Kastanienbäume und Meereswiesen



„Die Zeit ist um. Bis zum nächsten Mal.“
Nadja sprach mit ungewöhnlich ruhiger Stimme, fast schon zärtlich wies sie ihren Kunden aus dem Zimmer hinaus, der sich sogleich stumm erhob und den Raum ohne Umschweife verließ.
Sie lauschte noch einen Moment lang seinen Schritten, die hölzerne Treppe, die das Erdgeschoss mit dem ersten Stock verband, gab knarrende Geräusche von sich.
Wieder einmal war er weg, wieder einmal war ihr Treffen so verlaufen, wie jedes andere zuvor. Bis auf einen Unterschied. Es gab einen Umstand, der diese Begegnung doch zu einer besonderen gemacht hatte, die Monotonie durchbrach. Heute, so schien es, hatte er gelächelt. Zum ersten Mal gelächelt. Oder zumindest glaubte Nadja das, doch für sie machte es keinen Unterschied. Sie hatte gesehen, wie sich seine Mundwinkel geregt hatten, wie er eine Emotion gezeigt hatte, nur kurz, aber das Lächeln war da gewesen. Sie wusste es. Sie war sich sicher, egal, was die anderen sagen würden. Sollten sie doch nur lachen.
Zuerst hatten sie alle es ignoriert, dann hatten sie darüber gelacht. Mittlerweile stellten sie ihre Abneigung offen zur Schau. Doch Nadja wusste, irgendwann würde sie die sein, die lachte, wenn sie ein ordentliches Leben führte, gemeinsam mit einem Mann, der sie nicht auf ihr Äußeres reduzierte.
Sie erinnerte sich an das erste Treffen.


Ein ruhiger Arbeitstag. Zu ruhig. Bromor wurde schon ein wenig wütend, da es bis auf ein paar vereinzelte Seeleute kaum Männer in die Rote Laterne getrieben hatte. Wie bei so einer Kundenflaute üblich war er schlecht gelaunt und stützte sich auf den alten Tresen auf, während er sich öfter ein wenig drüber lehnte, um aus der Tür nach draußen zu schauen. Nadja tat es ihm gleich. Draußen regnete es in Strömen, der Regen war so dicht, dass er keine große Blickweite zuließ, der Himmel war finster, und der Wind peitschte das Wasser durch die Gassen.
War es das Mistwetter, was die Männer in ihren Häusern hielt? Oder sollte es nicht eher eben dieses Mistwetter sein, was die Reisenden in eine gute Stube wie diese drängen ließ? Mit der Hoffnung auf ein wenig Wärme und Entspannung?
Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es Bromor nicht passte, wie er überdeutlich klarmachte.
„Verdammt“, grummelte er, und ließ seine große, zur Faust geballte Hand mit einem Knall auf die schäbige Holztheke niedersausen, „wenn jetzt den ganzen Tag lang nichts mehr passiert, raste ich noch aus... es kann doch nicht sein, dass sich nicht ein einsamer Zeitgenosse findet, um für ein wenig Geld ein wenig Liebe zu bekommen.“
Er wandte sich Nadja zu, und musterte sie mit zuckenden Mundwinkeln. Sie hasste es, wenn er das tat. Es war ekelerregend.
„Warum ist keiner hier?“, blaffte er sie grundlos an, „mindert Sumpfkraut neuerdings die Manneskraft, oder was?“
Nadja zuckte mit den Schultern, und hoffte, dass Bromor sie daraufhin in Ruhe lassen würde. Er starrte durch den Raum und schwenkte seinen Blick durch die Runde.
Sonja war in dem großen Sessel versunken und ließ den Kopf gelangweilt hängen, Vanja machte sich kopfschüttelnd auf nach oben zu den Zimmern und Borka rauchte unbeeindruckt seinen Stengel weiter. Sie alle waren die Launen ihres Chefs gewohnt, und so war es auch dieses Mal nicht überraschend, dass er mit denen Konversation zu betreiben versuchte, die er doch sonst nur zu seinem eigenen Vorteil auf ihre Körper reduzierte – Und war es in Borkas Fall nur sein kräftiger Körperbau, der ihn für den Beruf des Türstehers geradezu prädestinierte.
