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[Story]Theodizee
Die Idee zu dieser Geschichte ist mir schon vor einiger Zeit gekommen. Allerdings scheute ich mich ein Bisschen, sie auszuführen. Vor allen Dingen, weil sie mit Sicherheit einigen Dingen, die im Gothicuniversum mittlerweile feststehen dürften, widersprechen wird. Allerdings habe ich Gothic3 nie gespielt und habe nur wenig Ahnung über dessen Inhalte. Ich bitte also um Nachsicht, sollten sich Widersprüche auftun. Stattdessen sollte man diese Geschichte einfach als einen Alternativen Hergang betrachten, und sich unterhalten lassen (sofern die Geschichte als solche unterhaltsam geschrieben ist).
Theodizee
Prolog:
Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Zeh und ließ ihn auf einem Bein herum hüpfen. “Autsch!”, entfuhr es ihm, und kurz darauf: “LICHT! Bringt mir Licht, ihr Idioten!” Während der Schmerz langsam abklang, hörte er Schritte, die sich der Tür zu seinem Schlafgemach näherten. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und ein schwarz gewandeter, älterer Herr mit blasser Haut und gelangweiltem Gesicht erschien im Türrahmen. Über seiner rechten Handfläche schwebte eine weiß leuchtende Sphäre magischen Lichts. “Ihr wünscht, Gebieter?” “Ich habe mir den Zeh gestoßen, Idiot!”, fuhr er den Mann an. Eigentlich hasste er es, sich so jähzornig zu verhalten. Zum einen hielt er es für unfair, zum anderen kam es ihm unwürdig vor. Doch er vermochte seine Gefühle einfach nicht recht zu kontrollieren. Gefühle, die sein noch junges Bewusstsein erst seit kurzem bewegten. Seit der Zeit nämlich, die er nun schon in diesem elenden, menschlichen Körper gefangen war, beschränkt durch die Endlichkeit dieser kümmerlichen Hülle, isoliert und einzigartig. Personal, wie diese nichtswürdigen Lakaien, die sich seine Gläubigen schimpften.
Zaratom unterdrückte ein Seufzen, und beherrschte seine Mimik, auf dass diese nicht jene Verachtung ausdrücke, die er für den erbärmlichen Wicht, der da klagend vor ihm stand, empfand. Wie hatte es nur zu dieser Katastrophe kommen können?
Dabei hatte es sich von langer Hand angekündigt: Schon Monate zuvor hatten er und die anderen Priester beträchtliche Umwälzungen im magischen Gefüge gespürt. Bewegungen, die eindeutig willkürlichen Ursprungs sein mussten. Irgendjemand, das war klar, befleißigte sich der Vorbereitungen zu einem enorm mächtigen Zauber. Schließlich war es ihnen geglückt, das Epizentrum jener magischen Beben im Minental auf der Insel Khorinis ausfindig zu machen. Doch als sie schließlich begriffen hatten, worum es bei diesem Zauber ging, war es zu spät gewesen. Das Einzige, was sie noch hatten tun können, war Schadenbegrenzung.
Auf dem Höhepunkt des Zaubers waren die Grenzen zwischen den Sphären aufgelöst worden. Daraufhin hatte der Zauber Energie aus dem Jenseits zu bündeln begonnen. Eine ganz bestimmte Art von Energie. Diese Energie war dann an einem Punkt konzentriert worden, in einer Beschwörung, wie sie zuvor noch niemals stattgefunden hatte. Kurz darauf war es geschehen: Er war herbeigerufen, gefangen worden in einem Leib, abgeschnitten von seiner Macht und wehrlos angesichts der neuen Erfahrungen, welche die Leiblichkeit mit sich bringt.
Sie hatten nicht mehr tun können, als ihn zu bergen und hier her zu bringen, in seine heiligsten Hallen, um einen Weg zu suchen, ihn zu befreien.
Nun stand er vor Zaratom, in grotesker Haltung auf einem Bein stehend, den dicken Zeh des anderen reibend.
Beliar, der Gott des Todes, der Zerstörung und der Finsternis, hatte sich im Dunkeln den Zeh gestoßen.
Die ersten Tage nach seiner Herbeirufung war Beliar überaus verwirrt gewesen. Er hatte gar nicht begriffen, was da mit ihm geschehen war. Niemals zuvor hatte er einen Körper besessen. Stattdessen war er immer Teil der Ewigkeit gewesen, Teil der Essenz allen Seins und vermischt mit seinen Geschwistern. Individualität hatte er nicht gekannt, denn ohne Raum und Zeit ist alles Eins. Es war beängstigend, so mit sich selber alleine zu sein. Außerdem beschränkte ihn sein Körper auf mannigfaltige Weisen: Sein Verstand war eingeschränkt durch die allzu einfache Struktur seines menschlichen Gehirns. Das begrenzte nicht nur seine geistigen Kapazitäten, vor allen Dingen plagte ihn dies mit völlig lächerlichen Gefühlen und Instinkten, die er kaum unter Kontrolle hatte.
Zu allem Überfluss hatten sich seine Diener als ausgesprochen inkompetent erwiesen.
Natürlich hatten seine Priester von Beginn an versucht, ihn aus diesem unwürdigen Zustand zu befreien. Die erste Idee hatte darin bestanden, seinen Körper einfach zu zerstören. Wie bei einem Dämon, so die Idee, würde Beliars Essenz gewiss in sein jenseitiges Reich zurückkehren. Bedauerlicherweise hatte sich dieses Vorhaben aber als fruchtlos erwiesen: Zwar hatte man seinem Leib Verletzungen zufügen können, töten ließ dieser sich allerdings nicht. Schließlich war er ja ein Gott: Jede Verwundung, und war sie auch noch so stark gewesen, war beinahe ebenso schnell wieder verheilt, wie sie zugefügt worden war. Das Ergebnis waren lediglich einige Schmerzen und ziemlich schlechte Laune auf allen Seiten, vor allem aber seitens Beliars selbst. Daraufhin hatten seine Diener versucht, ihm mit magischen Ritualen und Opferungen genug dunkle Energie zuzuführen, dass er sich befreien könnte. Stattdessen war er bei der ersten Opferung angesichts des ganzen Blutes in Ohnmacht gefallen: Er konnte einfach kein Blut sehen; ihm wurde davon schlecht.
Nun waren den Priestern alle Ideen ausgegangen, und auch er selber wusste nicht genau, was man noch hätte versuchen können. So hatte man sich einstweilen darauf geeinigt, sich mit der aktuellen Situation zu arrangieren.
Zaratom, der Hohepriester, war, wie Beliar wusste, überaus unzufrieden mit ihm. Beliar entpuppte sich nämlich als völlig anders, als der Hohepriester es erwartet hatte. Anstatt grausam und erhaben zu sein, beklagte sich Beliar permanent darüber, dass es auf Irdorath zu dunkel sei: Bei dem ganzen Schwarz werde er depressiv. Die Skulpturen hatten ihm zunächst Angst eingeflößt. Außerdem störte ihn der muffige Gestank nach Verwesung, der die gesamte Tempelanlage verpestete. Mit anderen Worten: Beliar war von seinem eigenen Kult abgestoßen.
Weiterhin fürchtete Zaratom, seinen Einfluss zu verlieren. Daher hatte er Beliar weitestgehend isoliert. Da sich die Niederkunft Beliars auf die Erde schnell unter den Gläubigen Irdoraths herumgesprochen hatte, hatte Zaratom diese nicht mehr leugnen können. Daher präsentierte er den Gläubigen ihren leibhaftigen Gott nun regelmäßig bei den Messen. Ansonsten aber hatten nur wenige, ausgesuchte Lakaien Zugang zum Gott, von denen Zaratom wusste, dass sie ihm, Zaratom, völlig ergeben waren. Beliar durchschaute Zaratoms Schliche natürlich: Auf diese Weise wurde der negative Effekt auf die Moral der Gläubigen vermieden, den Beliars zuweilen kindisches Verhalten wohl ausgeübt hätte; zum anderen behielt Zaratom auf diese Weise das Heft in der Hand. Nun, dieser respektlose Hohepriester, das hatte Beliar bereits beschlossen, würde sich noch wundern!
Einstweilen aber würde Beliar Zaratoms Spiel mitspielen. Vorerst.
Geändert von Sir Ewek Emelot (10.01.2009 um 20:40 Uhr)
Grund: Naja, ich werde die Signatur wohl jedes Mal vergessen und erst nachträglich ausschalten.
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I.: "Wer Andren eine Grube Gräbt..."
Zaratom hatte kein gutes Gefühl dabei, Beliar an dem Gottesdienst teilnehmen zu lassen. Am liebsten hätte er ihn einfach weggesperrt. Doch er fürchtete sich vor den möglichen Konsequenzen. “Meinst du nicht, dass es etwas leichtsinnig ist, mich der Öffentlichkeit zu präsentieren, mein Sohn?” Beliar hatte die Frage beiläufig gestellt, im Plaudertone, während er und Zaratom, beide in weite, schwarze Roben gehüllt, durch die dunklen Gänge von Irdorath marschierten, in Richtung der Hauptgebetshalle. “Ich könnte immerhin das Zepter an mich reißen. Oder meinst du, dass mir außer dir jemand offen widersprechen würde?” In letzter Zeit hielt sich Beliar mit seinen Marotten auffällig zurück. Zaratom war über die neue Selbstbeherrschung des Gottes äußerst besorgt. “Diese Wand da, ich finde man sollte sie weiß streichen.” Beliars Stimme vibrierte leicht, vermutlich vor Spott. Aber Zaratom meinte, etwas anderes darin zu vernehmen; die leise Andeutung einer Drohung. Er unterdrückte ein Seufzen. “Du brauchst dich nicht zurückzuhalten. Ich weiß ohnehin, was du denkst. Bedenke aber, dass ich doch der Gott des Bösen bin, nicht der Gott der Farbe Schwarz. Warum sollte ich meine Diener nicht unter einer angenehmen und schönen Umgebung leiden lassen, wenn es mich danach gelüstet? Wo sie doch offensichtlich so viel lieber in düsteren und modrigen Gewölben vor sich hin vegetieren?” Zaratom schielte in Beliars Richtung, der ihn von der Seite her anschaute, mit einem milden Lächeln auf den Lippen. “Oh, ich will dich doch nicht foppen, mein Sohn.” Beliar war heute wirklich gut gelaunt. Zu gut, hatte er die Gottesdienste bisher doch stets als lästige Pflicht empfunden. Erwartete Beliar etwa, dass heute etwas Ungewöhnliches geschehen würde? “Wir feiern den Anbruch des Winters, den symbolischen Sieg des Todes über das Leben. Ist es nicht irgendwie plausibel, dass ich mich als Gott des Todes über dieses Ereignis freue?” Manchmal hatte Zaratom wirklich das Gefühl, dass Beliar seine Gedanken las. “Ich muss deine Gedanken nicht lesen können, um zu wissen, was dich bewegt. Ich bin dein Gott und kenne dich bis auf den Grund deiner Seele. Du bist hier derjenige, der nicht weiß, woran er ist.” Beliar lies ein leises, vergnügtes Lachen ertönen. “Ah, da sind wir schon”, es lag nichts als Freundlichkeit und Milde in der Stimme des Gottes, “sorge dich nicht, mein Lieber! Am Ende dieses Gottesdienstes wird die Welt schon ganz anders aussehen.” Ebendies war es, was Zaratom befürchtete: Veränderungen beinhalten nur wenige Verheißungen für den, der ganz oben steht.
Beliar unterdrückte ein gelangweiltes Gähnen. In der Tat hatte er gelernt, seine Gefühle zu beherrschen. Zaratom erwartete, dass er bei den Gottesdiensten ein würdiges Verhalten an den Tag legte, also tat Beliar dies auch. Er hatte vor einem Spiegel geübt; sowohl um die eigenen Gefühlsregungen zu beobachten, und damit die anderer besser deuten zu lernen, als auch um seine Wirkung auf sein Umfeld besser kontrollieren zu können. Im Augenblick versuchte er, den Gesichtsausdruck der Beliarstatuen nachzuahmen, die den Komplex von Irdorath allenthalben zierten. Zaratum hatte Beliar gerade den Rücken gekehrt, und hielt der Gemeinde vor sich eine Predigt. Als er damit fertig war, drehte er sich, wie erwartet, zu Beliar um, und warf sich auf die Knie, einen Hymnus auf den Tod anstimmend. Die Gemeinde tat es ihm gleich. Dieser Hymnus war der Höhepunkt der Messe, doch Beliar empfand ihn als ebenso öde, wie den Kult im Ganzen. Wenn seine Gläubigen sich wenigsten darum bemüht hätten, schön zu singen! Stattdessen waren ihre Choräle misstönend und disharmonisch; eine Unsitte, mit der sie dem Zerstörungsaspekt Beliars gerecht zu werden glaubten. Kümmerliche Idioten! Glaubten diese Narren wirklich, dass sie die Tätigkeit eines Gottes mit ihrer Bettelei beeinflussen konnten? Das Groteskeste war noch, dass sie für gewöhnlich eine Steinskulptur Beliars anbeteten. Einen Haufen toten Felsens! Für heute war diese Statue aber durch einen wuchtigen Thron ersetzt worden, auf dem der echte Beliar es sich leidlich gemütlich gemacht hatte.
Das bedrohliche Gemurmel des Hymnus schwoll zu einer disharmonischen Kakophonie schiefer Töne an, als Zaratom sich erhob, und seine Arme emporreckte, um Beliar zu preisen. Das war der Moment, auf den Beliar gewartet hatte: Zaratom verdeckte nun die Sicht der Gläubigen auf ihren Gott. Beliar hatte schon andere, ähnliche Momente dieses Gottesdienstes dazu ausgenutzt, den Hohepriester in dessen Konzentration zu stören. Mit sinnlosen Wortfetzen oder komischen Grimassen hatte er schon einige Patzer und Stotterer seitens Zaratoms bewirkt. Nun galt es, den ohnehin schon schwankenden Hohepriester vollends zu Fall zu bringen.
Mit leiser Stimme, so dass nur Zaratom es hören konnte, begann Beliar zu singen: “Alle meine Lurker, schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See, Köpfchen unter Wasser, Klauen in die Höh.” Zaratom kam bei seinem Singsang ins Stocken und hatte Mühe, sich zu fangen. Die Gemeinde hatte schon lange bemerkt, dass ihr geistiger Anführer sich bei dieser wichtigen Feier offenbar nicht richtig unter Kontrolle hatte, und die Unruhe im Publikum erhöhte Zaratoms Nervosität noch zusätzlich. Die blanke Angst sprach aus seinen Augen. Beliar antwortete mit einem Grinsen und streckte ihm die Zunge heraus. Dann tat er etwas, mit dem Zaratom niemals gerechnet hätte: Er intonierte ein Innosgebet. Das war zuviel: Zaratom brach ab, und blankes Entsetzen lag in seinen Zügen. Ohne die Anleitung durch ihren Vorbeter gerieten auch die anderen Gläubigen ins Stocken und brachen die Lobpreisung von Beliars Bosheit ab.
