ die Kellnerin ruckartig los und verabschiedete sie mit einem weiteren Klaps auf den Hintern.
„Also, merk dir“, sagte er, über den neuen Humpen gebeugt. „Der Einäugige Jack handelt mit magischen Artefakten.“ „Ja, gut, Artefakte.“ Will fühlte sich immer unwohler in diesem Raum, vor allem aber in der Gegenwart dieses Mannes, doch er musste mehr über diese Gegenstände erfahren. „Und es stimmt, dass man stärker wird, wenn man die anlegt?“ „Stärker, schneller, geschickter.“ Der Einäugige hob den Kopf, grinste Will zwischen dem fettigen Haar hindurch an. „Ich hab auch welche für deinen kleinen Freund.“ „Freund? Welcher Freund?“ Will blickte sich verwirrt um, was sein Gegenüber zu einem weiteren trockenen Hüsteln veranlasste. „Na der da unten in deiner Hose. Hab hier noch nen Ring, wenn du den trägst, kannst du vierundzwanzig Stunden am Stück vögeln und alle Weiber in dieser ganzen innosverdammten Stadt flachlegen. Aber den Steckst du dir trotzdem über’n Finger, klar? Hatte da schon Kunden, die auf die komischsten Ideen kamen.“ „Ähm nein, so was brauch ich nicht. Ich wollte nur fragen, geht das wirklich?“ „Soll ich’s dir etwa vormachen? Was glaubst du denn? Natürlich funktioniert das, sonst gäbe es hier wohl kaum so einen regen Handel mit dem Zeug! Geldern ist die Hochburg der Artefakthändler.“ „Und wo kommen diese Artefakte her?“, fragte Will, dessen Neugier nun entgültig geweckt war und auch das mulmige Gefühl, das dieser seltsame Zeitgenosse in seinem Magen auslöste, überstieg. „Zweite Regel, Bürschchen: Einige mögen es nicht, wenn du zu viele Fragen stellst. Ich hab so meine Quellen, das muss dir reichen. Was ist jetzt, willst du was kaufen?“ „Wie viel würde denn ein Artefakt kosten?“ „Hm, sagen wir, fünf Silberlinge.“ „Fünf Silberlinge?!“, stieß Will entsetzt aus. „Wer soll denn bitteschön so viel Geld haben?“ „Da wo du herkommst keiner, schätz ich mal“, sagte der Einäugige grinsend. „Aber ich feilsche nicht. Kein Geld, keine Ware. Und jetzt zisch ab!“
Das Zimmer, das Will beim Wirt gemietet hatte, war klein. Es lag direkt unter dem Dach, sodass er kaum darin stehen konnte. Fenster gab es keine, lediglich eine größere Ritze zwischen zwei Brettern in der Wand.
Durch diese Ritze blickte Will hinaus auf die ärmlichen Hütten rund um das Gasthaus. Das Minenviertel von Geldern.
Eine Woche war seit seinem Aufbruch vergangen. An diesem Morgen hatte er nach langer Reise durch einen großen Wald endlich sein Ziel erreicht: Geldern, der einzige Ort außer Silden, den er zumindest dem Namen nach kannte. Er wusste, dass die Felle, die Fische und das Holz aus Silden zu großen Teilen nach Geldern gebracht wurden. In seinem Dorf hatte er schon ab und an von dieser Stadt gehört. Zwar wusste er, dass es noch mehr Siedlungen außer Silden und Geldern auf der Welt gab, doch war ihm keine mit Namen bekannt. So war es nicht weiter verwunderlich, dass er diese Stadt als erstes angesteuert hatte.
Doch dies hatte er nicht erwartet. Sein ganzes Leben hatte er in Silden verbracht. Eine andere Siedlung hatte er sich kaum vorstellen können. Entsprechend überwältigend war es gewesen, als er Geldern endlich erreicht hatte: Die Stadtmauer musste kilometerlang sein und reichte von den Bergen im Osten bis hin zu denen im Westen. Es gab keinen Vergleich mit Sildens ärmlichem Holzwall. In der Stadt selbst mussten Tausende leben. Und erst der Anblick der zumindest außerhalb des Minenviertels prachtvollen Gebäude! In Silden waren sämtliche Hütten aus Holz gewesen. Lediglich Kriegsherr Galbrock hatte ein steinernes Haus besessen.
Doch hier in Geldern schien dies das gewöhnlichste auf Erden zu sein. Erschöpft ließ sich Will auf den mit nach Schimmel riechendem Stroh gedeckten Boden fallen, wobei einige Fleischwanzen aufgeschreckt davonkrabbelten.
All die neuen Eindrücke… Es war einfach zu viel für ihn. Er musste all dies noch verarbeiten. Die große, weite Welt war so anders als er sie sich vorgestellt hatte. Und noch wusste er nicht so recht, was er von ihr halten sollte. Gerade das schäbige Gasthaus mit seinen zwielichtigen Gestalten war ihm nicht ganz geheuer. Gerne hätte er an einem anderen Ort geschlafen, doch dafür fehlte ihm das Geld. Bis jetzt hatte er angenommen, ein kleines Vermögen zu besitzen, doch die Preise für das Bier und die Artefakte und erst recht der für dieses Zimmer hatten ihn eines besseren belehrt und ihm gezeigt, dass die paar Kupferlinge, die er bei sich trug nicht einmal ausreichen würden, um auch nur eine Woche lang über die Runden zu kommen.
Er musste sich nach einer Möglichkeit umsehen, an Geld zu kommen. Schließlich musste er von irgendetwas dieses Zimmer und seine Nahrung bezahlen. Und gerne hätte er auch eines der Artefakte des Einäugigen Jacks gekauft. Wenngleich dieser keinen allzu vertrauenserweckenden Eindruck gemacht hatte, so war es ihm doch gelungen, Wills Interesse zu wecken.
Der junge Abenteurer griff sich unter sein Hemd, zog das Medaillon, das er um den Hals trug, hervor und drückte es sich an die Brust. Dann hob er es an die Lippen und drückte einen sanften Kuss auf das kalte Metall. „Marie“, flüsterte er.
Dann schlief er ein.
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 09:57 Uhr)
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Die Minen von Geldern
Will betrat das steinerne Gebäude am Rande des Minenviertels, welches direkt an die südliche Stadtmauer von Geldern herangebaut war.
Er fand sich in einem kleinen, etwas staubigen Raum wieder. An den Wänden standen einige Regale und in der Mitte des Zimmers befand sich ein kleiner Tisch voller Pergamente und Akten. Ein schon etwas in die Jahre gekommener Mann mit dicken Wangen, roter Nase und einem imposanten, leicht ergrauten Schnauzer saß dahinter, eine Feder in seiner Hand und mit gerunzelter Stirn über ein Stück Pergament gebeugt. Er trug einen schwarzen Waffenrock, der sich über dem Bauch stark spannte. Auf seiner Brust prangte ein Wappen, das Will schon bei seiner Ankunft direkt über dem Stadttor gesehen hatte und welches das Wappen Gelderns sein musste: Sieben goldene Ringe auf grünem Grund.
„Verzeihung, aber ich würde gerne mit Hauptmann Gerald sprechen“, begann Will. „Sitzt vor dir“, brummte der Mann, ohne aufzusehen. „Dann seid ihr der Kommandant der Minenwachen.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Man hat mir gesagt, ihr hättet Arbeit für einen Kämpfer.“ Mit „man“ meinte Will den Wirt, bei dem er sich am Morgen erkundigt hatte, wo jemand wie er in dieser Stadt Geld verdienen konnte.
Hauptmann Gerald blickte zum ersten Mal von seinen Akten auf und musterte Will nun scharf. „Du siehst ja aus als hättest du gestern noch an Mutters Brust gehangen. Wie alt bist du?“ „Siebzehn.“ „Ha! Siebzehn. Junge, ich brauche Kämpfer, keine Wasserträger. Kannst ja erst mal bei den Minenarbeitern anfangen.“ „Ich bin nicht hier, um eine Spitzhacke zu schwingen“, antwortete Will mit fester Stimme, versuchte dabei jedoch, so ruhig wie möglich zu bleiben. Der Kerl behandelte ihn wie einen Drei-, nicht wie einen Siebzehnjährigen. Doch dies hier war nicht Silden, wo jeder jeden kannte und wo er ob seiner Schwertkünste eine Berühmtheit war. Hier musste er sich aufs Neue beweisen.
Geralds Blick wanderte unterdessen zu dem Schwert an Wills Gürtel. „Ich wette, du kannst das Ding noch nicht mal hochhalten.“ „Und ich wette, ich kann es nicht nur halten, sondern damit auch deinen besten Mann besiegen.“ Gerald schaute kurz ungläubig, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Oh Mann, der war gut. Gefällst mir, Bürschchen. Aber ganz wie du willst.“
Ächzend stand Hauptmann Gerald auf, ging zu einer Tür an der Seite des Raumes, steckte seinen Kopf hindurch und rief „Bardo, komm doch mal her!“
Ein schlaksiger Kerl in einem Waffenrock, der dem Geralds glich, trat mit neugierigem Blick durch die Tür. „Nicht mein bester, aber gut genug“, erklärte der Hauptmann an Will gewandt. „Besieg ihn und du bist dabei. Und du, Bardo, zeigst dem Wicht hier mal, was die Minenwache von Geldern so draufhat.“
Der Krieger namens Bardo zog sein Schwert und kam auf Will zu. Dieser stand völlig ruhig da und machte keinerlei Anstalten, selbst zur Waffe zu greifen. Dies schein sein Gegenüber zu verunsichern. Doch genau darauf hatte Will gewartet. Als Bardo langsam das Schwert hob, wirbelte er blitzschnell darunter hindurch, packte den Arm seines Widersachers, drehte ihn ihm auf den Rücken und zwang ihn so, das Schwert loszulassen. „Reicht das?“, fragte er an Gerald gewandt. Dieser nickte nur mit leicht geöffnetem Mund. Bardo hob unterdessen sein Schwert auf, dann wandte er sich seinem Kommandanten zu. „Hauptmann, ich…“ „Ach, geh mir aus den Augen. Und so was wie du will die Arbeiter vor Crawlern schützen.“ Hastig und mit gesenktem Kopf verschwand Bardo durch die Tür, durch die er gekommen war.
Gerald ließ sich unterdessen schwerfällig auf seinen Stuhl zurückplumpsen. „Komm näher mein Junge, komm näher“, sagte er freundlich. „Solche wie dich können wir in den Minen gebrauchen. Ich mach dich zu einem meiner Männer.“ Will lächelte erfreut. Gerald jedoch verzog das Gesicht und begann, in dem Stapel Pergamente auf seinem Tisch zu wühlen. „Jetzt müssen wir nur noch diesen leidigen Papierkram erledigen.“ Er zog eine leicht zerknitterte Pergamentrolle unter dem Stapel hervor und zückte seine Feder. „Name?“ „Will.“ „W-i-l-l-h-e-l-m“, murmelte Gerald, während er den Namen niederschrieb. „Nein, nicht Willhelm.“ „Nicht?“ Ein kratzendes Geräusch, als der Hauptmann der Minenwachen den Namen wieder durchstrich. „Wie dann? William?“ „Nein.“ „Wilfried?“ „Nein.“ „Willibald?“ „Nein, einfach nur Will.“ „Wie du meinst, Einfach-nur-Will.“ Gerald kritzelte den Namen auf das Pergament. „Herkunft?“ „Silden. Wozu ist das wichtig?“ „Keine Ahnung. Die Alchemisten wollen das so. Wahrscheinlich irgend so ein Bürgerkratiescheiß.“ „Was ist denn Bürgerkratie?“, fragte Will neugierig. Er hatte den Verdacht, dass es sich wieder um so ein gebildetes Wort handelte, wie schon „Ironie“. „Das heißt, dass ich hier diese ganzen beschissenen Papiere ausfüllen muss. Hm, Alter… siebzehn. Blablabla… und so weiter und so fort…“ Gerald machte einige Notizen auf dem Pergament, dann blickte er auf. „Dann mach mal hier deine Unterschrift.“ Er überreichte Will die Feder. „Ich kann nicht schreiben“, erwiderte dieser. „Dann mach’n Kreuz. Ist mir gleich.“ Will tat wie ihm geheißen und gab dann die Feder an seinen neuen Hauptmann zurück. Dieser rieb sich freudestrahlend die Hände. „So, jetzt geben wir dir nur noch deinen Waffenrock und dann schick ich dich mit Ulrich in die Mine. Der Ulrich is’n guter Mann, der wird dir alles zeigen.“ Gerald reichte Will die Hand. „Willkommen bei der gelderner Minenwache.“
Alles, was sie hörten, war das monotone Hackgeräusch, das an den steinernen Wänden widerhallte. Links und rechts trieben die Arbeiter ihre Spitzhacken unermüdlich in den Fels. Dann und wann begegneten sie einer Minenwache, die mit gelangweiltem Blick an der Wand stand und auf den kahlen Stein starrte. Erhellt wurde das Szenario nur von den Fackeln, die in einigen Abständen an den Stützbalken hingen und jener, welche Ulrich in seiner Hand hielt.
„Jaja, die Minen von Geldern“, sagte Ulrich, ein gut gebauter Mann mittleren Alters mit einem schmalen Schnurrbart. „Wir Minenwachen sind in dieser Stadt fast wichtiger als die gewöhnliche Stadtwache. Du weißt sicher, dass Geldern eine der reichsten Städte der Welt ist. Und dieser Reichtum kommt zu großen Teilen von den Minen. Deshalb sind sie – und damit wir – so wichtig.“ „Wie viele Minen gibt es?“, wollte Will wissen. „Dutzende. Der Großteil liegt außerhalb der Stadt, im Norden. Die meisten sind Goldminen, aber in diesen Bergen findest du auch Eisen und Schwefel. Und in zwei Stollen wird sogar nach Artefakten gebuddelt. Die bringen auch einiges ein – wenn sie nicht grad zu Forschungszwecken an die Uni gebracht werden. Aber als normaler Mensch kommst du da auf legtalem Weg nicht dran. Höchstens als Magier, angesehener Alchemist oder so.“ „Legtal? Was heißt das?“ Bis vor kurzem hatte Will immer geglaubt, alles Wichtige zu wissen – wahrscheinlich hatte dies auch der Wahrheit entsprochen, doch war dies eine Wahrheit, die nur für Silden allein galt. In dem kleinen Dorf am Rande des großen Sees hatte niemand schreiben oder lesen können – außer einigen Orks vielleicht, doch diese hatten es nur in ihrer eigenen Sprache gekonnt, nicht in der der Menschen. Doch obwohl er erst so kurz in Geldern verweilte, kam sich Will mehr und mehr wie ein dummer Bauerntölpel vor, der von nichts eine Ahnung hatte. Und dieses Gefühl behagte Will ganz und gar nicht. „Ganz einfach: Wenn du etwas machst, was legtal ist, lochen die dich nicht ein. Wenn’s unlegtal ist, gibt’s Ärger mit der Stadtwache“, beantwortete Ulrich die Frage. „Und welche wie wir kommen nur unlegtal an die Artefakte. Gibt nämlich ein paar Arbeiter, die bei den Grabungen was einstecken und dann an irgendwelche Hehler verticken. Bei denen sind die Sachen dann zu haben. Aber das meiste davon ist eh gefälscht oder Ramsch. Na wie dem auch sei. Wir von der Minenwache passen jedenfalls auf, dass hier in den Stollen alles glatt läuft. Und die von der Stadtwache haben uns nichts zu sagen. Wir unterstehen direkt den Alchemisten.“ „Wer sind diese Alchemisten?“ Will wollte unbedingt so viel wie möglich erfahren – vor allem über diese Stadt, in der er wohl die nächste Zeit verbringen würde. Ulrich jedoch schaute ungläubig. „Junge, weißt du etwa nicht, was das Wappen da auf deiner Brust bedeutet?“ Will schaute an sich hinunter. Auch er trug nun den schwarzen Waffenrock mit dem gelderner Stadtwappen darauf. Er schüttelte den Kopf. Ulrich brach in schallendes Gelächter aus. „Weiß nicht mal, für wen er arbeitet.“ „Dann sag’s mir doch“, forderte ihn Will leicht verstimmt auf. „Bist wohl echt nicht von hier, was? Also pass auf: Geldern ist die Hochburg der Alchemisten. Die größten Alchemisten aller Zeiten kamen hierher. Sämtliche alchemistische Errungenschaften wurden hier oder von Leuten, die von hier kamen, gemacht. Die Studienplätze für Alchemie an unserer Uni sind begehrt wie höchstens noch die für Philodings… Philo-… Na dieses gelehrte Geschwafel halt. Und unter all diesen Alchemisten gab es sieben besonders große. Sie lebten in der Anfangszeit dieser Stadt. Manche sagen sogar, sie hätten sie gegründet. Jedenfalls begründete jeder von ihnen eine eigene Dynastie. Und diese sieben Häuser haben im Laufe ihrer Geschichte die größten Alchemisten aller Zeiten hervorgebracht. Die jeweiligen Familienoberhäupter bilden zusammen den Rat der Alchemisten, der seit jeher über diese Stadt geherrscht hat. Und jeder von ihnen trägt einen der sogenannten Alchemistenringe. Das sind die auf dem Wappen da auf deiner Brust.“ „Verstehe. Aber sag mal, was ist das für eine Uni, von der du da erzählst?“ „Sag nur, von der gelderner Uni hast du auch noch nicht gehört? Die soll die beste der Welt sein! Aus ganz Myrtana kommen sie nach Geldern, um hier zu studieren. Ein paar kommen sogar aus Varant und von den Südlichen Inseln.“ Die beste Universität der Welt? Will horchte auf. Vielleicht bot sich hier die Möglichkeit, seine zahlreichen Wissenslücken zu schließen. „Was kann man denn da alles lernen?“, fragte er aufgeregt. „Alles. Wie gesagt, am begehrtesten sind die Plätze für Alchemie und Philoduweißtschon. Die sollen hier besonders gut sein. Aber du kannst auch zig andere Sachen lernen. Das meiste ist aber son gelehrtes Zeugs, was du nicht mal aussprechen kannst. Theonochwas, Geodings, Astro…“ „Auch lesen?“, unterbrach Will den Minenwächter an seiner Seite. Dieser lachte. „Ne, ich schätz mal, das setzen die voraus. Genau weiß ich das aber nicht. Die Uni ist eh was für die feinere Gesellschaft. Die meisten, die da studieren, kommen aus irgendwelchen Adels- oder reichen Handelsfamilien – oder eben aus den großen Alchemistenfamilien. Wir beide kämen da eh nicht hin, mit unserem mickrigen Sold. Nicht bei den Studiengebühren, die die verlangen.“ „Und gibt es sonst niemanden in dieser Stadt, der einem das Lesen beibringen kann?“ „Junge, wozu willst du lesen? Ich kann’s auch nicht, hab’s auch nie gebraucht. Reine Zeitverschwendung. Das ist doch nur was für Magier. Ich sag dir, ehrbare Menschen brauchen keine komischen Striche auf Pergament, um sich zu verständigen, die kommen auch so klar.“ „Ich wüsste trotzdem ganz gerne, wo ich es lernen kann.“ „Hm, lass mal überlegen. Könntest ja einen der Studenten fragen. Ein paar der weniger reichen müssen sich nebenher noch was verdienen. Ich kenn da einen.“ „Wen?“, fragte Will aufgeregt. „Ein junger Alchemist. Renwik heißt der Kerl. Der macht ab und zu ein paar kleinere Geschäfte, um sich das Studium leisten zu können.“ „Was für Geschäfte?“ „Alles mögliche. Ich hab ihn kennengelernt, weil ich einen Trank brauchte. Ich hatte nicht das Geld, zu einem richtigen Alchemisten zu gehen und es war auch ein Trank, von dem nicht jeder wissen musste, dass ich den brauche. Bin dann durch Zufall an diesen Renwik gekommen und er hat mir den Trank gegen eine vergleichbar geringe Summe gebraut. Eigentlich darf er so was als Student noch nicht. Es gibt hier in der Stadt strenge Gesetze für Alchemisten und Heiler. Die sieben großen Familien kontrollieren die ganze Zunft. Aber irgendwie muss der Kerl halt das Geld zusammenkratzen. Ich wette, der würde dir auch das Lesen beibringen. Im Gegensatz zum Tränkebrauen wär das ja sogar legtal.“ „Was war das denn für ein Trank?“, fragte Will neugierig. Ulrich errötete leicht. „Nur ein… Heiltrank. Was Spezielles für mich und meine Hilde. Wir – also ich – hatte da ein paar Probleme…“ „Verstehe“, sagte Will und verkniff sich das Lachen. „Und wo finde ich diesen Renwik?“ „Na in der Uni natürlich. Frag da halt rum.“ „Werd ich machen. Danke.“
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:00 Uhr)
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Wandteppiche und kleine Sünden
Die Universität von Geldern war ein in Wills Augen geradezu monumentaler Bau. Selbst die aus seiner Sicht prächtigen Fachwerkhäuser und Garnisonen der Stadt waren nichts im Vergleich zu diesem Palast. Ja, Palast, diese Bezeichnung schien ihm mehr als passend. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte das Gebäude für ein Schloss gehalten. So mussten die Residenzen der legendären Herrscher aus den alten Geschichten ausgesehen haben.
Ehrfürchtig überquerte Will – nun wieder „in Zivil“, wie Hauptmann Gerald es nannte; „in Lumpen“, wie Ulrich es nannte – den großen Platz, in dessen Mitte sich in einem Kreis von Symbolen ein schmaler Obelisk erhob. Ehrfürchtig stieg er die Stufen zu dem mächtigen, von Säulen gesäumten Eingang der Universität hinauf. Ehrfürchtig durchquerte er das schwere Eichenportal und blickte sich dann in der großen Eingangshalle um.
Will war sich sicher, dass das Haus von Kriegsherr Galbrock zehn-, wenn nicht zwanzigmal in diese Halle gepasst hätte. Er bewunderte die Fresken, die die Decke schmückten, und die breite marmorne Treppe, die gegenüber dem Eingangsportal begann und zu einer weiteren schweren und reich verzierten Tür hinaufführte. Auch die marmorne Statue in der Mitte des Raumes, die einen Mann in einer langen Robe mit weiten Ärmeln zeigte, der ein aufgeschlagenes Buch in Händen hielt und darin zu lesen schien, wurde von ihm mit ehrfürchtigem Staunen bedacht.
Lesen… Deshalb war er hier. Er musste diesen Renwik finden.
Dies gestaltete sich als schwerer als gedacht. Die Universität schien um ein Vielfaches größer als ganz Silden zusammen und glich eher einem Labyrinth. Auch hatte er erwartet, die in der Eingangshalle und auf den Gängen umherlaufenden Studenten würden ihm Auskunft über Renwiks Aufenthaltsort geben können, doch überrascht musste Will feststellen, dass die Studenten dieser Universität einander keineswegs alle kannten wie etwa die Bewohner Sildens. So erhielt er nur ungefähre Angaben, erfuhr, in welchem Flügel des gewaltigen Gebäudekomplexes die Alchemisten studierten, doch nicht, wo genau Renwik zu finden war. Und selbst der Alchemistenflügel des Gebäudes allein war bereits riesig und unübersichtlich.
Es kam ihm vor als sei er stundenlang durch die Gänge der Universität geirrt, als er endlich einen Alchemiestudenten traf, der ihm sagen konnte, dass Renwik gerade eine dreistündige Vorlesung über die Eigenschaften der gemeinen Felsennessel besuchte und der auch wusste, wo diese Vorlesung stattfand.
Will stand vor einer doppelflügeligen Tür, die zwar nicht so groß und so reich verziert war wie jene in der Eingangshalle, aber dennoch ein eindrucksvolles Bild abgab – gerade für Will, in dessen Heimatdorf schon das bloße Vorhandensein einer Tür eine Besonderheit gewesen war.
Hinter dieser Tür fand die Vorlesung statt, doch konnte er dort einfach so hinein? Will legte eine Hand auf den schweren Türknauf. Unschlüssig verharrte er. Nach wie es ihm vorkam einigen Minuten ließ er die Hand langsam sinken.
Nein, er konnte da nicht einfach so hereinplatzen. Doch was sollte er sonst tun?
Will wandte sich von der Tür ab und ließ seinen Blick durch den Gang schweifen, in dem er sich befand. Einige Tapisserien an den Wänden erregten seine Aufmerksamkeit. Interessiert trat er an eine von ihnen heran.
Sie schien eine Schlacht darzustellen. Zwei Heere prallten aufeinander. Gepanzerte Reiter, Lanzenträger und Bogenschützen waren auf dem Wandteppich abgebildet. Und dann war da ein Mann in roter Robe. Fasziniert betrachtete Will die in den Stoff gewobene Figur. Sie hatte die Hände gen Himmel erhoben wie zu einer Beschwörung. Und vor ihr ergoss sich ein Regen aus Flammen über ihre Feinde.
„Ein Magier“, dachte Will. Ja, dies war gewiss ein Magier. Will hatte als Kind in Silden gerne den Erzählungen der Alten gelauscht. Auch dort waren Magier und magische Artefakte vorgekommen – ebenso wie strahlende Recken, mächtige Könige und gefährliche Drachen. Will hatte schon früh nicht mehr an diese Geschichten geglaubt, hatte all dies nur für Mythen gehalten.
Magie. Menschen, die mit Feuerbällen warfen, die Dinge schweben ließen, andere in Angst oder Schlaf versetzten. So etwas konnte es doch einfach nicht geben – zumindest hatte er das bisher geglaubt.
Doch die Realität schien anders auszusehen.
Es gab Magie und wenn sie wirklich solche Kräfte entfesseln konnte wie auf jenem Wandteppich… „Sie muss einen unbesiegbar machen“, dachte Will.
Er ließ seinen Blick weiter über die Bildwirkereien schweifen. Und er entdeckte noch mehr Darstellungen von Magie. Hier vertrieben Paladine Untote mit Kugeln strahlenden Lichts, dort kämpfte ein Magier gegen einen schrecklichen Dämon.
Ein seltsamer Zauber schien von diesen Bildern auszugehen und auf ihn einzuwirken, ihn völlig in ihren Bann zu ziehen. Will war vollkommen fasziniert, verlor sich regelrecht in den Darstellungen der Zaubernden. Er vertiefte sich vollkommen in diesen Anblick und vergaß dabei alles um sich herum.
Hinter ihm öffnete sich die Tür. Lautes Stimmengewirr und Fußgetrappel drangen an sein Ohr.
Will fuhr herum. Die Vorlesung schien vorbei. Die Studenten strömten nach draußen. Er erschrak leicht. Hatte er wirklich so viel Zeit allein mit dem Anblick dieser Bilder verbracht? Er fühlte sich wie aus einem Traum erwacht. Einige Sekunden brauchte es, bis er seine Gedanken geordnet hatte und ihm siedendheiß wieder einfiel, weshalb er eigentlich hier war.
Er musste diesen Renwik finden.
Schnell schritt er auf die schwatzende Menge der Studenten zu, die keinerlei Notiz von ihm zu nehmen schienen. Die ersten bogen schon um die Ecke des Ganges. Was, wenn Renwik bereits weg war?
Will packte einen der zukünftigen Alchemisten am Ärmel und hielt ihn zurück. „Ich suche einen gewissen Renwik.“ Der Student musterte Will zunächst verdutzt, dann geringschätzig und antwortete schließlich mit einem knappen „Er sitzt noch drinnen“, bevor er sich losriss und in der Menge verschwand.
Aufgeregt drängte Will sich an dem Strom der Studenten vorbei in den Vorlesungssaal. Hastig blickte er sich um. Es war niemand mehr hier. Die letzten quetschten sich gerade hinaus auf den Gang. Doch! Dort, in der hintersten Reihe saß ein junger Mann und schien damit beschäftigt, einen großen Haufen Papiere, der vor ihm verstreut lag, zusammenzuraffen und in eine viel zu kleine Tasche zu stopfen.
„Ähm, Entschuldigung…“ Der Student blickte auf. Er konnte kaum älter sein als Will selbst. Unter einem Schopf hellen Haares blickte ein leicht blasses und etwas unsicher wirkendes Gesicht mit zwei großen, abstehenden Ohren hervor. „Du bist nicht zufällig Renwik?“ „Ähm, doch, ja. Wieso?“ „Ich hörte, du könntest mir für etwas Geld bei einem Problem aushelfen.“ Renwik zuckte zusammen. „Pst! Nicht so laut!“, flüsterte er. „Wieso, was stimmt denn nicht?“ Will blickte sich um. Selbst der Dozent hatte den Raum mittlerweile verlassen. „Es ist niemand hier.“ „Die Alchemisten haben ihre Ohren überall. Komm mit nach draußen.“ Will zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“
„Also, wer hat dir erzählt, ich würde dir irgendwelche Tränke brauen?“
Sie liefen über den großen Platz vor der Universität. Renwik presste sich seine Tasche gegen die Brust. Sein Blick wirkte misstrauisch, doch es war ein unsicheres, ein ängstliches Misstrauen. „Ulrich“, entgegnete Will. „Ulrich… Ulrich…“ Renwik schien in seinem Gedächtnis zu kramen. Dann schien er sich zu erinnern. „Ulrich von der Minenwache?“, fragte er. Will nickte. „Ja, aber es geht nicht um Tränke.“ „Nicht?“ Renwiks Blick wurde wieder misstrauischer. „Ich komme vom Land, musst du wissen – aus Silden. Da, wo ich herkomme, gibt es niemanden, der lesen oder schreiben kann. Ulrich meinte, du könntest es mir beibringen.“ Renwik schien überrascht. „Du willst nur lesen lernen?“ „Ja.“ Wills Miene verfinsterte sich etwas. „Ist das etwa so etwas Ungewöhnliches?“ Renwiks Gesicht hellte sich langsam auf. „Nein, nein, das ist prima! Das ist schließlich leichtverdientes Geld – und dann auch noch auf legale Weise, das kommt nicht alle Tage vor.“ „Es heißt legtal“, verbesserte Will. „Was?“ Renwik blickte ihn verständnislos an.