Nicht, dass Nadja oder die anderen Freudenmädchen es in Sachen Verpflegung und Zimmern je schlecht gehabt hätten, doch dieser Mann dort hinter der Theke war einfach furchtbar. Der furchtbarste Mann, den Nadja kannte. Und nicht kennen wollte.
Doch sie kannte ihn, viel zu gut, und ebenso kannte sie das, was nun passierte. Aus dem wütenden Griesgram wurde plötzlich ein freundlicher Geschäftsmann, als endlich eine Gestalt die Schwelle zu seinem Etablissement überquerte, nach kurzer Überprüfung seitens Borka.
„Einen wunderschönen guten Tag, der Herr“, säuselte Bromor, während der Angesprochene unbeeindruckt seinen klatschnassen, braunen Mantel an die Garderobe rechts neben der Tür hing.
Es war ein anscheinend noch junger Bursche, sein seltsam plattes, helles Gesicht war an der Oberlippe mit einem feinen Flaum bedeckt, der ebenso blond schimmerte wie seine kurzen Haare. Sein Gesicht zeigte eine steinerne, ausdruckslose Miene, geformt durch seine schmalen, blassen Lippen und seine beinahe steifen Mundwinkel.
Nadja befand ihn für geistig nicht ganz beisammen, sie hatte schon viele Menschen gesehen, und dieser starre Blick war für sie ein eindeutiges Anzeichen dafür.
Das ungelenke Ablegen eines gefüllten Lederbeutels, begleitet von einem vollen Klimpern, noch bevor Bromor höflichst nach den Wünschen des Kunden fragen konnte, bestätigte Nadjas Vermutung nur. Wenn sie Pech hatte, würde der ruhige Arbeitstag nun nicht mehr so ruhig sein. Andererseits...
Sie fiel buchstäblich aus ihren Gedanken, als sie bemerkte, dass sich eine seltsame Stille ausgebreitet hatte, die erst Bromor nach einiger Zeit unterbrach.
„Ja, nun, was denn?“, fragte er ein wenig verwirrt vom Verhalten des Besuchers, „welche willst du?“
Langsam und ein wenig unbeholfen, jedoch immer noch ohne eine Emotion zu zeigen, drehte sich der junge Mann zu den beiden anwesenden Frauen um.
„Vanja!“, keifte Bromor, „komm ran hier! Es gibt Kundschaft!“
Sonja schreckte aus ihrem Sessel hoch, und auch die anderen waren vom plötzlichen Geschrei Bromors überrascht worden, doch auch hier zeigte der Kunde keine Spur einer Reaktion. Stattdessen starrte er immer noch auf die Frauen, während Vanja langsam die Treppe hinabstieg, und sich zu den anderen begab.
Als sie die genannte Kundschaft erblickte, lachte sie auf und sagte für alle hörbar: „Was ist denn das für einer?“
„Hey!“, brüllte Bromor, und schlug abermals mit der Faust auf den Tresen, „du redest, wenn ich es dir erlaube, und überhaupt, wenn du daran Schuld bist, dass die gerade eingetroffene Kundschaft wieder verschwindet, dann Gnade dir Gott.“
Vanja gab sich gänzlich unbeeindruckt, doch Nadja wusste viel besser, was in ihr vorging. Es war erniedrigend, doch immerhin hatte sie hier eine Arbeit. Und Arbeit war in diesen Zeiten wichtig wie das Essen und Trinken, was man sich davon kaufte.