Getuschel breitete sich in den Reihen der versammelten Gemeinde aus. Langsam, in einer würdevollen und unzählige Male geübten Bewegung stand Beliar von seinem steinernen Throne auf. Gemessenen Schrittes umrundete er den Priester, der von der Situation nun völlig überfordert war, und wandte sich mit einem Händeklatschen an die Gemeinde: “Offensichtlich ist unser Hohepriester und treuer Diener, Zaratom, nicht wohl. Es erscheint uns daher angemessen, diese Feier zu unseren Ehren nun abzubrechen. Wir werden natürlich Sorge tragen, dass unser oberster Diener sich erholen kann, auf dass wir auch weiterhin seinen Rat und seine Dienste beanspruchen mögen. Gehet hin in … äh Todessehnsucht.” Beliar vermutete, dass die letzte Bemerkung in den Kanon des Beliarkultes aufgenommen werden würde, obwohl er sie nur improvisiert hatte. Langsam lösten sich die Reihen der Gläubigen auf. Einige versammelten sich zu kleinen Menschentrauben, in denen eifrig getuschelt wurde, andere Gruppen drängten dem Ausgang zu. Beliar war aber noch nicht fertig. Er musste nun rasch handeln, um die allgemeine Verwirrung auszunutzen. Schnellen Schrittes eilte er die Stufen herunter, die den Altar vom Rest der Halle trennten, und richtete das Wort an eine Reihe von Novizen: “Hohepriester Zaratom ist offensichtlich erkrankt. Ich wünsche, dass ihr ihn in seine Gemächer geleitet, und dafür sorgt, dass er bis auf weiteres nicht gestört wird. Ohne meine ausdrückliche Genehmigung hat Niemand die Ruhe Zaratoms zu stören.” Die Novizen würden seine Befehle eilfertig befolgen, und nicht einmal Zaratom würde ihnen offen widersprechen.
Nun hielt Beliar auf den Ausgang zu, der über eine Reihe von Treppenstufen zu erreichen war. Im Vorbeigehen deutete er mit einem Fingerschnippen auf einen jungen Novizen. “Du da, komm mit!” Der Novize befolgte den Befehl ohne Zögern. “Gebieter”, sagte er nur, vor Freude darüber leicht errötend, dass ihn sein Gott persönlich angesprochen hatte.
Am Fuße der Stufen hatte sich eine Gruppe älterer Männer versammelt, deren Roben sie als Mitglieder des Priesterkollegiums und als vollwertige Schwarzmagier auszeichneten. Das Patzen ihres Vorsitzenden schien auch sie zu beschäftigen. “Meine Kinder”, begrüßte Beliar sie, als er mit dem Novizen im Schlepptau bei ihnen ankam, “wie ihr alle miterlebt habt, kann Zaratom seine Aufgaben derzeit nicht ordnungsgemäß erfüllen. Dieser Novize hier wird sich derweil um mein leibliches Wohl sorgen, und meine Befehle weiterleiten.” Die Wangen des so Geehrten begannen regelrecht zu glühen, während er das Gesicht starr auf den Boden richtete. Die meisten der Priester blickten Beliar ehrfürchtig an, doch einer von ihnen, offenbar etwas jünger als die anderen, war offensichtlich misstrauisch. Die Initiative, welche der Gott zu ergreifen sich anschickte, gefiel dem jungen Schwarzmagier anscheinend nicht. Es handelte sich vermutlich um einen Schützling Zaratoms. “Außerdem habe ich beschlossen, meinen Aufenthalt auf Erden sinnvoll zu nutzen. Es ist an der Zeit, dass wir die religiöse Hegemonie der Innoskirche brechen. In meiner Weisheit habe ich beschlossen, dass wir dazu einige Reliquien des Innoskultes brauchen, die in der Hauptstadt Myrtanas aufbewahrt werden.” Er blickte den jungen Schwarzmagier an. “Ich erwähle dich als neuen General meiner Armeen. Dein erster Auftrag wird in der Beschaffung jener Reliquien liegen. Du wirst mit einer kleinen Gruppe unserer besten Agenten zur Hauptstadt aufbrechen, und sie stehlen!” Der junge Magier stutze: “Aber Gebieter! Diese Reliquien werden streng bewacht. Wir werden niemals…” Beliar unterbrach ihn mit sanfter Stimme: “Ich habe volles Vertrauen in deine Fähigkeiten, mein Sohn. Wenn dein Glaube stark genug ist, wirst du erfolgreich zurückkehren. Solltest du aber noch einmal meine Anweisungen in Frage stellen wollen, so rate ich dir, schnellstens die Religion zu wechseln.” Mehr an Drohung bedurfte es nicht, um den aufsässigen Magier zum Schweigen zu bringen. Beliar wusste, dass er von seiner Mission nicht mehr lebend zurückkehren würde.
Am liebsten hätte Zaratom irgendetwas zerschlagen. Oder besser noch: Irgendwen! Aber er wusste, dass dies nichts genützt hätte. Beliar hatte ihn ganz klar ausmanövriert. Nun saß Zaratom in seinen Gemächern fest, und war von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Wie schnell die Dinge sich doch ändern konnten; Beliars Versprechen war kein Lüge gewesen. Und Zaratoms Furcht mehr als begründet.
Er hatte versucht, aus dem Novizen, der ihm das Essen gebracht hatte, Informationen über die Geschehnisse auf Irdorath herauszukitzeln. Dieser aber hatte sich geweigert, irgendetwas zu sagen. Der allmächtige Beliar lasse seinem Hohepriester mitteilen, dass dieser sich um die Verwaltung der Gemeinde nicht zu kümmern brauche, hatte der Novize ihm mitgeteilt, daher könne er sich voll und ganz seiner Genesung widmen. Alle Störungen durch die profanen Probleme eines Anführers seien hierbei nur hinderlich. Beliar wisse das Pflichtbewusstsein Zaratoms zu schätzen, doch als treuester seiner Gläubigen habe er sich etwas Freizeit verdient.
Zaratom hätte Beliar erwürgen können!
Aber es nützte alles nichts: Er war hier nun einmal gefangen, und konnte nur darauf hoffen, dass seine treuen Schützlinge und Lakaien ihn aus dieser Situation befreien würden. Zwar hätte er, als mächtiger Schwarzmagier, die weltlichen Ketten seiner Gefangenschaft mit Leichtigkeit zerbersten können, doch hätte ein solcher Akt ihn womöglich auf Dauer den Vorsitz im Priesterkollegium und seinen Einfluss unter den Gläubigen gekostet. Daher entschied er sich, zunächst abzuwarten.
Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.
Zaratom betrachtete das Essen, das man ihm geliefert hatte: Eine klare Brühe mit etwas Brot, dazu ein leichter Wein. Nahrung, wie man sie einem Kranken auftischen würde.
Er zuckte mit den Schultern: Er hatte ohnehin nichts zu tun, der Tag hatte ihn angestrengt, also konnte er ruhig etwas essen.
Auch dies war ein Fehler. Der letzte Fehler, den er in seinem Leben machen würde.
Geändert von Sir Ewek Emelot (16.01.2010 um 00:19 Uhr)
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II.: Gespielte Harmonie
Fließende und melodische Töne umschmeichelten Shalfarezehls Ohren, als er das Gemach seines Herrn betrat. Dieser saß wieder einmal an seinem Spinett und musizierte. Er wurde auch immer besser, wie Shalfarezehl feststellte. Überraschend war dies indes nicht, zumal sein Meister das Instrument, auf dem er spielte, praktisch neu erfunden hatte: Eine kleinere, Platz sparende Version der gebräuchlichen Orgel, mit etwas helleren Tönen. So konnte der Meister, wann immer es ihm danach gelüstete, in seinen Gemächern seinem Steckenpferd frönen.
Als sein Herr Shalfarezehls Schritte hörte, hielt er in seinem Geklimper inne und drehte sich auf seinem Hocker zu Shalfarezehl um. “Und, was für Kunde bringst du mir?” Fragte der Herr mit vergnügter Stimme. Shalfarezehl lächelte seinen Meister an. “Gute Kunde, natürlich. Was denn sonst?” Der Meister erwartete offenbar, dass Shalfarezehl fortfuhr. Als dieser aber mit seiner Kunde auf sich warten ließ, hackte der Meister nach: “Also?” Shalfarezehls Lächeln wuchs sich zu einem stolzen Grinsen aus. “Er ist da.” “Wie, da? Etwa hier? Jetzt? In diesem Augenblick?” “Genau. Das heißt, in der Halle, die zu seinem Empfang bereitet wurde.” Shalfarezehls Meister war wirklich erfreut: “Ausgezeichnet, mein Freund. Das hast du sehr gut gemacht. Dann können wir ja jetzt die anderen Einladungen verschicken. Betraue meine niederen Diener mit dieser profanen Aufgabe, und nimm dir etwas Freizeit!” Shalfarezehl war vom Plan seines Herren nicht ganz überzeugt: “Meinst du nicht, dass es für die anderen Einladungen noch etwas zu früh ist? Wir wissen doch gar nicht, ob unser Gast auf unser Angebot eingehen wird.“ Ein wissendes Lächeln umspielte die Lippen des Meisters. “Sorge dich nicht. Ich bin über der Verlauf der kommenden Verhandlung sehr zuversichtlich.“ Shalfarezehl beugte vor seinem Herrn das Haupt. “Dein Wunsch sei mir Befehl, oh Herr und Meister”, sagte er mit spöttischem Unterton, bevor er in einer Rauchwolke verschwand.
Dann war es also so weit. Die nächste Phase des Planes konnte in Kraft treten. Mit leichtem Bedauern warf Beliar noch einen sehnsuchtsvollen Blick auf sein neues Spielzeug, das Spinett, bevor er sich entschlossen davon abwandte, und dem begehbaren Wandschrank zueilte, mit dem er sein neues Gemach hatte austatten lassen. Natürlich waren es keine sterblichen Diener gewesen, die er mit der Er- und Einrichtung dieses Zimmers beauftragt hatte.
Seinen sterblichen Dienern konnte Beliar nicht trauen. Sie waren gefangen in ihrem religiösen Fanatismus und hätten viele seiner Ansichten und Interessen nicht verstanden. Alleine die Einrichtung seines Zimmers hätten sie für ketzerisch gehalten, war es doch mit hellen Tapeten verziert und mit magischen Lichtern angenehm erleuchtet. Beliar musste lächeln. Es gab nur wenig, dass ihn mehr amüsierte, als die Vorstellung, durch sein Denken, Fühlen und Handeln gegen sich selber zu lästern. Er liebte die Ironie, die in dieser Tatsache steckte.
Aber zum Glück gab es ja nicht nur sterbliche Untergebene.
Für einen gewöhnlichen Magier waren Beschwörungen ein großes Risiko. Sobald der Dämon oder Geist den Ruf des Magiers vernahm, pflegte er sich der magischen Kraft des Zauberers zu bedienen, um die Grenze zwischen den Sphären zu überwinden, und sich körperlich zu manifestieren. War die geistige Kraft des Magiers nicht stark genug, dann bediente der Dämon sich eben der Lebenskraft des Beschwörers, was diesen unter Umständen töten konnte. War die Herbeirufung als solche überstanden, musste sich der geschwächte Magier jedoch einer weiteren Gefahr stellen: Dem Dämon selber nämlich, den es nun zu unterwerfen galt. Schon so mancher Möchtegernbeschwörer hatte die Kontrolle über seinen vermeintlichen Diener verloren, und war von diesem in Stücke gerissen worden. Körperlich und seelisch.
Für Beliar galten aber andere Gesetze. Als Gott des Todes und der Unterwelt war er ja praktisch von Natur aus der Herr der Geister und Dämonen. Obwohl er derzeit über seine gewaltige Macht nicht verfügen konnte, reichte seine natürliche Position in der Weltenordnung aus, um sich die Wesen aus dem Jenseits gefügig zu machen. Wenn diese nun den Ruf ihres Herrn einmal vernahmen, so kamen sie von sich aus zu ihm, um ihm freiwillig zu dienen. Für gewöhnlich also war die Dämonenmagie das gefährlichste und schwierigste, womit ein Zauberkundiger sich beschäftigen konnte. Für den leibhaftigen Beliar aber war es umgekehrt: Er konnte nicht einmal ein kleines Lichtlein herbeizaubern, doch vermochte er dafür eine kleine Armee von Dämonendienern zu unterhalten. Und diese hatten ihm sein neues Gemach gerichtet.
Natürlich hatte er sich auch neue Kleidung beschafft: Warme, flauschige Pantoffeln und bunte Seidenkleidung, die seinen Körper angenehm umschmeichelte. Damit konnte er sich seinen Gläubigen aber natürlich nicht zeigen. Also wählte er aus seiner Garderobe eine der dunklen Roben aus, und schlüpfte in ein Paar schwarzer Stiefel. Die Robe zog Beliar einfach über seinen Seidenpyjama. Niemand würde bemerken, was er unter seiner dunklen Tracht trug. Einen kurzen Augenblick überlegte er, was wohl geschähe, wenn seine allzu farbenfrohe Unterwäsche entdeckt werden würde. Er würde wohl in die Offensive gehen: “Seht ihr das? Ich habe bunte Unterkleidung an! Wer hat mir bunte Kleidung angezogen? Es werden Köpfe rollen, ihr Idioten!” Seine Diener würden vor ihm katzbuckeln und kriechen. Mittlerweile hatte er keine Skrupel mehr, seine Gläubigen leiden zu lassen. Er empfand im Grunde nichts als Verachtung für diese Narren. Dem Großteil dieser so genannten Gläubigen schien es vor allen Dingen um den Nervenkitzel des Verbotenen zu gehen: Sich in dunkle Gewänder gekleidet bei Vollmond und Kerzenschein auf Friedhöfen zu versammeln, und sich gegenseitig Schauergeschichten zu erzählen, hin und wieder auch etwas Kunstblut zu vergießen, nur um der Atmosphäre willen. Eine Modeerscheinung, das war seine Religion! Ein Spaß für nekrophil angehauchte Jugendliche, die sich von der Masse der Bevölkerung Myrtanas abzugrenzen versuchten. Das traf zumindest auf den größten Teil seiner Gläubigen zu. Auf Irdorath residierte natürlich die Elite: Hier wurden die perverseren Formen der Dekadenz kultiviert. Viel ernster zu nehmen vermochte Beliar seine hiesigen Diener aber dennoch nicht.