„Na wie dem auch sei“, sagte er schließlich und blieb stehen. „Dir ist natürlich klar, dass dich das eine Kleinigkeit kostet, ja?“ „Sicher ist mir das klar. Wie viel genau?“ „Hm, sagen wir… fünf Silberlinge pro Tag.“ Will erschrak. Mit so viel hatte er nicht gerechnet. „Tut mir leid“, sagte Renwik und klang auch danach. „Billiger geht’s nicht. Die Studiengebühren sind teuer genug, von irgendwas muss ich auch Leben und irgendwie muss ich schließlich auch den Ablass bezahlen.“ „Ist schon in Ordnung“, sagte Will rasch. Und wenn Renwik tausend Goldmünzen verlangt hätte, er wollte lesen lernen, wollte nicht mehr der kleine Tölpel vom Lande sein. Irgendwie würde er das Geld schon zusammenbekommen. Er musste nur sparsam sein. Nun, zumindest war in der „verwitterten Steintafel“ die Verlockung nicht allzu groß, alles für Bier auszugeben.
„Aber sag mal, was ist denn Ablass?“, fragte er interessiert. „Oh, ich vergaß, du stammst aus Silden. Da kennt ihr so etwas wohl nicht oder? Die Feuermagier unterhalten ja noch immer nicht gerade die besten Beziehungen zu den Orks. Nun, es ist eigentlich ganz simpel: Wenn du eine Sünde begehst, nimmt dich Beliar zu sich in die Schatten, anstatt dass du Einlass in Innos‘ goldene Hallen findest. Verhindern kannst du das nur über den Ablass. Für jede Sünde musst du Innos – also seinen Priestern, den Feuermagiern – eine entsprechende Summe spenden, um dich reinzuwaschen. Nur leider ist das halt nicht gerade billig.“ Will runzelte verwundert die Stirn. „Was will Innos denn mit Gold?“ „Ich… weiß nicht so genau“, sagte Renwik leicht verunsichert. „Ich schätze, es soll deinen guten Willen und deine Reue demonstrieren. Soll mir auch egal sein, solange es mich nur von meinen Sünden reinwäscht.“ „Und von was musst du dich so reinwaschen?“, konnte Will sich nicht verkneifen und fügte noch schnell „ich meine, du bringst ja wohl niemanden um oder so“ hinzu. „Innos bewahre, nein! Aber es gibt nun einmal auch kleine Sünden…“ „Und die wären?“ „Nunja…“ Renwik errötete. „Nun… Pollution beispielweise.“ „Was für ein Ding?“ „Na eine nächtliche Ejakulation“, sagte Renwik, dem die Scham ins Gesicht geschrieben stand, leise. „Nächtliche was?“ Will verstand kein Wort. „Ein Samenerguss. Ein nächtlicher Samenerguss.“ „Ach so!“ Will dachte kurz nach, dann runzelte er abermals die Stirn. „Ist Innos nicht der Gott der Gerechtigkeit?“ „Ähm, ja. Warum fragst du?“ „Nun, für eine Polljakultion oder wie du das genannt hast, kannst du doch nichts oder?“ „Nun, ich denke nicht…“ „Und wie kann es gerecht sein, jemanden für etwas zu verurteilen, wofür er nichts kann und ihn dafür auch noch Geld zahlen zu lassen, obwohl er selbst nicht viel hat und ein Gott doch kaum welches braucht?“ „Ähm…“ Renwik schien Wills Gedankengang nur langsam folgen zu können. „Nun ja…“, sagte er nach einer Weile. „Die Feuermagier sagen es eben. Und sie sind immerhin die Erwählten. Wer sollte das besser wissen als sie? Ich schätze, da gibt es schon irgendeine Erklärung. Innos ist schließlich ein Gott, wenn er es so will…“ Renwik schien immer unsicherer zu werden. „Aber mit so etwas beschäftige ich mich nicht“, wich er rasch aus. „Ich studiere Alchemie, nicht Theologie.“ „Theo-was?“
Renwik warf einen Blick auf den Schatten des Obelisken, der auf eines der zwölf um den Obelisken angeordneten Symbole zeigte. „Ach du lieber Innos, schon so spät! Hör mal, ich kann dir das ein anderes Mal alles erläutern, aber jetzt muss ich los. Komm einfach morgen bei Sonnenuntergang bei mir vorbei, dann fangen wir an, dir lesen beizubringen. Ich beschreib dir noch schnell den Weg zu mir nachhause: …“
Geändert von Jünger des Xardas (07.06.2009 um 12:10 Uhr)
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Die erste Lektion
„Ah.“ Ulrich seufzte zufrieden. „Es geht doch nichts über ein erholsames Nickerchen. War irgendwas Wichtiges?“
Will schüttelte den Kopf.
Ulrich gähnte herzhaft, strich sich über den Bauch. „Könnt jetzt was zu futtern vertragen.“ „Sag mal, hier ist nicht oft was los, oder?“ „Was sollte denn hier los sein?“ „Na ja, keine Ahnung. Aber für irgendetwas müssen wir doch hier sein. Ich meine, wir sind die Minenwache.“ „Junge, wir sind nur zur Abschreckung da. Unsere Anwesenheit reicht schon voll aus, damit hier alles ordentlich abläuft.“ "Aber…“ „He.“ Lachend klopfte Ulrich seinem jungen Kameraden auf die Schulter. „Sei doch froh, dass du hier sone ruhige Kugel schieben kannst. Das ist doch ne super Sache. Nicht jeder wird so fürs Nichtstun bezahlt wie wir. Schau dir die armen Schweine an, die hier schuften müssen.“ Will nickte.
Allerdings, mit den Arbeitern hier unten wollte er nicht tauschen. Er hatte immer geglaubt, es gäbe kein schlimmeres Los als das der Sklaverei, doch inzwischen war ihm klar, wie gut es den Orksklaven eigentlich ging.
„Und glaub mir, mit den anderen Minenwachen willst du auch nicht tauschen. Wir können froh sein, dass wir hier direkt in der Stadt sind. Die anderen Minen sind teilweise mehrere Tagesmärsche entfernt.
Und ansonsten kannst du doch auch froh sein, dass du in Geldern und nicht woanders bist. He, die an der Küste müssen sich mit Banditen rumschlagen. Und in den Okaraminen im Norden soll’s nur so wimmeln vor Minecrawlern. Von all dem Mist bleiben wir hier in Geldern verschohnt.“
„Mine-was?“ „Crawler. Die kommen direkt von Beliar, sag ich dir. Das sind Dämonen in der Gestalt von Insekten, aber groß wie Häuser! Graben sich durch die Berge und zerfleischen alles, was ihnen in den Weg kommt. Und giftig sind die Viecher.“ „Giftig? So wie Blutfliegen?“ „Blutfliegen? Nein, ich spreche von richtigem Gift. Das ist tödlich.“ „Tödlich? Du meinst, sie vergiften dich und du… stirbst daran?“ „Klar. Was hast du denn für eine Vorstellung von Gift? Wie gesagt, in der Gegend um Geldern gibt’s zum Glück keine, aber andernorts sollen schon viele Menschen den Crawlern zum Opfer gefallen sein. Nicht mal die Alchemisten kennen ein Gegenmittel. Deine Wunden können sie heilen, aber gegen das Gift richten sie nicht das Geringste aus.“
Will schluckte. Er langweilte sich zwar, aber vielleicht war es doch nicht so schlecht, gerade hier stationiert zu sein.
Schweigend lehnte er sich an die Wand und dachte nach. In Wahrheit versuchte er, sich irgendwie abzulenken. Den ganzen Tag wartete er nun schon ungeduldig auf den Feierabend. Heute war es soweit, heute würde er endlich lesen lernen. Und er war selten so aufgeregt gewesen.
Wills Herz pochte aufgeregt.
Das musste es sein. Das Haus, vor dem er nun stand, passte genau auf Renwiks Beschreibung. Er war da. Hier wohnte der junge Alchemiestudent. Und hier würde er lesen lernen.
Eine schmale Treppe führte außen an der Wand hinauf. Oben, am Ende der Treppe, lag Renwiks Zimmer.
Während er sich bis eben noch beeilt hatte, es gar nicht hatte abwarten können und geradezu durch die Straßen gerannt war, stieg er nun bedächtig die schmale Treppe hinauf, langsam einen Fuß vor den anderen setzend.
Ob es wohl schwer sein würde? Ob er gut darin wäre? Was, wenn er vielleicht tatsächlich nichts weiter war als ein einfacher Bauerntölpel vom Lande, der nur dazu taugte, sich mit anderen in staubigen Arenen zu prügeln und in dunklen Gängen den Minenarbeitern zuzusehen, wie sie sich zu Tode schufteten?
Will atmete tief durch. „Komm schon“, sagte er leise, „du hast bis jetzt noch alles hinbekommen. Es geht jetzt nur darum, ein paar Zeichen zu Wörtern zusammenzusetzen. Das kann nicht schwerer sein als ein Arenakampf.“ Noch immer zögerte er. Seine Hand glitt zu dem kleinen Medaillon, das um seinen Hals baumelte. „Du willst doch Marie nicht enttäuschen“, flüsterte er sich zu. „Sie braucht einen Mann, der mehr kann als nur mit dem Schwert rumfuchteln.“ Noch einmal atmete er tief durch, dann klopfte er und öffnete die Tür. Ja, Marie würde stolz auf ihn sein.
Renwiks Wohnung war nicht mehr als eine kleine Dachstube, aus der ihm sofort der aromatische Geruch von Kräutern und Pilzen entgegenschlug. Vom Gebälk hingen zahlreiche Kräuter, Büschel verschiedenster Pflanzen. Hie und da standen auch verstaubte Fläschchen und verschiedenfarbigen Flüssigkeiten darin auf den Dachbalken, welche offenbar die fehlenden Regale ersetzten.
Will entdeckte Renwik an einem kleinen Tisch auf der anderen Seite des Raumes. Der junge Student schien ihn nicht bemerkt zu haben, sondern war offenbar ganz in seine Arbeit versunken.
Der Weg zu ihm war freilich nicht ganz einfach, denn der Boden des Zimmers war übersät mit losen, in enger, krakeliger Handschrift beschriebenen Pergamenten, zwischen denen sich ab und zu auch Mörser, Reagenzgläser und ein paar alte, verwelkte Blätter fanden.
Geschickt schlängelte Will sich zwischen dem Chaos hindurch, stieg über einen Destillierkolben hinweg, umging einen halbvollen Wassereimer, der unter einem Loch in der Decke aufgestellt worden war und schob sich an einem kleinen, übelriechenden Haufen Pilze vorbei.
Dann stand er direkt hinter Renwik und hatte freie Sicht auf dessen Arbeitsplatz. Dieser glich im Wesentlichen dem Fußboden, mit dem Unterschied, dass er noch voller, ja geradezu überladen war.
Renwik hatte sich tief über einen kleinen Messingkessel gebeugt, in dem eine violette Substanz vor sich hin köchelte. Dabei machte er sich mit einer ausgefransten Feder abwesend Notizen auf einem mit Tintenklecksen übersätem Pergament, das er über mehrere auf dem Tisch liegende gläserne Gefäße ausgebreitet hatte.
Will tippte dem jungen Studenten auf den Rücken.
Renwik schreckte zusammen, verteilte mehrere Tintenkleckse auf dem Pergament, dem Tisch und sich selbst und stieß vor Schreck gegen den Kessel, der daraufhin von dem wackligen Bücherstapel zu fallen drohte, auf dem er stand. Bevor dies geschehen konnte, hatte Will ihn jedoch gepackt, den Stapel wieder geradegerückt und den Kessel somit vor dem Runterfallen bewahrt, ohne auch nur einen Tropfen der darin befindlichen Flüssigkeit zu verschütten.
Renwik atmete tief durch. „Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!“ Will lächelte verlegen. „Keine Absicht. Ähm, wir waren verabredet.“ „Oh ja, natürlich.“ Renwik wischte sich zerstreut über die Stirn. „Ganz vergessen“, murmelte er. Er ließ seinen Blick kurz über den Schreibtisch gleiten, dann legte er die Feder auf dem Pergament ab und schob alles von sich weg, was dazu führte, dass der Berg auf der Rückseite des Schreibtisches noch größer wurde und bedrohlich schwankte, auf der Vorderseite aber einen, wenn auch sehr kleinen, freien Platz schuf.
Dann erhob er sich und griff zu einem der Balken, welcher offenbar als Bücherregal fungierte. „Ganz vergessen“, murmelte er abermals und zog eines der Bücher zwischen den anderen hervor.
Will hatte sich unterdessen weiter umgeblickt. „Ähm, schöne Wohnung“, sagte er nun. „Was?“ Renwik wandte sich um und blickte ihn leicht zerstreut an. „Oh, ja. Ich bin hier nur der Untermieter. Der Besitzer des Hauses hat mir dieses Zimmer überlassen. Im Gegenzug…“ Renwik verstummte rasch. „Braust du ihm Tränke“, beendete Will den Sitz. „Hör mal, du musst dir keine Sorgen machen. Ich verrate dich schon nicht. Habe ich doch bis jetzt auch nicht getan, oder? Wozu auch? Alles, was ich will, ist, dass du mir lesen beibringst.“
Renwik nickte leicht unsicher und legte das Buch dann auf die soeben freigeräumte Stelle seines Tisches. „Vielleicht nicht die passendste Lektüre, um lesen zu lernen“, sagte er, während er das Werk aufschlug, „aber was anderes habe ich nicht da. Sollte aber reichen.“ „Lektüre?“, wiederholte Will langsam. „Ja… etwas zum Lesen.“ „Ah, gut. Dann mach schnell. Ich hab es langsam satt, mit gelehrten Wörtern überschüttet zu werden und mir wie ein ungebildeter Idiot vorzukommen.“ Renwik lächelte. „Gut, fangen wir an. Setz dich.“ Will tat wie ihm geheißen und nahm auf Renwiks kleinem Hocker Platz. „Gut“, meinte dieser. „Fangen wir mit den Vokalen an.“ „Den was?“ „Nichts, nichts, vergiss, was ich gesagt habe. Schau einfach her. Siehst du dieses Zeichen? Das ist ein A…“
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:01 Uhr)
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Blasphemie
„Ein A, Will, es ist ein A!“
Renwik langte über Wills Schulter, zeigte mit dem Finger auf den Buchstaben. „Siehst du? Ein A hat hinten diesen kleinen Strich. Ein O ist einfach ein Kreis.“
„Was weißt du eigentlich über Gifte?“
Renwik hielt inne, schaute verwirrt. Sofort fiel er wieder heraus aus seiner Rolle als Lehrmeister, war wieder der kleine, unsichere Student. Will schaute ihn fragend an. Was kümmerten ihn A und O? Er wusste es doch genau: Ein O war ein Kreis und ein A war ein Kreis mit einem Strich daran. War der Strich lang und zeigte nach unten, war es ein P oder ein Q und war er lang und schaute nach oben, war es ein B oder ein D. Lediglich bei der Frage, auf welcher Seite der Strich nun bei einem B und auf welcher bei einem D sein musste, war er sich momentan nicht ganz sicher, aber wen kümmerten diese Nichtigkeiten? Etwas anderes beschäftigte ihn an diesem Tage. Etwas, das schon seit Wochen durch seinen Kopf schwirrte und immer dann in seine Gedanken zurückkehrte, wenn er es gerade vergessen hatte.
„Nun, von was genau sprichst du denn? Pflanzliche Gifte, Drogen, Gase…?“ „Ähm, keine Ahnung. Gifte halt.“ „Will, jeder Stoff kann ein Gift sein. Das hängt nur von der Dosierung ab.“ „Jeder Stoff? Auch… Wasser?“ „Theoretisch schon, wenn du genug davon trinkst… nehme ich an.“ „Na ja, Ulrich hat mir von den Minecrawlern erzählt.“ „Ah, verstehe. Ja, deren Gift wird noch immer erforscht. Bisher hat man kein Heilmittel gefunden.“ „Aber warum bekämpft man die Crawler nicht mit ihren eigenen Waffen? Man könnte doch sie vergiften.“ „Hm, ja, wenn ich so darüber nachdenke… Es müsste eigentlich möglich sein. Aber ich wüsste nicht, mit welchem Stoff. Gegen ihr eigenes Gift werden sie immun sein.“ „Aber warum versucht man nicht, herauszufinden, welches Gift man da nehmen kann?“ „Nun, ich denke, es lohnt sich nicht. Außerdem benutzen Menschen Gifte meist, um sich gegenseitig zu töten.“ Will erschrak. „Gegenseitig?“ „Ja, gerade die Fürsten. Du kannst unliebsame Personen halt nicht immer mit dem Schwert niederstrecken. Manchmal ist es einfacher, ihnen Gift ins Essen zu mischen. So weiß auch keiner, dass du es warst. Im Idealfall wird nicht einmal eine Vergiftung festgestellt, sondern man geht von Krankheit, Herzversagen oder ähnlichem aus. Aber ich kann dir bei Giften nicht groß helfen. Ich bin kein Experte auf dem Gebiet. Lass uns am Besten weitermachen.“
Will stöhnte auf. „Muss das sein?“
„Du willst doch lesen lernen, oder?“ „Ja, aber das hier ist schlichtweg langweilig. Ich meine“, Will schlug das Buch zu, warf einen Blick auf den Titel, der in den lädierten Ledereinband geprägt war, „“Die Sporen des Bergmoos in der modernen Medizin“. Ich lerne doch nicht lesen für solche Texte.“ „Aber das ist sehr interessant“, widersprach Renwik. „Ein Sud aus den Sporen kann beispielsweise, wenn man ihn eine halbe Stunde köcheln lässt…“ „Renwik, ich interessiere mich nicht für Alchemie. Es muss doch spannendere Bücher geben.“ „Nun, ich hätte hier ein theoretisches Werk über die Eigenschaften der Dunkelpilze nach…“ „Renwik!“ Will vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich kann nicht mehr. Mir brummt der Kopf und ich verstehe nicht ein einziges Wort. Wenn diese Texte wenigstens auf Myrtanisch geschrieben wären und nicht nur aus irgendwelchen gelehrten Worten bestünden.“
„Ist ja schon gut. Aber was soll ich denn machen? Ich studiere Alchemie, nicht Myrtanistik. Ich habe hier keine lyrischen Texte von Fynn dem Wunderbaren oder irgendwelche Epen von Helrion. Bücher sind teuer. Selbst meine Sammlung über Alchemie ist nicht groß.“
„Hast du denn wirklich gar kein anderes Buch?“
„Hm.“ Renwik kratzte sich am bis auf drei lange Haare, die auf einer großen Warze sprossen, bartlosen Kinn. „Nein, tut mir wirklich leid. Das einzige Buch, das ich besitze und das nichts mit Alchemie zu tun hat, ist die heilige Schrift.“ Will horchte auf. „Warum nehmen wir dann nicht die?“, fragte er und nahm die Hände vom Gesicht. „Ähm… Nun, das könnten wir natürlich… Ich bin nicht auf die Idee gekommen, die heilige Schrift… Als simplen Text zum Lesenüben? Bist du sicher, dass das innosgefällig ist?“ „Wenn schon Pollaktion nicht innosgefällig ist, wird es das ganz bestimmt nicht sein“, antwortete Will grinsend. „Ach komm“, fuhr er angesichts von Renwiks Gesichtsausdruck fort. „Was Innos nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Wobei, heiß ist er wahrscheinlich eh schon, so als Feuergott.“ „Will! Das ist Blasphemie!“ „Blass-was?“ „Blasphe… Gotteslästerung! Darauf steht der Scheiterhaufen.“ „Ach jetzt hab dich doch nicht so. Du musst mal etwas lockerer werden. Selbst wenn: Die Feuermagier haben sicher besseres zu tun als hier an der Tür zu lauschen. Und wen soll es kümmern, wenn wir hier in unserer kleinen Stube ein wenig in der heiligen Schrift rumlesen?“
„Hm.“ Renwik blickte zweifelnd auf Will hinab. Dann wandte er sich um, griff nach einem kleinen, dicken und in ramponiertes Leder gebundenen Buch und legte es vor Will auf den Tisch.
„Hm. Ja, das hier ist für den Anfang vielleicht ganz gut“, sagte er, nachdem er das Buch aufgeschlagen und die nun offen daliegende Seite über Wills Schulter hinweg begutachtet hatte. „Hier, das ist ein Text aus der Genesis. Die erste Offenbarung.“
Interessiert beugte Will sich herab und begann laut zu lesen.
„“Am Anfang zogen die Nordmarer über das Land.““
„Nomaden, die Nomaden. Du musst lesen, was dasteht, Will, nicht wovon du denkst, dass es dasteht.“ „Aber was sind denn Nomaden?“ „Das sind Leute, die nicht in Städten oder Dörfern leben und keine Häuser haben, sondern, nun ja, umherziehen.“ „Aha. Und warum tun sie das?“ „Weil…“ Renwik kratzte sich am Kinn. „Na ja, weil… Das ist halt ihre Lebensweise.“ Will nickte stirnrunzelnd. „Lies am besten weiter“, meinte Renwik rasch.
„“Am Anfang zogen die Nomaden über das Land und der E-ewige Wanderer führte sie. Und Innos sprach zu dem Ewigen Wanderer: „Leg deinen Stab… beiseite.“ Und an seiner sta-sta-statt gab ihm Innos das Z-e-p-t-e-r.““
Will blickte auf. „Was denn für ein Stab?“ „Der Stab des Ewigen Wanderers. Es heißt, ein Magier könne mit seiner Hilfe zu unvorstellbarer Macht gelangen.“ „Und warum sollte der Wanderer ihn dann weglegen? Wollte Innos nicht, dass er Macht hat?“ „Nein, damit hat das nichts zu tun. Aber der Stab ist ein Artefakt Beliars. Ihm wohnt das Böse inne. Mit ihm hat Beliar versucht, die Menschen zu unterjochen. Innos hat die Menschen vor Beliar geschützt und ihnen das Zepter von Varant gegeben. Es ist das Gegenstück zum Stab, so wie ja auch Innos das Gegenteil von Beliar ist.“ „Aber wenn es das Gegenstück ist, unterjocht es dann nicht auch die Menschen?“ „Nein, nein. Innos wollte die Menschen nur vor Beliars Einfluss schützen.“ „Verstehe“, sagte Will zögerlich und wandte sich wieder der Schrift zu.
„“Und der Ewige Wanderer wurde sein Diener. Und Innos verlieh ihm einen Teil seiner gött…lichen Macht, auf… dass er dem Wir-ken Beliars… Einhalt gebiete. Und die Macht war Feuer. Und er lenkte es nach seinem Willen.““
Will runzelte die Stirn. „Er hat ihm die Macht nur für den Kampf gegen Beliar gegeben?“ „Nun, Beliar hätte sonnst alles zerstört, denke ich.“ „Ja, aber Innos benutzt die Menschen hier doch einfach als seine Soldaten gegen Beliar, oder?“ „Will, du solltest wirklich vorsichtig sein. Wenn die Feuermagier hören, wie du…“ „Jaja, ist ja schon gut.
„Aber einige unter den Nomaden wollten Innos nicht folgen. Und das Volk der Nomaden ward gespalten. Und die Innos folgten, er…richteten große Tempel und wurden das Volk von Va-varant. Und das Zep-ter war ihr Zeichen der Herr…schaft.
Und Innos sprach zu seinen Dienern: „Errichtet mir ein Portal, auf dass ich auf immer über die Welt herrsche.“ Und seine Diener taten wie ihnen geheißen ward.“
Wozu braucht Innos ein Portal?“ „Na weil wir in der Welt Adanos’ leben. Innos und Beliar sind hier eigentlich machtlos.“ „Und warum will Innos über die Welt Adanos’ herrschen?“ „Nun…“ Renwik schien nachzudenken. „Ich denke, weil… Na ja, er ist der Gott der Herrschaft, nicht?“ „Aber… Wenn Innos der Gott der Herrschaft ist“, überlegte Will, „und Beliar das genaue Gegenteil von Innos ist… Ist dann nicht Beliar der Gott der Freiheit?“ „Will! Das grenzt jetzt wirklich an Ketzerei!“ „Ich frag ja nur. Es will mir nur nicht einleuchten, wieso der Gott des Guten auf die Erde kommt, um über die Menschen zu herrschen, wenn es ihnen in Freiheit auch gut ging.“ „Das… wird schon irgendwelche Gründe haben. Ich bin wirklich der Falsche für solche Fragen. Ich studiere Alchemie, nicht Theologie. Ach, so kommen wir einfach nicht voran, Will. Schau wie spät es ist.“ Renwik deutete auf die schmalen Ritzen zwischen den Dachbalken, durch die nur noch Dunkelheit zu erkennen war. „Und wir sind kaum vorangekommen.“ „Das interessiert mich halt. Wozu lerne ich schließlich lesen? Außerdem bin ich doch schon ganz gut. Ich weiß nicht, was du hast.“
Renwik schüttelte seufzend den Kopf. „Ich denke, heute hat es keinen Sinn mehr“, sagte er müde. „Bis Morgen. Und lass keinen Magier hören, was du dir über die heilige Schrift so zusammenreimst.“
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:02 Uhr)
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Hoher Besuch
Gegründet wurde das Königreich Myrtana im Jahr des Feuers, mit dem unsere heutige Zeitrechnung beginnt, von Innostian I. Zur damaligen Zeit waren die „Grünen Lande“, das Gebiet des heutigen Myrtana, in zahlreiche kleinere, untereinander rivalisierende und um die Vorherrschaft kämpfende Fürstentümer gespalten, von denen die wohl bedeutensten das Herzogtum Montera, die heutige Westmark, der Herzogtum Tymoris, das Herzogtum Andalien und der schon damals vom Rat der Alchemisten beherrschte Stadtstaat Geldern waren.
Innostian war zunächst Herrscher eines kleinen Fürstentums an der Grenze nach Nordmar, das mit Tymoris um die Herrschaft im südlichen Vental stritt und immer wieder unter Barbareneinfällen und nordmarer Seeräubern zu leiden hatte, bestehend lediglich aus zwei kleinen Dörfern zu beiden Seiten der Ven und einer hölzernen Feste auf dem Felsen in der Mündung des Flusses, in welcher Innostian und seine Vorgänger residierten – erst in späteren Tagen sollten die Feste und die Dörfer anwachsen zu der mächtigen Metropole Vengard, die heute an ihrer einstigen Stelle steht.
Unter den Fürsten der Grünen Lande stach Innostian also nicht durch die Größe und Macht seines Reiches hervor, sondern zunächst vor allem durch die Tatsache, dass er von sich selbst behauptete, der Erwählte Innos’ zu sein und als solcher die kleineren Beliarkulte, die zur damaligen Zeit noch allerorts in den Grünen Landen existierten, wenngleich ihnen gegenüber schon damals ein gewisses Misstrauen herrschte, ächtete, anstatt sie, den anderen Fürsten gleich, zu tolerieren, was schnell die Aufmerksamkeit der damals in weiten Teilen der Grünen Lande einflussreichen Kirche des Lichts – eines lockeren Zusammenschlusses der zahlreichen Priesterorden, die zu jener Zeit Innos dienten und welche trotz des gemeinsamen Gottes teilweise stark auseinandergehende theologische Ansichten vertraten (sämtliche Versuche, die einzelnen Orden stärker aneinander zu binden und eine einheitliche Kirche mit einheitlichem Glaubensverständnis zu schaffen seitens der Führung der Lichtkirche – welche eben zu jenem Zweck ins Leben gerufen worden war – misslangen dank des Unwillens der Priesterschaft) – auf sich zog.
Myrtana entstand schließlich, als Pyrasan, genannt „der Feuermagier“ – was auf seine enormen Fähigkeiten im Umgang mit der Feuermagie zurückzuführen ist, welche in jener Zeit, vor der Erfindung der modernen Runen, doch lange nach dem Untergang des Alten Volks, mit welchem die Alte Magie großenteils in Vergessenheit geriet, und als die meisten Priester, gleich welchem Gotte sie dienten, einfache Menschen ohne jedes Wissen um die Magie waren, keine Selbstverständlichkeit waren –, ein hochrangiges Mitglied der Lichtkirche, Innostian als Erwählten anerkannte, den Pyrasanerorden gründete, aus dem schließlich die moderne Feuerkirche hervorging, und Innostian zum König von Innos’ Gnaden krönte – womit er de jure über den einfachen Fürsten der Grünen Lande stand, welche diesen Zustand jedoch nicht akzeptierten, weshalb er de facto erst eintrat, als die gesamten Grünen Lande schließlich unter Innostians Urenkel Heinrich im Jahre des Feuers 101 geeint wurden; Innostians Machtanspruch zeigte sich auch darin, dass er seinem Fürstentum nach dessen Erhebung in den Stand eines Königreichs den Namen „Myrtana“ verlieh, in Anlehnung an das Myrtanische Meer, an welches es grenzte, und um seinen Anspruch auf alle Länder, welche an diesem Meer gelegen sind, deutlich zu machen – ein Anspruch, den Myrtana und seine Könige nie aufgaben, bis zum Fall König Ottos III. im ersten Orkkrieg und der darauf folgenden Zerschlagen Myrtanas in zahlreiche kleine Fürstentümer und die von Orks besetzten nördlichen Ebenen, wodurch ein ähnlicher Zustand wie vor der Reichsgründung eintrat.