„Es tut mir aufrichtig leid, mein Herr“, entschuldigte sich Bromor an den Burschen gewandt, und biederte sich so sehr an, wie es Nadja noch nie zuvor beobachtet hatte. Anscheinend hatte der Bordellbesitzer ein wenig Angst, heute gar nichts mehr zu verdienen, doch darüber dachte das Freudenmädchen gar nicht weiter nach, denn noch während der gestammelten Versöhnungsworte hatte der Kunde bereits seinen Blick fixiert und seine Hand langsam erhoben, um direkt auf sie zu zeigen.
„Ah, du willst also Nadja! Eine gute Wahl!“, schleimte Bromor, während Nadja seufzend mit ein wenig sanfter Gewalt ihren Arm in den des fremden Mannes einhakte, der, wie sie offenbar richtig erkannte hatte, ein wenig geführt werden musste. Was wollte so einer überhaupt hier? Wusste er überhaupt, wo er war? Und wo hatte er das ganze Geld her?
Fragen über Fragen durchstreiften Nadjas Gedanken, während sie den Burschen mit sich die Treppe hinauf zog.
Er ließ sich einfach führen, in seinem stillen, ruhigen Wesen, bis hin in das Zimmer des Freudenmädchens, welche die Türe hinter sich abschloss. Schließlich hatte es wohl niemand gerne, beim Empfangen der Dienstleistung gestört zu werden. Wobei – ein paar Perverse gab es immer, und Nadja begann sich ernsthaft zu fragen, was denn ihr sonderlicher Kunde für Vorlieben hatte, wo er doch offensichtlich nicht ganz normal war.
„Wie hast du es denn am Liebsten, mein Süßer?“, fragte sie mit sanfter Stimme.
Ihr Gegenüber starrte sie ausdruckslos wie eh und je an, die Hände unbeholfen in den Hosentaschen, was den Augen Nadjas nicht entging.
„Spielst du schon einmal ein wenig rum, oder was machst du da?“, hauchte sie zärtlich, doch ihr Kunde zeigte immer noch keine Reaktion. Nadja war relativ erfahren und sah mit einen Blick an die betreffende Stelle, dass sich dort nichts regte – Bis auf den Mann und sein Verhalten an sich war überhaupt nichts steif.
Nadja seufzte, es war genauso, als würde sie dem schiefen Regalbrett an der Wand anzügliche Angebote machen, eine Antwort blieb aus.
„Du musst dich schon äußern, wenn du was willst. Schließlich hast du für die Zeit mit mir bezahlt.“
Der seltsame, junge Mann verzog nicht einmal die Mundwinkel, sondern sah Nadja direkt in die Augen, störte sich gar nicht daran, was sie sagte, es schien, als würde er das, was sie sagte, ausblenden.
Nadja wusste natürlich nicht genau, wie es um die Denkfähigkeit des Mannes stand, doch sie glaubte nicht mehr, dass das Ganze zu etwas führen würde, setzte sich aufs Bett, starrte zurück, und entdeckte dabei etwas an ihm, was ihr vorher seltsamerweise gar nicht aufgefallen war.
Seine beiden Augen waren von jeweils verschiedener Farbe, was Nadja schon mehr als genug erstaunte, und ihr einen ungewohnten Anblick bescherte, so etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Das eine Auge war grün, selten hatte sie so eine eigenartige Färbung der Iris gesehen. Es war kein gedämpftes oder von einer anderen Farbe getrübtes Grün, vielmehr erinnerte sie es an die satte Farbe von Wiesen im Sonnenschein, wie sie im Umland häufig zu betrachten waren. Ihre Gedanken schweiften ab zu Bildern der freien, unberührten Natur, ebenso schweifte ihr Blick von diesem Auge ab, und wanderte erwartungsvoll zum nächsten.
Als ihren eigenen, ihr fast unwürdig erscheinenden, schlicht braunen Augen in sein linkes Auge sahen, fühlte sie sich wie in die Tiefen des Meeres gesogen, sanft, aber unaufhaltsam. Das Blau war außergewöhnlich tief und klar, wie der weite Ozean und versetzte sie ebenso in Gedankenwelten wie sein anderes, grünes Auge.