Beliar lenkte seine Schritte in Richtung Ausgang. Im Vorraum zu seinen Gemächern, das wusste er, würde Adrian warten, der Novize den er persönlich als Leibdiener erwählt hatte.
So war es denn auch. Adrian pflegte Tag und Nacht in Rufweite Beliars zu bleiben, in der Hoffnung, seinem Gott einen Wunsch erfüllen zu können. Die meiste Zeit folgte er ihm aber einfach nur, einem zweiten Schatten gleich. Beliar wusste, dass dies eine die Disziplin fördernde Wirkung auf die anderen Sterblichen hatte, aus diesem Grunde hatte er sich diesen Schatten erwählt. Adrian war hinlänglich unauffällig, zeigte aber dennoch eine gewisse Präsenz. Genau die richtige Mischung, um die Autorität seines Gebieters zu untermalen.
Im Vorzimmer, in dem Adrian gewartet hatte, herrschte natürlich die gleiche, düstere Atmosphäre, wie im restlichen Komplex von Irdorath. Bei dem Gedanken daran, diese dunklen Gänge zu durchschreiten, erfuhr Beliars Stimmung einen leichten Dämpfer. Doch die Zuversicht über das ausstehende Gelingen seiner Pläne behielt nach wie vor die Überhand.
Mit dem treuen Adrian im Schlepptau durchmaß Beliar schwungvollen Schrittes die Gänge und Hallen von Irdorath, bis er mit seinem lebenden Schatten einen größeren Felsendom erreichte, durch dessen Decke an mehreren Stellen helle Lichtkegel auf den Boden fielen. Unter der größten dieser Öffnungen entdeckte Beliar seinen Besucher. Man hatte ihn von dessen Stattlichkeit unterrichtet, dennoch war er über die Größe seines Gastes überrascht.
Als er den Besucher erreicht hatte, richtete er ohne zu zögern das Wort an ihn: “Du bist größer, als ich erwartet hatte. Das ist gut. Ich grüße dich, Finkregh.” Der gewaltige Eisdrache ragte weit über Beliar empor. Aus seinen Augen blitze eine kalte Intelligenz, die jeden gewöhnlichen Menschen hätte frösteln lassen. Adrian schien sich denn auch entsprechend unwohl zu fühlen. Beliar hingegen trat dem mächtigen Eisdrachen völlig entspannt entgegen. Was hatte er schon zu befürchten?
“Ich grüße dich, Beliar. Ich bin dem Ruf gefolgt, den mir deine Diener übermittelt haben. Was also willst du von mir?” Der Drache würde, anders als die Dämonen, Beliar nicht freiwillig folgen. Dafür bedürfte es schon eines besonderen Anreizes. “Du bist hier, weil ich dir einen Handel anbieten möchte.” Der Drache senkte seinen großen Kopf zu Beliar herab, um diesem in die Augen blicken zu können. “Was kannst du mir schon anbieten? Machtlos, wie du bist? So weit ich weiß, hat sich jemand anders deiner Kräfte bemächtigt. Was sollte mich daran hindern, deinen mickrigen Leib in Fetzen zu reißen?”
Mit einer solchen Antwort hatte Beliar gerechnet. So streckte er seine Hand zur Seite, was für Adrian das Zeichen war, ihm einen scharfen Dolch zu reichen. Ohne Umschweife fügte sich Beliar einen tiefen Schnitt in die linke Handfläche zu, worauf einige Blutstropfen austraten. Er wandte dem Drachen die versehrte Handfläche zu, so dass dieser die rasche Heilung beobachten konnte. “Das mit dem Töten haben meine Diener schon versucht. Ich wäre dir sogar dankbar, wenn du meinen Leib vernichten würdest. Dann wäre ich diese elende, irdische Existenz endlich los.” Beliars Stimme verriet nicht die geringste Anspannung. Doch wusste er, dass er sich mit seinem Spott bei diesem Drachen hier zurückhalten musste, wenn er dessen Unterstützung erringen wollte. Drachen waren launisch und leicht zu beleidigen.
Selbstsicher fuhr er fort: “Aber man kann mich nicht vernichten. Außerdem solltest du dich mit deinen Drohungen vorsehen. Ich mag zwar schwach und wehrlos sein, aber meine Diener sind es nicht. Ein kurzer Befehl meinerseits wäre genug, damit dich meine Diener in Fetzen reißen.” Beliar machte eine beiläugige Bewegung mit der Hand, worauf ein höherer Dämon an seiner Seite erschien, um kurz darauf wieder zu verschwinden. “Ich verstehe”, kommentierte der Drache den Vorfall. Dann schwiegen Beliar und der Drache sich einige Zeit an, den Blick in die Augen des Gegenübers gerichtet. Nachdem sie so schweigend miteinander gerungen hatten, wich der Drache dem Blick des Gottes schließlich aus. “Gut, ich kann dich also nicht vernichten. Aber das bedeutet nicht, dass du mir etwas zu bieten hast”, knurrte der Drache. Beliar lächelte sanft. “Dein Volk ist schwach und klein. Sein einstiger Ruhm ist lange vergangen. Die Helden von einst haben eure Horte geplündert und euch beinahe ausgelöscht. Ich kann dies rückgängig machen", Beliars Stimme wurde beinahe zu einem Flüstern, sanft und einschmeichelnd, "wenn du dich mit mir verbündest, werden die Eier der Drachen bald über ganz Myrtana verteilt, und junge Drachen werden in Kürze die Himmel bevölkern. Ich will, dass das Licht meines garstigen Bruders Innos durch die finsteren Schwingen von Drachen verdunkelt werde. Du bist alt, Finkregh. In einigen Jahrhunderten wirst du ohnehin sterben. Du hast den Zenit deiner Macht schon lange überschritten, genauso wie dein ganzes Volk. Ich aber bin der Gott des Todes, der Herr der Unterwelt. Ich bin der, der das Leben beendet und die Seelen der Toten zu sich nimmt”, an dieser Stelle hielt Beliar kurz inne, um die Wirkung der nun folgenden Worte zu erhöhen, “wenn ich das will. In gewissen Fällen aber kann ich auch darauf verzichten.” Der Drache schwankte, Beliar spürte das. “Du bist von deiner Macht abgeschnitten. Auch ohne dich wird immer noch gestorben. Wie willst du dein Versprechen einhalten?” “Ich mag auf meine Kräfte keinen Zugriff haben, aber auch jetzt noch bin ich ein Gott. Es gibt Techniken. Deine eigene Zauberkraft wird ausreichen, vorausgesetzt, dass du dich meines Wissens bedienst.” Der Kopf des Drachens schwebte nun genau vor Beliars Gesicht, seine kalten Augen drückten Gier aus. “Soll das heißen, dass du mir…” “…Unsterblichkeit anbietest? Ja, das tue ich. Verbünde dich mit mir, und wir werden uns diese Welt untertan machen!”
Beliar hatte es geschafft. Dieser Drache war eben doch nur ein sterbliches Wesen, von den selben niederen Instinkten getrieben, wie Beliars menschliche Diener. Er musste diesen Instinkten nur einen Knochen zuwerfen; Furcht, Eitelkeit und Gier der Sterblichen reizen, und schon fraßen sie ihm aus der Hand. Beliar war über die Naivität dieses Drachen beinahe enttäuscht. Beinahe.
“Dann ist es also abgemacht?” Fragte er noch, wohl wissend, dass der Drache seinem Angebot nicht widerstehen konnte. Der Drache bestätigte den Pakt.
Zufrieden mit dem Gelingen seiner Pläne wandte Beliar sich um und strebte seinen Gemächern zu. Sein Tagwerk für heute war getan, nun konnte er sich wieder seiner Musik widmen.
Geändert von Sir Ewek Emelot (16.01.2010 um 00:38 Uhr)
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III.: Gerechter Lohn
“Das werden uns diese elenden Lichtbeter büßen!” Der jüngere Schwarzmagier war offensichtlich über die Nachricht sehr erregt. Beliar war das nur recht. Je größer der Elan seiner Untergebenen, desto leichter konnte er sie manipulieren. Er beobachtete die anderen Anwesenden: Auch diese waren offenbar empört, einige aber auch verunsichert; sie blickten immer wieder in Richtung Beliars, der auf einem großen und unbequemen, dafür aber ziemlich protzigen Marmorthron saß, die Ellenbogen auf die Lehnen gestützt, mit den Händen vor seinem Gesicht ein Dreieck bildend, über das hinweg er seine Priesterschaft musterte. Er hätte natürlich gerne einen gemütlicheren Sessel belegt, aus schönem, warmem Holz und mit weichen Polstern in einem unaufdringlichen, warmen Farbton. Aber dergleichen hätte seine höchsten irdischen Vertreter kaum beeindrucken können. Daher musste er mit diesem Monstrum aus Stein vorlieb nehmen, in das hinein unzählige Ornamente von Dämonenfiguren, hässlichen Fratzen und Totenköpfen getrieben worden waren.
An dem ovalen Tisch hatten sich die Vorsteher aller vier Haupttempel seines Kultes versammelt. Bisher hatte die Kunde von der Inkarnation Beliars die Mauern Irdoraths nicht verlassen, nun jedoch würde Beliar seinen Einfluss auf den Rest seiner Kirche ausdehnen. Am liebsten wäre er unter einem anderen Namen aufgetreten, aber vor seinen Gästen hätte er seine Identität kaum verbergen können, ohne sie völlig von den restlichen Bewohnern Irdoraths zu isolieren. Das aber hätte ihr Misstrauen geweckt. Zudem wären sie ihm ohnehin nicht gefolgt: Ohne beträchtliche Zauberkräfte galt man Nichts in ihren Augen, und solche Kräfte besaß er derzeit ja nicht. Als legitimer Träger des Namens “Beliar” aber war er ihrer Loyalität beinahe sicher. Zumindest so lange, wie er sie mit Ehrungen und Pfründen bei Laune hielt.
In den letzten Monaten hatte die Besetzung der Führungsposten des Tempels von Irdorath eine seit langer Zeit entbehrte Umwälzung erfahren: Der Hohepreister, Zaratom, litt unter einer grausamen Krankheit, die ihn ans Bett fesselte. Da Heilmagie weit unter der Würde von Schwarzmagiern lag, ganz zu schweigen von dem profanen Handwerk der Alchemie, hatte bisher niemand die Ursache oder gar eine Heilung für das Leiden Zaratoms finden können. Der einzige, der eine Genesung hätte bewirken können, war Beliar selbst: Es hätte völlig ausgereicht, dem Hohepriester kein Gift mehr unter das Essen zu mischen. Nur hatte Beliar zu Zaratoms Leidwesen keinerlei Interesse an dessen baldiger Gesundung. Das Gift nämlich stellte Beliar persönlich her, seit er Zugang zu den Laboratorien des Komplexes hatte, und ließ es von seinen Dämonen heimlich in das Essen mengen. Da Zaratom mittlerweile nur noch selten bei Bewusstsein war, hätte er die Nahrungsaufnahme ohnehin nicht mehr verweigern können, es wurde ihm von treu umsorgenden Novizen im besten Willen eingeflößt. Beliar rechnete damit, dass sein ungehorsamer Diener schon in wenigen Tagen verscheiden würde.
Auch Zaratoms Anhänger hatte eine erstaunliche Pechsträne befallen, und das, obwohl sie so hoch in der Gunst des Gottes zu stehen schienen. Baldrion, den Beliar am Tag von Zaratoms Erkrankung mit einem wichtigen Auftrag betraut hatte, war nicht zurückgekehrt, sondern kläglich gescheitert und durch die Anhänger Innos in der Hauptstadt hingerichtet worden. Diese Nachricht war in dem erlauchten Kreis, den Beliar hier um sich versammelt hatte, gerade zur Sprache gekommen und somit der Anlass für die allgemeine Aufregung. Den Agenten, die Baldrion mitgenommen hatte, größtenteils Vertraute Zaratoms, war es ebenso ergangen. Die so frei gewordenen Positionen hatte Beliar bereits im Vorfeld an Andere vergeben, und sich damit ihre Loyalität gesichert. Auch die etablierte Führungsriege, die über Jahrzehnte unter Zaratoms strenger Fuchtel gestanden hatte, profitierte vom plötzlichen Gunstregen, den ihr Gott über sie ausschüttete. Angesichts neuer Privilegien dachte man eben nicht so genau über die Umstände nach, unter denen man dazu gekommen war.
Nun saß die versammelte Führung der Beliarkirche vor ihrem Gott; der typische Altherrenklub, wie Beliar geringschätzig feststellte.
Beliar überließ die Priester noch einen Augenblick ihrer Empörung, bevor er die Arme mit langsamer Geste auf die Lehnen seines Thrones bettete, und das Wort ergriff: “Meine Kinder, beruhigt euch! Schon am ersten Tag ließ der gute Baldrion sich Zweifel an seinem Auftrag anmerken. Wäre sein Glaube stärker gewesen, hätte er die Aufgabe erfüllen können.” Beliar war sich der Lächerlichkeit dieses Argumentes bewusst. Es handelte sich um das typische Totschlagargument religiöser Fundamentalisten. Demnach war es perfekt für sein Publikum geeignet. Während er bisher vor allen Dingen durch Gunstgezeugungen den Gehorsam seiner Priesterschaft erkauft hatte, war es nun an der Zeit, die Peitsche auszupacken, und sei es auch nur zur Warnung. Seine Untergebenen sollten wissen, was jenen widefuhr, die ihn enttäuschten: “Ich hoffe, dass dieser Vorfall recht anschaulich gezeigt hat, was Zweiflern widerfährt”, in spöttischem Tone richtete er sich nun direkt an den Magier, der sich zuvor so erregt hatte: “Im Übrigen sehe keinen Anlass, den Innosanhängern dafür zu zürnen, unsere Reihen von einem Versager befreit zu haben.” Anhand der Gesichter konnte Beliar regelrecht sehen, wie die Botschaft zu den Versammelten durchsickerte. Sie lautete: “Sogar meine Feinde dienen mir mit ihrem Handeln.” Und die Wirkung war wie erhofft: Freude darüber, es sich mit Beliar nicht verscherzt zu haben.