Will blätterte die Seite um. Er las viel, verbrachte jede freie Minute damit, seit Renwik es ihm beigebracht hatte. Die Bücher fand er in der gewaltigen Bibliothek der Universität von Geldern. Und nun las er sich die Bildung an, die ihm fehlte. Längst war er kein ungebildeter Bauerntölpel mehr, wusste, dass es „legal“ und „Bürokratie“ hieß und kannte auch die Bedeutung von Worten wie „Pollution“ oder „Blasphemie“. Doch das hatte ihm nicht gereicht. Die Bücher hatten sein Interesse geweckt. Und nun verschlang er, was er fand. Die Geisteswissenschaften hatten es ihm angetan, doch im Besonderen die Geschichte.
Und so saß er nun da, ganz vertieft in ein Buch über die Geschichte des Alten Reiches, als ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss.
„Übermorgen werde ich übrigens nicht hier sein.“ Will blickte auf, sah in ein blasses Gesicht.
Ja, noch immer verbrachte er seine Nachmittage bei Renwik. Täglich war er vorbeigekommen, hatte vorgelesen und sich dabei korrigieren lassen. Immer besser war er geworden und irgendwann hatte Renwik ihn nicht mehr korrigieren müssen. Will hatte angefangen, leise zu lesen, nur für sich selbst und Renwik hatte sich seinen Arbeiten widmen können. Doch Will war weiterhin gekommen, jeden Tag, hatte sich hingesetzt mit einem Buch in der Hand und zu lesen begonnen. Und Renwik hatte Tränke gebraut, sich Notizen gemacht, war seinem Tagwerk nachgegangen. Es war still, wenn Will bei Renwik war. Nur dann und wann wurde eine Frage gestellt. Die meiste Zeit schwiegen sie, gingen ihren Tätigkeiten nach als wäre der andere nicht da. Doch er war da und das war gut so. Worte brauchte es keine, um dies festzustellen.
So ging es nun schon ein knappes Jahr, auch wenn Will es kaum glauben konnte, dass er so lange schon von zuhause weg war.
„Wieso, was ist da?“, fragte Will. „Hast du es noch nicht gehört? Barthos von Laran kommt in die Stadt!“ „Barthos von Laran?“ Will schlug das Buch zu, in dem er gelesen hatte und blickte auf den Einband.
„Das myrtanische Königreich – von Barthos von Laran“
„Etwa DER Barthos von Laran?“ „Ja, genau der. Barthos der Weise. Er hat unzählige Werke zu allen möglichen Themen geschrieben. Die halbe Unibibliothek stammt aus seiner Feder.“
Das musste Renwik Will nun wirklich nicht erzählen. Er hatte schon Dutzende von Barthos’ Büchern gelesen und sie übertrafen alles andere, was die große Bibliothek von Geldern zu bieten hatte. Ebenso wenig musste Renwik erwähnen, dass Barthos nicht nur für seine Weisheit und seinen Kenntnisreichtum, sondern auch für seine langen, verschachtelten Sätze berühmt war, die Will zu Anfang große Schwierigkeiten bereitet, ja ihn beinahe zur Weißglut getrieben hatten.
„Und es heißt, er sei der vielversprechendste Kandidat für den Posten des Erzmagiers“, fuhr Renwik begeistert fort. „Erzmagier Ignitius soll schon lange krank daniederliegen und die Wahrscheinlichkeit soll hoch sein, dass die Kardinäle nach seinem Tod Barthos zum obersten Feuermagier wählen. Abt des berühmten laraner Klosters ist er übrigens schon lange.“ „Und warum kommt er jetzt hierher?“ „Soweit ich weiß in erster Linie, um in einer Woche das Sonnenwendfest hier zu begehen. Der Erzbischof hat ihn dazu eingeladen und er soll auch sehr gute Beziehungen zu einigen der Alchemisten unterhalten. Außerdem hat er wohl gerade wieder eine seiner zahlreichen Reisen angetreten und ist auf dem Weg nach Nordmar. Er kommt wohl direkt vom Östlichen Archipel und landet mit dem Schiff in Trelhaven. Er kommt also ohnehin zwangsläufig hier vorbei.“
„Aber warum wirst du dann übermorgen nicht da sein?“ „An dem Tag hält er eine Vorlesung in Philosophie. Ihm wurde schon oft ein Platz als Dozent an der Universität angeboten, aber er hat immer abgelehnt. Trotzdem lässt er es sich nicht nehmen, bei jedem Besuch in der Stadt mindestens einen Gastvortrag zu halten.“ „Aber Philosophie? Du studierst doch Alchemie…“ „Das ist etwas anderes. Barthos ist schlichtweg genial. Die halbe Uni wird dort sein. Da ist es ganz egal, was für ein Fach man studiert.“
„Ha, das ist gut, das ist wirklich gut! He, Will, hast du den eben gehört?“
Ulrich stieß seinem jungen Kameraden unsanft in die Rippen. „Also, was ist der Unterschied zwischen einem Alchemisten und…“ „He, da kommen sie.“
Ulrich folgte Wills Blick, der auf das große Ratsgebäude im Zentrum der Stadt gerichtet war.
Dort, am oberen Ende der großen Treppe waren soeben sieben Männer in prunkvollen Gewändern erschienen, jeder mit einem eigenen Wappen auf der Brust.
„Jaja, das sind die Alchemisten“, murmelte Ulrich wenig interessiert.
Will dagegen war völlig überwältigt von der Pracht ihrer Kleidung, von den vielen Farben, den feinen Stickerein.
Einige andere edle Herren und Damen waren an der Seite der Alchemisten erschienen. Wahrscheinlich handelte es sich ebenfalls um Mitglieder der sieben großen Familien. Einige Soldaten in den Farben der Stadt und mit glänzenden silbernen Helmen, die schienen als hätte man sie kurz zuvor noch einmal gründlich poliert, hatten sich neben ihren Herren aufgebaut. Dazwischen erkannte Will einen alten Mann in einer weiten, grauen Robe mit einer roten Schärpe und neben ihm einen wesentlich jüngeren in roter Robe. „Sind das nicht Feuermagier?“, wollte Will wissen. „Sind sie“, antwortete Ulrich. „Der in der grauen Robe ist Erzbischof Flammares. Der junge Kerl daneben ist sein persönlicher Schüller Corristo. Der Typ hat es so weit gebracht, weil er aus einer der großen Familien kommt. Aus dem Hause Curie.“
Ulrich gähnte. „Verdammt, warum müssen wir hier eigentlich rumstehen? Wir sind die Minenwache. Das hier ist ja ein Aufwand als käme Innos persönlich in die Stadt.“
Da hatte Ulrich allerdings nicht ganz unrecht. Der Hauptplatz von Geldern war voller Leute. Eine breite Schneise, die von den Männern der Stadt- und der Minenwache flankiert wurde, führte über den Platz in Richtung Süden, in Richtung des Trelistores. Der Platz und die Hauptstraße waren zu Ehren Innos’, dessen wichtigster Feiertag in einer Woche stattfinden würde festlich geschmückt. Blumengirlanden hingen an den Häusern und eine Spur aus Blüten führte vom südlichen Stadttor durch die Hauptstraße und über den Platz bis vor die Tore des Ratsgebäudes.
„Aua!“
Ulrich fuhr mit erhobener Faust herum, bereit, sie dem ins Gesicht zu schlagen, der ihm soeben eine Kopfnuss gegeben hatte. Er erbleichte, als er Hauptmann Gerald hinter sich erkannte. „Hör auf zu quatschen. Da kommt er.“
Will wandte den Kopf, beugte sich etwas vor, um an den Menschen vorbeischauen zu können. Und dann, nach einer Weile, sah er den Zug, der dort aus Richtung des Trelistors kam:
An der Spitze ritten einige Soldaten der Stadtwache. Dahinter folgten einige prächtig gekleidete Männer und einige Ritter mit dem Wappen von Trelis auf der Brust, in deren Mitte ein Mann in einem prachtvollen Wams und mit einem extravaganten, gefiederten Hut ritt. „Was ist denn das für einer?“, fragte Will leise. „Irgendein hohes Tier aus Trelis. Der Kerl soll wohl mit den Alchemisten verhandeln. Soweit ich weiß, gibt es in letzter Zeit Spannungen zwischen Geldern und der Westmark.“
Dahinter kam er, unter dem Jubel des Volkes. Er ritt auf einem schneeweißen Pferd daher, welches von gleicher Farbe war wie sein Haar und sein Bart. Am Leibe trug er eine lange, rote Robe mit weiten Ärmeln. Gütig lächelnd schaute er mal nach links, mal nach rechts in die Menge, nickte den Menschen freundlich zu, nahm ab und an die Hand von den Zügeln und hob sie, wie um zu winken, in die Höhe.
„Wieso trägt er denn eine rote Robe?“, wollte Will wissen. „Wieso nicht? Tragen Feuermagier doch.“ „Die gewöhnlichen, aber ich denke, er ist Hochmagier. Er müsste eine solche Robe tragen wie Flammares. Und schau mal da an seiner Seite! Seit wann tragen Magier denn Schwerter?“ Ulrich zuckte mit den Schultern. „Sieht halt schick aus.“
Begleitet wurde Barthos von einem zweiten doch deutlich jüngeren Magier mit kastanienbraunem Haar, der auf einem Fuchs dahergeritten kam. Auch er war in eine einfache, rote Robe gehüllt.
„Und der da?“, wollte Will wissen. „Wird sein Schüler sein. Soweit ich gehört habe, ist das bei denen in Mode. Jeder Hochmagier hat einen jüngeren Magier, der beinahe noch ein Novize sein könnte, als Schüler, der dann immer um ihn rumscharwenzelt. Das ist schick oder so. Außerdem entstammen die Schüler meist einflussreichen Familien. Siehst es ja an unsrem Corristo. Aua!“
„Du sollst leise sein, verdammt, sonst brat ich dir nächstes Mal eins mit der Hellebarde drüber“, zischte Gerald.
Der Rest der Prozession – die weiteren Feuermagier, die allesamt in einer reich geschmückten, doch geschlossenen Kutsche saßen, die kleineren Edelleute und die Ritter aus Geldern und Trelis – interessierte Will kaum. Gebannt folgte er dem Hochmagier vom Östlichen Archipel mit den Augen, sah zu wie er das Ratsgebäude erreichte, auf einen hölzernen Stab gestützt, die andere Hand locker auf dem Rücken, die Treppe hinaufstieg und von den Alchemisten und dem Erzbischof in Empfang genommen wurde, bevor sie alle schließlich im Innern des Gebäudes verschwanden.
Geändert von Jünger des Xardas (05.08.2013 um 15:05 Uhr)
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Eine schicksalhafte Begegnung
Will saß an einem Tisch in der großen Bibliothek der gelderner Universität. Es störte ihn kaum, dass er nicht wie sämtliche Studenten in Barthos’ Vorlesung saß. Zu großartig war das Gefühl, die Bibliothek völlig für sich allein zu haben.
Will blätterte in einem Buch, das von Barthos von Laran geschrieben war und sich mit der Geschichte des Glaubens an die drei Götter befasste. Es war ein dreibändiges Werk. Will war mit seiner Lektüre noch bei dem ersten Buch, welches die altvordere Zeit behandelte, die ihr Ende in der Völkerwanderung gehabt hatte.
Wie er durch dieses Buch bereits wusste, hatten die ersten Menschen – die Nomaden Varants und die Ureinwohner Myrtanas – ausschließlich Adanos gekannt.
Als sich Innos wie in der heiligen Schrift beschrieben dem Ewigen Wanderer offenbart hatte, hatten sich damit die ersten Menschen von Adanos abgewandt. Sie waren daraufhin sesshaft geworden und hatten in Varant die erste Hochkultur begründet. Will hatte schon in anderen Büchern einiges über das Alte Volk von Varant gelesen. Es handelte sich um eine faszinierende Kultur, der man zahlreiche große Errungenschaften und vor allem enorme magische Kenntnisse zuschrieb. Angeblich waren sie nicht nur Meister im Umgang mit der Alten Magie gewesen, welche keine Hilfsmittel wie Runen oder Spruchrollen benötigte, sondern hatten auch zahlreiche magische Artefakte geschaffen, die man nun überall in der Wüste von Varant fand.
Nun jedoch war Will bei dem Abschnitt über die ersten Beliaranhänger angelangt. Der Beliarglaube hatte sich als letzter unter den Menschen gebildet und zu jeder Zeit hatte es nur wenige Anhänger des dunklen Gottes gegeben. Sein erster Diener war ein Priester des Alten Volks gewesen. Er war vom Glauben an Innos abgefallen und hatte einige Anhänger um sich gescharrt. Doch sie hatten vor der Verfolgung durch die Innosanhänger fliehen müssen. Weit jenseits der Grenzen des Innosimperiums, tief im Innern des undurchdringlichen Urwalds, der damals die gesamte Grünen Lande bedeckt hatte, hatten sie eine Stadt gegründet. Diese hatte dort einige Jahrhunderte existiert, bevor sie von den Ureinwohnern überrannt worden war. Zu jener Zeit waren auch dort zahlreiche Artefakte geschaffen worden. Viele von ihnen fand man noch heute in der Umgebung der alten Beliarstadt, auf deren Ruinen heute, über zweitausend Jahre später, die Universitätsstadt Geldern stand.
Mit großem Interesse, da es um die Stadt ging, in der er seit nunmehr einem Jahr lebte, las Will, was Barthos in den für ihn typischen langen Sätzen über jenen Priester des Alten Volks zu erzählen wusste, der sich als erster Mensch Beliar zugewandt hatte, als er plötzlich Schritte hörte.
Will war völlig in seine Lektüre vertieft, blickte nicht auf, interessierte sich nicht dafür, wer hier in der Bibliothek umherlief, während alle anderen der Vorlesung beiwohnten. Als das Geräusch der Schritte plötzlich direkt neben ihm verstarb und eine ruhige, tiefe Stimme fragte, „gestattest du, dass ich mich zu dir setze?“, nickte er nur.
Das Kratzen der Stuhlbeine über den Boden nahm er kaum wahr.
Dann jedoch erklang die Stimme abermals: „Oh, ein sehr interessantes Werk, das du dort ließt.“ Will verzog kaum merklich das Gesicht. Er wollte sich auf das Buch konzentrieren, ihm stand nicht der Sinn nach einer Konversation.
„Du musst wissen, ich durfte dem guten Barthos bei seinen Recherchen ein wenig zur Hand gehen. Und er hat mich gebeten, das Vorwort zu verfassen, was ich äußerst gerne getan habe.“ Will horchte auf. Hatte er gerade richtig gehört?
Er ließ das Buch sinken und blickte in zwei durchdringende, blaue Augen, die ihn aus einem lächelnden Gesicht, das von einer krummen Nase gekrönt und von kastanienbraunem Haar umrahmt wurde, anfunkelten.
Will erkannte sein Gegenüber sofort. „Ich habe Euch gesehen!“, sagte er aufgeregt. „Gestern. Ihr seid mit Barthos von Laran in die Stadt geritten.“ „Das ist richtig, aber lass doch bitte diese alberne Anrede weg. Wir sind nicht im Beichtstuhl, hier ist niemand außer uns und im Gegensatz zum guten Barthos, bin ich rein privat hier.“ „Was genau habt ihr beide miteinander zu schaffen?“ „Nun, viele würden mich seinen Schüler nennen. Wir beide bevorzugen für unsere Beziehung die Bezeichnung „Freundschaft“.“
„Dann hätte ich eine Frage: Ich habe Barthos gesehen, als er in die Stadt ritt und da trug er eine solche Robe wie du. Dabei ist er doch Hochmagier, oder?“ Wills Gegenüber schmunzelte. „Oh ja, diese Gegebenheit hat schon so manchen verwirrt. Nun, es gibt kein großes Geheimnis dahinter. Barthos ist offiziell Träger der hohen Robe – und dies schon seit vielen Jahren – doch gibt es kein Gesetz, dass einen Hochmagier zwingt, die hohe Robe zu tragen. Die Ordenspitze war damals nicht sehr glücklich über Barthos’ Entschluss, musste jedoch feststellen, dass ein solches Auftreten völlig legitim ist. Mittlerweile wird es gebilligt und die meisten Feuermagier sehen zähneknirschend darüber hinweg. Auf längere Zeit gibt es wesentlich interessanteres an Barthos als seinen Kleidungsstil, will ich meinen.“ „Aber warum trägt er denn nicht die hohe Robe?“ „Das hat verschiedenste Gründe. Unter uns, sie steht ihm nicht besonders.“ Der Feuermagier zwinkerte schalkhaft. „Ja, aber so erkennt ihn doch auch niemand als Hochmagier, oder?“ „Was mitunter auch nicht verkehrt ist. Weißt du, manchmal glaube ich, die Menschen sollten weniger auf irgendwelche Äußerlichkeiten oder Statussymbole schauen. Es ist nicht der Titel, der einen Menschen zu etwas Besonderem macht, nicht die Krone und auch sicherlich nicht die Robe. Andere Dinge sind es, die wirklich wichtig sind und vielleicht sollten die Menschen ihren Blick einmal stärker auf jene Dinge richten.“
Will schwieg, doch dann kam ihm noch eine Frage. Kurz überlegte er, ob es klug war, diese einem Feuermagier zu stellen, doch dies hier schien kein gewöhnlicher Magier zu sein und etwas sagte ihm, dass er die Frage bedenkenlos stellen konnte.
„Was hältst du eigentlich vom Ablasshandel?“ „Nun“, der Magier ließ die Finger seiner rechten Hand durch seinen kastanienfarbenen Bart gleiten, „ich halte ihn für eine lukrative Einnahmequelle. Und ich glaube, meine Kammer im Kloster wäre ohne ihn nicht einmal annährend so luxuriös.“ „Also heißt du ihn gut?“ „Das habe ich nicht gesagt.“
„Wie kann Innos das Seelenheil eines Menschen von seinem Geldbeutel abhängig machen?“, platzte es plötzlich aus Will heraus. Der Magier zog die Augenbrauen hoch. „Du beurteilst einen Gott anhand derer, die seinen Namen missbrauchen?“ „Die Feuermagier sind die Verkünder von Innos’ Wort, oder?“ „Die Feuermagier sind in erster Linie Menschen. Mir scheint, du hast falsche Vorstellungen von der Wirklichkeit.“ „Aber Innos selbst hat die Magier erwählt.“ „Hast du je von den beiden Söhnen König Danthors IV. und von deren Streit um den Thron gehört?“ „Ich habe davon gelesen, weshalb?“ Der Magier lächelte. „Weil beide von Innos Erwählt waren, über das Reich zu herrschen und seine Gläubigen zu führen – zur gleichen Zeit.“
Der Magier schwieg einen Moment, dann sagte er plötzlich „eintausend Goldstücke und ein Schaf.“ Will blickte ihn fragend an. „Eintausend Goldstücke und ein Schaf kostet die Aufnahme als Novize des Feuers. Könntest du es dir leisten?“ Will schüttelte den Kopf. „Nein, das könntest du nicht und wenn du noch so fromm wärest. Die Alchemisten von Geldern können es, die Ritter von Trelis, die Händler von Montera… Es sind nicht die Frommen, die Magier werden, mein Freund, es sind die Reichen. Sieh dir den jungen Corristo an. Ein ehrgeiziger Bursche. Ich bezweifle nicht, dass er es weit bringen wird. Weshalb, glaubst du, ist er Magier, weshalb der Schüler von Erzbischof Flammares?“ „Weil er aus dem Hause Curie stammt.“ Der Magier nickte. „Sein älterer Bruder wird eines Tages das Oberhaupt seiner Familie werden und einen Platz im Rat der Alchemisten einnehmen. Für Corristo blieb nichts, also gaben seine Eltern ihn in die Obhut der Magier. Bei uns auf der Insel Khorinis sind es die reichen Überseehändler, die ihre zweiten Söhne ins Kloster geben, während die ersten das Familienunternehmen erben. Selbst Barthos ist Sohn eines kleinen Adelshauses.“ „Willst du damit sagen, es gibt keinen Magier, der Innos aufrichtig dient?“ „Sie alle wahren den Schein und keiner von ihnen würde zögern, dich für deinen Zweifel am Ablasshandel auf den Scheiterhaufen zu bringen, doch aufrichtige Diener Innos’? In all den Jahren lernte ich einen einzigen in höherer Position kennen. In den Kapellen findet man ein paar mehr und unter den Novizen auch den einen oder anderen. Ich gebe ganz offen zu, dass auch ich keiner bin und Barthos hat ebenfalls anderes im Sinne als die Verkündung der Herrlichkeit Innos’. Eine Mitgliedschaft im heiligen Orden bringt vieles mit sich – Reichtum, der aus den zahlreichen Spenden und dem Ablasshandel erwächst, Wissen wie man es als einfacher Mensch nur schwerlich ansammeln kann und große Macht, weltliche wie magische. Und der Feuerorden hat es immer verstanden, sich diese Dinge zu bewahren. Über die Jahrhunderte hinweg haben sie ihre Macht immer weiter gefestigt und für die einfältigeren unter den Menschen ein Netz aus Lügen gesponnen, an die sie heute zu großen Teilen selbst glauben. Schon der Ordensgründer, Pyrasan I., hat es verstanden, sich und seinem Orden zu großer Macht zu verhelfen. Er krönte den ersten König und er sorgte für die Verdränge und Konkurrenz, in Form der Kirche des Lichts. Ungefähr einhundert Jahre danach haben wir das Konzil von Montera und schließlich das Edikt von Aalehn, womit die Magie zu einer göttlichen Gabe erklärt wird, womit die Magier einerseits ihren Status als Erwählte festigten, andererseits alle Magiebegabten, die nicht dem Orden angehörten, bezichtigten, mit Beliar im Bunde zu stehen.“
Will horchte auf. „Ist sie etwa keine göttliche Gabe?“ Der Magier lachte. „Oh bitte. Eine solche Einfältigkeit ist deiner nicht würdig, mein Freund. Natürlich ist sie dies nicht. Jeder einfache Bauer könnte zu einem mächtigen Magier werden. Glaubst du wirklich, bestimmte Menschen werden mit einer besonderen Gabe geboren? Nein, die Menschen sind alle gleich. Die Magie ist in diesem Sinne nichts weiter als ein Handwerk. Und ebenso wie jeder in der Lage ist, ein Stück Holz oder ein Stück Stahl zu formen, kann auch jeder die Magie formen. Alles, was es braucht, ist die nötige Ausbildung. Ein gewisses Talent mag eine Rolle spielen – manch einer wird nie ein großer Schmied oder Tischler werden können und ebenso wenig ein großer Magier –, doch die Grundlagen beherrschen, das kann jeder. Und ich kenne so manchen, der zwar untalentiert ist, es auf seinem Gebiet aber zu größerer Meisterschaft gebracht hat als so manch einer, der großes Talent für seine Profession besitzt – sei es nun unter den Schmieden, den Tischlern oder den Magiern. Denn Talent allein ist lange nicht so wichtig wie es oft heißt. Entscheidend ist, was du aus deinen Fähigkeiten machst und wie du sie entwickelst.“
Will war wie elektrisiert. Er dachte an die Artefakte, die rund um Geldern verstreut waren, den Wandteppich, den er vor inzwischen einem Jahr gesehen hatte, an all das, was er mittlerweile über Magie gelesen hatte.
Dann jedoch kochte Wut in ihm auf.
„Aber dann ist es ungerecht, dass es nur den Magiern erlaubt ist, zu zaubern, dass sie behaupten, die Magie sei eine göttliche Gabe, die sie zu etwas Besserem macht! Wie könnt ihr…“
„Ruhig, ruhig, mein junger Freund. Gib acht, dass du dich von deinen Gefühlen nicht kontrollieren und zu Unklugem verleiten lässt. Weißt du, ich denke, du bist ein sehr aufmerksamer Beobachter. Vieles, was den meisten Menschen verborgen bleibt, was sie einfach hinnehmen, nicht hinterfragen, das bleibt dir nicht verborgen. Damit besitzt du das Zeug zu großer Weisheit. Denn weise ist nur, wer beobachten kann. Doch du musst dich in Acht nehmen. Eine gute Beobachtungsgabe allein macht noch keinen Weisen. Der Weise muss das, was er beobachtet, auch analysieren können, es zu deuten wissen. Diese Fähigkeit, fehlt dir noch, so scheint mir. Und deshalb musst du vorsichtig sein. Jede Fähigkeit, jedes Talent birgt auch Gefahren. Und so manch einem wäre es besser bekommen, er wäre blind gewesen wie alle anderen.“ „Was genau meinst du damit?“, fragte Will leicht verwirrt.
Der Magier schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen: Ich komme aus dem Kloster zu Khorinis, musst du wissen. Einst, als ich noch ein Novize war, lebte auf der Insel auch ein junger Paladin mit Namen Inubis. Ich würde ihn nicht als Freund bezeichnen, doch wir verstanden einander ganz gut und ich denke, ich kann sagen, dass ich ihn ein wenig kannte. Inubis, musst du wissen, war auch ein guter Beobachter, ein exzellenter , möchte ich sagen. Und er sah vieles, was ihm nicht gefiel. Er sah, wie die Bauern hungerten, während die Feuermagier und Paladine im Luxus lebten, der ohne den Ablass der Bauern nicht möglich gewesen wäre. Er sah, wie fromme Männer an der Klosterpforte abgewiesen wurden, während die Söhne der Kaufmänner zu Dutzenden ins Kloster kamen. Er sah, wie Ehebrecher hingerichtet wurden, während einige unter den Feuermagier das Zölibat, nun, nicht gerade ernst nahmen. Und er sah noch einiges mehr, Dinge, in die man nur als Mitglied des Ordens Einblick hat. Doch Inubis konnte nicht analysieren, nutzte das, was er sah nicht, um die eigene Weisheit zu erweitern. Er zerbrach daran. Er war nicht bereit für das, was er sah. Er zog falsche Schlüsse, verlor den Glauben an das Gute, wählte einen Pfad, den er für besser hielt, ohne zu merken, dass dieser nur eine geringfügige Variation des Pfades war, den die übrigen Paladine und Magier beschritten, und fand ein schmachvolles Ende. Und er ist nicht der einzige. Oft kommt es vor, dass gute Beobachter an ihren Beobachtungen zerbrechen. Sie erkennen, wie die Menschen in einem Extrem leben, werden blind und fallen ins andere. Die Einfältigen leben ihr Leben, Tag ein und Tag aus. Doch es sind nicht die Einfältigen, es sind die Aufmerksamen, die Gebildeten, die mit dem Zeug zu großer Weisheit, die tief fallen.
Deshalb rate ich dir, sei vorsichtig. Es ist gut, die Missstände in der Welt zu erkennen, doch man muss vorsichtig sein, dass man nicht den Blick für das Gute verliert und letztlich verbittert ob all der Missstände. Und es wäre wirklich schade, würdest du enden wie Inubis. Beobachte, doch ziehe keine falschen Schlüsse. Du kannst mehr aus dir machen.“
„Ah, hier finde ich dich!“
Will schreckte aus seinen Gedanken auf. Der Magier, der ihm gegenüber am Tisch saß, lächelte stattdessen an ihm vorbei in Richtung Eingang.
„Oh, du bist bereits fertig?“
Will wandte den Kopf und augenblicklich stockte ihm der Atem, als er erkannte, wer dort in der Tür stand.
Barthos lächelte. „Ich will die armen Studenten ja nicht zu lange mit dem Gefasel eines alten Mannes langweilen. Kommst du nun mit mir oder willst du noch bei deinem jungen Freund verweilen?“
Der Magier schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich komme. Ich habe lange genug auf diesem unbequemen Stuhl gesessen. Ein wenig Bewegung wird mir gut tun.“ Er erhob sich, dann wandte er sich noch einmal Will zu. „Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Menschen wie dich trifft man leider nicht alle Tage. Ich wünsche dir viel Glück auf deinen weiteren Wegen.“
Will konnte den beiden Magiern nur stumm nachschauen, wie sie in ein Gespräch vertieft die lange Regalreihe entlangschritten und dann um eine Ecke verschwanden.
Er fühlte sich leicht schwindlig. Die Worte des Magiers schwirrten noch in seinem Kopf herum und er musste sie zunächst verdauen.
Nach einer Weile fiel ihm ein, dass er nicht einmal den Namen des Magiers wusste, mit dem er soeben gesprochen hatte. Direkt darauf erinnerte er sich, dass sein Gesprächspartner das Vorwort des Buches verfasst hatte, welches noch immer vor ihm auf dem Tisch lag.
Hastig nahm Will den dicken Wälzer in die Hände und blätterte ans Ende des mehrseitigen Vorworts. Und dort stand er tatsächlich, der Name des Verfassers:
Xardas
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:08 Uhr)
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Feuer und Eis
Angestrengt zog Will die Brauen zusammen. Die Augen hatte er starr auf das Reagenzglas gerichtet, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er atmete ruhig ein und aus. Einen Moment verharrte er, dann hob er die Hände und krümmte die Finger leicht in Richtung des Glases.