„Deine Augen sind atemberaubend schön.“
Nadja erschrak vor sich selbst und schüttelte ihren Kopf, als die Worte verklungen waren. Ihr Gegenüber starrte sie unverändert an, weshalb sie sich zu fragen begann, ob sie wirklich gesagt hatte, was sie dachte.
Sie, ein Freudenmädchen, eine Hure, betrachtete die Augen eines Freiers und verlor sich vollkommen darin. Sie konnte ihre Angst dabei nicht beschreiben, doch sie wusste, was hier passierte, war falsch. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von diesem seltsamen, jungen Mann abwenden. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie das wollte.
Die restliche Zeit starrten sich die beiden schweigsam an, und als Nadja sah, dass der Sand in der Sanduhr, die sie stets aufzustellen pflegte, durchgelaufen war, sagte sie: „Die Zeit ist um.“
Der Bursche stand unmittelbar nach dem Hinweis auf, und verließ rasch den Raum.
Nadja lauschte seinen Schritten lange nach, bis sie verklangen. Diese seltsame Begegnung hatte sie nachdenklich gemacht, doch sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als erneut Schritte ertönten. Kam er etwa wieder?
„Und?“, fragte eine Frauenstimme, und einen Moment später betraten Sonja und Vanja den Raum.
„Wie war er?“, kicherte Sonja, zu der die Stimme von vorher gehörte.
„Er hat gar nichts gesagt“, antwortete Nadja wahrheitsgemäß, und hasste ihre Kolleginnen in diesem Moment für ihre Neugier. Sie wollte nichts als ihre Ruhe haben, um nachzudenken.
„Hat er nicht einmal gestöhnt?“, fragte Vanja, und ahmte mehr schlecht als recht das Geräusch eines vergnügten Mannes nach.
„Ach, hör doch auf“, wies Nadja sie zurecht, „er saß einfach nur da, und hat mich angestarrt, bis die Zeit um war. Mehr nicht.“
„Wie jetzt?“, fragte Sonja erstaunt und fuhr sich durchs schwarze Haar, „er hat dafür bezahlt, um dich anzustarren?“
„Naja“, begann Nadja, wurde aber prompt von Vanja unterbrochen.
„Sicher wieder so ein richtig Perverser“, meinte sie mit deutlicher Abneigung in der Stimme, „zu Hause geht’s dann sicher richtig ab bei ihm. Bin froh, dass du auch mal so seltsame Kerle abbekommst, Nadja. Sonst kriegst du ja immer die erträglicheren Typen...“
„Vergiss Hagbard nicht“, mahnte Sonja die verbitterte Vanja.
„Erwähne diesen Namen nicht, ich hasse den Kerl“, bat Nadja, und ein kurze Phase des Schweigens trat ein.
„Ob er eine Frau hat?“, fragte Nadja schließlich.
„Wer, Hagbard?“, erwiderte Vanja, „Na klar, das ist doch die... na, wie heißt sie noch gleich... ist ja auch egal, jedenfalls die, die er ständig verprügelt und...“ - „Nein“, unterbrach Nadja sie, „nicht Hagbard. Hör mir auf mit Hagbard. Ich meinte den, der gerade hier war. Mit den schönen Augen.“
Den letzten Satz hatte Nadja leise in sich hinein gemurmelt, fast schon geflüstert, sie wollte ihn nicht sagen, aber er kam einfach aus ihr heraus. Anscheinend aber hatten es die beiden nicht gehört, Vanja war jedoch so schon empört genug.
„Ob er eine Frau hat, so einer?“, bemerkte sie abwertend, „der ist doch behindert oder so, hast du das nicht gesehen?“
„Wieso willst du das überhaupt wissen, willst du ihn heiraten, oder was?“, kicherte Sonja.
Noch bevor Nadja eine Antwort auf die Frage geben konnte, unterbrach derjenige, den sie nun am allerwenigsten sehen wollte, die Unterhaltung.