“Nachdem diese Angelegenheit nun also geklärt wäre, können wir mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortfahren. Die Vorbereitung auf den Krieg. Meister Armatrion?” Der genannte erhob sich von seinem Platz. Es handelte sich um einen alten, hageren Magier mit faltigem Gesicht und blasser Haut. Aus seinen Augen sprachen Arglist und Grausamkeit, eine Aura der Macht schien seine Umgebung erkalten zu lassen. Ohne Zweifel hätte dieser Magier den Vorsitz in Irdorath erringen können, wenn es ihm nicht am Gespür für Intrigen gemangelt hätte, durch welches Zaratom sich seinen Einfluss aufgebaut hatte: An magischer Kraft konnte es wohl keiner der Anwesenden mit ihm aufnehmen. Mit knarrender, kalter Stimme begann er zu sprechen: “Wir haben Kunde von der Gesandtschaft erhalten, die wir in den hohen Norden entsandt haben. Die erste Kontaktaufnahme mit den Orks ist geglückt. Die Aussicht auf Eroberungen in Myrtana hat ihre Wirkung auf sie nicht verfehlt. Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.” Damit setzte sich der Magier wieder. “Sehr gut”, kommentierte Beliar den Bericht des Priesters, “Also können wir auf eine militärische Stärke zählen, die der des myrtanischen Königs nahe kommt. Gepaart mit dem Überraschungsmoment wird Myrtana fallen.” Einige der Anwesenden begannen miteinander zu tuscheln. Ein Vertreter des nördlichen Haupttempels ergriff das Wort: “Gepriesen sei Eure Schläue, Gebieter! Doch werden die Orks nicht darauf bestehen, die Vorherrschaft auszuüben? Ich frage mich, ob man ihnen trauen kann?” Beliar nickte dem Sprecher wohlwollend zu: “Du hast Recht, mein Sohn. Die Orks werden ihren Preis verlangen. Doch habe ich auch hierfür schon vorausgeplant. Sobald sie die Heere Innos’ für uns vernichtet haben, werden ihre geschwächten Armeen kaum mehr in der Lage sein, die eroberten Gebiete gegen uns zu halten. Orks und Ungläubige werden einander gegenseitig auslöschen, und schließlich wird nur die Kirche der wahren Gläubigen übrig sein, um mein finsteres Reich zu begründen”, Beliar ließ die Worte wirken, um dann hinzuzufügen: “Unser finsteres Reich, meine Kinder!” Die freudige Erregung bei den Anwesenden war deutlich zu spüren: Ein Verein von Bösewichtern, ein jeder überzeugt von der eigenen Schläue und Unangreifbarkeit. Beliar lächelte in sich hinein, scheinbar wohlwollend auf seine Schäfchen blickend. Wie schade, dass er ihre Gesichter wohl nicht würde sehen können, sobald das wahre Wesen seiner Pläne offenbar werden würde!
Shalfarezehl wartete nun schon seit einigen Stunden in der dunklen Höhle. Da! Endlich hörte er Schritte. Die schweren Schritte eines Orks. Er sah dem Ankömmling entgegen, dessen Federschmuck und langer Stab ihn als Schamanen auszeichneten. “Grüße, Dämon. Was hast du mir mitzuteilen?” Shalfarezehl nickte dem Ork zu. Für dieses Treffen hatte er kein menschliches Äußeres gewählt, sondern die imposante Gestalt eines Minotaurus, die er um ein Paar mächtiger Schwingen erweitert hatte. Seine Augen glühten blutrot in der Finsternis der Höhle. “Ich grüße dich, Klag’Raggasch”, dröhnte seine tiefe Stimme, “du bist hier, um eine Botschaft unseres Herren zu empfangen.” Shalfarezehl hatte bewusst das Wort “unseres” gewählt, um den Ork an das Machtgefüge zu erinnern; Sterbliche konnten zuweilen allzu aufsässig sein. “So sprich!” Antwortete der Schamane. “Der Meister wiegt seine nichtswürdigen, haarlosen Diener in Sicherheit. Ihr Opfer wird dem Volk der Orks den Weg zur Macht ebnen. Sein oberster Diener, der Eisdrache Finkregh, wird den Oberbefehl über die Armeen deines Volkes führen. In wenigen Tagen wird er ankommen. Befolge seine Weisungen, als kämen sie vom Dunklen Vater selbst! Gehab dich wohl, Sterblicher!” Mit diesen Worten ließ Shalfarezehl den Ork stehen, hoffend, dass sein Meister sich mit seinen Intrigen nicht übernahm. Der hatte ja nun immerhin einen menschlichen Körper, und wer wusste schon, wie sehr auch er nun an der Fehlbarkeit der Sterblichen Teil hatte?
Geändert von Sir Ewek Emelot (17.04.2009 um 21:33 Uhr)
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IV.: Zuerst die Kür und dann die Pflicht
Totenstille breitete sich in dem Saal aus. Langsam atmete er ein und aus, sammelte sich für das, was nun kommen würde. Ein letztes Mal lockerte er seine Finger.
Dann begann er zu spielen.
Es war ein neues Instrument, eine Weiterentwicklung des Spinetts; die Klänge waren klarer, wärmer. Ganz nach seinem Geschmack. Man hatte ihm den Namen “Piano” gegeben. Alleine seine äußere Form ließ Beliars Herz höher schlagen: Hinter der Klaviatur, die jenem des Spinetts ähnlich war, erstreckte sich kein klobiger, eckiger Kasten, sondern ein sanft geschwungener, ausladender Hohlkörper, dessen Form an einen Flügel gemahnte. Darin zogen sich die Saiten, die er mit der Klaviatur betätigen konnte.
Beliars Finger begannen, über die Tasten, zu huschen, entlockten dem Klavier spielerische, melodiöse Klänge. Hell und dunkel, langsam und schnell wechselten einander ab. Lustiges Glockenspiel folgte auf leichtfertiges Lachen, heiteres Plätschern auf vergnügtes Summen. Klare Melodien, hintergründige Nebentöne: Gleich einem sprudelnden Bergquell erquickte Beliars Spiel die Gemüter der Anwesenden, lullte sie in perfekte Hamonien, um sie mit dem Hauch kleinster Dissonanzen wieder zu wecken. Beliar ließ sein Publikum lächeln oder trieb ihnen Tränen in die Augen, alles nur mit seiner Musik.
So spielte Beliar seine eigenen Kompositionen, und verzauberte sein andächtig lauschendes Publikum, und auch sich selbst. Beliar versank in seine Klänge, nahm nichts mehr wahr, als das eigene Spiel. Was bedeuteten schon die Menschen um ihn herum? Waren ihr Urteil, ihr Wohlwollen und ihr Applaus wirklich wichtig? Was bedeuete schon die Welt, in der er nun gefangen war, die Konflikte, die er würde bestreiten müssen? Spielte all dies eine Rolle, neben dem glückseligen Gefühl, zu musizieren? Was bedeuteten schon Geweihte und Kirchen und deren mächtige Magie? War seine Musik nicht Magie genug?
Auf das erste Stück folgten zwei weitere. Ein schnelles, aggressives, in dem an einigen Stellen durch zwitschernde Tonfolgen ein erfrischender Kontrast gebildet wurde, und ein langsames, trauriges, dessen schwere Melodie sich zuweilen in erhabene, würdevolle Akkorde auflöste.
Schließlich waren die letzten Töne verklungen, und während Beliar aus der Versenkung des Spiels langsam wieder zu sich kam, bemerkte er die absolute Stille, die sich im Saal ausgebreitet hatte. Er schwitzte. Das einzige, was ihm jemals den Schweiß aus den Poren getrieben hatte, waren seine Konzerte. Es spielte keine Rolle, wie oft er schon in gefüllten Sälen der illustren Gesellschaft vorgespielt hatte; die Nervosität stellte sich doch immer wieder ein. Beim Spielen verausgabte sich Beliar völlig, tauchte vollständig in seine Musik ein, die sein Herz mehr erfreute, als alles andere auf dieser Welt.
Auch jetzt atmete er schwer, als wäre er gerannt, und ließ seine Finger leicht über die Tasten gleiten, ohne sie zu betätigen.
Dann brandete der Applaus auf.
Beliar erhob sich und wandte sich mit befreitem Lächeln dem Publikum zu, verbeugte sich tief und schwelgte im Glück.
“Geheimrat Liareb?” Beliar wandte sich dem Mann zu, der ihn angesprochen hatte. Ein weiterer Verehrer seiner Kunst, dem es nach der Signatur des Maestro gelüstete? “Ja, der bin ich. Womit kann ich helfen?” Fragte Beliar freundlich. Der Mann zückte einen versiegelten Umschlag. “Dies wurde für Euch abgegeben.” Dankend nahm Beliar den Brief entgegen und entfernte sich etwas von den feiernden Persönlichkeiten, die den großen Pianisten hochleben ließen. Er brach das Siegel und erkannte schon an der Handschrift den Urheber. Es ging um ein Treffen, noch heute Abend, am üblichen Treffpunkt. Gut. Das Treffen war wichtiger, als der Ausklang seines Konzerts. Also zog sich Beliar unauffällig zurück, um diesen Termin wahrzunehmen.
“Ein kühles Helles, wohl bekommt’s!” Die dralle Magd knallte ihm den Humpen vor die Nase und verschwand wieder im Getümmel der Gäste. Beliar hatte es sich in einer der hinteren Ecken der Schänke gemütlich gemacht, und freute sich nun auf das gute Bier. Er mochte Bier, ebenso wie dralle Mägde, von denen es ihm gewöhnlich serviert wurde. Man könnte wohl meinen, dass die eine Vorliebe die andere bedinge; das war aber nicht der Fall.
Als er das erste Mal eine Frau gesehen hatte, hatte er sich zunächst darüber gewundert, zu welch sonderbarem Gebaren sein Leib im Stande war. Dann hatte er sich in seiner Geringschätzung der Beliarkirche zusätzlich bestätigt gefühlt: Wie unglaublich blöd mussten diese Spinner sein, dass sie ausschließlich Männer in ihre Reihen aufnahmen? Doch mittlerweile brauchte ihn dies nicht mehr zu kümmern: Der Beliarkult war am Ende.
Es war ein ganzes Stück Arbeit gewesen, doch schließlich waren Beliars Pläne aufgegangen. Er hatte zunächst die direkte Kontrolle über sämtliche Gemeinden seiner Kirche übernommen. Dann hatte er die Gläubigen dazu angestachelt, alle ihre Kräfte zu mobilisieren. Schließlich hatten diese sich als überaus begierig erwiesen, einem der größten militärischen Fiaskos der Geschichte den Weg zu ebnen: Zuerst hatte er seine orkischen Diener unnötig lange warten lassen, so dass im Kampf gegen die Paladine Innos’ zwei der vier Haupttempel Beliars vernichtet worden waren. Nur unter Aufwendung größter Mühen war es dem kümmerlichen Rest, der überlebt hatte, geglückt, die beiden anderen Tempel, darunter auch Beliars Lieblingsfelsbrocken Irdorath, mit Hilfe von Magie vor den Innosanhängern zu verbergen. Natürlich war der Beliarglaube nicht völlig verschwunden. Religionen sind nur schwierig auszumerzen, unabhängig von den Plänen ihrer Götter. Doch Beliar war vorerst mit sich zufrieden, hatte er seinen Gläubigen doch auf recht unmissverständliche Weise seine Unzufriedenheit mit ihnen vor Augen geführt. Außerdem konnte ihm dieser Kult ohnehin nicht nutzen: Ob man nun zu ihm betete oder nicht, seine Arbeit im Weltgefüge hätte er so oder so zu verrichten. Beliar indes hatte das Chaos während des Untergangs seiner Kirche dazu genutzt, sich abzusetzen.
Nach der Niederlage der menschlichen Beliargläubigen hatten die Orks ihre Chance ergreifen wollen. Doch die myrtanische Armee hatte sich als nicht hinreichend geschwächt erwiesen. Somit war auch der Orkkrieg zugunsten Myrtanas verlaufen, ganz so, wie Beliar geplant hatte.
Seither hatte er sich unter die Menschen Myrtanas gemischt. Es war ein leichtes für ihn gewesen, sich ein bescheidenes Vermögen zu erarbeiten - immerhin war er ein leibhaftiger Gott - so dass er einige Jahre angenehmer Lebensführung hatte verbringen können.
Seine göttliche Arbeit aber war nun das Einzige, was ihm derzeit Sorgen bereitete. Zwar war das Weltgefüge nicht so labil, dass es nicht auch eine Zeit lang ohne ihn auskommen könnte, doch ein Dauerzustand konnte Beliars Besuch in der Sphäre der Sterblichen nicht sein. Zudem verspürte er nicht gerade die Lust dazu, auf ewig auf Erden zu wandeln. Eine Zeit lang mochte dieser wabbelige Menschenleib noch recht amüsant sein, doch die Sterblichkeit der Menschenleiber hatte durchaus einen Sinn. Beliars Unsterblichkeit aber war unnatürlich, und würde seinem Gemüt auf Dauer nicht gut tun. Beliar hatte darüber nachgedacht, wem er seinen aktuellen Zustand zu verdanken hatte. Wer, so hatte er sich gefragt, hätte sowohl das Interesse als auch die Macht, auf diese Weise über seine Essenz zu verfügen? Seine beiden Brüder, Innos und Adanos, konnte er getrost ausschließen. Die hatten auch so genug zu tun, als dass sie sich auch noch Beliars Aufgaben hätten aufbürden wollen. Ein gewöhnlicher Magier hätte in seinen allzu anthropomorphen Vorstellungen zwar danach trachten können, Beliars Platz einzunehmen, doch hätte er kaum die Macht dazu besessen. Also musste es sich um ein Wesen handeln, das sich zwischen den Sphären der Götter und der Sphäre der Sterblichen bewegte. Beliar hatte schon eine Ahnung, wer dies sein könnte.
Und so war es nun an der Zeit, dass er sich endlich um das Wesentliche kümmerte.
Zunächst aber musste er sich für sein Vorhaben der göttlichen Hilfe seiner Brüder versichern. Entgegen allgemeiner Vorstellungen vertrugen sich die drei Götter recht gut. Zumindest hätten sie dies getan, wenn sie überhaupt drei unterschiedliche Personen gewesen wären. Im Grunde aber waren sie nichts anderes, als Allegorien, Personifizierungen der einander ergänzenden kosmischen Prinzipien. Demnach waren sie in ihrem Wesen praktisch Eins. Wenn aber eines dieser Prinzipien fortan einem Individuum zur Verfügung stehen würde, so könnte dies einen nicht ungefährlichen Riss im Weltgefüge zur Folge haben. Daher hatte Beliar allen Grund, auf seine Exkarnation hinzuarbeiten.
Während Beliar einen genussvollen Schluck aus seinem Bierkrug nahm, registrierte er plötzlich aus dem Augenwinkel einen Schatten: Jemand war an seinen Tisch herangetreten.