„Es hat sich bewegt! Hast du das gesehen? Es hat ganz leicht gezittert?“
„Hat es nicht.“
„Doch, ich hab es genau gesehen!“
„Bitte, Will.“ Renwik saß auf einem Hocker und knetete die Hände im Schoß. Ihm war deutlich anzusehen, dass ihm mehr als unwohl in seiner Haut war. „Lass das doch. Magie ist eine Gabe der Götter. Du kannst sie nicht nutzen.“
„Ich kann es, das wirst du schon noch sehen.“ Will beugte sich über das dicke Buch aus der Bibliothek und ließ seinen Blick über den Text wandern. „Ich muss nur endlich den Bogen rausbekommen. Ich glaube, es ist die Haltung. Irgendetwas an der Haltung mache ich noch falsch. Hier: Der kleine Finger zeigt auf das Herz… etwa so…“
Mit Unbehagen sah Renwik zu, wie Will die Finger seiner Hand krümmte. „Bitte, Will. Allein das zu versuchen, ist Gotteslästerung. Wenn die Feuermagier davon erfahren, landest du noch auf dem Scheiterhaufen.“
Will hörte nicht zu. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er sich nicht so leicht davon abbringen. Und seit ihm Xardas vor nunmehr einem halben Jahr gesagt hatte, dass es sich bei der Magie nicht um eine göttliche Gabe, sondern um eine für jeden erlernbare Kunst handelte, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, diese Kunst zu meistern.
„Willst… willst du nicht lieber mit auf den Markt kommen?“, versuchte Renwik, seinen Freund von dessen Übungen abzubringen.
„Nein, dazu habe ich ehrlich gesagt wenig Lust“, entgegnete dieser, den Blick starr auf das Reagenzglas gerichtet.
„Aber…“ Renwik schien zu überlegen, wie er Will dazu bringen konnte, seine Übungen zu unterbrechen. Und nach kurzem Nachdenken schien ihm tatsächlich eine Idee zu kommen: „Dort wird heute eine Ketzerin verbrannt.“
Will hob den Kopf. „Weshalb das?“
„Na, weil sie gesündigt hat… schätze ich mal.“
„Und was hat sie verbrochen?“
„Ich weiß es nicht. Aber es werden sicher einige Leute dort sein, um sich das anzusehen.“
Will klappte das Buch zu. „Und du willst auch zuschauen?“
„Nein!“, entfuhr es Renwik leicht entsetzt. „Ich muss auf dem Marktplatz nur ein paar Besorgungen machen. Dass ich gerne Hinrichtungen beiwohne, kann ich nun wirklich nicht von mir behaupten.“
„Also gut“, sagte Will und erhob sich. „Ich will mir das einmal ansehen.“
Eine dicke Schneedecke lag in diesen Tagen auf Gelderns Straßen. Es war still. Nicht nur, dass nur wenig Menschen unterwegs waren, der Schnee schien den üblichen Lärm der Stadt auch zu verschlucken, zu dämpfen. Daheim in Silden war es Will im Winter immer zu ruhig gewesen. Hier in der Metropole Geldern genoss er jedoch die vorrübergehende Abwechslung vom üblichen Großstadtlärm. Und so lauschte er verträumt dem knirschenden Geräusch ihrer Schritte und dem leichten Bibbern, das von dem neben ihm gehenden Renwik ausging.
Sterne schmückten die Giebel der Häuser dieser Tage und hinter den Fenstern konnte er Kerzen und Laternen ausmachen.
Morgen war der letzte und kürzeste Tag des Jahres. Die Menschen würden Lichter anzünden, um Beliar von ihren Häusern und Wohnstätten fernzuhalten und in die Tempel ziehen, um gemeinsam für einen Sieg Innos’ über dessen finsteren Bruder zu beten.
Und Innos würde siegen. Die Tage würden wieder länger werden und es würde ein neues Jahr beginnen. Es war egal, was sie taten. Es würde immer so kommen, das war Will längst klar.
Dann hörten sie doch noch einen Lärm, der langsam anschwoll, während sie sich seiner Quelle näherten. Und als sie schließlich um eine Ecke bogen, standen sie auf dem belebten Marktplatz und hörten laut und deutlich eine hohe, krächzende Stimme, die von dessen Mitte ausging:
„… GESTAND DIE DELINQUENTIN BEI DER PEINLICHEN BEFRAGUNG DIE VERBRECHEN DER HÄRESIE, DER HEXEREI, DER WIDERNATÜRLICHEN UNZUCHT MIT ZAHLREICHEM GETIER UND DER DURCHFÜHRUNG OKKULTER RITUALE UND MENSCHENOPFER…“
Ein Scheiterhaufen war in der Mitte des Platzes aufgetürmt worden. Der Sprecher war ein Feuermagier in roter Robe und mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze, auf der einige Schneeflocken glänzten.
Ohne weiter auf Renwik zu achten, schob sich Will zwischen den Menschen hindurch auf den Scheiterhaufen zu.
„DIE DELINQUENTIN GESTAND FERNER, SICH BELIAR IM TAUSCH GEGEN MAGISCHE KRÄFTE HINGEGEBEN ZU HABEN!“
Will hatte den Mittelpunkt des Platzes nun erreicht und konnte das Geschehen aus nächster Nähe betrachten. Unter der Kapuze des Magiers erkannte er nun ein runzliges Gesicht und einen Kehlkopf von geradezu gigantischen Ausmaßen. Doch sein Blick galt eher der Frau, die dort in Mitten des Scheiterhaufens an einen Pfahl gebunden worden war. Sie sah fürchterlich aus. Die wahrscheinlich tagelange Folter hatte ihren Körper und ihr Gesicht gezeichnet: Ihre Haut war nur eine geschwollene, violette Masse voller Blutergüsse, das Haar so verschmutzt und mit Blut verklebt, dass die Farbe nicht einmal mehr zu erahnen war.
Er erschrak bei diesem Anblick. Natürlich hatte er von der Inquisition durch die Kirche des Feuers und ihren Praktiken gelesen, doch es war etwas anderes, sie in der Realität zu sehen. Das Entsetzen, das er beim ersten Blick auf die Angeklagte verspürt hatte, wandelte sich jedoch rasch in Wut um. Wie konnte man einem Menschen so etwas antun? Wie konnten dies gerade diejenigen, die behaupteten, dem Gott der Gerechtigkeit zu dienen? Und wie konnte dieser es zulassen, dass solche Verbrechen in seinem Namen verübt wurden?
Will hatte den Worten des Feuermagiers gar nicht mehr zugehört, doch nun nahm er mit Entsetzen wahr, dass dieser eine Rune mit einer Flamme darauf in die Höhe hielt. Im nächsten Moment brannte der Scheiterhaufen.
Beinahe hätte Will in den Schrei der Frau mit eingestimmt, stattdessen spürte er, wie sein Körper unter einer neuen Welle der Wut erbebte. Ein Gefühl als würde flüssiges Blei durch seine Adern rinnen, breitete sich von seinem Bauch langsam nach oben und in seine Arme aus. Dann erreichte das Gefühl seine Fingerspitzen und Will glaubte, sie würden explodieren.
Stattdessen türmte der Schnee sich auf, schmolz zu einem Berg aus Wasser und stürzte über dem Scheiterhaufen zusammen, womit die Flammen sofort erloschen.
Augenblicklich war es mucksmäuschenstill.
Alle Anwesenden starrten gebannt und ungläubig auf Wills Hände. Auch er selbst konnte nicht glauben, was er gerade getan hatte. Nach seinen zahlreichen, aber kläglichen Übungsversuchen, hätte er sich nie träumen lassen, einen solchen Zauber zu vollbringen.
Der Magier war der erste, der seine Fassung zurückfand. Und kaum war dies geschehen, deutete er auch schon auf Will und schrie „Ketzer! Die Magie ist ein Geschenk Innos’. Wer immer sie anwendet, ohne von ihm erwählt zu sein, ist mit Beliar im Bunde!“ Als die Umstehenden noch immer nicht reagierten, schrie er wütend: „Der Dunkle sandte diesen hier aus, um seine Dienerin zu retten, doch dies soll ihm nicht gelingen! Los, ergreift diesen Hexer und legt ihn in Ketten! Auch er soll brennen für seinen Frevel!“
Nun kam auch Will wieder zur Besinnung. Ohne noch groß nachzudenken, rannte er los. Er schubste den noch immer wie gelähmten Renwik beiseite, kämpfte sich durch die entsetzte Menge und rannte dann die verlassenen Straßen entlang.
Die Schreie des Feuermagiers verfolgten ihn, doch er blickte sich nicht um, achtete nicht darauf, ob er verfolgt wurde, sondern rannte einfach. Die Stadtwachen am Trelistor blickten sich überrascht um, als er an ihnen vorbeilief, waren jedoch viel zu überrumpelt, um zu reagieren.
Dann war der Lärm mit einem Mal fern. Doch Will hörte nicht auf, zu rennen. Mehrmals rutschte er beinahe auf dem Schnee aus. Dann erreichte er die nahen Bäume und tauchte ein in den Wald im Süden der Stadt. Äste und Zweige zerbrachen, als er sich zwischen den Stämmen hindurchschlug. Dann stolperte er über eine Wurzel und landete mit dem Gesicht im kalten Schnee.
Unsanft schlug Wills Kopf gegen eine, wie er meinte, hölzerne Wand, was ihn aus seiner Ohnmacht riss. Der Boden unter ihm vibrierte und er hörte ein seltsames Rattern. Dann spürte er, dass er offenbar in eine warme, weiche Decke eingewickelt war und dennoch am ganzen Leib fror. Wo war er?
Langsam öffnete er die Augen. Ein Stöhnen entwich seinem Mund. Dann sah er über sich kahle Baumkronen und dicke, Schneebedeckte Äste, die über den Himmel zogen. Über den Himmel zogen? Ja, der Boden unter ihm musste in Bewegung sein.
„Ah, du bist wach!“, erklang eine Stimme aus Richtung seiner Füße.
Wieder stöhnte Will. „Wo bin ich?“
„Im Moment überqueren wir die Myra.“
„Die Myra?“, fragte Will und schlang dabei die Decke noch etwas fester um sich, in der Hoffnung, sich endlich etwas aufzuwärmen.
„Ja, dort enden die Ländereien von Geldern.“ Das Rattern erstarb mit einem Mal und wich dem sanfteren Geräusch des Schnees unter den Rädern des Wagens – denn dass er auf einem solchen lag, war Will mittlerweile klar. „Genauer gesagt, haben wir die Brücke jetzt hinter uns. Also herzlich willkommen in der Westmark.“
„Ich weiß, was die Myra ist“, sagte Will schwach. Soweit kannte er sich mittlerweile dank seiner Lektüre in Myrtana aus. Sie waren nun im Hoheitsgebiet des Markgrafen der Westmark. „Aber was mache ich hier?“
„Ich habe dich gerettet. War auf dem Weg vom Markt in Geldern nachhause, als ich dich im Schnee liegen fand. Du hast verdammtes Glück gehabt. Du warst schon halb erfroren. Es hätte nicht viel gefehlt, und du wärst als Eisblock geendet – wenn dich nicht vorher ein paar hungrige Wölfe oder ein Oger auf der Jagd gefunden hätten.“
„Dann sollte ich mich wohl bedanken.“
„Vergiss es. Ich werd’ doch niemanden hier draußen erfrieren lassen. Aber sag mal, ich weiß ganz gerne, wie die Leute heißen, denen ich das Leben rette.“
„Will.“
„Freut mich, Will.“ Die Tonlage seines Retters verriet ihm, dass dieser lächelte. „Ich heiße Dominique.“
Geändert von Jünger des Xardas (06.08.2013 um 11:21 Uhr)
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Was nun?
„Und du kommst also aus Silden, ja?“
„Genau.“
Dominique lachte, während er den Inhalt des Eimers in seinen Händen in den Futtertrog vor sich schüttete. „Na dann hast du ja wenigstens etwas Erfahrung mit der Arbeit hier, schätze ich.“
„Nicht wirklich“, sagte Will, der mit der Mistgabel unbeholfen in dem Heu der Schweine herumstocherte, welche sich gerade gierig über das frische Futter hermachten. „Nicht alle von uns sind Bauern oder Fischer.“
„Na wie ein Orksöldner siehst du mir ja nicht aus.“
„Bin ich auch nicht.“
„Gut.“ Dominique nahm Will die Mistgabel aus der Hand und übernahm dessen Arbeit. „Dass es tatsächlich Menschen gibt, die auch noch für diese Orks kämpfen…“, murmelte er wütend.
„Hast du denn schon mal einen Ork gesehen?“, wollte Will wissen.
Der junge Bauersohn schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß, dass sie den letzten König vor hundert Jahren getötet haben. Dank ihnen ist das alte Reich zerfallen.“
„Was kümmert dich das?“
„Hast du in Geldern denn nicht mitbekommen, was in diesem Land vor sich geht? Myrtana ist heute nur noch ein Flickenteppich. Alle paar Meter beginnt eine neue Grafschaft. Und sie haben nichts besseres zu tun, als sich gegenseitig zu bekämpfen. Unser Graf zankt sich gerade mit den Alchemisten von Geldern. Im Norden führen Montera und Gotha schon wieder Krieg. Was, wenn es wieder eine Invasion der Orks gibt? Schon jetzt drängen die Stämme der Orks und die Klans der Barbaren über die Pässe, heißt es. Und es ist niemand da, der sie aufhält, weil sich die Barone der nördlichen Burgen gegenseitig bekriegen. Oder was, wenn der Sultan von Bakaresh wieder in der Küste einfällt? Letztes Mal wurde er von einem geeinten Myrtana abgewehrt. Was soll diesmal geschehen?“
Will nickte. „Da ist was dran. Zusammen wären die Fürstentümer stärker.“
„Und das in jeder Hinsicht. Myrtana war nicht umsonst das mächtigste und reichste Land diesseits des Myrtanischen Meeres. Geeint wäre es allen anderen Nationen militärisch und wirtschaftlich weit überlegen. Seine Fürsten würden sich nicht gegenseitig bekämpfen und die kleinen Dörfer und Höfe wären nicht schutzlos all den Banditen, Seeräubern und Orks ausgeliefert. Außerdem hätten wir Bauern nicht so unter der Willkür unserer Fürsten oder all diesen Zöllen zu leiden.“
„Tja, aber dass Myrtana in nächster Zeit wieder vereint wird, ist relativ unwahrscheinlich.“
Dominique seufzte. „Leider. Aber zurück zu dir. Was hast du dann gemacht?“
„Gekämpft. Ich war Gladiator.“
„Oh!“ Ein Funkeln trat in Dominiques Augen. Im nächsten Moment warf er Will die Mistgabel zu, der sie überrascht auffing. Blitzschnell griff Dominique zu einer Harke, die an der Wand lehnte, und schlug damit nach Will. Dieser parierte und versuchte, das Werkzeug beiseite zu drücken. Da ließ Dominique die Harke kreisen, sodass Will nach hinten ausweichen musste. Er entging knapp einem Schlag nach seinem Bein, dann schlug er seinerseits zu. Dominique blockte. Einen kurzen Moment erkannte Will eine Lücke in der Abwehr seines Gegners, die er mit einer Waffe hätte durchdringen können, dann hatte dieser ihn zu Boden geworfen und hielt ihm die Heugabel direkt vors Gesicht.
„Du bist gut“, keuchte er und half Will wieder auf die Beine.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du kämpfen kannst“; entgegnete Will atemlos.
„Ja, das erwarten die meisten nicht von einem Bauern. Aber ich bin nicht wirklich in Form. Eben hättest du mich leicht in die Seite treffen können.“ Dominique deutete auf Wills Schwert, das an seinem Gürtel hing. „Du hättest nur das zur Hilfe nehmen müssen.“
„Das wäre nicht fair gewesen.“
Dominique lachte laut auf. „Oh Mann. Ja, du musst wirklich ein Gladiator sein. Hör mal, in einem richtigen Kampf gibt es keine Regeln. Entweder du kämpfst mit allen Mitteln oder du bist tot. Und ich zumindest könnte den Gedanken nicht ertragen, mit einer unbenutzten Waffe am Gürtel zu sterben.“
„Hm, ich werd’s mir merken, aber ehrlich gesagt, hoffe ich, dass ich mich nie in einem richtigen Kampf wiederfinden werde. Was ist mit dir? Weshalb hast du das Kämpfen erlernt?“
„Denkst du, ich habe vor, den Rest meines Lebens auf diesem Bauernhof zu verbringen? Mein Vater will nicht, dass ich gehe, aber das hier ist nichts für mich. Und ich bin inzwischen alt genug, um selber zu entscheiden. Diesen Frühling werde ich die Westmark verlassen. Sobald der Schnee taut.“
„Und wohin wirst du dann gehen?“, fragte Will.
„Nach Montera, schätze ich. Der Herzog sucht immer neue Söldner und zahlt gut, heißt es.“
„Es heißt auch, dass er Beliar dient.“
„Und?“ Dominique zuckte mit den Schultern. „Mit den Göttern habe ich nicht viel am Hut, aber ich will etwas aus meinem Leben machen. Und wenn ich einem der Fürsten Myrtanas diene, dann dem von Montera. Nach allem, was man so hört, ist er der vernünftigste von dem ganzen Haufen. Außerdem hat er in den letzten Jahren alle kleineren Reiche in seiner Nähe unterworfen. Ihm gehört beinahe das ganze Mittelland. Montera könnte die Zukunft Myrtanas sein, sag ich dir.“
„Hm.“ Will lehnte sich nachdenklich an die Wand der Scheune. „Wenn du meinst.“
„Was ist mit dir? Du könntest doch mitkommen. Gute Kämpfer wie dich wird der Herzog mit offenen Armen empfangen.“
„Ich weiß nicht. Ich hatte schon einmal die Gelegenheit, Söldner zu werden und hab sie nicht ergriffen. Das ist, glaube ich, nichts für mich. Nein“, er schüttelte nachdenklich den Kopf, „ich denke, es wird langsam Zeit, nach Hause zurückzukehren.“
„Nach Silden?“ Überrascht zog Dominique die Brauen in die Höhe. „Ich dachte, da wolltest du unbedingt weg.“
„Wollte ich auch, aber damals hatte ich völlig falsche Vorstellungen von der Welt da draußen.“ Will seufzte. „Vielleicht hätte ich doch daheim bleiben sollen. Vielleicht ist das einfach nicht meine Welt. Zumindest scheine ich mit ihren Regeln nicht klarzukommen und mir nur Ärger einzuhandeln. Außerdem bin ich nun schon anderthalb Jahre weg. Marie wird mich vermissen.“
„Marie?“ Ein Grinsen huschte über Dominiques Lippen. „Dein Mädchen, ja? Ha, Frauen!“, fuhr er fort, als Will nur nickte. „Bringen nichts als Ärger, wenn du mich fragst. Hey, dir steht die ganze Welt offen!“
„Was willst du damit sagen? Dass ich sie einfach vergessen soll?“
„Das musst du wissen, da will ich dir nicht reinreden. Aber zumindest solltest du ihretwegen nicht den Rest deines Lebens in diesem Nest am Rande der Welt und unter der Herrschaft der Orks verbringen. Schließlich bist du ein guter Kämpfer und auch nicht auf den Kopf gefallen. Und ein Bauernhof ist ja schon mal nicht der richtige Platz für dich, wenn ich mir so anschaue, wie du die Scheune ausmistest. Du kannst deine Marie ja mit dir nehmen, wenn sie dir so wichtig ist, aber du solltest dein Leben und all die Möglichkeiten, die du hast, nicht einfach wegwerfen.“
„Hm.“ Will schwieg eine Weile. „Vielleicht hast du Recht“, sagte er dann. „Aber ich muss erst mal in Ruhe darüber nachdenken. Etwas Zeit habe ich ja. Bei diesem Schnee wäre es Wahnsinn, die Ebenen überqueren zu wollen. Ich denke, bis zum Frühling bleib ich da.“
„Freut mich“, sagte Dominique und klopfte Will auf die Schulter. „Dann werden meine letzten Monate auch etwas spannender als die letzten siebzehn Jahre. Und meinen alten Herrn hast du ja gehört: Solange du bei der Arbeit hilfst, kannst du bleiben.“
Und so kam es, dass Will die nächste Zeit auf dem kleinen Bauernhof in Nemora verbrachte. Es war das Grenzland vor dem Pass nach Varant, der äußerste Zipfel der Westmark. Größere Siedlungen gab es hier keine, dafür aber eine Vielzahl von Gehöften in der Nähe des Myrtat und weiter westlich einige große Steinbrüche an den kargen Hängen. Es war ein Land, das immer umkämpft gewesen war und in der Geschichte mal zur Trutzburg Trelis, mal zu Braga, der ersten Stadt jenseits des Passes, gehört hatte.
Mit Dominique freundete Will sich schon bald an und wenn die beiden nicht gerade trainierten, unterhielten sie sich. Während Dominique seinem Freund seine Ansicht zur politischen Situation Myrtanas schilderte – soweit er diese überblicken konnte –, erzählte Will vornehmlich von den bisherigen Erlebnissen seiner Reise. Dominique war der Ansicht, Will solle etwas Pragmatismus entwickeln und sich mehr mit der Welt arrangieren. An der Feuerkirche könne er ja doch nichts ändern, er müsste, wie Dominique einmal scherzhaft sagte, schon eine neue Kirche, wenn nicht gar Religion begründen. Gleichzeitig zeigte sich der Bauernsohn allerdings auch sehr interessiert an Wills magischen Übungen. Er riet ihm, an seinem Vorhaben festzuhalten.
„Dass du eine Begabung zur Magie hast, hast du ja selbst festgestellt. Da wäre es einfach töricht, diese nicht zu nutzen. Bedenke nur, was du damit alles anfangen könntest! Außerdem musst du diese Fähigkeiten in den Griff bekommen. Wer weiß, ob du nicht eines Tages wieder so einen Ausbruch hast. Und das könnte irgendwann auch nach hinten losgehen.“
Will musste seinem Freund hier rechtgeben, doch nach Geldern konnte er nicht zurück und er wusste nicht, wo in Myrtana, außer in den Klöstern der Feuermagier, er sonst die entsprechenden Schriften finden sollte.
Die Zeit verging wie im Fluge und schon bald brach das Eis, das den nahen Myrtat bedeckte. In den folgenden Tagen schmolz der Schnee und verwandelte die große Straße nach Varant in ein Meer von Schlamm.
Bald darauf verließen sie gemeinsam – sehr zum Ärger von Dominiques Vater – den Hof und zogen nach Norden. Sie folgten der breiten Straße, den Myrtat zu ihrer Rechten, die großen Hänge zu ihrer Linken. Nach einiger Zeit gelangten sie schließlich an den Rand eines kleinen Waldes.
„Jetzt sind wir fast bei Trelis“, meinte Dominique. „Noch ein, zwei Stunden Fußmarsch, dann kommen wir an die Kreuzung. Bis dahin solltest du dich entschieden haben, wo du hinwillst.“
Will nickte nur stumm. Dann horchte er plötzlich auf. „Hörst du das?“
Dominique hob den Kopf. „Klingt als käme da jemand. Klingt sogar als kämen da eine ganze Menge Leute.“
Sie hielten inne und warteten, die Blicke auf die Straße vor ihnen gerichtet. Dann, nach wenigen Minuten erschien vor ihnen ein Tier, wie Will es noch nie gesehen hatte, geführt von einem Mann in bunter Kleidung. Mit offenem Mund betrachtete er das Wesen, dessen Körper mit braunem Fell bedeckt war und auf dessen Rücken ein großer Höcker thronte.
„Mach den Mund zu“, lachte Dominique. „Das ist doch nur ein Kamel.“
„Ein Kamel?“ Noch immer staunend folgte Will dem Tier, das nun gemächlich an ihnen vorbeimarschierte, mit den Augen. Der Mann, der die Zügel in der Hand hielt, nickte ihnen kurz zu. Als Will den Kopf wandte, erkannte er, dass noch unzählige weitere Kamele dem ersten folgten und mit ihnen eine Vielzahl von dunkelhäutigen Männern in bunten Gewändern, mit krummen Messern an den Gürteln und großen Turbanen auf den Köpfen.
„Im Sommer kommen hier Dutzende Karawanen durch“, sagte Dominique, der wenig beeindruckt schien. „Die hier werden aus Montera kommen, vielleicht sogar aus Vengard.“
Ehrfürchtig betrachtete Will die nicht enden wollende Kette aus schwer beladenen Kamelen, als mit einem Mal wieder Dominiques Stimme erklang: „Ich an deiner Stelle würde einfach fragen, ob sie mich mitnehmen.“
Ruckartig riss Will den Kopf herum. „Mitnehmen?“
„Wir haben doch erst vorgestern noch darüber gesprochen. Du weißt schon, deine Magierausbildung. Und du meintest, außer Geldern und den Feuerklöstern gäbe es da nur Varant.“
Langsam wanderte Wills Blick wieder zu der vorbeiziehenden Karawane. Es stimmte, das hatte er gesagt. Varant war quasi die Heimat der Magie. Dort lagen die großen Ruinenstädte des Alten Volks mit ihren zahlreichen Artefakten. Und die Geschichten über jenes Volk hatten ihn immer fasziniert, seien es die vom Ewigen Wanderer, die von der großen Flut und Akaschas Marsch oder die des ersten Beliarpriesters. Doch Varant… Das war eine völlig andere Welt. Und selbst hier, keine zwei Tagesmärsche vom Pass entfernt, schien es ihm noch wie ein weit entferntes, sagenhaftes Land, das man nur aus Geschichten kannte, doch nie zu Gesicht bekam. Nach Varant zu gehen, wäre noch einmal etwas anderes, als Silden zu verlassen.
„Nein“, er schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Ich bin nun schon so lange fort.“
„Du musst ja nicht lange bleiben. Laut den Kaufmännern, die immer an unserem Hof vorbeikamen, ist man in maximal drei Monaten in Bakaresh. Und dort sollen doch schon Ruinen sein, hast du gesagt. Du könntest dir noch ein Jahr nehmen. Hin, zurück, etwas studieren. Ein Jahr, das ist auch nicht die Welt. Und dann könntest du immer noch heim.“ Als Dominique sah, dass Will noch immer zögerte, sagte er: „Ist deine Entscheidung, aber ich meine noch immer, dass es Verschwendung und auch gefährlich wäre, dich nicht weiter in der Magie zu schulen.“
Einen Moment stand Will da, hin- und hergerissen zwischen einer Stimme, die ihn energisch aufforderte, zu Marie zurückzukehren und einer verführerischen, die ihn nach Varant zu locken versuchte. Dann wirbelte er mit einem Mal herum und schüttelte die Hand seines Freundes. „Machs gut und viel Glück in Montera. Ich hoffe wirklich, dass wir uns eines Tages wiedersehen.“
Dominique lächelte. „Hoffe ich auch. Und dir viel Glück beim Zaubernlernen. Ich bin sicher, du hast dich richtig entschieden.“
Will nickte nur, dann wandte er seinem Freund den Rücken zu und sprach einen der vorbeikommenden Varantiner an.
Geändert von Jünger des Xardas (06.08.2013 um 11:32 Uhr)
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Ein Stück Heimat in der Fremde
Will fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Er hatte nicht geglaubt, dass es in Varant so heiß war.
Doch dies war nicht das einzige, das er sich anders vorgestellt hatte. Um genau zu sein, übertraf Varant in jeder Hinsicht seine Erwartungen und kühnsten Vorstellungen. Fasziniert durchstreifte er die Straßen Bragas, der ersten Stadt jenseits des Passes. Sein Blick ruhte auf den Häusern, die auf den Ruinen des Alten Volks erbaut waren und deren Putz von der gleichen Farbe war wie der Sand, auf dem sie standen. Auch die Menschen unterschieden sich in vielerlei Hinsicht von denen, die er kannte. In Braga trafen sich Kaufmänner aus dem Süden der Wüste und aus Myrtana, um ihre Waren zu tauschen, Jäger, die in den nahen Bergen die berüchtigten Schwarzen Snapper jagten, und Nomaden, deren Stämme die Gebiete der Stadt gerade passierten. Nie hatte Will eine solche Farbvielfalt gesehen – weder was die Kleidung noch was die Haut der Menschen betraf.
Sich zu allen Seiten umschauend, lief er über den großen Basar der Stadt, auf dem die Händler mit den Reisenden feilschten und lautstark ihre Ware priesen. Hier hielt ein Händler einen feingewebten Teppich in die Höhe. Dort schaufelte einer ein rotes Pulver aus einem großen Sack in das Behältnis, das sein Kunde ihm hinhielt und lobte dabei, über dessen Kopf hinwegschreiend, den Tränenpfeffer von den Südlichen Inseln. Und direkt neben Will stapelte ein Mann Körbe voll Obst und ließ dabei immer wieder ein spontanes „Ein Silberstück! Ein Silberstück!“ hören.
Er war so in all die neuen Eindrücke vertieft, dass er erst merkte, dass er direkt auf eine junge Frau zuhielt, als es schon zu spät war. Die Frau schrie überrascht auf, als sie zusammenprallten, und der große Korb, den sie mühsam vor sich hergetragen hatte, entglitt ihren Händen. Mehrere Granatäpfel fielen heraus und rollten kreuz und quer über den staubigen Boden.