„Tut mir Leid, stören zu müssen“, tönte eine raue, unangenehme Stimme, „aber mein kleiner Freund hier braucht Ausgang.“
Er fasste sich kurz in den Schritt, und kratzte sich dann mit der selben Hand den nahezu kahlen Kopf. Seine fetten Arme hatte er in seine gut gepolsterten Hüften unter den Bierbauch gestemmt, während er die drei Angestellten der Roten Laterne lüstern angrinste.
Als Nadja wieder einmal die paar schiefen, gelben Zähne, die Hagbard noch hatte, sehen musste, wurde ihr schon schlecht, doch als er dann noch seinen Arm um ihre Hüfte legte und sie zu sich ranzog, wurde es fast zu viel.
„Es ist zwar schade, Mädels“, meinte er mit gespieltem Bedauern, während Nadja nur entsetzt darauf wartete, dass ihm jedem Moment der Sabber aus beiden Mundwinkeln lief, „aber da ich leider nicht genug Geld für euch alle habe, kommt nur das beste Pferdchen aus dem Stall dran.“
Er ließ seinen Arm ein wenig sinken und griff rücksichtslos wie ein Schraubstock in Nadjas wohlgeformtes Hinterteil.
„Wird Zeit, dass du mal wieder von einem echten Kerl durchgenommen wirst, hab ich Recht?“, fragte Hagbard, erwartete jedoch keine Antwort, sondern riss Nadja unsanft ins Zimmer und schubste sie aufs Bett.
Warum musste es wieder passieren, warum war er wiedergekommen? Nadja stellte sich Fragen, doch es hatte keinen Zweck. So oft hatte sie ihn ertragen müssen, und jetzt war es wieder Zeit. Als Hagbard sich mit seinem immensen Übergewicht auf sie kniete und an seiner Hose herumnestelte, schloss sie die Augen, und hoffte, dass es schnell vorbei sein würde. Sie spürte seinen ekelhaften Atem und roch seinen widerlichen Mundgeruch, als er sich zu ihr herunterbeugte...

Nein!
Nadja schlug die Augen auf, und die Bilder der Erinnerungen schwanden langsam. Weiter brauchte sie sich nicht zu erinnern, an die Begegnung mit Hagbard an diesen Tag wollte sie sich nicht erinnern. Er war wie eine hässliche, stinkende Pestbeule an einer wunderschönen Erinnerung.
Der Tag, an dem sie zum ersten Mal in diese Augen geblickt hatte. Das satte Grün und das tiefe Blau, Farben, die so viel Glück versprachen.
Er war immer wieder gekommen, fast jeden Tag. Sie wusste nicht, woher er das Geld hatte, sie wusste nicht, was er empfand, doch sie wusste, was sie empfand. Sie hatte sich in ihn verliebt, in den jungen Fremden mit dem platten Gesicht und der Stummheit. Jedes Mal taten sie das gleiche, sie setzten sich auf dem Boden gegenüber, und sahen sich an.
Bromor war selbstverständlich erfreut über so einen festen Kunden, der auch noch, wie er zu sagen pflegte, „seine beste Einnahmequelle nicht grob überbeanspruchte.“
Waren es völlig unterschiedliche Ansätze, so verstand Nadja doch, was Bromor meinte, und konnte eingeschränkt zustimmen. Niemals hatte sie erlebt, dass jemand dafür bezahlte, nur um sie anzusehen, und nicht etwa, um rücksichtslos und stumpf die eigenen Triebe zu befriedigen, die blanke Fleischeslust zu stillen.
Eine Zärtlichkeit ging von ihm aus, die sie noch nie erlebt hatte, und die innere Leere, die sich über die Jahre in ihr ausgebreitet hatte, stagnierte, und wurde schließlich gefüllt. Sie war nicht mehr das seelenlose Sexobjekt, die für jeden nur herhalten sollte. Es gab jemanden, der ernsthaftes Interesse an ihr hatte.