“Guten Abend, der Herr Geheimrat”, feixte Shalfarezehl und setzte sich Beliar gegenüber. “Guten Abend, oh ominöser Briefeschreiber”, antwortete Beliar, “wie geht’s denn so? Ich nehme an, dass du mit der Bestätigung kommst?” Shalfarezehl nickte. “Natürlich. Die Reihen der Novizen im Innoskloster haben sich gelichtet. Einer von ihnen musste das Kloster verlassen, um die Stellung des verstorbenen älteren Bruders einzunehmen: Er wird als neuer Erbe das Familienunternehmen führen. Sein Name ist Fernando. Ein anderer ist kürzlich an einer Grippe gestorben. Sein Name war Julio. Vermutlich wird sich so bald keine bessere Gelegenheit bieten.”
Beliar schlürfte weiter an seinem Bier und ließ seine Gedanken schweifen. Er bedauerte es, seinen neu gewonnenen, weltlichen Ruhm aufzugeben. Doch es musste eben sein. “Shalfe, du hast Recht! Sorge bitte dafür, dass meine Ersparnisse nach Khorinis gebracht werden. Ich werde meine Zelte hier unverzüglichen abbrechen. Wir treffen uns dann dort.” Shalfarezehl nickte, erfreut darüber, dass Beliars Menschlichkeit ihm den Sinn für das Wesentliche nicht verstellte. Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich von seinem Platz und verließ den Schankraum.
“Du darfst nicht weiter! Dies ist heiliger Boden.” Der Pförtner knurrte mürrisch; vermutlich hatte er einen besonders schlechten Tag gehabt. Beliar ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. “Ich grüße dich, Hüter der Pforte. Ich bin hier, um mein Leben in den Dienst Innos’ zu stellen. Ich habe ein Schaf und hundert Goldstücke dabei.” Diese Eröffnung schien ihm den Pförtner schon wesentlich gewogener zu stimmen. “Tatsächlich? Nun, das trifft sich gut. Wir haben kürzlich einige Novizen verloren und können neuen Zulauf gut gebrauchen. Bist du dir wirklich sicher, dass dein Leben Innos geweiht sein soll? Und unter welchem Namen soll ich dich dem Novizenmeister vorstellen?”
“Ich bin mir absolut sicher, dass ich in das Kloster eintreten möchte”, antwortete Beliar. Lange hatte er darüber nachgedacht, unter welchem Namen er in die Geschichte eingehen wollte. Schließlich hatte er eine Entscheidung gefällt.
“Mein Name ist Xardas.”
Geändert von Sir Ewek Emelot (01.10.2012 um 00:53 Uhr)
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V.: ...fällt selbst hinein.
Pyrokar hätte zwar toben können, doch wäre dies seinen Plänen kaum dienlich gewesen. Dieser verdammte Xardas! Immer wieder drängte er sich vor und stach ihn, Pyrokar, aus. Dabei war sein Weg doch von Geburt an vorgezeichnet: Schon sein Name, Pyrokar, deutete an, welchen Lebensweg seine Eltern für ihn bestimmt hatten. Und er war eine Mahnung: “Wenn du etwas erreichen willst, dann werde Feuermagier; von uns brauchst du nichts zu erwarten.” Pyrokar seufzte. Er hatte es schon immer als eine Last empfunden, der vierte und jüngste Sohn seiner Eltern zu sein. Stets hatten seine älteren Brüder ihn gehänselt und seine körperliche Unterlegenheit ausgenutzt. Dann, mit 14 Jahren, hatten ihn seine Eltern ins Kloster nach Khorinis geschickt, praktisch an das andere Ende der Welt. Seither sah er seine Familie so gut wie gar nicht mehr. Es hätte wohl auch noch andere Klöster gegeben, auch eines in der Nähe der Ländereien seiner Familie, aber das Kloster von Khorinis hatte schon immer die führenden Theologen und mächtigsten Magier der Innoskirche hervorgebracht und galt daher als bester Garant für eine steile Karriere im Klerus. Mittlerweile war es natürlich völlig egal, ob Pyrokar nun der älteste oder der jüngste Sohn war, denn der Einritt in das Kloster war unumkehrbar. Lediglich Fernando, bis vor ein paar Jahren in einer ähnlichen Position wie Pyrokar, hatte aus dem Kloster austreten können, um die Führung des Familienunternehmens anzutreten. Aber Fernandos Familie handelte ja auch mit magischem Erz, und dessen Bedeutung für den König war so groß, dass man in Fernandos Fall eine Ausnahme gemacht hatte.
Im Grunde war dies Pyrokar recht gewesen. Zwar hatte es Fernando immer an Glauben mangeln lassen, aber der Einfluss seiner Familie hatte ihn für Pyrokar zu einem Konkurrenten gemacht, mit dem er sich nun nicht mehr zu befassen brauchte. Stattdessen war Fernando kurz darauf von diesem Xardas ersetzt worden. Obwohl der scheinbar keinerlei Vergangenheit besaß und ein völlig unbeschriebenes Blatt war, hatte er sich rasch die Gunst der Feuermagier erarbeitet. Erst kürzlich hatte er ein neues Gebet in Liedform verfasst, “Ode an die Flamme”, gleich mit passender Komposition zur musikalischen Untermalung. Die Magier waren begeistert gewesen: “Solch erhabene, würdevolle und doch fröhliche Klänge!” Am liebsten hätte Xardas das Manuskript von “Ode an die Flamme” in eben jener zu Asche verbrannt! Das schlimmste aber war, dass Xardas in allen Dingen, selbst bei seinen klügsten, theologischen Aussagen, weder sich selbst noch die Umgebung jemals wirklich ernst zu nehmen schien. Stets lag ein gewisser Schalk in Xardas’ Augen, was aber nur Pyrokar zu bemerken schien. Für alle anderen war Xardas der neue Musternovize, stets gut gelaunt und freundlich. Pyokar aber glaubte nicht, dass Xardas von echter Ehrfurcht vor den Göttern erfüllt war.
Pyrokar betrachtete die neuen Zauberspruchrollen, die er zusammen mit Xardas sorgfältig in Folianten zu ordnen hatte. Magie! Sie war das einzige, worin sich Xardas bisher noch nicht hervorgetan hatte. Es hatte ihn noch niemand eine Spruchrolle benutzen sehen. Pyrokars geistige Kraft hingegen war für einen Novizen schon sehr stark. Das könnte Xardas Schwäche sein, dachte Pyrokar; ohne Zauberkraft konnte man schließlich schwerlich Feuermagier werden.
Beliar alias Xardas schielte zu Pyrokar herüber, während er einen ganzen Stapel Feuerpfeilspruchrollen in den entsprechenden Folianten ordnete. Er konnte sich vorstellen, was dem Novizen gerade durch den Kopf ging: Vermutlich dachte dieser gerade, dass er, Beliar, sich noch niemals irgendeiner Magie bedient hatte, und überlegte, ob ihm dies bei seinem Aufstieg in den Klerus behilflich sein könnte. Beliar musste lächeln. Einer der Gründe für ihn, in das Kloster einzutreten, hatte darin bestanden, dass er seine bisherige Achillesferse hatte wettmachen wollen.
Der Grund für die Prosperität des Klosters von Khorinis lag zu einem großen Teil an seiner Lage. Die Magier und Priester von einst hatten die einmalige Konstellation magischer Kraftlinien erkannt und ausgenutzt. Das Kloster lag etwa in der Mitte zwischen drei Knotenpunkten magischer Energie, die allesamt durch Steinkreise markiert waren. Das Kloster selber, bzw. der Ort, an dem es errichtet war, bündelte die magische Kraft dieser drei Punkte und stellte eine der Verbindungsstellen zwischen Dies- und Jenseits dar; einen der Orte, von dem aus sich die magische Kraft in die Sphäre der Sterblichen ergoss. Beliar hatte sich die Besonderheit dieses Ortes zu Nutze gemacht, um mit seinen göttlichen Geschwistern Kontakt aufzunehmen, auf dass diese ihn stärkten und seine geistige Kraft mehrten. In der Tat waren weder sein Körper, noch sein allzu menschlicher Verstand in der Lage gewesen, übermäßig hohe Mengen an magischer Energie zu speichern, doch an die Macht eines herkömmlichen Magiers reichte er nun mit Leichtigkeit heran. Demnach stand Beliars weiterem Aufstieg im Innosorden nichts mehr im Wege. Auch dieser eifersüchtige Novize Pyrokar stellte keinesfalls ein Problem dar; im Gegenteil. Beliar gedachte dessen Aufstieg in höchste Würden nicht nur zuzulassen, sonders ihn nötigenfalls sogar zusätzlich zu unterstützen; Pyrokar, dessen war Beliar sich bewusst, gehörte zu den größeren magischen Talenten seiner Zeit, und würde in Zukunft noch eine tragende Rolle in Beliars Plänen spielen.
Mit flinken Fingern legte sich Beliar einige weitere Rollen zu geordneten Stapeln zurecht, um auch diese schnell auf die richtigen Folianten verteilen zu können.
“Ich habe kürzlich in der Bibliothek ein Buch über Fokussteine gelesen. Faszinierende Thematik. Ich war ziemlich verwundert darüber, dass wir überhaupt Literatur zu diesem Thema da haben.” Beliar sprach im Plaudertone, als rede er über das Wetter. Pyrokar blickte auf. “Fokussteine?” Beliar nickte. “Die Beschaffenheit bestimmter Arten von Kristallen ermöglicht diesen die Speicherung großer Mengen magischer Kraft. Diese wird in diesen Kristallen zu einfachen, aber beständigen Mustern geformt. Allerdings kann schon ein mittelmäßiger Magier diese Muster leicht beeinflussen und somit Zauber beträchtlicher Macht wirken.” Beliar beobachtete Pyrokars Reaktion aus den Augenwinkeln. Dieser war augenscheinlich ziemlich interessiert. Hervorragend! Es wurde Zeit, dass die alte Fokusmagie eine Renaissance erlebte. Aber nicht Beliar würde derjenige sein, der sich hierdurch hervortun würde. Diese Ehre bliebe dem jungen Novizen Pyrokar vorbehalten, dessen Forschungen bald schon das Antlitz der Welt verändern sollten.
Armatrion blickte zu dem Novizen auf, der es gewagt hatte, seine Ruhe zu stören. Kalter Zorn blitzte in seinen Augen und ließ den Novizen erzittern. “Ver…verzeiht Ge..ge..gebieter”, der Novize schluckte und versuchte sich zu sammeln, “a…aber Eure Anwesenheit wird dringend benötigt. Es ist…” Weiter kam der Novize nicht. Armatrions kalte Stimme schnitt ihm das Wort ab: “Schweig, Narr! Ich weiß sehr wohl was du mir sagen willst. Glaubst du etwa, in diesen Halle geschähe etwas ohne mein Wissen? Ah, einerlei! Verschwinde und kündige mein Kommen an!” Erleichtert, mit dem Leben davongekommen zu sein, verließ der Novize, sich immer wieder verbeugend, im rückwärts Gehen den Raum, dessen Dunkelheit nur durch einige Kerzen erhellt wurde, welche die Spitzen des Pentagramms markierten, in dessen Mitte Armatrion noch immer kniete. Tagelang hatte er meditiert und nichts anderes zu sich genommen, als die reine magische Kraft, die das gesamte Weltgefüge durchfloss. Langsam erhob sich Armatrion und bewegte seinen alten, hageren Körper Richtung Ausgang. Mit einem Fingerschnippen löschte er die Kerzen und gab den Raum somit völlig der Dunkelheit preis. Ihm war es gleichgültig, er brauchte kein Licht, um sich hier zurecht zu finden.
So war er also gekommen, der Drache. Seit dem Fiasko, in dem die Hälfte der Haupttempel Beliars zerstört worden waren, hatte Armatrion alle Hände voll damit zu tun gehabt, die auseinander bröckelnde Gemeinschaft des dunklen Gottes zusammenzuhalten. Die Gemeinde auf Irdorath hatte sich im Wesentlichen von der Außenwelt abgeschottet. Das plötzliche Verschwinden des Menschgewordenen war noch der größte Rückschlag gewesen. Armatrion ließ das Gefühl nicht los, dass Beliar den beinahe vollständigen Untergang seiner Kirche gewollt hatte. Doch schlussfolgerte er daraus nicht etwa, dass man sich einem neuen Herrn zuwenden sollte, sondern vielmehr bestärkte dies Armatrion in seinem Glauben, dass die Beliarkirche nicht aktiv genug gewesen sei. Zu lange hatten die Schwarzmagier durch ihre Intrigen gegeneinander die Gemeinschaft der Gläubigen geschwächt und gelähmt. Beliar, davon war Armatrion überzeugt, hatte nichts anderes erreichen wollen, als seinen Gläubigen deren Torheit vor Augen zu führen.
Doch Armatrion wusste, dass die meisten Gläubigen dieses Vorgehen nicht verstanden hätten. Daher lautete die offizielle Version nun, dass der leibhaftige Beliar ein Hochstapler gewesen sei. Auf diese Weise fühlten sich die Gläubigen in ihrem Rachedurst gestärkt und waren entschlossener denn je. Und nun führte Armatrion das Zepter, mit eiserner und, davon war er überzeugt, beliargefälliger Hand. Die Zeiten sinnloser Intrigen waren vorbei: Jeder, der sich Armatrion widersetzte, wurde kurzerhand vernichtet.
Der Drache erwartete den Magier in der üblichen Felsenhalle, doch diesmal war es Nacht, und anstatt der Sonne malte nun das kalte Licht des Mondes helle Tupfer auf den Höhlenboden und ließ die weißen Schuppen des Drachen kalt schimmern. Der Gott hatte sein Wort gehalten und Finkregh das Wissen um uralte Magie mitgeteilt. Mit diesem Wissen hatten er und seine Geschwister Unverwundbarkeit erlangt. Unsterblichkeit! Doch nun brauchten sie den dunklen Gott nicht mehr.
Schon lange war sich Finkregh der Unterstützung eines anderen Wesens gewiss, einer Macht, die ihn gegen den dunklen Gott feien würde. Letztlich waren ihm Götter und Dämonen gleichgültig. Er hatte bekommen, was er brauchte, von beiden Seiten, um seine eigenen Ziele zu erreichen: Er würde ein neues Zeitalter der Drachen einleiten.