„Tut mir leid, ich…“
„Verzeihung, ich…“
Beide brachen ab und blickten sich an. Dann beugte Will sich herab, um die Früchte wieder aufzuheben. Die Frau sank ebenfalls auf die Knie.
„Ich mach das schon.“
„Ich heb’ sie für dich auf.“
Wieder hielten sie inne, denn abermals hatten sie genau gleichzeitig gesprochen. Beide schauten sich ins Gesicht, dann lachten sie und sammelten die Granatäpfel gemeinsam wieder ein.
„’Tschuldigung noch mal“, sagte Will, als er den letzten Apfel in den Korb warf, den die Frau mittlerweile aufrecht hingestellt hatte.
„Schon in Ordnung. Das war mein Fehler. Danke, dass du mir geholfen hast.“ Sie lächelte ihn freundlich an und erhob sich dann.
„Versteht sich doch.“ Auch er stand nun wieder auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Ich bin übrigens Will.“ Er reichte ihr die Hand.
„Oh.“ Sie nahm die Hände von ihrem Korb, den sie schon wieder hatte hochheben wollen, und ergriff Wills Hand. „Fatima.“ Ihre tiefbraunen Augen strahlten ihn freundlich an. Doch nicht nur Fatimas Augen waren braun. Ihre Haut unterschied sich deutlich von der hellen der Myrtaner oder der leicht gebräunten der Varantiner. Zwar hatte Will noch keinen Menschen wie sie zu Gesicht bekommen, doch dank seiner Bücher wusste er sofort, woher sie stammen musste.
„Du kommst von den Südlichen Inseln, oder?“, fragte er interessiert.
„Wie?“ Fatima hatte sich schon wieder ihrem Korb zugewandt. Sie machte einen leicht zerstreuten Eindruck. „Oh, ja! Ja, ich komme aus Ariabia. Ähm, nimm’s mir nicht übel, aber ich habe es etwas eilig.“
„Tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich sein“, entschuldigte Will sich rasch. „Ich bin nur bis vor Kurzem noch nicht viel rumgekommen. Ich komme eigentlich aus Myrtana und…“
„Warst du nicht“, versicherte Fatima. „Ich habe es nur wirklich etwas eilig. Tut mir leid.“
„Soll ich dir helfen?“ Er wäre die nächsten Stunden wahrscheinlich sowieso nur ziellos umhergeirrt. Weder kannte Will jemanden in dieser Stadt, noch wusste er, wohin er gehen sollte. Da konnte er genauso gut sein Missgeschick wieder gut machen.
„Du willst mir helfen?“ Fatima schien überrascht, ließ sich den schweren Korb aber gerne abnehmen. „Danke.“
„Wohin?“
„Folge mir einfach.“
Das war leichter gesagt, als getan. Will erkannte nun, weshalb Fatima ihn nicht gesehen hatte. Der große Korb verdeckte beinahe sein ganzes Gesichtsfeld. Das und das bunte Getümmel um ihn herum, machten es nicht gerade leicht, der jungen Frau zu folgen. Glücklicherweise war es nicht weit. Und das Gebäude, auf das sie zuhielten, war so groß, dass es selbst mit einem Korb voller Granatäpfel vorm Gesicht nicht zu verfehlen war.
„Lebt dort der Herr der Stadt?“, fragte Will ehrfurchtsvoll.
„Ja, das ist der Palast von Emir Faisal IV. Dort müssen wir hin.“
„Arbeitest du für den Emir?“
„Nein, ich gehöre zu einer Gesandtschaft aus Bakaresh. Eigentlich bin ich Sklavin an Sultan Bayezids Hof.“
Will blieb abrupt stehen, zuckte sogar leicht zusammen beim Klang des Wortes. „Du… du bist eine Sklavin?!“
„Ja, was hattest du denn gedacht?“ Fatima klang als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Mit leicht gerunzelter Stirn drehte sie sich zu ihm um.
„Ich…“ Gedacht hatte er eigentlich gar nichts. Aber dass sie eine Sklavin war, traf ihn völlig unerwartet. Er hatte gewusst, dass es in Varant Sklaverei gab wie unter den Orks in Silden. Doch es waren zwei völlig verschiedene Dinge, etwas zu wissen oder tatsächlich damit konfrontiert zu werden.
„Können wir bitte weiter? Wenn du mir nicht mehr helfen willst, bringe ich die Äpfel alleine zum Palast.“
„Nein. Nein! Ich helfe gern!“, beteuerte Will hastig und setzte sich wieder in Bewegung. Ja, jetzt wollte er ihr umso mehr helfen.
„Was tust du hier in Varant?“, fragte die junge Sklavin mit einem Mal. „Gehörst du zum Gefolge eines Händlers?“
„Nein, ich bin ganz allein hier. Ich bin auch nur auf der Durchreise. Ich wollte eigentlich nach Bakaresh. Weißt du, ich will die Ruinen und Artefakte des Alten Volks sehen. Genauer gesagt, will ich mehr über die Alte Magie lernen.“
„Magie, hm? Tja, dann solltest du dich an Arif ibn Harun ibn Isakar al Ben Rabu wenden. Er ist wohl der einzige Magier in Bakaresh. Zumindest der einzige, den ich kenne. Und er ist sehr mächtig. Vielleicht der mächtigste Magier von Varant. Ich bezweifle aber, dass er sich mit jedem Dahergelaufenen abgibt. – Nichts gegen dich!“, fügte sie hastig hinzu und legte beschwichtigend eine Hand auf Wills Oberarm. Nötig wäre es nicht gewesen. Er hatte es ihr nicht übel genommen. Schließlich hatte sie völlig Recht. Wenn dieser Mann Varants mächtigster Magier war, wieso sollte er dann ausgerechnet ihn unterweisen? Sicher gab es genug andere, die darauf brannten, sein Schüler zu werden. „Du könntest auf jeden Fall mit uns kommen, wenn du nach Bakaresh möchtest“, fuhr Fatima direkt fort. Etwas wie Begeisterung lag in ihrer Stimme. Vermutlich wollte sie sich für Wills Hilfe revanchieren. „Wir reisen übermorgen ab. Am Vormittag. Durch das Südtor. Die Karawane nimmt dich sicher mit, wenn du dich ein wenig nützlich machst. Da sind wir schon.“ Sie standen vor einer Mauer, deren Tor von zwei Männern mit großen Krummsäbeln bewacht wurde. Will konnte dahinter einen prächtigen Garten erkennen und darin einige Pfauen, die sich um einen großen Brunnen tummelten. „Danke für deine Hilfe.“ Fatima nahm Will den Korb aus den Händen. „Hat mich gefreut.“ Und mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand durch das Tor.
Will sah ihr kurz nach, bevor auch er sich umwandte und in die andere Richtung davonging. Er verspürte eine seltsame Leere in seiner Magengegend. Es war das erste Mal seit Beginn seiner Reise, dass er wieder mit Sklaverei in Berührung kam. Es war seltsam, sie hier draußen zu finden, in der weiten Welt, jenseits der Grenzen des orkischen Territoriums. Es war, als wäre ein Stück seiner Heimat ihm gefolgt. Ein Stück dessen, weswegen er diese Heimat erst verlassen hatte. Ein Stück dessen, wovor er geflohen war.
Um sich abzulenken, konzentrierte sich Will auf den Grund seines Hierseins und auf Fatimas Angebot. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schien ihm diese Begegnung ein großer Glücksfall zu sein. Wenn er ehrlich war, war er doch recht übereilt nach Varant aufgebrochen. Ein wirkliches Ziel hatte er nicht gehabt. Er würde nicht lernen, die Magie zu beherrschen, wenn er ziellos durch die Ruinen des Alten Volks stromerte. Er würde so etwas wie einen Lehrer brauchen. Und er hatte keinerlei Ahnung, wo man in Varant einen Magier fand. Dieser Mann, den Fatima erwähnt hatte – wie hatte er noch geheißen? Harif? – war zumindest ein Anhaltspunkt. Ja, er würde mit diesem Magier Kontakt aufnehmen. Auch wenn Fatima ihre Zweifel daran gehabt hatte, dass er Will unterweisen würde, war es einen Versuch wert. Zumindest hatte er damit ein festes Ziel vor Augen. Und vielleicht würden sich ihm in Bakaresh dann noch weitere Gelegenheiten offenbaren.
Die nächsten beiden Tage brachte Will damit zu, sich ausgiebig in der Stadt umzusehen. Er musste sich dabei sehr zusammenreißen, das wenige Geld, das er bei der Flucht aus Geldern bei sich getragen hatte, nicht einfach für irgendwelchen Tand auszugeben. Es war gerade genug, dass der Besitzer einer schäbigen Herberge ihm erlaubt hatte, in seinem Stall zu schlafen. Er würde spätestens in Bakaresh nach Arbeit Ausschau halten müssen, wenn er weiter über die Runden kommen wollte. Doch es war nicht einfach, sein Geld in Braga bei sich zu behalten. Die Stadt war der Knotenpunkt für alle myrtanischen Händler auf dem Weg nach Varant und für alle varantinischen oder südländischen Händler auf dem Weg nach Myrtana. An jeder Ecke wurden exotische Waren feilgeboten. Und man konnte kaum einen Platz betreten, ohne dass die Rufe der Basarschreier, die bunten Gewänder der Menschen aus aller Herren Länder und die Gerüche der vielen Gewürze einem die Sinne raubten. Ebenso konnte man kaum eine Gasse betreten, ohne dass man von einigen der zwielichtigeren Händler umringt wurde, die versuchten, einem ihre Waren aufzuschwatzen.
Doch Will widerstand den Versuchungen. Auch, weil er bald dazu überging, das große Ruinenfeld zu begutachten, das sich direkt an die Stadtmauer anschloss. Weit entfernte er sich dabei nicht von Braga, denn angeblich wimmelte es in den Ruinen vor wilden Tieren und Räubern. Doch es reichte bereits, vor die Mauer zu treten, um all die Händler mit ihren Angeboten hinter sich zu lassen. Leider musste Will feststellen, dass auch die Ruinen der Altvorderen nicht ganz so waren, wie er sie sich vorgestellt hatte. Es lag nicht alle Nase lang ein magisches Artefakt im Sand. Alles, was er fand, waren wertlose Tontafeln. Und selbst die waren selten. Und die Inschriften, die er entdeckte, konnte er auch nicht entziffern, obwohl er in Geldern einmal in einem Buch über die Sprache der alten Varanter geblättert hatte. Dies bestärkte ihn nur in seiner Erkenntnis, dass es ihm nichts bringen würde, alleine die Ruinen zu durchforsten. Was er brauchte, war jemand, der sich auskannte.
Beide Tage vergingen wie im Flug. Und am Vormittag seines dritten Tages in Varant stand Will am Südtor, wo bereits zwei Dutzend Kamele, sowie mehrere Arbeiter und Wachen auf den Aufbruch warteten. Tatsächlich war der Karawanenführer bereit, ihn mit zu nehmen, wenn er bei der Versorgung der Kamele half. Lange musste er nicht warten, dann erschien eine große Gruppe von Sklaven und Wachen, eine Sänfte in ihrer Mitte, in der sich zweifellos der Gesandte Bakareshs befand.
„Will!“ Er drehte sich herum und erblickte Fatima, gehüllt in ein schlichtes beiges Gewand, die aus der Gruppe der Sklavinnen auf ihn zukam. „Du kommst also mit uns?“
„Ja. Danke für dein Angebot.“
Fatima machte eine wegwerfende Handbewegung. „Verzeihung, wenn ich neulich etwas abweisend gewirkt habe“, sagte sie dann. „Ich musste dringend diese Äpfel in den Palast bringen, weißt du? Aber jetzt haben wir etwas Zeit, uns in Ruhe zu unterhalten. Und jetzt musst du mir das alles erst mal genauer erklären.“
„Was soll ich dir erklären?“, wollte er leicht irritiert wissen.
„Na ja, ich bin nicht gerade oft in Braga, aber ich glaube, es kommt nicht häufig vor, dass dort junge Männer aus Myrtana eintreffen und etwas über Magie lernen wollen.“
„Ach, das. Das ist eine etwas längere Geschichte.“
Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Sklavin aus. „Tja, das wird auch eine etwas längere Reise…“
Geändert von Jünger des Xardas (07.08.2013 um 17:27 Uhr)
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Reiseunterbrechung
„Verdammt, diese Hitze bringt mich noch um. Wie haltet ihr das nur all die Zeit aus?“
Fatima kicherte. „Es ist doch gerade erst Frühling geworden. Spar dir ein paar Flüche für den Sommer auf, wenn du gedenkst, länger zu bleiben.“
Will versuchte, gar nicht erst daran zu denken. Stattdessen wischte er sich mit der Hand über die Stirn, ohne nennenswerten Erfolg, denn seine Hand war nicht weniger schweißüberströmt als sein Gesicht.
„Dein Land, ist es wirklich so kalt und nass, wie man sagt?“, fragte Fatima und sah ihn interessiert an. Es schien ihr wirklich Freude zu machen, ihn über seine Heimat zu löchern. Zumindest tat sie das nun schon seit einer Weile. Seit es über ihn selbst für sie kaum noch etwas zu wissen gab. Die Reise nach Bakaresh dauerte wirklich lange…
„Nein, gar nicht. Also, verglichen mit Varant schon, aber das heißt ja nichts. Die meiste Zeit ist es sehr angenehm.“ Will starrte sehnsüchtig auf den Wasserschlauch, der am Sattel des Kamels vor ihm hing und bei jedem Schritt des Tieres leicht an dessen Flanke hin- und herschaukelte. Doch der Gedanke an einen Schluck kühles Wasser machte es nur noch schlimmer. Und er hatte erst vor kurzer Zeit etwas getrunken. Vor der nächsten Rast würde man ihm nichts mehr geben. Dafür war das Wasser zu knapp. Also beschloss er, sich abzulenken und das Gespräch fortzuführen. Zur Abwechslung konnte ja er mal eine Frage stellen. „Wie ist es denn bei euch so? Also auf Ariabia?“
„Keine Ahnung. Ich habe keine Erinnerungen an Ariabia. Ich wurde nach Varant verkauft, als ich zwei war.“
„Oh.“ Wieder spürte Will, wie sich sein Magen unbehaglich zusammenzog. Bis eben hatte er erfolgreich verdrängen können, dass Fatima eine Sklavin war. „Tut mir leid.“
„Muss es nicht. Wie gesagt, ich kann mich ja gar nicht erinnern.“ Sie lachte vergnügt auf. „Und was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, richtig?“
„Na ja…“ Will dachte daran, wie er sich immer nach der großen, weiten Welt gesehnt hatte. „Irgendwie schon.“
„Ach was! Man kann etwas wollen, was man nicht hat. Aber man kann nichts vermissen, was man nie hatte.“
„Auch wieder wahr.“
„Na ja, und was Ersteres angeht… Ich denke, jeder will irgendwas, was er nicht hat. Aber etwas wollen, was man nicht hat und auch nicht haben kann, damit macht man sich nur unnötig das Leben schwer.“
„Heißt das, du wünschst dir kein bisschen, deine Heimat kennenzulernen?“, fragte Will skeptisch.
„Varant ist meine Heimat. Und es ist groß genug, dass ich es in tausend Jahren nicht vollständig erkunden könnte. Wozu da über die Südlichen Inseln nachdenken, die ich eh nie zu Gesicht bekommen werde?“
Will konnte einfach nicht glauben, dass Fatima derart gleichgültig über ihre eigentliche Heimat und über ihre Freiheit sprach. Er fühlte sogar einen Anflug von… Ja, was war es? Etwa Wut? „Mit so einer Einstellung kann man doch nicht leben. Man kann sich doch nicht selbst verbieten, etwas zu wollen, nur weil es unerreichbar scheint. Man kann doch nicht einfach alles hinnehmen!“, platzte es nun aus ihm heraus. „Wenn man etwas nicht haben kann, muss man eben darum kämpfen! Man muss es sich nehmen!“
Fatima war leicht zusammengezuckt und blickte ihn nun erschrocken an. „Entschuldige. Ich… wollte dich nicht kränken. Ich weiß, das hast du getan. Das hast du mir erzählt. Aber siehst du, ich bin nicht du. Und ich verbiete mir nicht, meine Freiheit zu wollen, weil ich sie nicht haben kann. Ich will sie ganz einfach nicht. Ich bin frei genug. Ich weiß nicht, wie dein Leben in Silden war, aber die Sklaven am Hof von Bakaresh haben es gut. Wir haben alles, was wir uns wünschen könnten. Ich bin völlig zufrieden mit meinem Leben. Was sollte ich denn mit Freiheit? Ich wüsste gar nicht, wohin ich gehen sollte. Am Ende würde ich ja doch nur in der Gosse landen.“
Das konnte er einfach nicht so hinnehmen. Gerade setzte er zu einer Antwort an, als hinter ihnen jemand aufschrie. Will wirbelte herum. Seine Augen fuhren suchend durch die Gegend, dann weiteten sie sich, als er mehrere Gestalten in braunen Mänteln Speere und krumme Schwerter schwingend eine Düne hinab auf sie zureiten sah.
„Nomaden!“ brüllte jemand, dieses Mal vom vorderen Ende der Karawane her.
Will wusste kaum, wie ihm geschah. Wie in Zeitlupe beobachtete er, wie um ihn herum die Männer ihre Schwerter zogen, wie sich die Wachen um die Sänfte des Gesandten sammelten und wie die Sklaven sich ängstlich zu Boden kauerten oder hinter den Leibern der Kamele zu verstecken suchten.
Im nächsten Moment hatten die Angreifer die Karawane erreicht und hieben und stachen auf die Wachen ein. Irgendwo in einer Ecke seines Verstandes, nahm Will wahr, dass einer der Nomaden direkt auf ihn zugeritten kam. Reflexartig wich er dem Speer aus, der direkt auf seine Brust gerichtet gewesen war, und packte ihn dann mit beiden Händen am Schaft. Zu spät ließ der überraschte Reiter seine Waffe los. Während sein Kamel weitergaloppierte, wurde er aus dem Sattel gerissen und landete mit dem Gesicht im Sand, direkt vor den Füßen Fatimas, die entsetzt zurückwich. Ein weiterer Nomade kam direkt auf sie zugeritten. Will schlug mit dem Speer nach ihm, den er noch immer verkehrt herum in der Hand hielt, doch der Nomade duckte sich unter den Schlag hinweg, galoppierte an ihm vorbei und hieb mit seinem Krummschwert stattdessen eine anstürmende Wache nieder. „Will, hinter dir!“ Er wirbelte herum und sah einen Dolch auf sich herabsausen. Der Nomade, den er aus dem Sattel gerissen hatte, hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen. In letzter Sekunde gelang es Will, das Handgelenk seines Widersachers zu packen und so den Dolch abzubremsen. Einen Moment zögerte Will, mit dem Schwert, das er in der anderen Hand hielt, zuzuschlagen. Der Nomade würde sich nicht wehren können, aber Will konnte nicht einfach so einen Menschen umbringen. Selbst wenn dieser eben das gerade bei ihm versucht hatte. Sein Zögern war sein Fehler, denn nun ergriff der Nomade Wills freien Arm und er konnte sein Schwert ebenso wenig benutzen, wie sein Gegner den Dolch. Wütend blickte er dem Nomaden ins Gesicht und versuchte sich aus der Umklammerung loszureißen. Der Nomade versuchte seinerseits, Will doch noch mit dem Dolch zu erstechen. So rangen sie miteinander und versuchten jeder, dem Griff des anderen zu entkommen und ihn mit der eigenen Waffe zu treffen. Sie gerieten ins Taumeln, als sie immer heftiger aneinander rissen. Dann stürzte Will und zog den Nomaden dabei mit sich. Sie landeten im Sand, rollten eine Düne hinunter, verloren dabei ihre Waffen, ohne aber den anderen loszulassen. Als sie unten ankamen, waren sie nur noch ein verbissen miteinander ringendes Knäuel. Will hatte das Glück, oben zu liegen, und als er merkte, dass er sich dem Griff des Nomaden nicht würde entreißen können, rammte er ihm seine Stirn gegen die Nase. Er ignorierte den Schmerz und rammte gleich noch einmal zu. Und noch einmal. Blut rann aus der Nase des Nomaden, doch Will hörte erst auf, als dessen Bewegungen erstarben und er bewusstlos zusammensackte.
Endlich löste sich der Griff um sein Handgelenk und er wollte gerade aufstehen, als ihm jemand seinen Stiefel in den Nacken trat. Im nächsten Moment spürte er einen heftigen Schmerz am Hinterkopf. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:16 Uhr)
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Das Ende der Unschuld
Wills Stirn pochte. Und sein Schädel schmerzte fürchterlich. Auch sein Rücken, der an etwas Hartem und Schroffem lehnte, tat ihm weh. Er stöhnte leise.
„Myrtaner? Bist du wach?“
Will schlug die Augen auf und blinzelte. Flackerndes, dämmriges Licht schlug ihm entgegen. Er brauchte einige Momente, ehe seine Augen sich daran gewöhnten und er die Orientierung wiederfand. Er befand sich offenbar in einer Höhle. In einer Art breiten aber niedrigen Nische in der Wand eines größeren Hauptraumes, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Dunkle Gestalten drängten sich um das Feuer, doch es war unmöglich, mehr als ihre Umrisse zu erkennen.
„Myrtaner?“
Will wandte den Kopf. Neben ihm, dicht an dicht gedrängt, saßen in einer Reihe ungefähr ein Dutzend Männer, alle wie er selbst mit dem Rücken gegen die harte Felswand gelehnt. Derjenige, der zu ihm gesprochen hatte, war sein direkter Nebenmann. Will erkannte in ihm einen der Kameltreiber.
„Du bist also auch wach. Dachte schon, du machst die Augen vielleicht gar nicht mehr auf.“
„Wo sind wir?“
„Im Ben Hasha.“
Ben Hasha. Das große Gebirge, das im Norden Varants, am Myrtatufer aufragte. Das hätte Will sich auch selbst zusammenreimen können, wäre er nicht immer noch völlig durcheinander gewesen. Wo sonst sollte sich die Höhle befinden, wenn nicht im Ben Hasha, dessen Gipfel den Karawanen als Orientierungspunkt dienten und dessen Verlauf auch sie gefolgt waren? Im Süden und im Westen des Gebirges lag nur das endlose Dünenmeer. Die nächsten Berge waren viele Tagesreisen entfernt. Wenn es im Umkreis irgendwo Höhlen gab, dann nur hier. Doch das erklärte nicht, wie sie hierher kamen oder was sie hier machten. Wieder spürte er das schmerzhafte Pochen auf seiner Stirn. Er versuchte, mit den Fingern nach einer Beule zu tasten, musste jedoch voller Schrecken feststellen, dass er die Hände nicht bewegen konnte. Jemand hatte sie ihm auf dem Rücken zusammengebunden. Will sog scharf die Luft ein. „Warum bin ich gefesselt?“, presste er angstvoll hervor und riss an den Seilen, was jedoch nur dazu führte, dass sie ihm tiefer ins Fleisch schnitten.
„Das waren die Nomaden.“ Erst jetzt fiel Will auf, dass auch sein Nebenmann und die übrigen Männer gefesselt waren.
„Die… die Nomaden?“ Und dann fiel es ihm mit einem Mal wieder ein. „Der Kampf! Wie ist er ausgegangen?“
Der Kameltreiber schnaubte. „Was glaubst du?“
Will biss sich auf die Unterlippe. So hatte er sich seinen kurzen Besuch in Varant nicht vorgestellt. In seinem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Was würde mit ihnen geschehen? Warum taten diese Nomaden das? Wo war der Rest der Karawane? Tot? „Was haben die mit uns vor?“, fragte er schließlich. „Warum haben sie uns am Leben gelassen?“
„Wenn sie rausfinden, dass Nazir Pascha ein Gesandter Bakareshs ist, werden sie vielleicht Lösegeld fordern. Uns andere werden sie vermutlich auf dem Sklavenmarkt verkaufen. So machen es diese Räubernomaden immer. Es gibt Dutzende von diesen Gruppen, die sich im Gebirge verstecken und von dort aus Reisende überfallen.“
Eine Mischung aus Angst und Wut stieg in Will auf. Hatte er seine Heimat verlassen, nur um in der Fremde abermals versklavt zu werden?
Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe der am Feuer sitzenden Nomaden. Einige erhoben sich, andere rutschten erwartungsvoll auf ihren Plätzen hin und her. Will hörte sie sprechen, ohne jedoch auch nur ein Wort ihrer Sprache zu verstehen. Er sah, wie drei Gestalten von einem Nomaden ans Feuer geführt und unsanft zu Boden gestoßen wurden. Noch immer fiel es ihm schwer, gegen das Licht des Feuers viel mehr als Umrisse auszumachen, doch es handelte sich eindeutig um Frauen. Vermutlich Sklavinnen aus der Karawane. Wills Augen weiteten sich entsetzt, als er sah, wie einer von ihnen das Gewand mit einem Messer aufgeschlitzt wurde, wie eine andere von gleich drei Nomaden angefallen und ungeniert begrabscht wurde und wie die letzte auf alle Viere gezwungen wurde und ein Nomade sich hinter sie kniete. Gerade als dieser mit der linken Hand grob ihren Hintern packte und mit der anderen an seinem Gürtel herumnestelte, erkannte Will die dunkle Haut und das lange schwarze Haar. Fatima.
Abermals zerrte Will an seinen Fesseln. Dieses Mal, von seiner Verzweiflung getrieben, mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Die Wut kochte in ihm hoch. Das durften sie nicht! Diese abscheulichen Nomaden sollten ihre dreckigen Finger von den Frauen lassen! Und sie sollten ihre Gefangenen gehen lassen. Hitze durchflutete seinen Körper. Er spürte, wie sein Atem sich beschleunigte, bis er zu keuchen anfing. Kleine Stromschläge schienen seine Hände zu durchzucken, die nun zu glühen anfingen. Seine Finger krallten sich um die Fesseln. Und mit einem Mal waren da keine Fessel mehr, nur noch Asche. Will wusste nicht, was er getan hatte oder gar, wie. Er dachte auch gar nicht darüber nach. Sein Verstand war einer lodernden Flamme in seiner Brust gewichen, die seinen ganzen Körper in Wallung versetzte und ihn aufspringen ließ. Einer der Nomaden bemerkte dies und rief aufgeregt seinen Kameraden Worte in ihrer fremden Sprache zu. Einer, der sich noch über keine der Frauen hergemacht hatte, erfasste die Lage als erster und rannte auf Will zu. Wie von einer fremden Macht gesteuert, hob dieser die Hand und deutete auf den Angreifer, der augenblicklich in Flammen aufging.
Nicht nur die Nomaden schrieen auf. Auch die Gefangenen und die Frauen.
Nun zogen die Nomaden die Waffen und rannten gemeinsam auf ihn zu. Doch Will fürchtete sich nicht. Und er musste auch nicht nachdenken. Es war, als wisse sein Körper instinktiv, was zu tun war. In einer fließenden Bewegung ging er in die Knie, hob das Schwert des brennenden Nomaden auf, schnellte in die Höhe und zog es aus dieser Bewegung heraus dem ersten Angreifer über den Bauch. Er blockte den Schlag des nächsten Nomaden ab, schob dessen Waffe in einer kreisenden Bewegung zur Seite und fuhr ihm mit der eigenen quer über den Oberkörper. Fast zeitgleich erreichte ihn ein weiterer Angreifer, doch Will nahm nur die linke Hand vom Schwert und legte sie dem Nomaden flach auf die Brust. Ein Blitz zuckte aus Wills Handfläche mitten ins Herz des Angreifers. Als das Schwert des nächsten auf ihn herabfuhr, hob er die Hand, als wolle er den Schlag mit dem bloßen Arm abblocken. Stattdessen riss der Arm des Nomaden, wie an einem unsichtbaren Marionettenfaden, zur Seite, sodass seine Klinge in den Hals eines seiner Mitstreiter fuhr. Während der Nomade noch entsetzt den eigenen Arm anstarrte, schlitzte Will auch ihm den Bauch auf.
Das war zuviel für die Nomaden. Entsetzt durcheinanderschreiend drehten sie um und suchten das Weite. Mit einer leichten Drehung der Hand ließ Will die Flammen des Lagerfeuers in die Höhe schlagen, was einen Vorbeirennenden das Leben kostete. Die anderen flohen aus der Haupthöhle. Doch Will, wie im Blutrausch, setzte ihnen nach. Durch einen kurzen, krummen Gang in eine weitere Höhe. Und durch einen weiteren Gang nach draußen. Als wäre Beliar selbst hinter ihnen her, sprangen die Nomaden auf ihre Kamele und trieben sie mit Händen, Füßen und ihren Waffen an. Will erschlug einen am Höhleneingang. Einem schickte er eine Lanze aus Eis nach, die seine Brust von hinten durchbohrte und ihn tot vom Kamel fallen ließ. Die übrigen hatten bereits zu viel Vorsprung.
Einen winzigen Moment blickte Will ihnen nach. Dann entglitt die Waffe seinen Händen und er brach zusammen. Was war nur in ihn gefahren?
„Will!“
Fatimas Ruf klang wie aus einer anderen Welt. Er reagierte nicht, sondern starrte weiter ins endlose Dünenmeer, das sich am Fuße des Berghanges erstreckte.
„Ist… ist alles in Ordnung?“ Sie sank neben ihm auf die Knie. Er nahm kaum wahr, wie sich ihre Hand auf seine Schulter legte.