Vielleicht war er ein seltsamer Mann, vielleicht war er geistig behindert, vielleicht würde er nie wirkliche Emotionen zeigen, doch sie spürte, wie er ihre Gegenwart genoss. Das gemeinsame Sitzen auf dem Boden, wie sie sich gegenseitig musterten.
Und heute, heute hatte er gelächelt. Er musste es getan haben, er hatte es geschafft, einen Funken Zuneigung zu zeigen, genau wie sie mit der Zeit wieder gelernt hatte, zu lieben.
Von Wärme erfüllt ließ sie sich auf ihr Bett sinken. Vielleicht, so dachte sie, vielleicht würden sie irgendwann einmal zusammen leben, und dann brauchte sie nicht mehr in diesem furchtbaren Haus arbeiten...


Sie schätzte es Vormittag, als sie aus ihrem tiefen Schlaf aufwachte, und brauchte eine Weile, um zu erkennen, weshalb. Eine große Hand traktierte ihre Brust, und als sie sah, wem sie gehörte, konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen, denn der Gestank nach altem Schweiß tat sein Übriges.
Ein angewiderter Schrei, und Hagbards Gesicht war voll mit Nadjas Mageninhalt, den sie in einem schweren Anflug von Übelkeit ausgestoßen hatte.
„Du Schlampe!“, brüllte er, und wischte sich am Bettlaken das Gesicht ab. Nadja war aufgestanden und wollte gehen. Sie wollte einfach nur noch gehen, raus hier, weg von hier. Weg von Hagbard.
„Hiergeblieben!“, blaffte er sie an, und ergriff ihren linken Arm. Nadja versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu befreien, doch es gelang ihr nicht.
„Du hast eine Chance, das wieder gut zu machen...“, säuselte er und leckte sich mit seiner belegten Zunge über die Lippen.
Er ließ Nadja los, öffnete seine Hose und ließ sie zu Boden fallen. Nadja sah weg, sie wollte ganz bestimmt nicht sehen, was Hagbard ihr da präsentieren wollte.
„Er ist immer noch ein Prachtstück“, wisperte Hagbard erregt und streichelte sich vergnügt.
„Es reicht“, sagte Nadja mit kaltem Abscheu in der Stimme, und fischte einen kleinen Dolch aus den Tiefen ihres Kleids, den sie immer bei sich trug.
„Weg damit!“, keifte Hagbard, und zog rasch seine Hose wieder hoch, da er anscheinend Angst um sein bestes Stück hatte.
Und das sollte er auch, so dachte Nadja, das sollte er auch. Jetzt wollte sie alles beenden, ihm alles heimzahlen, was er ihr angetan hatte. Er würde leiden... leiden und schließlich sterben.
Sie erhob den Dolch und rannte blitzschnell auf Hagbard zu, doch sie hatte die Schnelligkeit des übergewichtigen Mannes unterschätzt.
Geistesgegenwärtig war er einen Schritt zur Seite getreten und hatte Nadja einen Fausthieb in die Magengrube verpasst, und als die vorher noch so entschlossene Freudendame seine Hände an ihrem Hals zudrücken spürte, wusste sie, dass sie einen Fehler begangen und verloren hatte.


Schweigsam, jedoch nicht minder wachsam war er mit einem Strauß Blumen durch das Hafenviertel gelaufen, als er die Männer in den roten Rüstungen dort erblickte, wo er oft eingekehrt war, und auch dieses Mal einkehren wollte. Dieses Mal sollte es jedoch anders werden, perfekt.
Doch es wurde nur anders.
Da der Türsteher, Borka hieß er, wie er erfahren hatte, immer noch vor der Tür des Bordells stand, wusste er, dass es sich nicht um eine normale Razzia handeln konnte, und er ahnte Schlimmes.
Er ließ die Blumen, Rosen waren es, achtlos fallen, und bewegte sich zügigen Schrittes an den Milizen vorbei ins Gebäude, belauschte die Gespräche entgegen seines ansonsten aufmerksamen Verhaltens nur sporadisch, denn als er sah, dass alle außer eine versammelt waren, wusste er was passiert war.