Beliar hatte sich planmäßig von seinen Gläubigen getrennt. Finkregh hatte von Beginn an vermutet, dass der dunkle Gott an einem Sieg kein echtes Interesse hätte, sondern vielmehr auf eine Herrschaft der Orks hingearbeitet hatte. Hieß es nicht, dass Beliar das Tier erwählt habe? Aber Finkregh hatte ihm nicht den Gefallen getan, die Orks zu einem Sieg zu führen. Nun war Beliar verschwunden. Finkregh hätte dessen Aufenthaltsort zu gerne gekannt, um ihn auf Dauer aus diesem Spiel auszuschließen; da er ja nun unbesiegbar war, konnten ihm auch Beliars Dämonen nichts mehr anhaben. Doch letztlich war der mickrige Gott keine Gefahr mehr: Seine menschlichen Gläubigen hatte er freiwillig verlassen. Bei Orks und Drachen aber würde er die erhoffte Zuflucht nicht finden. Finkregh selber würde im Namen des Gottes herrschen.
Endlich, der Magier! Er hatte sich wirklich Zeit gelassen. Armatrion bewegte sich mit langen, kraftvollen Schritten, die man seinem ausgezehrten Körper kaum zugetraut hätte, auf den Drachen zu, den Rücken gerade und das Haupt hoch erhoben. Der Menschenzauberer hatte keine Furcht vor ihm, stellte Finkregh leicht verärgert fest. “Ich grüße dich, Magier.” Armatrion winkte unwillig ab, Umgangsformen kümmerten ihn nicht. “Was willst du, Drache? Deine Orks haben uns schon einmal im Stich gelassen, nur um danach ebenso kläglich zu versagen, wie wir. Glaubst du wirklich, dass wir uns noch einmal auf eine solche Allianz einlassen?” Finkregh ließ ein tiefes, knurrendes Lachen ertönen. “Die Orks haben nicht versagt. Ihre Niederlage war erforderlich, um ihnen die Notwendigkeit einer Allianz vor Augen zu führen. Ebenso wie eure Niederlage notwendig war. Diese Ereignisse haben gezeigt, dass die elende Brut der Anhänger Innos’ und Adanos’ nur durch ein echtes Bündnis besiegt werden kann. Sie haben gezeigt, wie abhängig meine Orks und deine Kultisten voneinander sind.”
Es breitete sich Stille in dem Felsendom aus; Armatrion dachte über die Worte des Drachen nach. Dann brach er das Schweigen: “Wo ist Beliar?” Der Drache knurrte amüsiert: “An einem sicheren Ort. Ich erhalte meine Befehle allesamt direkt vom dunklen Gott.” Das war natürlich eine Lüge, doch niemand könnte sie aufdecken. “Irdorath wird eine neue Heimat für Beliars auserwähltes Volk sein”, fuhr Finkregh fort, “Meine Geschwister werden mit ihren Leibdienern hier einkehren. Beliar erwartet, dass ihnen alle Ehren zuteil werden.” Finkregh sah, dass dem Magier diese Entwicklung nicht gefiel. Doch was kümmerte ihn das? Im Grunde brauchte er Armatrions Hilfe oder die dieser Menschlein nicht. Notfalls würde er ihren geliebten Tempel zermalmen.
Der Magier starrte dem Eisdrachen in die kalten Augen. Dann gab er nach: “Wir werden den Anweisungen des dunklen Gottes folgen.”
Ausgezeichnet! Das ersparte Finkregh einigen Ärger.
Geändert von Sir Ewek Emelot (14.09.2010 um 19:22 Uhr)
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VI.: Kochendes Eis
Die schneebedeckten Berggipfel schienen langsam unter ihm hinweg zu gleiten; eine Illusion, hervorgerufen durch die gewaltige Entfernung und die Eintönigkeit dieser weißen Landschaft. In Wahrheit schoss er dahin, von seinen mächtigen Schwingen getragen. Bald schon würde er sein Ziel erreichen.
Da: Ein besonders hoher Gipfel, der weit über die anderen emporragte und rasch größer wurde. Finkregh legte seine Flügel leicht gegen den Wind, um seine Geschwindigkeit zu drosseln. Er steuerte einen bestimmten Punkt in der Bergflanke an, der aus dieser Entfernung auch für die scharfen Augen des Drachen nur als etwas dunklerer Farbtupfer im weißen Schneekleid des Berges auszumachen war.
Als er näher kam, konnte Finkregh die Öffnung der gewaltigen Höhle erkennen. Abermals verringerte er seine Geschwindigkeit, und tauchte in die Schatten der Höhle ein. Sein Leib glitt weiter anmutig dahin, durch eine bizarre Landschaft aus Eis und Kristall. Die Höhle war in ein fahles, blaues Zwielicht getaucht, das durch die milchigen Decken und Wände sickerte, die Finkreghs Gestalt verzerrt und gebrochen reflektierten. Schließlich hatte er das Ende der Höhle erreicht und setzte anmutig auf dem Boden auf.
Finkreghs Herz begann schneller zu schlagen, und stieß heiße Wellen reiner, magischer Kraft aus, die seinen Körper bis in die Schwanzspitze durchdrangen. Der sonst so kalte Blick des Drachen wurde warm und weich. Es war, wie immer, ein berauschendes Gefühl, hier zu sein, seine Präsenz zu spüren.
Langsam näherte sich der Drache einer gewaltigen geisterhaften Gestalt, die leblos und bleich aus Eis und Schnee emporragte: Der Körper eines gewaltigen Drachen. Nicht irgendeines Drachen, sondern seines, Finkreghs, Vaters.
Finkregh beugte ehrfurchtsvoll sein Haupt.
Seit Jahrtausenden schon lag der Kadaver in dieser Höhle. Einst war Finkreghs Vater ein Fürst gewesen, ein Herrscher, sowohl über Drachen als auch über jene Kleinwesen, die mittlerweile in Massen die Welt bevölkerten. Jahrtausende lang hatte er die Geschicke der Welt gelenkt. Doch schließlich hatten sie aufbegehrt, diese mickrigen kleinen Völker, die so schwach wie kurzlebig waren; Menschen, Orks und wie sie alle hießen. Ein mächtiger Magier der Menschen schließlich hatte den alten Drachen herausgefordert. Der Kampf war hart und lang gewesen, doch am Ende hatte der Drache obsiegt. Doch die Wunden, die er davongetragen hatte, waren tief gewesen, und so hatte er sich hierher zurückgezogen, in das ewige Eis des Daches der Welt. Hier war sein Leib den Wunden erlegen und verendet.
Doch nicht alles Leben war aus dem erstarrten, von der Kälte des Eises konservierten Körper gewichen. In seiner Brust schlug noch das kalte, eisige Herz des Eisdrachen, erfüllt von dem uralten Geist, der sich an seine irdische Existenz klammerte. Dieses Herz, seines Vaters Seelenstein und Quelle von dessen magischer Kraft, war der Grund für Finkreghs Anwesenheit.
Seit Jahrtausenden sprach der alte Drache zu Finkregh, flüsterte in dessen Gedanken. Mit Finkregh teilte er Leid und Furcht, die Furcht vor dem Tod. Aber auch Zorn und Hass; den Trotz eines Wesens, dessen Überlebenswille den Tod nicht hatte hinnehmen wollen. Er teilte seinen Durst nach Rache und seinen Groll auf die Welt und das Schicksal, das unwürdige Menschlein ihm, einem nahezu gottgleichen Wesen, vorgezogen hatte. Doch er teilte auch die Erfahrung und Weisheit zehntausender Jahre, die er erlebt hatte, und die warme, sorgende Liebe eines Vaters.
Finkregh nahm all dies in sich auf, saugte begierig alle Eindrücke in sich hinein, die ihm der Geist seines Vaters übermittelte. Wenn es überhaupt etwas gab, dem er sich untergeordnet, dessen Herrschaft er akzeptiert hätte, dann wäre es jener kalte, weiße Kristall gewesen, sowie das Bewusstsein, das dieser barg.
Langsam atmete Finkregh ein und aus, und sein Herzschlag verlangsamte sich, passte sich dem seines Vaters an, bis beide Herzen im Einklang pulsierten, als gehörten sie nur einem Wesen.
“Mein Sohn, mein geliebter Freund, mein Hoffnungsschimmer”, flüsterte es in Finkreghs Geist, und er erschauerte, doch nicht vor Furcht oder Unbehagen, sondern vor wohliger Erregung, “so lange schon haben wir auf diesen Moment gewartet. Unser Schicksal ist zum Greifen nahe; endlich! Doch du irrst, wenn du glaubst, dass der dunkle Gott schon besiegt sei. Bisher verlief alles genau nach seinen Plänen.” Finkregh erschrak. Hatte er etwas übersehen, einen Fehler begangen? Doch die Gedanken seines Vaters beruhigten sein Gemüt: “Hab keine Angst, mein Sohn! Der Gott soll seine Pläne ruhig entfalten. Lass ihn die Arbeit nur verrichten. Und hat er den Preis erst einmal freigelegt, werden wir uns seiner an Beliars Statt bemächtigen.”
Der Geist des alten Drachen erklärte Finkregh, was zu tun sei.
Reine Freude erfüllte Finkreghs Herz, brachte sein kaltes Blut zum kochen.
Endlich würde der Fehler von einst behoben, das Schicksal neu geschmiedet. Die Welt, wie sie war, würde endlich untergehen und der Welt, wie sein sollte, weichen.
Als Finkregh den Ausgang der Höhle erreicht hatte, brach sich seine Freude Bahn, und ihm entwich ein gewaltiger, markerschütternder Schrei. Leidenschaft und Übermut ergriffen von ihm Besitz, und erneut brüllte er sein Glück in Welt. Verzückt beobachtete er, wie sich gewaltige Schneemassen, bewegt durch den Schall seines Schreis, von den Bergflanken lösten und gen Erde tosten: Ein berauschendes Schauspiel der Natur. Über den tosenden, eisigen Massen nahm er die kleine Gestalt eines einzelnen Vogels wahr, der anmutig dahin glitt, und schließlich seinem Blickfeld entschwand.
Geändert von Sir Ewek Emelot (14.09.2010 um 19:30 Uhr)
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VII.: Nützliche Verbindungen
“Meister Xardas, setzt euch doch zu mir!”, der alte Paladin winkte ihm strahlend zu, als er den Raum betrat, und zeigte auf den Platz neben sich. Beliar erwiderte das Lächeln ebenso strahlend, steuerte den angebotenen Platz an, und ließ sich drauf nieder. “Lord Ronegas, einen schönen guten Abend wünsche ich euch.” Beliar strich seine rote, mit Flammenmustern bestickte Robe glatt und schlug die Beine übereinander.
Seit einem Jahr trug er diese Robe nun schon, ein Zeichen dafür, dass man ihn in den Kreis des Feuers aufgenommen hatte. Er hatte die Position eines älteren Magiers namens Ulthar eingenommen, des ehemaligen Verwalters des Klosters von Khorinis, als dieser in den Rat der Hohen Magier erhoben worden war. Ulthar war immer ein höchst umgänglicher Charakter gewesen, der ein sehr gutes und entspanntes Verhältnis zu den Novizen unterhalten hatte. Auf Khorinis war dies eine Tradition für diesen Posten. “Wer viel arbeitet, der muss auch gut essen”; dies war das Motto des Verwalters gewesen, und Beliar gedachte, dieser Tradition treu zu bleiben.
Derzeit aber weilte Beliar nicht im khoriner Kloster, sondern in Vengard, der Hauptstadt des Reiches. Genauer gesagt: Im Palast des Hochgeweihten der Stadt, der sich direkt gegenüber der großen Innoskathedrale befand. Angesichts einer erneuten Invasion durch orkische Aggressoren, sah sich der König mit einem zunehmenden Maß an Kriegskosten konfrontiert, das er durch höhere Steuern auszugleichen suchte. Da aber das gemeine Volk ohnehin schon unter hohen Abgaben litt, war der König auf die Idee gekommen, das Vermögen der Kirche zu besteuern. Als Verwalter des Klosters von Khorinis war Beliar also in die Hauptstadt geschickt worden, um sein Kloster zu vertreten und über die gegebenenfalls zu leistenden Abgaben zu verhandeln. So wie es derzeit aussah, würden die Pläne des Königs aber wohl ohnehin scheitern, denn die anderen Vertreter der Kirche hatten sich wenig begeistert gezeigt, und nicht einmal der König konnte einen Beschluss gegen den einhelligen Willen des Klerus fassen.
“Wie geht es eurem Rücken?”, fragte Beliar seinen Sitznachbarn. Der Paladin verzog das Gesicht und brummte mürrisch: “Ach, diese Mediziner und Alchemisten sind doch alle unfähige Quacksalber. Aber erzählt doch lieber noch von eurem schönen Khorinis, bevor die Konferenz anfängt.” Beliars Lächeln wurde noch etwas breiter. Dieser Recke war wirklich eine liebenswürdige Seele. Seit Beliar in der Hauptstadt angekommen war, hatte er sich mit dem alternden Lord angefreundet, der einer der führenden Berater des Königs, Generalvikar des Paladinordens und der Lord-Kämmerer des Reiches war. Im Grunde machte ihn dies zum Gegenspieler Beliars, denn der Lord sollte gerade jene Maßnahmen durchsetzen, die Beliar eigentlich im Interesse seines Klosters zu verhindern, oder zumindest zu mildern hatte. Doch der Paladin hatte einen Narren an Beliar gefressen, und konnte dessen lebhaft erzählten Geschichten stundenlang lauschen.
“Erzählte ich euch schon vom vergeblichen Versuch des Meisterdiebes Trebio Larioza, in unser schönes Kloster einzudringen, um unsere Klosterschätze zu plündern? Eine wahrhaft amüsante Begebenheit.” Lord Ronegas war auf Anhieb begeistert und hing geradezu an Beliars Lippen, während dieser vom Geschick des glücklosen Diebes berichtete, der die hohen Klostermauern nicht hatte überwinden können.
Nach und nach füllte sich der Raum mit Magiern und Beamten des Reiches. Als schließlich alle Konferenzteilnehmer anwesend waren, hielt Beliar in seinen Ausführungen inne. Lord Ronegas machte ein unwilliges Gesicht, doch schließlich seufzte er. “Es scheint, dass wir uns nun der Pflicht zuwenden müssen, mein junger Freund”, raunte er Beliar zu, bevor er sich ächzend von seinem Stuhl erhob. Der Lord räusperte sich einige Male, bis das Gemurmel unter den Anwesenden langsam verebbte. Dann erklärte er die Sitzung für eröffnet.
Beliar machte sich auf einige Stunden langweiliger, harter Verhandlungen gefasst, die wohl bis in die späte Nacht andauern würden.