Er nickte nur steif.
„Ich… danke. Du hast mich – uns – gerettet.“
Wieder nickte er steif.
„Ah, da bist du!“ Die Stimme, die nun nach ihm rief, konnte er nicht zuordnen. Er hörte nur, dass große Erleichterung in ihr mitschwang. „Ich wusste nicht, dass wir einen mächtigen Magier bei uns haben. Schon gar nicht einen so jungen. Aber ich danke dir, Bursche.“
Will spürte, wie Fatima leicht seinen Arm drückte und dann sanft, aber fest daran zog. Er verstand und erhob sich mechanisch. Als er sich herumdrehte, sah er kurz aus dem Augenwinkel, dass auch sie den Schock noch keineswegs verwunden hatte. Sie war bleich. Aber das war er selbst vermutlich auch. Dann fiel sein Blick auf den Mann, der zu ihm gesprochen hatte. Es war der Gesandte, Nazir Pascha, der mit zerrissenem Umhang und ohne seinen prächtigen Turban auf dem Kopf, dafür mit einem Bluterguss auf der Stirn, nicht halb so eindrucksvoll aussah. „Sobald wir in Bakaresh sind, wird der Sultan von deiner Tat erfahren! Er wird dich reich belohnen für meine Rettung!“
Ein weiteres Mal spürte Will sich nicken.
Bald darauf saßen sie auf den Kamelen, die die Nomaden zurückgelassen hatten, und ritten gen Ben Erai, das glücklicherweise nur eine Tagesreise entfernt war.
Von den anderen Überlebenden hatte sich keiner bei Will bedankt. Im Gegenteil: Sie schienen seinen Blicken auszuweichen, ihn aber gleichzeitig immer misstrauisch im Auge zu behalten. Verdenken konnte er es ihnen nicht.
Auch mit Fatima hatte er kein Wort mehr gewechselt. Vielleicht merkte sie, dass ihm nicht nach Reden zumute war, vielleicht lag es auch an ihr selbst. Auch sie hatte sicher einiges zu verarbeiten.
Auf jeden Fall war es ihm mehr als recht, mit niemandem sprechen und auch keinem in die Augen schauen zu müssen. Tatsächlich war schon die bloße Gegenwart seiner Begleiter fast mehr, als er ertragen konnte. Am liebsten wäre er tief ins Innere der Wüste geritten und nie mehr zurückgekehrt. Seine Hand umschloss das kleine Medaillon an seinem Hals. Wie sollte er nur Marie jemals wieder unter die Augen treten nach dem, was er getan hatte? Würde sie einen Mörder zum Mann wollen? Er verwünschte Dominique für seinen Rat und sich selbst, weil er ihm gefolgt war. Hatte er nicht längst gehabt, was er gewollt hatte? Er hatte die weite Welt gesehen. Und er hatte gesehen, dass sie gefährlich und abstoßend sein konnte. Warum hatte ihm das nicht gereicht? Warum war er nicht einfach umgekehrt und nach Silden zurückgegangen? Die Wut, die er auf sich selbst und auf Dominique empfand, wandelte sich in Wut auf die Nomaden. Nein, er hatte eben nicht gewusst, wie gefährlich und abstoßend die Welt sein konnte. Er hatte geglaubt, bei seinen Studien über die Feuerkirche und bei der Hexenverbrennung am Lichterfest bereits gesehen zu haben, wozu Menschen fähig waren. Doch was die Priester Innos’ taten, das mochte schrecklich und verwerflich sein, aber es war auf eine seltsame Weise noch immer menschlich. Wie diese Nomaden aber die Karawanenwachen niedergeschlachtet hatten und später über die Frauen hergefallen waren, das hatte nichts entfernt Menschliches mehr an sich gehabt. Nein, diese Nomaden hatten sich wie Tiere benommen, waren blind ihren Trieben gefolgt. Was für Menschen handelten so? Was war das für ein böses Volk?
Ben Erai war die drittgrößte Stadt in Varants Norden. Etwa auf halbem Weg zwischen Braga und Bakaresh gelegen. Das Ben Hasha war in dieser Gegend von zahlreichen Goldadern durchzogen, welche den großen Reichtum des Emirats begründeten. Der Emir war ein Verbündeter des Sultans von Bakaresh. Er gewährte ihnen seine Gastfreundschaft und alle Annehmlichkeiten, die sein Palast zu bieten hatte. Will konnte sich nicht erinnern, je so gut gespeist zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, je in so einem weichen Bett gelegen zu haben. Und er konnte sich nicht erinnern, jemals ein Essen oder einen Schlaf so wenig genossen zu haben.
Am äußersten Ausläufer des Ben Hashas stand Bakaresh, die Hauptstadt des Mehmedanensultanats. Die mächtige Stadtmauer zog sich von der steilen Bergwand bis hin zu einer weit niedrigeren aber nicht weniger steilen Hügelkette am Ufer des Meeres. Die Stadt selbst war gewaltig. Braga, Ben Erai und später Ben Sala waren ihm groß vorgekommen. Und Geldern hatte noch einmal ein Vielfaches an Einwohnern besessen. Doch Bakaresh war die größte Stadt des Kontinents und mit keiner anderen vergleichbar, die Will je gesehen hatte.
Dennoch wurde er dieses Mal nicht von der schieren Größe der Stadt überwältigt, in die sie einritten. Auch die prächtigen Bauten, die grau und weiß und sandfarben so weit reichten, wie das Auge zu sehen vermochte, allen voran der gewaltige Sultanspalast am Hang der Berge, wussten ihn nicht zu beeindrucken. Ebenso wenig die bunten Farben und lauten Rufe in unzähligen Zungen auf den Straßen, die Gerüche von Pfeffer, Sumpfkraut, Safran, Jasmin, aber auch Staub und Exkrementen oder die Schiffe, die im Hafen vor Anker lagen – die Mehmedanenflotte, Küstenschiffe aus der Westmark und aus Nordtymoris, Kauffahrer vom Östlichen Archipel, Fernhändler von den Khorinseln, ariabische Galeeren und sogar ein Langboot der Nordmarer.
Will nahm alles wie durch einen Schleier wahr. Er fühlte sich leer. Der Kampf war immer sein Leben gewesen. Er hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Doch nie war es ernst gewesen. In der Arena von Silden hatte es nur Schaukämpfe gegeben und die Minenwache kämpfte gewöhnlich höchstens gegen Minecrawler, wobei ihm selbst das erspart geblieben war. Und die Magie… Was sie für ihn gewesen war, wusste er selbst nicht. Wohl nicht viel mehr als ein Spiel. Ein Märchen, das Realität geworden war. Der kindliche Traum, alles bewegen, alles verändern, sich und Marie endlich das Leben schaffen zu können, von dem er immer geträumt hatte. Erst jetzt merkte er wirklich, dass es diesen Traum nie gegeben hatte. Er hatte von einem besseren Leben geträumt, einem Leben in der weiten Welt, einem Leben ohne Sklaverei. Er hatte gewusst, was er nicht wollte. Doch was er wollte, davon hatte er nie eine konkrete Vorstellung gehabt. Und jetzt war es ohnehin zu spät. Der Schwertkampf und die Magie hatten ihre selbstverständliche Unschuld für ihn verloren. Er hatte sie nie gesehen, wie sie wirklich waren, stets verdrängt, dass sie töten konnten. Und nun hatten sie… Nein, er hatte. Er hatte ihre wahre Natur nicht erkennen wollen, dummer kleiner Junge, der er gewesen war. Sie waren nie unschuldig gewesen. Er war es gewesen. Doch das war vorbei. Er war ein Mörder, ein Schlächter. Und er war gefährlich. Als er das erste Mal durch Magie jemanden gerettet hatte, war niemand verletzt worden. Dieses Mal hatte er bereits getötet. Die Nomaden mochten es verdient haben, doch was würde beim nächsten Mal geschehen? War es nicht nur eine Frage der Zeit, ehe er auch Unschuldige verletzte?
„Und du bist der Mann, der meine Männer und meinen Botschafter gerettet hat, ja?“
Will schreckte aus seinen Gedanken und blickte auf.
Unter einem goldenen Baldachin, auf einem wahren Meer aus Kissen saß ein dicker Mann und musterte ihn mit wohlwollendem Lächeln. Sein prächtiges grünes Gewand war mit goldenen Tieren bestickt – Löwen, Tigern, Elefanten, Drachen und Fabelwesen, die Will nicht zuordnen konnte – Perlen und Edelsteine zierten den Stoff und bildeten die Augen der Kreaturen. Und wann immer der Mann sich bewegte, schien sein Körper in allen Farben des Regenbogens zu schimmern, wenn das Licht auf den Verzierungen spielte.
Will hatte beim Ritt in die Stadt nur stumm auf den Hals seines Kamels gestarrt. Und als sie abgesessen waren, war er, ohne nachzudenken, den anderen gefolgt und war dazu übergegangen, auf den Rücken seines Vordermanns zu starren. Er war wie in einer Trance gewesen und hatte gar nicht wahrgenommen, wie man sie in den Palast und dort in den Thronsaal geführt hatte. Als die Umstehenden sich niedergeworfen hatten, hatte er es ihnen gleichgetan, ohne es wirklich wahrzunehmen. Nazir Pascha hatte eine lange Zeit geredet. Er musste wohl von dem Überfall der Nomaden und der Rettung durch Will erzählt haben, schoss es ihm jetzt durch den Kopf. Und der Mann, der dort saß, konnte niemand anderes sein als…
„Nur zu, sprich frei heraus, Bursche. Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Sultan Bayezid I. väterlich und wühlte mit seiner Hand in einer Schale voll Datteln, die ihm ein Sklave hinhielt.
„Es… ist einfach so passiert, Herr.“
Der Sultan lachte und hielt sich dabei den runden Bauch. „Einfach so passiert, sagt er! Ich wünschte, ich hätte mehr Männer, denen das einfach so passiert! Vielleicht hätte Faisal dann etwas mehr Respekt vor den Mehmedanen und würde endlich das Haupt vor mir neigen. Dann hätte dieses lästige Austauschen von Botschaftern ein Ende und meine Berater würden mich nicht ständig vor einem Krieg warnen.“ Er schob sich nacheinander zwei Datteln in den Mund und ließ sich Zeit damit, sie zu kauen und herunterzuschlucken, ehe er fortfuhr. „Ach, aber das sind die Sorgen eines Sultans – ich möchte dich nicht mit den Staatsgeschäften langweilen, sicher verstehst du davon nichts. Sag mir, was sind die deinen? Ich möchte dich belohnen.“
„Ich…“ Will dachte nach, doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen. In ihm war noch immer nur Leere.
„Sicher gibt es etwas, das du dir wünschst. Nur zu, habe keine Scheu. Die Großzügigkeit Bayezids wird noch jenseits der Grenzen Varants gepriesen.“ Der Sultan wandte sich an die Männer, die zu seinen Füßen und Seiten saßen: Wesire, Eunuchen und Berater. „Ist es nicht so?“
„Noch in Kitais wildem Süden rühmen sie Euer edles Herz und Eure Gerechtigkeit“, bestätigte einer dieser Männer.
Und ein anderer setzte hinzu: „Und selbst die Barbaren Nordmars singen Lieder von den Ehren, die Bayezid von Bakaresh den Freunden des Hauses Mehmed erweisen!“
Der Sultan nickte zufrieden. „Siehst du? Du kannst nennen, was immer dir in den Sinn kommt. Es sei dir gewährt. Ich bin der Herr des größten und mächtigsten Reiches, das die Welt seit den Tagen der Altvorderen gesehen hat. Vor den Schätzen Bakareshs verblassen selbst die Reichtümer des Moguls von Ariabia und des Maharadschas von Kitai. Ich kann dir jeden Wunsch erfüllen. Ist es Gold, das du willst? Vielleicht ein Haus mit einem prächtigen Garten und einem Dutzend jungfräulicher Sklavinnen? All das magst du haben, und noch mehr!“
„Ich…“
Wieder lachte Bayezid und wieder hielt er sich dabei den Bauch. „Seht ihr das? Er ist bescheiden! Das ehrt dich, mein Junge, ohne Frage. Doch es muss doch etwas geben, das du dir wünschst!“
„Mit Verlaub, oh großmächtiger Sultan…!“ Als Will den Kopf wandte, erkannte er, dass es Fatima war, die gesprochen hatte. Gemeinsam mit den anderen Sklaven der Karawane kniete sie im hintersten Teil der Halle. Wie die anderen hatte sie sich so tief verbeugt, dass ihre Stirn den Boden berührte. Und auch beim Sprechen hatte sie den Kopf nicht gehoben.
Dennoch deutete einer der Wesire wutentbrannt auf sie. „Wie kannst du es wagen, ungefragt das Wort an den Sultan zu wenden, Sklavin?“
Fatima schien sich noch ein Stück tiefer zu beugen, obwohl das kaum möglich schien. „Verzeiht!“, bat sie, den Blick starr auf den Boden gerichtet. „Straft mich, wenn Ihr es für richtig haltet, doch bitte hört mich an.“
„Nulyan Pascha hat Recht. Es war ungehörig, das Wort zu ergreifen, Sklavin.“ Bayezid nickte ernst, wobei sein schwarzer Bart über der Wölbung seines Bauches hin und her tanzte. „Aber nun sprich. Ich will hören, was du zu sagen hast, und danach entscheiden, was deine Strafe ist.“
„Ich danke Euch, oh großmächtiger Sultan.“ Noch immer ohne den Kopf zu heben, erklärte Fatima: „Ich traf Will bereits in Braga, auf dem Basar. Wir sprachen dort. Und er sagte mir, dass er nach Varant gekommen sei, um die Magie zu erlernen. Ich erzählte ihm, dass er wohl keinen besseren Lehrer finden werde als Arif ibn Harun ibn Isakar al Ben Rabu. Deshalb schloss er sich überhaupt erst unserer Karawane an. Er mag zu bescheiden sein, es zuzugeben, doch sein größter Wunsch ist es, die Magie zu erlernen.“
„Ist das so?“ Versonnen strich der Sultan sich über den Bart und betrachtete Will dabei. „Ein ungewöhnlicher Wunsch. Aber ich kann nichts Schlimmes daran erkennen. Und nach allem, was Nazir Pascha uns berichtet hat, scheinst du tatsächlich magisches Talent zu besitzen, mein Junge.“ Bayezid schien einen Moment darüber nachzudenken, dann schlug er die fleischigen Hände zusammen und grinste vergnügt. „Gewährt! Ich befehle, dass dieser Junge als Ehrengast an meinem Hof leben und dass Arif ibn Harun ihn in seiner Kunst unterweisen soll! Was dich angeht, Sklavin“ – Fatima senkte den Kopf noch einmal tiefer, als er sie ansprach – „es geziemt sich nicht für eine deines Standes, ungefragt zu mir zu sprechen. Du solltest das wissen. Aber du hast in guter Absicht gehandelt. Und ein weiser Herrscher ist nachsichtig mit den Verfehlungen seiner Untergebenen. Ist es nicht so?“, fügte er an seine Berater gewandt hinzu. Diese nickten und murmelten zustimmend. „Niemand soll die Großzügigkeit Bayezids aus dem Hause Mehmed in Frage stellen! Du sollst dein Leben behalten, Sklavin. Ich lasse dich für dieses Mal mit zehn Stockhieben davonkommen.“
Mit einem zufriedenen Lächeln griff der Sultan von Bakaresh beherzt in die Schale voller Datteln.
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:18 Uhr)
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Höflinge
„Innos! Erhebe dein strahlendes Antlitz aus den Fluten! Vertreibe den Schatten Beliars aus dieser Welt! Steige auch heute an deinen angestammten Platz am Firmament zurück, auf dass du auf deine Kinder herabschauen und über ihre Taten richten mögest!“
Der Vorbeter trug einen schlichten roten Thawb. Er stand mit ausgebreiteten Armen auf dem erhöhten Balkon an der Spitze des Tempelturms und rief aufs Meer hinaus, wo langsam die ersten Strahlen rotgoldenen Lichts am Horizont hervorkrochen.
Der Hofstaat des Sultans hatte sich hinter ihm versammelt. Sie alle beteten in Richtung der aufgehenden Sonne. Wesire, Eunuchen, Schreiber, Palastwachen, Konkubinen, Sklaven. Ein jeder kniete auf einem kleinen Gebetsteppich und neigte das Haupt gen Osten.
„Verstehe ich das richtig?“, wisperte Will stirnrunzelnd zu Fatima hinüber. „Behauptet er gerade, die Sonne wäre Innos?“
„Aber so ist es doch“, gab sie leicht verwirrt zurück.
„Nein, das ist ganz falsch! Das ist Ketzerei! Götzendienst. Die Sonne ist Innos’ Geschenk, aber doch nicht er selbst. Innos kann doch kein Feuerball am Himmel sein. Innos kann überhaupt kein Ding sein. Er ist ein Gott. Die Feuermagier sagen, er ist größer als all seine Schöpfungen, selbst als die Sonne.“ Will brach ab. Was scherte ihn, was die Feuermagier sagten? Ketzerei? Er wusste, was die Feuermagier mit Ketzern taten. Er würde sich hüten, Partei für sie zu ergreifen.
Und doch… Er sollte es vielleicht nicht gerade als Ketzerei bezeichnen, aber es war doch definitiv schwachsinnig. Innos konnte genauso wenig die Sonne sein, wie der Schatten des Tempelturms Beliar oder die ruhige See zu seinen Füßen Adanos war. Dieser Glaube wäre bei einem Kind verständlich gewesen, das noch nicht zur Abstraktion fähig war und nach einem greifbaren Bild für den Lichtgott suchte, doch dass all diese erwachsenen Menschen sich vor der Sonne verneigten, machte es ihm schwer, sie ernst zu nehmen.
Als die Zeremonie vorüber war und Will gemeinsam mit Fatima der Turmtreppe zustrebte, entdeckte Bayezid ihn in der Menge. „Ah, unser junger heldenhafter Myrtaner!“ Der Sultan wirkte im Stehen seltsam unförmig. Seine schmalen, kurzen Beine schienen nicht für seinen dicken Bauch geschaffen. Bayezid wirkte wie ein Mann, der fürs Sitzen geboren war. Stehend machte er eine Figur wie ein Adler beim Schwimmen.
Ganz anders der Mann an seiner Seite. Hochgewachsen, schmal und knochig. Mit einem harten Gesicht, durch das die Falten tiefe Furchen gruben, und einem spitzen Kinn, dessen Form durch das schmale graumelierte Bärtchen noch einmal hervorgehoben wurde.
Der Sultan legte seinem Nebenmann eine Hand auf die Schulter. „Ich möchte Euch Euren Schüler vorstellen, von dem ich Euch erzählte. Sein Name ist…“ Bayezid zog angestrengt die Stirn kraus. „Hm, es war irgendetwas Myrtanisches, da bin ich mir sicher.“
„Will, Eure Hoheit.“
„Ah ja, richtig. Nun, dies hier ist Arif ibn Harun ibn Isakar al Ben Rabu, mein Hofmagier und dein zukünftiger Lehrmeister. Er ist der mächtigste Magier Varants. Ich bin mir sicher, unter seiner Obhut wirst du es weit bringen.“ Er klopfte dem Magier auf die Schulter, bevor er seine Hand sinken ließ. „Ah, nun muss ich aber los. Die Regierungsgeschäfte warten. Das Leben besteht leider nicht nur aus Vergnügen und ein Sultan hat Pflichten. Arif, ich überlasse den Jungen Euch!“
Der Magier stand da wie eine Statue. Unbewegt, ja selbst ohne zu blinzeln, starrte er Will aus kleinen schwarzen Augen an, bis dieser ihm nicht mehr standhalten konnte und den eigenen Blick niederschlug. „Entferne dich, Sklavin“, sagte al Ben Rabu mit schneidendem, doch zugleich gelangweiltem Ton. Noch immer rührte er sich nicht und nahm die Augen nicht von Wills Gesicht. Nur seine Lippen bewegten sich, als er sprach. Doch die Bewegung war so sanft, das sie nicht einmal sein Kinn erfasste. Aus dem Augenwinkel sah Will Fatima sich verbeugen und dann davoneilen. Er hob die Augen, doch wieder konnte er dem Blick seines zukünftigen Lehrers nur kurz standhalten. Als er zum zweiten Mal die Augen niederschlug, sagte sein Gegenüber: „Schau.“
Will schaute. Al Ben Rabu schritt über die große Gebetsplattform, die nun verlassen war, bis auf sie beide. In ihrer Mitte blieb er stehen, schloss die Augen und legte die Fingerspitzen aneinander. Als er die Augen wieder auf- und die Hände gleichzeitig auseinanderriss, verband ein Faden aus Feuer seine beiden Handflächen. Er wirbelte herum, stieß die Arme in die Luft und gab das Feuer frei. Es verdichtete sich zu einer unförmigen Gestalt, die entfernt an einen Vogel erinnerte und stieg in die Lüfte.
„Ist das der erste Trick, den ich lernen soll?“
„Trick?!“ Der Magier fuhr herum. Alle Ruhe und Erhabenheit war aus ihm gewichen. Sein Gesicht war eine Grimasse des Zorns. Auf seiner Stirn pochte eine Ader und sein Hals war rot angelaufen. „Das war der Lieblingszauber seiner Erhabenheit, des Sultans, eines der Meisterstücke meiner Kunst! Du Sohn eines Wurms und einer einäugigen Hure kannst dich glücklich schätzen, diesen Zauber auch nur sehen zu dürfen! Aber denke nicht daran, ihn jemals anwenden zu wollen!“
„Ich…“
„Schweig! Ich bin Arif ibn Harun ibn Isakar al Ben Rabu, mächtigster Magier Varants! Du bist ein Niemand. Ich weiß nicht, wer dir diese Flausen in den Kopf gesetzt und dir eingeredet hat, DU könntest ein Magier sein. Die Magie ist eine hohe Kunst. Nur wenige besitzen die geistige Stärke, sie anzuwenden – zumindest, was die wahre Magie betrifft. Ihr myrtanischen Barbaren mögt Taschenspielertricks mit magischen Steinen vollführen. Vielleicht hast du deshalb ja geglaubt, du könntest das auch. Dann lass dir eines gesagt sein: Unser Volk praktiziert noch die wahre Magie unserer Vorväter. In ganz Varant gibt es nicht mehr als zwei Dutzend Männer, die diese Kunst beherrschen. Und ich bin der mächtigste von ihnen.“
„Heißt das, Ihr wollt mich nicht unterrichten?“, fragte Will. An dem Gesichtsausdruck seines Gegenübers erkannte er, dass er nicht so eingeschüchtert klang, wie er das wohl sollte.
Al Ben Rabu knirschte wütend mit den Zähnen. „Du scheinst das Wohlwollen seiner Erhabenheit zu besitzen. Der Sultan hat gesprochen und sein Wort ist mir Befehl. Gewöhnlich nehme ich keine Schüler an. Ich selbst habe mir meine Kunst alleine erarbeitet. Doch aus Ergebenheit meinem Herrn gegenüber, werde ich eine Ausnahme machen. Erwarte jedoch nicht, dass ich meine Zeit mit dir verschwende. Hier.“ Er zog einen silbernen Ring von seinem Finger und drückte ihn Will in die Hand. „Zeige ihn vor und man wird dir Zugang zur Palastbibliothek und ihren Büchern gewähren. Dort wirst du Schriften über die Magie finden.“
„Welche Bücher genau soll ich lesen?“
Meister Arif schnaubte verächtlich. „Wenn du nicht einmal selbst herausfinden kannst, welche von ihnen die Alte Magie behandeln, dann solltest du lieber Schafe hüten, als Magier spielen zu wollen.“ Ohne seinen Schüler noch eines Blickes zu würdigen, rauschte der Hofmagier davon.
Will blieb einen Moment zurück, bevor er ebenfalls langsam die Treppe hinunterschlurfte. Dass sein Lehrmeister offenbar wenig Interesse an einem Schüler hatte, störte ihn kaum. Tatsächlich war er sogar froh darüber, denn nachdem ihm klar geworden war, was seine Magie anrichten konnte, wollte er sie am liebsten nie mehr benutzen. Wäre Fatima nicht gewesen, hätte er dem Sultan niemals selbst von seinem ehemaligen Wunsch erzählt, Magier zu werden. Und hätte er es gewagt, Bayezid zu widersprechen, und gewusst, was er sonst mit seinem Leben anfangen wollte, hätte er sich wohl erst gar nicht mehr auf diese Ausbildung eingelassen.
Etwas anderes aber beschäftigte ihn durchaus: Al Ben Rabu hatte diesen Feuervogel einen seiner mächtigsten Tricks genannt, obwohl die Flamme nur klein und der Vogel selbst bestenfalls mit viel Wohlwollen als solcher zu erkennen war. Hatte er Will getäuscht und verbarg seine wahre Macht vor ihm? Oder war das vielleicht wirklich alles, wozu ein mächtiger Magier fähig war? Schließlich musste Will sich eingestehen, dass er noch nie wirklich andere Magier bei ihrer Kunst beobachtet hatte. Er hatte Barthos von Laran kurz getroffen, der zweifellos der mächtigste Magier Myrtanas war, doch er hatte ihn nicht zaubern sehen – wer konnte schon sagen, ob seine mächtigsten Zauber stärker waren als die Meister Arifs? Was in Büchern stand und auf Wandteppichen abgebildet war, konnte schließlich auch Übertreibung sein.
Nein. Das war Unsinn. Er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Er selbst hatte doch schon mächtigere Zauber gewirkt und das war mehr oder weniger aus Versehen geschehen. Al Ben Rabu musste ihm einfach etwas vorenthalten.
„Myrtaner.“ Will zuckte zusammen. Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass er am Fuße der Turmtreppe erwartet wurde. Der Mann, der vor ihm stand, war einer der Eunuchen – seine dunkle Haut verriet, dass er wie Fatima von den Südlichen Inseln stammen musste. „Meine Herrin lädt dich in ihre Gemächer ein.“
„Deine Herrin?“
„Die Dame Scheherazade, des Sultans zweite Frau.“
„Was möchte sie von mir?“, fragte Will überrascht.
„Sie lädt dich in ihre Gemächer ein. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich bin nur hier, um dich zu ihr zu geleiten.“
Der Harem des Sultans nahm einen ganzen Flügel des Palasts ein, in dem jede der Frauen und Konkubinen des Sultans wiederum ein ganzes Dutzend eigene Gemächer mitsamt einer kleinen Armee von Dienern zu besitzen schien. An den Türen und auf den Gängen hielten schwarze Eunuchen Wache, Lanzen mit krummen Klingen an den Spitzen in ihren Händen.
Scheherazades Gemächer gehörten zu den größten, soweit Will das beurteilen konnte, und kamen ihm schon für sich genommen wie ein eigener Palast vor. Der Eunuch blieb vor ihrem Eingang zurück, während Will unsicher in einen großen, lichtdurchfluteten Raum trat. Wände und Säulen waren weiß, womit sich der Harem deutlich vom Sandgrau des übrigen Palastes abhob. Teppiche, in die kunstvolle symmetrische Muster gewebt waren, schmückten den Boden. Türen und abzweigende Gänge wurden von Nischen flankiert, in denen, meist abgeschirmt durch einen Paravent, Kissen und Diwane um kleine Tischchen mit Öllampen und Obstschalen darauf drapiert waren.
„Kadın Efendi?“, fragte Will vorsichtig. Es war der Titel, mit dem er die Hauptfrauen des Sultans anzusprechen hatte, wie ihm der Eunuch noch erklärt hatte.
Er ging noch einige Schritte weiter in den Raum hinein und plötzlich hörte er ein helles Lachen, das durch einen Durchgang ins Freie hineinschwebte. Der Durchgang führte in einen Garten auf einer Terrasse am Hang des Ben Hasha, von der aus man die umliegenden Häuser der Stadt überblicken konnte. In der Mitte des Gartens stand ein Brunnen aus weißem Marmor und davor spielten eine Frau und ein kleiner Junge miteinander, indem sie sich lachend einen Ball zuwarfen.
„Schau nur, Süleyman! Wir haben Besuch!“ Die Frau fing den Ball auf, nahm den Jungen bei der Hand und kam Will entgegen. Sie war ausgesprochen jung. Und schön. Unter einem durchsichtigen, golddurchwirkten Schleier fiel ihr langes schwarzes Haar bis auf den Rücken. Ihre Augen waren fast ebenso schwarz und funkelten wie zwei dunkle Perlen. Der Stoff ihres Gewands wirkte leicht und dünn wie ein Windhauch und umspielte verführerisch ihre Beine, während sie auf ihn zuschritt. Ein graziöser und erhabener Gang war das. Aufrecht wie der einer wahren Königin.
Will erkannte plötzlich, wen er hier vermutlich vor sich hatte, und kniete nieder. Doch die Frau hieß ihn mit einer Handbewegung aufstehen. „Wir sind hier unter uns. Solche Förmlichkeiten sind unnötig“, versicherte sie mit einem warmen Lächeln. „Komm, setzen wir uns.“
„Können wir nicht weiterspielen, Mama?“, fragte der Junge. Er hatte die hohe Stimme eines Kleinkindes. Will schätzte, dass er nicht älter als zwei Jahre war, höchstens drei. Er war in die feinste Seide gehüllt und auf seinem Kopf hatte er eine wilde Mähne schwarzer Locken.