Mit schlagendem Herzen und Schweißperlen, die ihm durchs Gesicht liefen, rannte der ansonsten so ruhige Mann die Treppe zu den Zimmern hoch, und sah das, was er eigentlich nicht hätte sehen brauchen. Was er nicht hatte sehen wollen, aber doch sehen wollte.
Mit aufgerissenen Augen lag sie dort auf dem Bett, reglos, leblos, neben ihr eine Art Arzt, der nichts mehr weiter tun musste, als den Tod zu bescheinigen. Eine verklärte, ins Absurde verdrehte Schönheit stellten die braunen Augen dar, die wie wunderbare Kastanien an einem zierlichen, wohlgeformten Baum wirkten. Er erinnerte sich an das erste Mal noch genauso gut wie an das letzte Mal, als ihn die schönsten Augen dieser Welt gemustert hatten, wie sehr hatte er es genossen, wie sehr hatte er ihre Nähe genossen. Keine andere Frau hatte vermocht, seine innere Leere so zu füllen, sein kaputtes Herz zu heilen.
Und nun war es aus.
Er fasste sich an den Kopf, er wollte es nicht glauben, doch vor den Tatsachen konnte er nicht weglaufen. Der Arzt schien ihm eine Frage gestellt zu haben, doch er hatte nicht zugehört, auch die Rufe von unten, was er denn hier mache, waren wie verschwommen.
Er hatte nur einen Namen gehört, und genau dieser Name schien sich in den in Entsetzen aufgerissenen Augen Nadjas widerzuspiegeln. Er kannte diese Augen, und er kannte ihre Sprache, genauso wie sie die Sprache der seinigen verstanden hatten.
Hagbard.
Der Name hallte in seinen Gedanken wieder und übertönte endgültig die Stimmen der Milizen, die auf ihn einredeten, als er aus der Roten Laterne an Borka vorbei herausstürmte, und die kalte, salzige Luft des Hafens in Empfang nahm.
Er wusste, wo Hagbard wohnte, sein Haus befand sich direkt neben dem des Fischhändlers Halvor.
Aus Gesprächen und Beobachtungen hatte er es erfahren, und er wusste um Nadjas Problem mit diesem Freier.
Er war sich auch im Klaren, dass ihn viele für einen geistig Gestörten, einen Behinderten, oder Schwachsinnigen hielten, doch genauso war ihm klar, dass er dies nicht wahr. Ereignisse in der Vergangenheit hatten sein Herz zerspringen und seine Stimme verstummen lassen, doch sein Verstand war scharf geblieben, ebenso wie seine Ohren. Er war sich seiner Umwelt bewusst wie kein Zweiter, und zur Vollkommenheit hatte nur noch gefehlt, jemanden zu haben, der ihn liebt. Eine Person, die er in Nadja gefunden hatte. Doch nun müsste er sein ganzes Leben lang so fristen wie bisher, er spürte förmlich, wie sich die letzten Teile seines Herzens schwarz färbten und abstarben, abfielen, auseinanderbrachen.
Er spürte einen letzten Stich, grausam und schmerzhaft, so, wie Hagbard ihn nun auch erleiden sollte.
Im raschen Tempo passierte er eine Gruppe Bürger des Hafens, und zog einem Mann geschickt im Vorbeigehen den Degen vom Gürtel. Entschlossen wie er war, konnte ihn keiner aufhalten, und es war ihm auch egal, welche Konsequenzen seine Taten haben würden.
Nach wenigen Augenblicken war er am schäbigen Haus Hagbards angekommen, und klopfte dreimal mit der Faust gegen die Tür.
Sein grünes und sein blaues Auge musterten das heruntergekommene Holz des Eingangs konzentriert, und als sich die Tür endlich knarzend öffnete, erhob er den Degen voller kaltem Hass und Rache, und dachte bevor er zustach noch ein letztes Mal an sie, Nadja.