In schwarze, eng anliegende Kleidung gehüllt, kauerte Girret in den Schatten zwischen den hohen Säulen am Eingang der Innoskathedrale. Zu dieser späten Stunde war niemand mehr in dieser Gegend unterwegs. In den braven Bürgervierteln der Stadt war es nun ruhig, und einzig im verruchten Hafenviertel gingen die Leute noch ihren zweifelhaften Geschäften nach oder amüsierten sich in den Spelunken und Bordellen der Stadt. Girret beobachtete den Palast des Hochgeweihten von Vengard, des obersten Seelsorgers der Stadt, in dem nach und nach alle Lichter gelöscht wurden. Nur einige Fenster im dritten Stock waren noch hell erleuchtet; dort fände die heutige Konferenz über die Besteuerung der Kirche statt, so hatte man ihm mitgeteilt. Diese Konferenz würde sich noch lange hinziehen, hatte man ihm versichert, so dass ihm mehr als genug Zeit bliebe, um seine Aufgabe zu erfüllen.
Mit Schaudern dachte Girret an seinen Auftraggeber zurück: Einen hageren, jungen Mann mit bleichem Gesicht und dunkler Robe. Seine Augen hatten im Schatten der Kapuze gelegen, die Stimme war kalt und schneidend gewesen. Doch spätestens als der Mann ihm den Auftrag erläutert hatte, war Girret klar gewesen, dass es sich um einen Anhänger Beliars handeln musste. Tempelraub! Girret sollte einige wertvolle Reliquien stehlen. Am liebsten hätte er abgelehnt, aber die Bezahlung war zu gut gewesen. Außerdem; was hätte er schon an göttlicher Rache zu fürchten? Als Dieb hatte er ohnehin nie in der Gunst Innos’ gestanden. Nun aber würde er sich der Gunst Beliars versichern. Die Feindschaft des einen Gottes, der ihm ohnehin nie gewogen gewesen war, gegen die Unterstützung des anderen Gottes. Ein guter Tausch, fand Girret.
Es war Zeit. Leise huschte Girret zum Palast hinüber. Der Beliarkultist hatte ihm detaillierte Pläne des Anwesens ausgehändigt, sowie eine genaue Beschreibung des zu stehlenden Beuteguts. Die Priorität lag eindeutig bei dem Amulett, das der Auftraggeber offenbar unbedingt brauchte. Doch nichts hinderte Girret, sich auch am ein oder anderen profanen Wertgegenstand schadlos zu halten.
Lautlos erklomm er eine der reich verzierten Fassaden: Die zahlreichen Ornamente gaben seinen geschickten Fingern genügend halt, um einen Balkon zu erreichen. Dort ließ er sich vor der Balkontür nieder, und zückte sein Einbruchswerkzeug. Wenige Sekunden später war das Schloss überlistet, die Tür geöffnet. Ein Kinderspiel! Girret lächelte; es würde eine gute Nacht werden, glaubte er.
Das würde sie in der Tat, doch leider nicht für ihn.
Lord Ronegas war erschöpft und verärgert. Diese Pfaffen waren listig und stur. Die Verhandlungen über die neuen Steuern hatten sich, wieder einmal, als weitaus härter erwiesen, als der König gehofft hatte. Ronegas war nie ein geschickter Verhandlungsführer gewesen. Mit Finanzen kannte er sich aus; er war ein geschickter Logistiker. Unter seiner Aufsicht waren die Staatsfinanzen, traditionell weit im Minus, saniert worden. Doch diese Magier raubten ihm den letzten Nerv, mit ihren ständigen Berufungen auf Jahrhunderte alte Verträge und Konkordate, formaljuristischen Einwänden und nicht selten auch einfachem, sturem Trotz. Nach Stunden erfolgloser Debatten schließlich hatte Xardas, der einzige Innosgeweihte, der Verstand zu haben schien, eine Pause vorgeschlagen. Sämtliche Beteiligten waren mit Freuden darauf eingegangen.
Mit Xardas an seiner Seite spazierte er nun durch die dunklen Säle und Flure des Palastes, die nur vom Mondlicht erhellt wurden, das durch die Fenster sickerte, um sich die Füße zu vertreten. Nach den hitzigen Diskussionen waren sie zunächst schweigend nebeneinander hergegangen. Lord Ronegas wollte gerade das Wort an den jungen Feuermagier richten, als er in den Schatten des Flures vor sich eine Bewegung auszumachen glaubte. Abrupt blieb er stehen. Xardas war einen Schritt weitergegangen, bevor er das Anhalten seines älteren Freundes bemerkt und sich überrascht zu diesem umgewandt hatte. Ronegas führte seinen Zeigefinger an die Lippen, um dem Magier zu bedeuten, dass dieser ruhig sein solle, und spähte angestrengt in die Schatten. Nichts, alles schien ruhig. Doch Ronegas war beinahe sicher, dass er eine Bewegung gesehen hatte. Da! Schon wieder, als hätten sich die Schatten selber bewegt.
Xardas war dem Blick des Generalvikars gefolgt, und spähte nun ebenfalls in die fragliche Richtung.
Plötzlich ging alles sehr schnell: Ein Schatten bewegte sich mit großer Geschwindigkeit dem Ende des Ganges zu, um hinter dessen Biegung zu verschwinden, doch Xardas reagierte zu schnell für den Eindringling: Er riss die Hand hoch, stieß ein Wort in einer merkwürdigen, alten Sprache aus, und ein heller Lichtblitz zuckte den Gang hinunter, direkt in den Rücken der schattenhaften Gestalt. Dann zauberte er eine Sphäre hellen Lichtes herbei, die er über seiner Hand schweben ließ und die den Gang ausreichend erhellte, um das Wesen jenes Schattens erkennen zu können.
“Ein Einbrecher?”, stieß Ronegas überrascht hervor, und eilte auf den am Boden liegenden Mann zu. Dieser stöhnte und wand sich, offenbar unter Schmerzen. Ronegas bemerkte eine kleine, schwarze Tasche, die der Einbrecher auf dem Rücken trug. Grob nahm er diese an sich und schaute hinein.
“Bei Innos! Ein Tempelräuber!” Entsetzt reichte er die Tasche an Xardas weiter, der ihren Inhalt ebenfalls untersuchte, und ein Amulett zutage förderte. Unscheinbar schimmerte es im Licht seines Zaubers. “Ist dies das, was ich glaube?”, hauchte der Magier ehrfürchtig. Ronegas nickte. “Allerdings. Dieser Verbrecher hat heute mit Sicherheit seinen letzten Frevel begangen.”
Ronegas war entsetzt darüber, dass jemand eine der heiligsten Reliquien des Reiches zu stehlen versucht hatte. Noch immer konnte er es nicht fassen. “Das ist schon das dritte Mal in relativ kurzer Zeit, dass jemand so etwas versucht hat”, sagte er. “Das dritte Mal?” Xardas schien überrascht. “Ja, allerdings. Vor ein paar Jahren versuchte eine Gruppe von Beliaranhängern einen ähnlichen Diebstahl. Damals konnten die üblen Ketzer nicht bis zur Schatzkammer vordringen. Doch diesmal wäre der Dieb beinahe mit der Beute entwischt. Ich fürchte, dass die Reliquien des Reiches hier nicht mehr sicher sind.” Fieberhaft dachte Ronegas über das Problem nach. Würde es zu weiteren Einbrüchen kommen? Das nächste Mal würde der Dieb vielleicht Erfolg haben, und wer konnte schon sagen, welch finsteren Zauber die Beliarkirche mit den Heiligtümern Innos’ zu wirken plante?
“Hier können sie jedenfalls nicht bleiben”, murmelte er.
Dann kam ihm die Idee.
“Wofür brauchen wir den Tand eigentlich?”, fragte Shalfarezehl seinen Meister. Beide standen an Deck der “Sonnenscheibe”, einem stolzen Viermaster im Besitz des Paladinordens, der Beliar nach Khorinis zurückbringen sollte. In Beliars Kajüte, wohl verwahrt in einer magisch versiegelten Truhe, befanden sich die heiligen Reliquien Innos’, auf die sich Shalfarezehls Frage bezog. “Oh, wir werden den Tand gar nicht brauchen”, antwortete Beliar. Shalfarezehl stutzte. “Nicht? Wozu dann das Ganze?” Beliar schmunzelte. “Nun, jemand anders wird diese Gegenstände brauchen. Hoffentlich. Falls ich mich irren sollte, säßen wir ziemlich in der Patsche.” Shalfarezehl war etwas unbehaglich zumute. “Ist es klug, sich auf den Erfolg von Verbündeten zu verlassen? Bisher haben wir darauf immer verzichten können.” Beliar konterte mit einer Gegenfrage: “Ist es klug, sich auf das Versagen von Feinden zu verlassen? Bisher haben wir nichts anderes getan. Keine Sorge, Shalfe, vertrau mir! Ich weiß schon, wie ich die Sterblichen dazu bringe, nach meiner Pfeife zu tanzen.” Shalfarezehl blickte seinen Meister an. “Ich frage mich, wie dir das immer so gut gelingt. Wie hast du den alten Paladin eigentlich dazu gebracht, diesen religiösen Krimskrams ausgerechnet nach Khorinis verschiffen zu lassen?” Bei dem Gedanken an die Entscheidung des Generalvikars, die wertvollsten Reliquien der Innoskirche dem Kloster von Khorinis zu überantworten, erschien ein übermütiges Grinsen auf Beliars Gesicht. Der Hochgeweihte von Vengard hatte in der Verlegung der Heiligtümer lediglich einen Bedeutungsschwund der eigenen Diözese gesehen, doch für die Sicherheit der Reliquien waren die Paladine zuständig, so dass sich Lord Ronegas durchgesetzt hatte.
“Menschen sind ganz leicht zu beeinflussen. Du musst nur ihr Denken verstehen.” Shalfarezehl nickte. “Aha. Und wie funktioniert menschliches Denken? Du bist ja jetzt praktisch ein Mensch, also solltest du es …”, Shalfarezehl hielt inne, plötzlich wurde ihm klar, warum Beliar so erfolgreich im Umgang mit den Sterblichen war: Er war so menschlich, wie Shalfarezehl all die Zeit befürchtet hatte, nur war dies nicht etwa eine Schwäche, sondern stellte sich vielmehr als Stärke heraus. “Du hast Recht, mein Freund. Ich weiß tatsächlich, wie sie denken. Assoziation.” “Assoziation? Mehr nicht? “ Beliar nickte gewichtig: “Ganz genau. Mehr ist es nicht. Um es dir zu erklären, muss ich dir eine Geschichte erzählen.” Shlafarezehl war neugierig: “Was denn für eine Geschichte?”
Beliar lachte: “Kennst Du die Geschichte des Meisterdiebes Trebio Larioza, der versucht hat, in das Kloster von Khorinis einzudringen, und es nicht geschafft hat?”
Geändert von Sir Ewek Emelot (11.09.2008 um 23:12 Uhr)
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VIII.: Herrscherallüren
Mit wild hin und her peitschendem Schwanz richtete der Drache sich auf, breitete die mächtigen Flügel aus und brüllte Armatrion seinen Zorn entgegen. Dieser jedoch erwiderte den Blick Finkreghs mit der derselben, unerbittlichen Kälte. Ein humorloses Lächeln umspielte Armatrions Lippen. Er wusste: Größer noch als der Zorn des Drachen war dessen Furcht. Armatrion fühlte sie, sah sie in den Augen des mächtigen Wesens.
Dieser Augenblick entschädigte Armatrion für die vergangenen Wochen. Nach und nach hatten der Drache und seine verfluchte Verwandtschaft die Kontrolle auf Irdorath an sich gerissen. Armatrion selber war zum Handlanger degradiert worden. Doch diesen Augenblick konnte er nun genießen.
Dabei hatte er sich zunächst Sorgen gemacht, dem Drachen die schlechte Nachricht zu überbringen. Die Angst, die seine Priesterkollegen ergriffen hatte, konnte er zwar nicht nachvollziehen - erbärmliche Wichte, wie sie vor diesen Drachen krochen -, doch die Aussicht auf den Zorn des eisigen Ungetüms hatte auch ihn nicht unberührt gelassen.
Nun aber war Armatrion ruhig. Die heftige Reaktion des Eisdrachen zeigte ihm, dass er nichts zu befürchten hatte: Es war Theater, furchterregend aber harmlos. Sollte der Drache seine Muskeln ruhig spielen lassen. Letztlich war er doch auf Armatrion angewiesen.
Schließlich beruhigte sich Finkregh wieder.
“Gibt es eine Möglichkeit, den neuen Aufenthaltsort des Artefaktes zu ermitteln?” Armatrion ließ sich mit seiner Antwort Zeit, kostete den Moment aus. Aus den Augenwinkeln konnte er die Bewegungen der Echsenwesen ausmachen, die gemeinsam mit den Drachen angekommen waren: Die Leibdiener, von denen Finkregh gesprochen hatte.
“Derzeit nicht. Aber wir haben bereits einen Plan, den Innosorden zu infiltrieren. Dieser braucht allerdings Zeit.” Finkregh senkte seinen Kopf zu Armatrion herab. “Ich rate dir, diesmal keine weiteren Fehler zu begehen, Mensch.”
Der Eisdrache wandte sich von Armatrion ab. Einzelheiten interessierten ihn nicht; die Audienz war beendet.
Beliar hatte sich, die Hände aufgestützt, über den Tisch gebeugt, und beobachtete das Gewusel der Ameisen, die in dem Glaskasten vor ihm ihren Tätigkeiten nachgingen. Schon seit einiger Zeit untersuchte er das Verhalten dieser Wesen und machte sich Skizzen und Notizen. Zwar würde er kaum für eine wissenschaftliche Sensation sorgen, doch immerhin bereiteten ihm die Tierchen Freude. Seit er die Kolonie angelegt hatte, war die Population stetig gewachsen, und Beliar hatte jeder einzelnen Ameise einen Namen gegeben.
“Soso, dann habe ich nun also einen Assistenten”, sagte er zu dem Novizen, der hinter ihm im Raum stand, während er zwei der Ameisen, Korinna und Esmeralda, dabei beobachtete, wie sie sich gegenseitig mit den Fühlern abtasteten. Der Novize hinter ihm räusperte sich verlegen. Beliar wusste, dass es sich um einen Taugenichts und Tunichtgut handelte. Jedenfalls nach Auffassung Pyrokars, der als neuer Träger der Hohen Robe des Feuers gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen gedachte. Denn auch Beliar - für ihn Xardas - hielt der aufstrebende, junge Hochmagier für einen Taugenichts; ungeachtet der Tatsache, dass auch dieser bald die Hohe Robe würde tragen dürfen, nachdem er die Interessen des Klosters auf so vorbildliche Art und Weise vertreten hatte. Beliars Auftreten in der Hauptstadt war so überzeugend gewesen, dass er mit weiteren diplomatischen Reisen rechnen konnte. Demnach würden auch die Aufenthalte seines neuen Gehilfen im Kloster reduziert werden. Trotz allem fungierte Beliar noch immer als Verwalter, was kein Problem mehr war, seit er die Buchhaltung modernisiert und etliche Verfahren verbessert hatte.