„Später, Süleyman, später. Na komm.“ Sie zog aufmunternd an seiner Hand. „Du kannst auch etwas Eis haben“, versprach sie lächelnd. Der Junge quietschte vergnügt.
Sie ließen sich an einem Steintisch direkt am Geländer der Terrasse nieder. Seine Gastgeberin klingelte mit einem goldenen Glöckchen, das darauf platziert war, und nur kurz darauf brachten Sklaven Schalen mit Speiseeis, Orangen, Datteln und Granatäpfeln.
„Will ist dein Name, ja?“, fragte die Frau, die den Jungen zu sich auf den Schoß genommen hatte, und ihn mit Eis fütterte.
„Ja, Kadın Efendi.“
„Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Scheherazade, wie du sicherlich schon weißt. Und dies hier ist Süleyman, der Sohn unseres erhabenen Sultans und seiner ersten Frau.“
„Ich werde mal Sultan!“, verkündete der Kleine stolz.
„Aber natürlich wirst du das. Und du wirst ein wunderbarer Sultan sein!“, bestätigte Scheherazade und drückte den Jungen liebevoll an sich. Dann wandte sie ihr Gesicht wieder Will zu. „Ich wollte den Helden doch einmal mit eigenen Augen sehen, der Nazir Pascha und seine Karawane gerettet hat.“
„Oh.“ Will verspürte einen Stich, als er wieder daran erinnert wurde. Aber er hätte sich wohl denken müssen, dass es darum ging. Was sonst konnte die Frau des Sultans von ihm wollen?
„Ich hörte, nun bist du bei uns zu Gast, um das Zaubern zu erlernen.“
„Ja… ja, im Grunde schon. Euer Mann hat mich gerade erst Meister Arif vorgestellt.“
„So?“ Scheherazade, die zu spüren schien, dass Süleyman langsam immer zappliger wurde, entließ ihn aus ihren Armen. Der Prinz sprang von ihrem Schoß und rannte lachend davon. „Und, habt ihr bereits mit deiner Ausbildung begonnen?“, fragte sie beiläufig, während sie dem Kind lächelnd nachsah.
„Ähm, na ja… Meister Arif schien nicht so begeistert, dass der Sultan ihm befohlen hat, mich auszubilden.“
Das Lächeln in Scheherazades Gesicht wurde schmaler. „Ja“, sagte sie mit einem Anflug von Trauer, noch immer dorthin starrend, wo Süleyman zwischen den Büschen verschwunden war. „Das verwundert mich nicht.“ Sie wandte Will den Blick zu und schaute ihn aus schwarzen, mitfühlenden Augen an. „Al Ben Rabu ist ein sehr stolzer Mann“, erklärte sie ernst. „Wollte ich weniger wohlwollend von ihm sprechen, würde ich hochmütig sagen. Ich nehme an, dass er dich verachtet. Du bist ein Niemand für ihn. Er glaubt, seine Macht stelle ihn über Menschen wie dich und mich. Ja, Will, auch mich. Mich verachtet er ebenso. Ich bin noch nicht lange hier bei Hofe, musst du wissen. Und ich bin nicht von hoher Geburt. Seiner Meinung nach habe ich hier keinen Platz. Immer wieder flüstert er meinem geliebten Gemahl Lügen und Verleumdungen zu, um mich in Ungnade fallen zu lassen. Und es würde mich nicht verwundern, wenn er das auch bei dir täte, um sich deiner wieder zu entledigen.“
„Habt Ihr mich zu Euch geladen, um mich zu warnen?“
Scheherazade langte über den Tisch und nahm Wills Hände in die ihren. Sie schenkte ihm ihr wärmstes Lächeln. „Ich habe dich zu mir geladen, um dir zu zeigen, dass du auch Freunde hier im Palast hast.“
Als Will des Sultans zweite Frau wieder verließ, hatte er entschieden, dass er sie mochte.
„Und, hat sie dich schon um ihren Finger gewickelt?“
Will fuhr herum. An der Wand des Ganges, der Scheherazades Gemächer mit denen der anderen Konkubinen verband, lehnte ein Mann, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte Will belustigt. Er war groß und kräftig, aber auch plump, mit vollen, runden Wangen, die seinen Kopf zusammen mit der weichen Haut wie den eines großen Säuglings erscheinen ließen. Auch seine hohe Stimme wirkte kindlich und wollte nicht zu seiner Statur passen. Ein Eunuch. Und wieder von den Südlichen Inseln, wie seine dunkle Haut verriet.
Er verbeugte sich. „Narimaan al-Muzaffar Ağa. Ich bin der Kızlar Ağası unseres erhabenen Sultans.“
„Ich bin Will. Ich bin…“
„Al Ben Rabus Schüler. Ich weiß. Ich war bei deiner Ankunft zugegen. Wie alle hohen Würdenträger im Palast.“
„Ich kenne mich hier noch nicht aus. Was genau bedeutet das, Kızlar Ağası?“
„Ich bin der Oberste der schwarzen Eunuchen. Unsere Hauptaufgabe sind Schutz und Verwaltung des Harems, während die weißen Eunuchen mit der Palastbürokratie und –schule betraut sind. Gemeinsam mit dem Kapı Ağasi, dem obersten der weißen Eunuchen, unterstehe ich dem Großwesir und diene dem Sultan als Pascha in seinem Diwan. Du solltest dir diese Dinge merken, wenn du gedenkst, bei Hofe zu verbleiben. Die meisten Würdenträger hier geben viel auf ihre Stellung und ihre Titel und sind leicht zu beleidigen. Und glaube mir, du möchtest dir keine mächtigen Feinde machen.“
Will würde diesen Rat befolgen. Schon aus bloßen Interesse würde er sich schnell mit den Strukturen am Sultanshof vertraut machen. Sein Wunsch, die Magie zu erlernen, mochte einen Dämpfer erfahren haben, doch sein Wissensdurst war ungebremst. Und dass diese fremde Welt ihn faszinierte, konnte er nicht leugnen. Im Moment beschäftigte ihn aber etwas anderes. „Was habt Ihr da eben gemeint?“
Narimaan lachte leise. „War das so undeutlich? Ich habe dich gefragt, ob Gözde Scheherazade dich bereits um ihren Finger gewickelt hat. Komm, ich werde dir die Ehre erweisen, dich hinauszubegleiten.“ Er zog den etwas verwirrten Will sanft am Ärmel und brachte ihn so dazu, sich in Bewegung zu setzen. Während sie auf den Ausgang des Harems zugingen, sagte Narimaan: „Ich möchte dir raten, vorsichtig zu sein und dich nicht von der Gözde täuschen zu lassen.“
„Was heißt denn Gözde nun wieder?“
„Im Auge. Und genau das ist sie. Seit unser erhabener Sultan das erste Mal sein Auge auf sie geworfen hat, hat sie ihn verzaubert. Sie kam vor einem halben Jahr an den Hof, musst du wissen. Damals war die Valide Sultan, die Sultanmutter, gerade verstorben. Scheherazade tröstete unseren erhabenen Sultan über seinen Verlust hinweg und betörte ihn mit ihrer Magie.“
„Sie ist eine Magierin?“, stieß Will unwillkürlich aus.
Narimaan lachte leise in sich hinein. „Viele Frauen sind das. Nicht so wie al Ben Rabu, nein. Ihre Magie ist eine, gegen die wir Eunuchen immun sind. Deshalb gibt man den Harem auch in unsere Obhut. Aber andere Männer sind nicht so unempfindlich für die Magie der Weiber. Es scheint, dass du als Mann entweder einen Schwanz oder Verstand haben kannst.“ Narimaan beugte sich etwas zu Will hinab und raunte verschwörerisch: „Und machen wir uns nichts vor – von Letzterem hat unser erhabener Sultan ohnehin nicht allzu viel.“ Er richtete sich wieder auf und fuhr, während er mit seiner Hand beiläufig in der Luft herumwedelte, fort: „Scheherazade hat ihm den Tanz der sieben Schleier vorgetanzt, hat ihm ein paar Nächte lang Märchen von Wunderlampen und fliegenden Teppichen erzählt und schon war sie seine neue Ikbal, seine Favoritin.“
„Aber das ist doch nichts Schlimmes. Ihr solltet Euch freuen, wenn sie den Sultan über den Tod seiner Mutter hinweggetröstet hat.“ Scheherazade war Will wie eine freundliche und gutherzige Frau vorgekommen. Er verstand nicht, weshalb der Obereunuch sie offenbar schlecht machen und ihn vor ihr warnen wollte.
„Oh, ich freue mich für unseren erhabenen Sultan“, antwortete dieser. „Und natürlich, an einer Ikbal ist nichts Falsches. Es gab keinen Sultan, der nicht einige Frauen in seinem Harem besonders geschätzt, ihnen Geschenke gemacht und mehr Nächte bei ihnen als bei den Übrigen gelegen hätte. Es gab allerdings auch keinen Sultan, der jede Nacht bei ein und derselben Frau verbrachte und seine übrigen Konkubinen keines Blickes mehr würdigte.“
Will zuckte mit den Schultern. „Vielleicht liebt er Scheherazade ja. Daran ist doch nichts Falsches.“
„So viel Zeit wie unser Sultan nachts in Scheherazades Gemächern verbringt, verbringt unser junger Prinz dort tags – natürlich vergnügt er sich auf ganz andere Weise mit der Gözde“, fügte Narimaan glucksend hinzu. „Für unseren jungen Prinzen ist sie wie eine Mutter. Er nennt sie sogar so. Seine tatsächliche Mutter scheint er vergessen zu haben. Als sie vor zwei Monaten ebenfalls verstarb, weinte er keine Träne.“
„Nun ja, es ist wahrscheinlich besser, wenn das Kind glücklich ist, oder?“
„Gewiss!“, pflichtete der Eunuch bei und sein Grinsen wurde noch etwas breiter. „Aber du solltest wissen, dass die Gözde nicht nur die Herzen der jungen und der alten Hoheit erfreut. Sie steht unserem erhabenen Sultan auch mit ihrem Rat zur Seite. Mittlerweile hat er schon zwei Männer ihrer Wahl zu Wesiren berufen – der Vorgänger eines der beiden wurde übrigens wegen Verrats hingerichtet.“
Will verstand noch immer nicht, was Narimaan hier bezwecken wollte. Und er konnte noch immer nicht verstehen, weshalb er sich vor Scheherazade in Acht nehmen sollte. „Warum soll sie ihren Gemahl nicht beraten? Machen die beiden Wesire etwa keine gute Arbeit?“
„Sie machen hervorragende Arbeit.“ Sie hatten den Ausgang des Haremskomplexes erreicht und Narimaan wies Will mit einem breiten Grinsen an sich vorbei. „Ich freue mich, dass wir uns etwas besser kennenlernen konnten. Wer weiß, vielleicht werde ich beizeiten einmal al Ben Rabu beruhigen, dass er sich um seine Position keine Sorgen zu machen braucht…“
Geändert von Jünger des Xardas (28.09.2012 um 10:19 Uhr)
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Wieder am Anfang
Die Bibliothek und Fatima nahmen Will in den folgenden Tagen gänzlich in Beschlag und ließen ihn das Rätsel um Meister Arifs Fähigkeiten und die seltsame Begegnung mit dem Kızlar Ağası rasch vergessen.
Er musste zugeben, dass es doch sein Gutes gehabt hatte, dass Bayezid ihn zum Schüler seines Hofmagiers gemacht hatte. Nun hatte Will freien Zugang zur Palastbibliothek und konnte jede freie Minute dort verbringen. Meister Arif mochte damit versucht haben, ihn abzuwimmeln, doch Will war es nur recht, dass sein neuer Lehrer nicht gedachte, ihn in Magie zu unterweisen. Nach dem, was geschehen war, hatte Will seinen Traum, Magier zu werden, aufgegeben. Umso größer war der Eifer, mit dem er sich auf die Bücher stürzte und sich neues Wissen auf anderen Themengebieten anlas. Zwar konnte ihn das nicht vergessen machen, was er getan hatte, und es blieb ein Gefühl der Leere in ihm zurück, das sich wie ein dunkler Schatten über alles legte und auf seine Stimmung drückte, doch es war eine willkommene Ablenkung. Und der Sultan hatte indes jedes Interesse an Will verloren und würde sich so schnell nicht nach seinen Fortschritten erkundigen.
Zumindest hatte er das geglaubt…
„Dachte ich mir, dass ich dich hier finde.“
„Fatima?“ Will hob den Blick von den Seiten des Buches, in dem er gerade gelesen hatte, und rieb sich die schmerzenden Augen. Es war dunkel in der Ecke der Bibliothek, in die er sich zurückgezogen hatte. Nur eine Öllampe spendete schwaches Licht. „Hast du mich gesucht?“
„Das habe ich.“
Er legte sich das Lesebändchen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Es handelte sich um einen Band über den ersten Beliargläubigen, jenen Priester des Alten Volkes, von dem Will seinerzeit schon in Geldern gelesen hatte. Hier ging es jedoch weniger um die Geschichte seiner nach Myrtana geflohenen Anhänger, sondern um seine Person. Eine faszinierende Gestalt war das gewesen. Ein Sozialreformer im Grunde, der sich dafür eingesetzt hatte, die Lage der Sklaven zu verbessern und das Kastensystem abzuschaffen. Will fand es mittlerweile schwer, den Geschichten der Innoskirche über die Bosheit der Beliaranhänger zu glauben.
„Man wird es dir heute Abend sicher mitteilen, aber ich habe es aufgeschnappt, als ich seiner Erhabenheit Datteln brachte, und wollte es dir direkt sagen: Der Sultan möchte dich nächste Woche in die Arena einladen.“
Das überraschte ihn. Er hatte den Eindruck gehabt, Bayezid habe alles Interesse an ihm verloren und mittlerweile bereits wieder vergessen, dass Will sich überhaupt an seinem Hof aufhielt. Wieso lud er gerade ihn ein? Selbst als Meister Arifs Schüler war Will im Grunde genommen doch ein Niemand. Und belohnt hatte ihn der Sultan schließlich schon für die Rettung seines Gesandten…
So oder so, Will hatte wenig Lust darauf, einem Arenakampf beizuwohnen. Kämpfe und Gewalt versuchte er dieser Tage so gut er konnte aus seinen Gedanken herauszuhalten. „Danke, aber ich habe wirklich keine Lust, einem Arenakampf zuzuschauen.“
„Nun ja…“ Fatima biss sich auf die Lippe. „Du sollst auch nicht zuschauen, sondern… na ja, kämpfen.“
„Was?!“
„Du bist doch ein Arenakämpfer, oder? Hast du gesagt. So hast du deine Freiheit erlangt. Als der Sultan das hörte, wollte er sehen, wie gut du bist.“
„Schon. Aber… Fatima, ich will nicht. Nicht, nachdem…“ Will brach ab. Kämpfen war kein Spiel. Kämpfen hieß Morden. Diese so einfache und offensichtliche Wahrheit hatte er so lange verdrängt. Aber er wollte kein Mörder sein. Er hatte dem Schwert ebenso abschwören wollen, wie der Magie.
„Ich fürchte, du hast keine Wahl…“, meinte Fatima, packte ihn dann plötzlich am Arm und setzte eindringlicher hinzu: „Will, du darfst einen Wunsch des Sultans nicht abschlagen, hörst du?“
„Keine Angst“, beschwichtigte Will sie. „Es gefällt mir zwar nicht, aber ich werde es machen. Ich weiß selbst, dass ich Bayezid lieber nichts abschlage.“
Fatima nickte. „Das freut mich zu hören. Und ich entschuldige mich, Will.“
„Wofür?“
„Dass ich dir das eingebrockt habe.“
„Das ist wohl kaum deine Schuld. Du hast den Sultan immerhin nicht überredet.“
„Nein, das war die Kadın Efendi.“
„Scheherazade?“
„Ja. Ich weiß nicht. Sie denkt wohl, sie würde dir etwas Gutes tun, wenn sie dir ermöglicht, zu kämpfen. Sie denkt wohl, du bist gerne Arenakämpfer. Und dass du den Sultan beeindrucken könntest. Aber ich habe sie überhaupt erst darauf gebracht. Sie hat mich über dich ausgefragt, weil sie mehr von dir wissen wollte, und erfahren hatte, dass wir viel Zeit zusammen verbringen.“
Will verstand Scheherazades Interesse an seiner Person zwar nicht ganz, konnte aber auch nicht verhindern, dass er sich geschmeichelt fühlte. „Keine Sorge“, beschwichtigte er Fatima. „Du hast ja nur die Wahrheit gesagt. Du konntest ja nicht wissen, dass sie den Sultan dazu bringt, mich kämpfen sehen zu wollen. Und umbringen wird es mich sowieso nicht.“
Ja, Fatima war eine gute Freundin und hatte nur sein Bestes im Sinn. Und ganz offenbar galt für Scheherazade dasselbe. Hatte sie ihm das nicht sogar gesagt? Dass sie seine Freundin war? Natürlich konnte sie mit ihm nicht auf die gleiche Art befreundet sein wie Fatima. Das ließ ihr Stand nicht zu. Aber des Sultans zweite Frau hegte eindeutig Sympathie für ihn und hatte ihm sicher nur einen Gefallen tun wollen. Weder sie noch Fatima waren schuld, dass das nach hinten losgegangen war.
Arenakämpfe wurden in Myrtana als barbarisch betrachtet. Einzig in den Siedlungen der von den Orks regierten Ebenen wurden sie ausgetragen und dort nur in provisorisch ausgehobenen Gruben oder vor hölzernen Tribünen. Nicht so in Varant, wo der Arenakampf eine lange Tradition hatte und jede größere Stadt eine eigene Arena besaß, in der regelmäßig freie Männer, Sklaven und Tiere zur Belustigung des einfachen Volks wie auch der Herrscher gegeneinander antraten. Die von Bakaresh war die zweitgrößte der Wüste, hieß es, und wurde nur noch übertroffen von der berühmten Arena von Mora Sul. Will hatte das kreisrunde Gebäude, das im Norden der Stadt über die Dächer der umstehenden Häuser emporragte, schon von außen gesehen. Von innen war die Arena jedoch atemberaubend.
Auf den Rängen und in den Logen drängten sich die Menschen und wenn man auf dem Kampfplatz stand, glaubte man sich am Grund eines riesigen Brunnens und es war, als sähe man aus seinem gemauerten Schacht hinauf. Schwül war es und die großen Tücher, die über die zum Himmel offene Arena gespannt waren, schirmten Gladiatoren und Zuschauer zwar von der glühenden Wüstensonne ab, die Will mittlerweile nicht mehr als Innos’ Geschenk und auch nicht als Innos selbst, sondern vielmehr als Innos’ Fluch wahrnahm, doch gegen die drückende Hitze konnte etwas Stoff wenig ausrichten.
Die Kämpfer hier verstanden ihr Handwerk besser als die Sklaven und Söldner der Orks, die in den Arenen der Ebenen antraten. Vor kurzem hätte Will die Herausforderung und den Jubel der Zuschauer möglicherweise noch genossen. Heute bereitet ihm das Kämpfen kein Vergnügen mehr. Er focht routiniert, gewann oft, aber verlor auch oft genug gegen die erfahrenen Gladiatoren der Wüste.
Obwohl er hier endlich seine Meister fand und sich eingestehen musste, dass er zwar ein sehr guter aber sicherlich nicht der beste und schon gar kein unbesiegbarer Schwertkämpfer war, war der Sultan begeistert. Es waren wohl Wills Erfolge gepaart mit dem Charme des fremdländischen Bauernknaben, die Bayezid für ihn einnahmen – zusammen mit den Einflüsterungen seiner zweiten Frau. Zudem wurde Will rasch besser und die Zahl derer, die ihm gewachsen waren, schrumpfte beständig, denn bei dem ersten Kampf, zu dem der Sultan ihn aufgefordert hatte, sollte es nicht bleiben.
Bald schon war Will einer der Favoriten bei Hofe, nahm an Audienzen und Festen teil und gehörte zu den Glücklichen, die der Sultan ständig um sich haben wollte. Bayezid hatte wohl ganz vergessen, weshalb er Will ursprünglich an seinem Hof behalten hatte, und nannte ihn nur noch seinen myrtanischen Gladiator.
Was für viele Menschen der Erfüllung all ihrer Wünsche gleichgekommen wäre, war ihm jedoch eher lästig. Sicher, er wurde in die feinsten Stoffe gekleidet, bekam die erlesensten Speisen zu kosten und lebte in luxuriösen Gemächern; die Dienste der Konkubinen, die ihm angeboten wurden, lehnte er höflich ab, ein jedes Mal schmerzlich an Marie erinnert. Doch Will erkannte schnell, dass er nur eine Erweiterung des Kuriositätenkabinetts des Sultans war, das bereits aus vielen anderen Sonderlingen bestand: Zwergen, einer Gruppe identischer Vierlinge, Hermaphroditen, Nordmarern und sogar einem Ork. All diese Kuriositäten waren hoch angesehen und wurden selbst schon wie Könige behandelt. Sie schienen ihr Leben zu genießen, fehlte es ihnen doch an nichts. Will aber konnte nicht ignorieren, dass er im Grunde nur eines von vielen Spielzeugen war, mit denen der Sultan sich belustigte und die Zeit vertrieb. Und für ihn hieß seine neue Sonderstellung nur, dass ihm weniger Zeit zum Lesen blieb.
Geändert von Jünger des Xardas (11.08.2013 um 19:25 Uhr)
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Bittere Erkenntnis
„Will, mach keine Dummheit!“
„Dummheit? Wie kannst du so was sagen? Du warst dabei, Fatima! Sie hätten dich fast…“
„Aber doch nicht die Wassermagier!“
„Sind das keine Nomaden? Das sind ihre Priester, ihre Anführer! Was glaubst du, warum dieser Magier sich jetzt hier für sie verantworten muss?“
„Vor dem Sultan verantworten, Will, nicht vor dir!“ Fatima hielt seinen Arm fest, um ihn davon abzuhalten, in den Thronsaal zu stürzen, in dem der Sultan in diesem Moment Meister Aguanos anhörte, einen der Wassermagier, die den Führern der Nomadensippen mit ihrem Rat zur Seite standen.
Will hatte erst davon erfahren, als der Magier in die Stadt eingezogen war. Und sofort hatte eine rasende Wut ihn übermannt. Die Nomaden waren Wilde. Tiere. Sie lebten davon, Unschuldige zu überfallen, um sie auszurauben, zu töten, zu vergewaltigen und in die Sklaverei zu verkaufen. Sogar zu Überfällen auf Oasen und kleine Dörfer kam es dann und wann, wie Will mittlerweile wusste. Ein Herrscher hatte in solch einem Fall die Verpflichtung, mit seinen Soldaten für die Sicherheit der Siedlungen und der Reiserouten zu sorgen. Und wo immer es möglich war, hatte er die Verpflichtung, Jagd auf dieses Volk von Unmenschen zu machen. Sollte man es den Nomaden doch auf gleiche Weise heimzahlen: Sollte man sie doch alle erschlagen oder versklaven. Doch nichts dergleichen. Stattdessen verhandelte der Sultan mit ihnen. Sie waren Vagabunden, die sich dem Leben in den Städten verweigerten und lieber umherzogen, sie beugten sich keinem Herrn und keinem Gesetz. Warum also sollte man sie wie Gleiche und wie Mitglieder der Gesellschaft behandeln?
„Nicht alle Nomaden sind böse, Will. So etwas passiert immer wieder. Dann bittet ein Wassermagier beim Sultan um Entschuldigung und stellt danach seine Leute zur Rede. Und dann ist für einige Zeit Ruhe. Niemand will einen Krieg. Die Nomaden auch nicht.“
„Für einige Zeit?!“ Was auch immer sie sagte, schien ihn nur noch wütender zu machen. Wenn es immer so ablief, war das ganz offensichtlich die falsche Vorgehensweise. Man musste Probleme bei der Wurzel packen!
„Will, bitte, mir zuliebe.“ Fatima sah ihn flehend an.
Er erwiderte ihren Blick für einen Moment, dann riss er sich los. „Tut mir leid. Aber ich kann nicht einfach dabeistehen und nichts tun. Und ich weiß nicht, wie du es kannst, obwohl du auch dabei warst.“
Mit großen, festen Schritten, ging er auf die Tür zum Thronsaal zu, stieß sie auf und trat hinein, noch ehe die Wachen wirklich reagieren konnten.
Mit einem Blick erfasste er die Situation: Sultan Bayezid saß auf seinem üblichen Berg aus Kissen, seine kurzen Finger wühlten wie stets in einer Schale mit Datteln herum, und er schien dem Geschehen vor ihm wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Sein Diwan hatte sich zu seinen Füßen versammelt. Seine Wesire und Berater machten teilnahmslose oder unbesorgte Gesichter. Einer von ihnen gähnte verhalten, Narimaan plauderte unbefangen mit einem der Paschas, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen. In der Mitte des Raumes kniete ein alter Mann in blauer Robe. Ein Wanderstab lag vor ihm auf dem Boden. An seiner Seite kniete ein schwarzer Junge von vielleicht zehn Jahren mit vollem dunklem Haar, der in einen blauen Kaftan gekleidet war.
„… in unsere Gebete mit einschließen. Adanos wird sich ihrer Seelen annehmen.“
„Kann Adanos die Toten wieder lebendig machen?“, stieß Will wütend aus.
Alle Anwesenden richteten die Blicke zur Tür. Der Wassermagier schaute sich über seine Schulter nach dem um, der ihn unterbrochen hatte, deutliche Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Der Junge an seiner Seite starrte Will neugierig an.
Einer der Wesire erhob als erster das Wort: „Wie kannst du es wagen, derart in eine Audienz seiner Erhabenheit zu platzen?“
Will ließ sich nicht beirren und behielt seinen Blick auf den Magier geheftet. „Was tut Ihr, damit es keine Überfälle mehr gibt?“
„Die Beni Bünyamin sind dir keine Rechenschaft schuldig, Bursche“, entgegnete der Magier wirsch.
Wills Hände ballten sich zu Fäusten. Er fühlte den Zorn durch seinen Körper zucken wie eine elektrische Ladung. „Ihr Nomaden seid mir mehr Rechenschaft schuldig als denen da!“ Er deutete anklagend auf den Diwan des Sultans. „Von denen war keiner dabei! Denen habt ihr kein Leid zugefügt! Warum tretet Ihr nicht vor die, die fast versklavt und vergewaltigt worden wären? Warum tretet Ihr nicht vor die, die Angehörige verloren haben?“
„Zügle deinen Zorn, Bursche. Ich habe niemanden erschlagen, versklavt oder vergewaltigt. Und dies ist eine Angelegenheit zwischen dem Mehmedanensultanat und den Beni Bünyamin. Ich bin ein Priester Adanos’: Du kannst gewiss sein, dass ich mich bemühen werde, das Gleichgewicht wieder herzustellen, das durch diesen bedauerlichen Vorfall gestört wurde.“
„BEDAUERLICH?!“, kreischte Will mit sich beinahe überschlagender Stimme. Strom schien durch seine Finger zu zucken. Der Schmerz stachelte ihn nur weiter an. „Das war nicht bedauerlich! Und anscheinend reden Adanos’ Diener nur und tun nichts! Anscheinend sind Adanos die Menschen egal, solange es nur Gleichgewicht gibt!“ Zwischen seinen Fingerkuppen knisterte es. „Dieses Gleichgewicht funktioniert offensichtlich nicht! Also brauchen wir es auch ni…!“ Will hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als ein Blitz aus seinen Händen hervorbrach und auf die Mitte des Raumes zuraste.
„Vatras!“ Mit beachtlichen Reflexen für einen Mann seines Alters warf sich der Wassermagier vor den Jungen. Eine Wand aus Eis schoss vor ihnen beiden empor und zersplitterte im nächsten Augenblick klirrend, als der Blitz sie traf.
Im selben Moment schlossen sich Hände um Wills Arme und zwei Wachen rangen ihn nieder. Eine dritte rammte ihm den Speerschaft in den Rücken. Will gab alle Gegenwehr auf, und die Wachen zwangen ihn auf die Knie. Es war nicht der Schmerz, der ihn aufgeben ließ – gleichzeitig mit dem Speer hatte ihn auch die Erkenntnis, was er gerade getan hatte, getroffen.
„Was hat das alles zu bedeuten?“, verlangte Meister Aguanos zu wissen, und erhob sich wieder, seinen Wanderstab nun in der Hand. Er war groß. Die schmalen Augenbrauen hatten sich wütend in seine Stirn gegraben. Nicht wenige zuckten zusammen, als er donnerte: „Ich bin gekommen, weil die Beni Bünyamin Frieden wollen, nicht um meinen Schüler angreifen zu lassen!“
Ein lautes Stimmengewirr brach los. Einige versicherten dem Wassermagier, wie leid ihnen dieser Vorfall täte, andere kreischten nach weiteren Wachen und wieder andere forderten lautstark Wills Kopf.
Er hörte kaum zu. Was war bloß geschehen?
Er hatte die Kontrolle verloren, das war geschehen. Schon wieder. Doch dieses Mal hatte er damit niemandem das Leben gerettet. Dieses Mal hatte er fast eines beendet. Er sah, wie sich der Junge verängstigt an die Robe seines Meisters klammerte. Und in diesem Moment begriff er, dass es für ihn kein Zurück mehr gab: Er war zu weit gegangen auf dem Pfad der Magie. Er konnte ihr nun nicht mehr einfach den Rücken kehren. So etwas würde wieder passieren. Und wieder. Er musste lernen, seine Kräfte zu kontrollieren. Oder irgendjemand würde früher oder später dafür bezahlen, dass er es nicht tat.
„Ich kehre wieder, wenn der Sultan des Mehmedanenreiches seinen eigenen Hof unter Kontrolle hat“, hörte Will Meister Aguanos wie aus weiter Ferne. Dann sah er den Wassermagier an sich vorbeirauschen, seinen Schüler dicht hinter sich.
Abermals brach das Stimmengewirr los. Und dieses Mal klang es noch um vieles wütender. Ein Wesir redete schnell aber leise auf den Sultan ein, der noch immer völlig überrumpelt wirkte. Langsam trat so etwas wie Entschlossenheit auf Bayezids Gesicht. Dann deutete er mit zitternder Hand auf Will. „Wachen! Werft ihn in den Kerker! Er soll hingerichtet werden, gleich bei Morgengrauen!“
Die zwei Wachen, die noch immer seine Arme umklammert hielten, zerrten ihn auf die Beine. Weiter kamen sie nicht.
„Mein Herr“, ertönte eine sanfte Stimme und ließ damit die Bewegungen der Wachen und alle übrigen Worte im Raum ersterben. „Erlaubt Ihr mir, zu sprechen?“
Einen Moment schaute Will umher und versuchte verwirrt, auszumachen, wer gesprochen hatte. Dann sah er die große Nische an der Seite des Raumes, verdeckt von einem halbdurchsichtigen Schleier, hinter dem die Silhouetten mehrerer Frauen zu erkennen waren.
Bayezid brauchte einen Augenblick, um seine Überraschung zu überwinden, dann nickte er mit halb geöffnetem Mund und stammelte, „natürlich, natürlich.“
„Ich bitte um Gnade für diesen Jungen, Eure Erhabenheit.“
„Gnade?!“, stieß einer der Wesire aus. „Nach diesem Ausbruch?! Der Myrtaner scheint keinerlei Kontrolle über seine Magie zu haben!“
„Das ist richtig“, stimmte Scheherazade von jenseits des Schleiers zu. Fast konnte Will ihr herzliches Lächeln vor sich sehen, als sie fragte: „Aber wessen Schuld ist das, frage ich Euch? Will ist jung und unerfahren. Er kam an diesen Hof, um zu lernen. Ist es nicht vielmehr lobenswert, dass er seine Kräfte zu beherrschen trachtet, als tadelnswert, dass er es noch nicht kann? Wenn in einem Staat Unrecht und Verderben herrschen, ist dies die Schuld seines Herrschers. Wenn ein Schüler seine Kunst nicht beherrscht, ist dies die Schuld seines Lehrers.“
Meister Arif hatte bisher geschwiegen und sich seine steinerne Miene bewahrt. Nun blitzten seine Augen wütend auf. „Wollt Ihr damit andeuten, ich wäre für das hier verantwortlich, Kadın Efendi?“
„Ein Schüler hat nichts als seinen Fleiß. Wenn es ihm an diesem nicht mangelt, so ist sein Lehrer für all seine Verfehlungen zu tadeln.“
„Es ist wohl kaum meinem Unterricht geschuldet, dass…“
„Nein, wohl kaum. Denn ihr habt Will nie unterrichtet, ist es nicht so?“
Der Sultan runzelte die Stirn und machte ein Gesicht, als müsste er sich angestrengt konzentrieren. „Ist das wahr, Arif?“, fragte er.
„Ich habe dem Burschen aufgetragen, die Schriften in Eurer Bibliothek zu studieren, Erhabenheit“, antwortete al Ben Rabu und neigte sein Haupt dabei tief. Die unterdrückte Wut in seiner Stimme war ihm deutlich anzuhören. „Was soll ich einen Schüler lehren, der nicht einmal die Grundlagen kennt?“
„Mir scheint“, wehte Scheherazades Stimme von jenseits des Schleiers herüber, „er ist mit den Grundlagen schon gut vertraut. Was ihm fehlt, ist Kontrolle über seine Kräfte. Und niemand kann aus Büchern lernen wie von einem Lehrer. Mein Herr“, wandte sie sich nun an den Sultan, „war es nicht Wills Wunsch, eben hierfür einen Lehrer zu finden? Gewährtet Ihr ihm nicht eben diesen Wunsch und befahlt Meister al Ben Rabu, ihn zu unterrichten? Ist es dann nicht Meister al Ben Rabu, der sich schuldig gemacht hat, indem er Euren Befehl missachtete?“
Sultan Bayezid nickte langsam. „Ja… ja, das ist wahr… Arif, das war ungehörig! Ich gab den Jungen in Eure Obhut, damit er lernt.“
Al Ben Rabu senkte sein Haupt noch tiefer. „Verzeiht, erhabener Sultan. Ich tat nur, was ich für richtig hielt. Es lag mir nicht im Sinn, Euer Wort zu missachten.“
„Gut, gut.“ Bayezid rutschte mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck auf seinen Kissen hin und her. Ohne seinen Hofmagier weiter anzusehen, wedelte er mit der Hand in seine Richtung. „Ich will Eure Verfehlung für dieses Mal vergessen. Doch von nun an seid Ihr für die Taten dieses Jungen verantwortlich. Ich will Derartiges nicht noch einmal erleben. Dieses Mal werdet Ihr meinem Wort Folge leisten und persönlich seine Unterweisung übernehmen.“
Meister Arif verbeugte sich tief. „Wie Ihr befiehlt.“
„Eure Erhabenheit“, meldete sich einer der Wesire zu Wort. „Dieser magische Unfall mag ein Versehen gewesen und Meister al Ben Rabu anzulasten sein, der seine Pflichten vernachlässigte. Doch nichts in der Welt entschuldigt dieses Auftreten. Der Myrtaner hat Euch beleidigt, indem er es wagte, ungeladen in Eure Audienz zu platzen und das Wort zu ergreifen. So etwas darf nicht ungesühnt bleiben.“
Der Sultan strich sich durch den Bart. „Wahre Worte.“ Er blickte auf Will hinab und verzog das Gesicht dabei zu einer Grimasse, die wohl streng erscheinen sollte. „Das war ungehörig, Junge! Und es verdient den Tod…“
Wieder war es Scheherazade, die sich für ihn einsetzte: „Ich bitte abermals um Vergebung für diesen Jungen, mein Herr. Denkt an den Dienst, den er Euch im Kampf gegen die Nomaden erwiesen hat. Denkt daran, wie er uns in der Arena mit seiner Kunst erfreut. Er ist jung. Und junge Männer pflegen aufbrausend zu sein. Bedenkt, was er bei diesem Angriff erlitten hat. Er hat Euch beleidigt, zweifellos. Doch nicht aus böser Absicht, sondern aus jugendlicher Impulsivität und aus Schmerz. Ich bitte Euch untertänigst, lasst Gnade walten. Straft ihn nicht zu sehr. Zeigt ihm die gepriesene Milde des großen Bayezid aus dem Hause Mehmed!“
Der Sultan von Bakaresh lächelte sanft und nickte dabei, die Augen auf Will geheftet. „Ihr habt Recht. Bayezid ist gnädig. Er verzeiht, wo weniger großmütige Herrscher tyrannischen Zorn walten lassen.“ Mit einem Handschlenker scheuchte er die Wachen davon. „Dir sei dein Leben geschenkt, Junge. Deine Strafe sollen lediglich einhundert Stockhiebe sein. Niemand kann sagen, Bayezid sei kein sanftmütiger Herr.“
Geändert von Jünger des Xardas (11.08.2013 um 19:26 Uhr)
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Magische Tricks
„Du magst seine Erhabenheit um deinen Finger gewickelt haben. Aber bilde dir nicht ein, dass das bei mir funktionieren wird. Und glaube ja nicht, dass es dir noch einmal gelingen wird, dass man MIR deine Unfähigkeit vorwirft.“
Das waren Meister Arifs erste Worte gewesen, als Will das erste Mal den kleinen Garten betreten hatte, der ihnen als Übungsplatz diente. Er war von einer Mauer umgeben, nach Art der varantiner Gärten. Ein Springbrunnen plätscherte in seiner Mitte und darum gruppierten sich Beetreihen, die aus den vier Himmelsrichtungen auf ihn zuliefen.
Der Hofmagier mochte Will nicht und er gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Doch Will war fast entschlossen, allen Anweisungen seines Lehrmeisters zu folgen und ihn nicht in Frage zu stellen. Mit neuerlichem Eifer stürzte er sich auf das Studium der Alten Magie. Dieses Mal jedoch nicht aus Wissensdurst und unschuldiger Neugier. Sondern aus Verantwortungsgefühl. Als er die wahre Natur der Magie erkannt hatte, hatte er sich verschreckt zurückgezogen. Er hatte geglaubt, sich ihr einfach wieder entziehen, ihr für immer abschwören zu können. Doch dem war nicht so. Und nun musste er lernen, die Magie zu kontrollieren, zum Wohle seiner Mitmenschen.
„Also gut.“ Mit verschränkten Armen stand Arif da, das Gesicht wie versteinert, den Blick auf Will gerichtet. Mit einem Seufzen in der Stimme forderte er: „Zeig mir, was du mit Magie anstellen kannst.“
„Na ja.“ Will knetete die Hände. „So wirklich noch nichts, um ehrlich zu sein.“
„Glaubst du, mich mit falscher Bescheidenheit einwickeln zu können?“, blaffte Meister Arif. „Ich war selbst anwesend, bei deiner kleinen Demonstration vor seiner Erhabenheit, wie du dich sicher erinnerst.“
„Ich wollte nicht bescheiden sein“, widersprach Will. „Es ist nur…“
„So?! Dann lass dir gesagt sein, dass Bescheidenheit die erste Pflicht eines jeden Schülers ist. Ihr myrtanischen Barbaren mögt euch für überlegen halten, aber du solltest nicht vergessen, dass du vor dem mächtigsten Magier Varants stehst. Lass dich nicht zu der hochmütigen Fantasie hinreißen, du hättest besonderes Talent oder nennenswerte Kräfte oder irgendetwas anderes, das es dir auch nur im Ansatz erlauben könnte, auf Bescheidenheit zu verzichten.“
„Verzeihung, ich wollte nicht…“
„Ich möchte keine Ausflüchte hören, sondern endlich eine Antwort auf meine Frage erhalten. Zumindest das wirst du ja schaffen.“
Will biss die Zähne zusammen und starrte Meister Arif zornig an. Der Magier wich seinem Blick nicht aus und nach einigen Augenblicken ergab sich Will und senkte den seinen. „Es ist wahr, ich habe schon gezaubert. Aber das waren jedes Mal Ausbrüche wie im Thronsaal. Ich habe selbst keine Ahnung, wie ich das gemacht habe. Ich kann nicht auf Kommando zaubern oder die Magie lenken, die ich benutze. Genau das muss ich lernen.“
Arif schnaubte verächtlich. „Dir mangelt es an Selbstkontrolle. Wieso überrascht mich das nicht?“ Er wirbelte herum, deutete auf den Brunnen und biss die Zähne angestrengt zusammen. Das Wasser der Fontäne stoppte mitten in seinem Weg nach unten. Die Stirn des Hofmagiers wurde von Falten der Anstrengung durchfurcht. „DAS ist Kontrolle!“, presste er hervor. Dann, wie jemand, der ein schweres Gewicht trägt und nicht mehr halten kann, ließ er den Arm plötzlich fallen. Das Wasser stürzte platschend in das runde Becken hinab.
Will zeigte seine Skepsis nicht, doch in seinem Kopf arbeitete es. Wie schon Meister Arifs erste Demonstration seiner Kunst war auch dieser Zauber nicht besonders beeindruckend gewesen. Und er hatte den Magier offensichtlich einige Kraft gekostet. Aber Meister Arif war der mächtigste Magier Varants, das würde ihm jeder bestätigen. Verbarg er seine wahren Kräfte vielleicht vor Will? Hatte er vielleicht vor, ihn nur Bruchstücke seines Wissens zu lehren? Will konnte sich keinen Reim darauf machen.
„Na los doch! Mach es mir nach!“, forderte der Hofmagier und riss Will damit aus seinen Überlegungen.
„Aber wie denn? Ihr habt mir gar nicht erklärt…“
„Willenskraft. Das Geheimnis ist pure Willenskraft. Nun höre auf, unser beider Zeit mit deinem Zögern zu vergeuden, und zaubere!“
Will richtete den Arm auf den Brunnen und konzentrierte sich. Er versuchte, all seine Gedanken auf das Wasser zu richten.
„Was ist? Ich warte.“
Er versuchte, das vertraute Kribbeln und Zucken in den Armen, das sich durch die Fingerspitzen entlud, zu erzeugen. Vor Anstrengung kniff er die Augen zusammen.
„Ich gab dir eine einfache Anweisung? Ist es so schwer, sie zu befolgen?“
Will ließ den Arm sinken. „Es tut mir leid.“
„Bedauern und Entschuldigungen werden dich nicht zu einem Magier machen! Nun gut“, setzte der Magier in einem Tonfall hinzu, der das gerade Geschehene beiseite zu wischen schien. „Dir fehlt es also an der nötigen Selbstkontrolle, um eigenständig zu zaubern. Probieren wir also, ob du wenigstens mit fremder Magie arbeiten kannst.“ Er streckte den rechten Arm vor sich aus, ballte die Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder. Eine kleine Flamme tanzte auf seiner Handfläche. „Nimm es in die Hand.“
Zögerlich streckte Will die Hand nach der seines Lehrmeisters aus. Er versuchte sich auf die Flamme zu konzentrieren. Abermals kniff er die Augen zusammen, als könnte er sie so besser erspüren. Er stellte sich vor, wie er mit einer unsichtbaren, magischen Hand nach dem Feuer griff, die aus seiner wirklichen hervorwuchs. Dann berührten seine Finger die Flamme.
Will schrie auf, zog die Hand zurück und wedelte damit hin und her, während er sich vor Schmerz auf die Lippe biss. Es war ganz normales Feuer gewesen. Er hatte es nicht fassen können und sich nur verbrannt.
Meister Arif schloss die Hand und löschte die Flamme damit. Missbilligend blickte er auf Will herab. „Seine Erhabenheit muss mich wahrlich strafen wollen, wenn er mir solch einen Schüler aufzwingt.“
Meister Arif war ein strenger Lehrer, der auch den kleinsten Fehler nicht verzieh und der keine Gelegenheit ausließ, Will Unfähigkeit und Dummheit vorzuwerfen. Zudem blieben seine Anweisungen vage und er schien zu erwarten, dass Will selbst herausfand, wie er Selbstkontrolle erreichte und Magie lenken konnte.
Zudem erinnerte Meister Arif ihn stets daran, dass sie nicht zum Spaß übten. Der Hofmagier hatte eine feste Funktion am Hof des Sultans. Während Magie in Myrtana vor allem im Kampf eingesetzt wurde, diente sie hier in Varant vor allem dem Aufführen von Kunststücken, mit denen Männer wie al Ben Rabu ihre jeweiligen Herrscher erfreuten. Will würde nicht nur bei ihm lernen, sondern ihm von nun an auch bei seiner Aufgabe helfen. Und schon bald gab es einen Anlass hierfür: Scheherazade wurde schwanger und der Sultan ließ zur Feier dieses freudigen Ereignisses ein Fest ausrichten, bei dem seine Magier ihre Kunst darbieten sollten.
Es war ein Spektakel, wie Will es noch nie zu Gesicht bekommen hatte, und er fragte sich, was der Sultan erst tun würde, wenn Scheherazade erst einmal niedergekommen wäre.
Vor dem Palast wurden die Armen sieben Tage lang gespeist. Würdenträger aus den Provinzen des Mehmedanenreiches und aus den angrenzenden Protektoraten kamen mit prächtigen Karawanen angeritten. Und dann war da das Fest… Berge von erlesenen Speisen wurden den Gästen serviert. Joghurte, Salate, gegrilltes Kalbs- und Lammfleisch, Reis und Gewürze von den Südlichen Inseln, exotische Früchte aus der Westmark und dem Tiphratgebiet, Unmengen an Brot und anderem Gebäck, Anisschnaps, Archoloswein, Tee und Mokka. Es gab Dutzende von Vor-, Haupt- und Nachspeisen, und die Übersicht über all die unterschiedlichen Gänge zu behalten, war unmöglich. Musiker und Gaukler traten auf, spielten auf Tanbur, Ud und Kanun und vollführten Kunststücke. Hinreißend schöne Sklavinnen aus aller Herren Länder tanzten vor den Gästen: Helle Myrtanerinnen und dunkle Ariaberinnen, Kitaierinnen in farbenfrohen Schleiern und bemalte Nordmarerinnen. Eine Gruppe Zwerge belustigte die Anwesenden mit akrobatischen Kunststücken und formte schließlich eine menschliche Pyramide, die dann langsam aus dem Saal wankte, indem ihre Mitglieder einander auf die Schultern kletterten. Ein zahmer Oger tanzte zu den Klängen einer Ney.
Dann waren sie an der Reihe.
Meister Arif trug einen golddurchwirkten Turban und einen mit Pfauenfedern geschmückten Mantel. Auch Will hatte man eigens für diese Vorführung neu eingekleidet. Sein Kaftan war aus grüner ariabischer Seide gefertigt und ein roter Fes saß auf seinem Kopf. Er war aufgeregt, als er seinem Lehrer in die Mitte des Saals folgte, alle Augen auf sie gerichtet. Al Ben Rabu würde die meiste Arbeit machen. Will beherrschte die Magie noch immer nicht und hatte bis heute keinen eigenen Zauber zustande gebracht. Aber immerhin konnte er mittlerweile fremde Zauber bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle halten. Und das würde heute seine Aufgabe sein. Das reichte aus, um sein Herz laut in seiner Brust klopfen zu lassen. Er war Auftritte vor großem Publikum gewohnt, hatte er doch zahllose Male in der Arena gestanden. Doch ein Schwert war für ihn wie ein zweiter Arm, wie eine Verlängerung seines Körpers. Die Magie war ihm noch immer fremd und unheimlich.
Will blieb an der vorgeschriebenen Stelle stehen und atmete tief durch. Es würde schon schief gehen. Meister Arif und er hatten diese Vorstellung Hunderte Male geübt und er beherrschte jeden einzelnen Schritt. Es würde genauso sein wie in ihren gemeinsamen Proben, mit Zuschauern oder ohne.
Gemeinsam verbeugten sie sich vor dem Podest, auf dem der Sultan mit seinem Sohn und Scheherazade saß. Dann beschrieb Meister Arif eine Kreisbewegung mit seiner Hand und formte damit einen Flammenring in der Luft. Will konzentrierte sich auf das Feuer. Er streckte die Hand danach aus und schloss sie dann. Obwohl der Ring mehrere Meter entfernt von ihm schwebte und er ihn nicht berührte, konnte er fast spüren, wie sich seine Finger um etwas schlossen. Er zog die Hand zu sich heran und der Reifen schwebte auf ihn zu. Ebenso verfuhr er mit den nächsten zwei Ringen, die al Ben Rabu erschuf. Als dann alle drei eine gerade Linie zwischen ihnen beiden bildeten, formte der Hofmagier eine Lanze aus Eis und warf sie.
Das Geschoss flog durch den ersten Ring und Will ließ ihn verpuffen. Dann löste er den zweiten Ring auf, in dem Moment, da die Lanze ihn durchdrang. Und schließlich auch den dritten. Dann hielt er die Hand vor sich in die Luft und ließ das Eis dagegen prallen. Er verzog das Gesicht, als er die Wucht des Aufpralls und die Kälte auf seiner Handfläche spürte, schloss aber nichtsdestotrotz die Faust und ließ das Eis dabei verschwinden.
Die Menge klatschte begeistert.
Nun schoss Meister Arif kleine Blitze aus seinen Fingern. Will schrieb mit seinen Fingern Wörter in die Luft, während er sich auf die Blitze konzentrierte. Diese folgten seinen Handbewegungen und nahmen die Form der Worte an. Ein leuchtender Schriftzug entstand so langsam in der Luft. Er sollte den Sultan, seine zweite Frau und ihr zukünftiges Kind preisen. Schon zitterten und knisterten die Buchstaben Bayezid über ihren Köpfen. Großmächtiger Sultan aus dem Hause Mehmed, sollte Will darunter in der Sprache Bakareshs schreiben. Er spürte die Blitze durch den Raum sausen wie Schlangen aus reiner magischer Energie. Und seine Finger schienen wie durch unsichtbare Fäden mit ihnen verbunden, sodass seine Bewegungen sie leiteten wie die eines Marionettenspielers seine Puppen. Dann ging mit einem Mal ein Ruck durch die unsichtbaren magischen Fäden. Und plötzlich spürte Will, wie sich andere, dickere Fäden um die Blitze wanden und sie in eine andere Richtung zerrten. Entsetzt zog er dagegen an, fuchtelte mit den Händen wild in der Luft herum und gab dabei sicher ein komisches Schauspiel für die Zuschauer ab. Doch es half nichts. Und im nächsten Moment rissen seine Fäden und er verlor die Kontrolle über die Blitze. Das Wort Sultan hatte sich umgeformt und die Blitze hatten ein neues gebildet. Salak.
Einige lachten auf, schlossen die Münder aber sofort wieder. Will warf einen ängstlichen Blick zum Sultan und stellte mit Schrecken fest, dass dieser rot angelaufen war und erbost die kleinen dicken Fäuste ballte.
Bayezid, großmächtiger Dummkopf, prangte in leuchtenden Buchstaben über der Mitte des Saals.
Meister Arif korrigierte den Fehler mit einer Bewegung seiner Hand. Dann fiel er auf die Knie. „Bitte vergebt mir, Euer Erhabenheit! Es ist mein Schüler! Der Taugenichts weiß offensichtlich nicht, was er tut!“
Auch Will warf sich nun geistesgegenwärtig auf die Knie. „Bitte verzeiht mir! Es war ein dummes Missgeschick, nichts weiter!“
Mit vor Zorn aufgeblähten Backen starrte der Sultan auf ihn herab. Scheherazade redete von ihrem Ehrenplatz an seiner Seite aus sanft auf ihn ein und langsam wurden seine Züge wieder weicher. Schließlich wedelte er mit der Hand, hochmütiges Wohlwollen im Gesicht.
Das war für sie das Zeichen, fortzufahren.
Nun war es an der Zeit für den Lieblingszauber des Sultans. Wie schon bei seiner Vorführung auf dem Gebetsturm, schloss der Hofmagier für einen Moment die Augen, während er die Fingerkuppen aneinanderlegte. Als er die Augen wieder öffnete, riss er gleichzeitig die Hände auseinander und dünne Feuerfäden flammten zwischen seinen Fingern auf. In einer eleganten Bewegung wirbelte er herum und gab dann das Feuer frei. Es verdichtete sich zu einer Wolke, die entfernt einem Vogel glich und auf die Decke zuschoss.
Will griff nach dem Vogel. Und er bekam ihn zu fassen. Nicht mit seinen tatsächlichen Händen aus Fleisch und Blut. Aber mit einer Hand, die bis an die Decke des Saals reichte, die er nicht sehen konnte und die sich doch ebenso real anfühlte. Unter Aufbringung all seiner Kräfte veränderte er die Flugbahn des Vogels, verhinderte, dass er gegen die Decke prallte, und ließ ihn durch den Raum gleiten. Eine Weile ließ er das flammende Geschöpf kreisen. Das war seltsam entspannend. Er spürte regelrecht, wie die Kraft, die er aufbringen musste, abnahm, wie es immer einfacher wurde, die Kontrolle zu behalten. Und dann folgte er einer Eingebung und missachtete al Ben Rabus Anweisung: Er ließ los. Seine unsichtbare Hand hörte auf, den Vogel zu umklammern und gab ihn gänzlich frei. Einen Moment schwebte die Feuerwolke frei in der Luft, dann drohte sie, in die Tiefe zu stürzen.
Und dann war Will der Vogel. Er stand noch immer auf dem Boden des Saals. Und gleichzeitig blickte er von oben auf die Menge und auf sich selbst herab. Er bewegte die Hände auf und ab, und der Vogel schlug mit den Flügeln. Und dann schloss er die Augen und dachte an einen wirklichen Vogel, einen Adler, der frei und majestätisch über den Himmel glitt. Und der Vogel aus Feuer nahm die Gestalt des Vogels aus Fleisch an. Die Flammen verdichteten sich, hörten auf, wild in alle Richtungen zu lodern. Die unförmige Feuerwolke hatte nun zum ersten Mal tatsächlich die Gestalt eines Vogels.
„Oh!“s und „ah!“s drangen aus den Reihen des Publikums zu ihm herauf.
Will schoss hinab. Am Boden des Saals bewegte sich ein großer Eisklumpen, den Meister Arif in der Zwischenzeit erschaffen hatte, und der auch mit den beiden abstehenden Spitzen an seiner Vorderseite kaum als Hase zu erkennen war. Der Vogel sollte auf ihn herabstürzen und das Feuer sollte sich um das Eis schließen. Das war Wills Aufgabe in diesem Schauspiel. Er ließ seinen Vogel über den Hasen hinwegschießen und wieder hinaufsteigen. Der Eisklotz schlug einen holprigen Haken und rumpelte nun in die andere Richtung. Dieses Mal plante Will, die Vorführung zu beenden und sein Ziel zu erwischen. Abermals setzte er zum Sturzflug an. Die Klauen des Flammenadlers öffneten sich, bereit, sich in seine Beute zu schlagen.
Da plötzlich schien sich eine eiserne Faust um den Adler zu schließen. Im nächsten Moment riss ihn etwas aus dem Körper des Vogels hinaus und er fasste sich an die Stirn, an der er einen dumpfen Schmerz spürte.
Dann sah er mit Schrecken, was sich in der Luft über ihm abspielte: Der Vogel verlor wieder an Form. Im Auflösen begriffen stürzte er hinab und schlug dann in den Baldachin, unter dem der Sultan saß. Dieser fing sofort Feuer. Mit einem angsterfüllten Schrei versuchte Bayezid, zu entkommen, verfing sich dabei jedoch in seinem eigenen Gewand und stürzte vornüber, wobei sein Kissenberg ihn weich landen ließ.
Al Ben Rabu war sofort zur Stelle. Mit einer Handbewegung, als wollte er sie niederpressen, ließ er die Flamme schrumpfen. Dann schoss er eine Wasserfontäne auf den Baldachin und löschte das Feuer damit.
„Ich bitte untertänigst um Vergebung!“, flehte er dann und warf sich abermals vor dem Sultan zu Boden. „Es ist meine Schuld, Euer Erhabenheit! Ich tat, was ich konnte, doch wie Ihr seht, habe ich kläglich an meinem Schüler versagt.“
„Euch trifft keine Schuld“, widersprach Bayezid, während er sich keuchend aufrichtete. Zwei Diener kamen herbeigerannt, um seinen Turban wieder herzurichten, der auf seinem Haupt verrutscht war. „Es ist Euer Schüler, der sich wie ein Tölpel benommen hat!“
Meister Arif senkte den Kopf so tief, dass er fast den Boden berührte. „Ich hatte meine Bedenken, oh großmächtiger Sultan! Ich wollte ihn nicht unterrichten, weil ich ihn für einen myrtanischen Einfaltspinsel hielt, der die Magie niemals beherrschen würde. Denn sie ist eine hohe Kunst, in der man es nicht zur Meisterschaft bringt, nur weil man es sich in den Kopf gesetzt hat. Dieser Ausbruch bei der Audienz mit Meister Aguanos von den Beni Bünyamin… Ich sah meine Befürchtungen bestätigt. Der Bursche hat keine Kontrolle über seine Magie. Er ist unberechenbar. Aber!“ – nun berührte al Ben Rabus Stirn tatsächlich den Boden, als er den Kopf noch weiter senkte – „ich tat, was mein Herr mir gebot! Wider besseres Wissen nahm ich mich dieses Burschen an. Und ich werde es auch weiterhin tun, selbst im Angesicht all seiner Fehler, um meinem Herrn zu gefallen!“
Bayezid schüttelte resigniert und wütend den Kopf, gleichzeitig den Anflug eines wohlwollenden Lächelns auf den Lippen. „Das wird nicht nötig sein, Arif. Es war ein Feh…“
Scheherazade beugte sich zum Sultan hinab, ergriff seine Hand und sprach zu ihm mit einem flehenden Ausdruck in der Stimme: „Ich bitte Euch, mein Herr, seid gnädig. Es war ein dummes Malheuer, nichts weiter.“ Und als Bayezid zögerte, fügte sie hinzu: „Bitte erfüllt mir diesen Wunsch, mein Herr. Es ist mein Fest, das Ihr mir zu Ehren gebt, das gestört wurde. Und ich wünsche, dass dieser Zwischenfall vergessen und es fortgesetzt wird.“
Bayezid sah Will für einen Augenblick an, dann nickte er.
Aus den Augenwinkel bemerkte Will, dass Meister Arif aussah, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er hatte wohl gespürt, dass die Energie, die seine Zauber gestört und durcheinandergebracht hatte, von seinem Lehrer gekommen war.
Will entging nicht, dass er, obwohl der Sultan ihm offiziell verziehen haben mochte, in den nächsten Tagen nicht mehr wie die anderen Kuriositäten zu ihm geladen wurde und man ihn auch nicht mehr in die Arena rief.
Geändert von Jünger des Xardas (11.08.2013 um 19:29 Uhr)
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