Beliar wandte sich um. Sein Blick heftete sich kurz auf eine Fliege, die summend im Raum umherschwirrte, doch dann sah er dem Novizen strahlend ins Gesicht. “Also, Gorax, wir werden hervorragend miteinander auskommen, du und ich. Wenn Pyrokar sich nicht mit uns beschäftigt, dann müssen auch wir uns nicht mit ihm beschäftigen. Vergiss also den alten Griesgram!” Der Novize machte ein erschrockenes Gesicht. “Aber Meister Xardas!”, stieß er nur hervor, und blickte mit errötetem Gesicht zu Boden. Offenbar behagten ihm die offenen Worte Beliars nicht, schließlich war er es gewohnt, allen Feuermagiern ausnahmslos mit höchstem Respekt zu begegnen. “Meister Pyrokar ist doch ein kluger und weiser Diener des Herrn Innos!” Beliar wischte die Bemerkung mit einem Lachen beiseite: “Pah! Na und? Er kann doch trotzdem ein Griesgram sein.”
Gorax musste grinsen.
Beliar lenkte seine Schritte zum Schreibtisch, und bedeutete dem Novizen mit einer Geste, näher zu treten. “Setz dich!”, sagte er. Gorax tat wie geheißen. “Als persönlicher Gehilfe des Lagermeisters und Verwalters des Klosters wirst auch du dich mit der Materie befassen müssen.” Beliar zog ein Buch heran, das er aufklappte, um seinem neuen Assistenten dessen künftige Aufgaben zu erklären. “Mittlerweile”, so sprach er, zur Belustigung des Novizen den mahnenden und stets belehrenden Tonfall Pyrokars in überzogener Form nachahmend, “habe ich für die Buchführung unserer Klosterfinanzen die so genannte “doppelte Buchführung” eingeführt. Diese neue Methode, genauso wie überhaupt die modernen Ziffern und die Algebra, wurde von den Händlern der südlichen Inseln und Varants erfunden. Bei der doppelten Buchführung wird jede Einnahme und Ausgabe doppelt verbucht, in verschiedenen Konten, so dass sämtliche Geschäftsvorgänge präzise nachvollzogen werden können.” Beliar verdeutlichte seine folgenden Ausführungen, indem er mit dem Zeigefinger auf die passenden Stellen in dem Rechnungsbuch tippte.
Diese Form der Buchführung war Beliar in seiner Zeit als “Geheimrat Liareb” von einem befreundeten Kaufmann erklärt worden, von dem er gelegentlich einige Luxusartikel bezogen hatte.
Gorax hörte Beliars Erklärungen aufmerksam zu. Beliar wusste, dass der Junge kein Dummkopf war. Doch widerstrebten ihm eben die trockenen und allzu strengen Methoden Pyrokars und vieler anderer Magier. Bisweilen musste man sich eben etwas mehr Mühe geben, auch etwas Einfühlungsvermögen zeigen, um das Potential eines Novizen auszuschöpfen. Doch Pyrokar hätte einen solchen Gedankengang weder verstanden, noch gutgeheißen: Seine “Pädagogik” stützte sich auf die Unantastbarkeit seiner Autorität als Magier. Verständnis für individuelle Bedürfnisse eines Novizen hätte er als eine unwürdige und schädliche Förderung von Hochmut bezeichnet.
“Hast du das verstanden?”, fragte Beliar Gorax schließlich. Dieser nickte. “Gut. Dieses Buch hier beinhaltet unsere Transaktionen vom letzten Quartal. Ich aber möchte, dass du zur Übung die alten Bücher, die noch in er kameralistischen Buchführung angelegt wurden, zur Hand nimmst, und sie in die neue, doppelte Buchführung überträgst. Am besten fängst du mit den Aufzeichnungen aus Meister Ulthars Zeit als Verwalter an. Dadurch lernst du nicht nur die Buchführung selber, sondern außerdem auch, was das Kloster und seine Bewohner für Bedürfnisse haben. Sobald du mit Meister Ulthars Büchern fertig bist, gehst du in chronologischer Reihenfolge sämtliche Bücher von der Gründung des Klosters an durch. “ Gorax verzog unwillig das Gesicht. “Aber Meister! Damit bin ich doch Jahre beschäftigt!” Beliar lächelte den Novizen an. “Natürlich. Aber du hast ja auch Jahre dafür Zeit. Du interessierst dich doch für Geschichte, habe ich gehört?“ Gorax nickte. “Na also. Vor allen Dingen wirst du dich hiermit über die Geschichte des Klosters kundig machen können. Wer weiß, vielleicht stößt du ja sogar auf irgendeine besondere historische Begebenheit und wirst berühmt?” Der Novize sah ihm zweifelnd ins Gesicht. “Na lach nicht! Du wirst dich wundern, wie aussagekräftig diese Rechnungsbücher sein können. Sie geben Aufschluss sowohl über den Alltag der früheren Bewohner, als auch über besondere Anschaffungen oder Ausgaben. Übrigens bist du ausdrücklich dazu angehalten, dich über Dinge, die du nicht verstehst oder die deine Neugierde wecken, kundig zu machen. Hierfür hast du vollen Zugang zur Bibliothek.“ “Heißt das, ich kann mir soviel Zeit lassen, wie ich will?” Beliar nickte. “Genau. Sobald du die Grundlagen gelernt hast, ist der Rest eher ein Langzeitprojekt, mit dem du dich beschäftigen und bilden kannst. Jedenfalls eilt es nicht, und wir haben ja auch noch genügend andere Pflichten.” Gorax schien nach wie vor nicht besonders begeistert. “Übrigens: Von allen anderen Arbeiten bist du bis auf weiteres befreit. Wenn Pyrokar meint, du seiest unter seiner und der anderen Magier Würde, dann braucht er auch nicht mehr auf deine Arbeiten zu zählen. Das heißt, dass du nun nur noch von mir Anweisungen entgegen nimmst. Wenn dir einer der Magier etwas auftragen sollte, dann sag einfach, dass du für mich unterwegs bist!”
Gorax‘ Gesicht hellte sich auf.
Als Beliar die Tür seines Privatgemaches schloss, surrte die Fliege durch den enger werdenden Türspalt ins Zimmer. Er vernahm ein leises Zischen hinter sich. Während er sich zum Raum hin umwandte, konnte er gerade noch den Rest des Nebels wahrnehmen, aus dem die Gestalt vor ihm erschienen war. “Hallo Shalfe”, sagte er. Der Dämon nickte ihm zu: “Grüße, oh Herr und Meister. Glaubst du wirklich, dass dem Jungen seine neuen Aufgaben gefallen werden?” Beliar zuckte mit den Schultern. “Diese Aufgabe dürfte seine Neugierde wecken. Und seinen Ehrgeiz. Die Übertragung der Bücher selber wird schließlich nur der Aufhänger für seine weiteren Nachforschungen sein.” Shalfarezehl nickte, und machte seine Meldung: “Das geheime Gewölbe unter dem Kloster ist fertig. Tashribor und Granimoth sind gerade dabei, die Bücherregale aufzustellen.” Beliar lächelte ironisch: “Schon ziemlich aufwendig, wenn man bedenkt, dass das alles nur Dekoration ist. Für eine einzige Person.” Shalfarezehl schüttelte den Kopf. “Nein. Dass es nur für eine einzelne Person gedacht ist, ist nicht das Problem. Viel beunruhigender ist wohl, dass wir gar nicht wissen, ob diese Person überhaupt geboren werden wird.” Beliar winkte ab: “Keine Sorge, Shalfe. Er wird kommen.” Nun war es der Dämon, der mit den Schultern zuckte. “Wenn du es sagst. In eines Gottes Ohr ist dein Wort ja in jedem Fall.” Plötzlich erschien ein Grinsen auf Shalfarezehls Gesicht. “Woher willst du eigentlich wissen, dass es ein “er” sein wird?”
Geändert von Sir Ewek Emelot (31.05.2009 um 12:51 Uhr)
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IX.: Luxus
“Es tut mir Leid Meister Xardas, aber der König befindet sich derzeit im Felde.” Meister Xardas nahm die Information des Mannes mit unbewegter Mine auf. “Im Felde?”, fragte er nur. Der Vogt nickte. “Ihre Majestät hörten von einem Vorstoß der Orks und ritten dem Feinde tapfer entgegen. Das Heer brach gestern zur Morgenstunde auf. Es tut mir Leid, Meister Xardas, aber Ihr habt den König um eineinhalb Tage verpasst.” Gorax sah, wie sich die Stirn seines Meisters in Falten legte. “Dass es dir Leid tue, sagtest du ja schon. In welche Richtung sind der König und das Heer gezogen?” “Richtung Silden. Es handelt sich offenbar nur um wenige Orks, welche unsere Grenzverteidigung durchbrochen haben.” Xardas nickte dem Vogt zu. “Hab Dank! Dann werden wir dem König eben folgen müssen.” Der Vogt schien überrascht. “Mein Herr, wollt ihr etwa sofort aufbrechen?” Xardas nickte erneut. “Natürlich, ich dachte das sei klar. Meine Botschaft ist wichtig und duldet keinen Aufschub. Sorge bitte dafür, dass mir und meinem Begleiter zwei frische Pferde und Proviant bereitet werden. In zwei Stunden werden wir weiterreisen.” Der Vogt nickte und machte sich an die Ausführung der Befehle. Gorax aber war von der Entwicklung alles andere als begeistert.
Es hatte damit begonnen, dass der König nicht wie erwartet in der Hauptstadt gewesen war, sondern, so hatte man ihnen mitgeteilt, nach Geldern gereist war. Gorax hatte seinen Meister also den langen Weg über nahezu die gesamte Breite des Reiches durch das kalte, herbstliche Myrtana begleitet, nur um jetzt festzustellen, dass sie erneut zu spät eingetroffen waren. Dabei hatte sich Gorax so sehr darauf gefreut, endlich wieder in einem warmen Bett schlafen und sich von den Strapazen der Reise ausruhen zu können. Seine wundgescheuerten Oberschenkel brannten vor Schmerz, seine Hände waren taub von der Kälte. Doch seinem Meister schienen all diese Mühen nichts auszumachen.
“Gorax, träumst du?” Xardas' Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. “Komm endlich, wir wollen uns noch aufwärmen und etwas essen, bevor es weitergeht.” Gorax seufzte und folgte seinem Herrn in das Innere des Rathauses.
Sein Meister war ungewöhnlich schweigsam. Den Blick nach vorne gerichtet saß er würdevoll auf dem neuen, ausgeruhten Pferd, einem braunen Wallach namens Holpe, und ritt gen Stadttor. Gorax sah lediglich Xardas’ Rücken, denn auf der Straße kamen ihnen regelmäßig Karren und andere Reiter entgegen, so dass sie hintereinander reiten mussten. Plötzlich blieb Meister Xardas’ Pferd stehen, und der Magier wandte den Blick einem Aushang zu, der an das Tor eines prachtvollen Baus geschlagen war: Des Opernhauses der Stadt.
Liareb: Klaviersonaten
Etude Ges-dur op. 2; Walzer Nr. 7 cis-moll op. 4; Polonaise Nr. 3 As-dur op. 3
Gespielt von Maestro Frezio Garomba
Am Innostage zur 20. Stunde,
Der Eintritt beläuft sich auf 20 Silberlinge.
Gorax wunderte sich über den Ausdruck seines Meisters, dessen Profil er nun erkennen konnte: Müde und kraftlos, wie plötzlich die gesamte Körperhaltung. Er vermochte ein sehnsüchtiges Seufzen zu vernehmen. “Natürlich!”, dachte er, “Meister Xardas ist ja ein großer Verehrer des verschollenen Komponisten Liareb, ist selbst ein begabter Musiker.”
“Geht’s bald weiter oder ist euch der Arsch festgefroren?” Überrascht blickte sich Gorax nach hinten um. Meister Xardas straffte sich und wendete sein Pferd, trieb es auf den Karren des ungeduldigen Fuhrmannes zu. “Hast du ein Problem, mein Sohn?”, fragte er den Mann mit ruhiger, sanfter Stimme. Der wurde kreidebleich und begann zu stammeln. “Ich wollte … ähm … Mag … also … verzeiht mir bitte, ehrwürdiger Magier, ich … ähm … wollte nicht respektlos erscheinen …” Xardas fiel ihm ins Wort: “Du solltest dir über die Nichtigkeit deiner irdischen Belange im Klaren sein, mein Sohn. Ich glaube kaum, dass dich etwas anderes zur Eile treibt, als deine eigene Ungeduld. Du solltest dir mehr Zeit nehmen, um über die Schönheit der Schöpfung und die Tugend der Freundlichkeit nachzudenken, die du deinen Mitmenschen statt der unflätigen Beleidigungen angedeihen lassen solltest, die du von dir zu geben pflegst.” Der Fuhrmann druckste herum, den Blick zu Boden gerichtet, bis Xardas sich schließlich wieder vor dem grinsenden Gorax einreihte, und den Weg fortsetzte.
“Wir werden den König vermutlich bald einholen. Ein ganzes Heer mit Tross bewegt sich weitaus langsamer als zwei einzelne Reiter mit leichtem Gepäck”, erklärte Xardas mit zuversichtlicher Stimme, wobei sein Mund kleine Dampfwölkchen ausstieß. Gorax wagte nicht, seinem Meister zu widersprechen. Das hätte ohnehin keinen Sinn ergeben. Er hatte erkannt, dass Xardas meist Recht behielt. Daher nickte er nur und rieb sich die kalten Finger. Auch sein Atem bildete Dampfwolken, und der Geruch, der in der Luft hing, kündete vom baldigen Kommen des ersten Schnees in diesem Jahr. Gorax hoffte, dass sie dann nicht mehr unterwegs sein würden. “Keine Sorge, mein Freund”, ließ sich die Stimme des noch jungen Magiers vernehmen, “Im Winter kann man schlecht Krieg führen. Dies wird wohl eine der letzten Schlachten bis zum nächsten Frühjahr sein. Und auch wir werden den Winter in der warmen Stube verbringen.” Gorax nickte nur und schmiegte sich an den Hals des Pferdes, in der Hoffnung auf etwas Wärme.
Beliars Laune war alles andere als gut. Es lag weniger daran, dass sich die Dinge nicht nach seinen Plänen entwickelt hätten - im Gegenteil, die gediehen gut -, als eher an den Umständen, die mit diesen Plänen verbunden waren. Die Reise durch das beinahe schon winterliche Myrtana hatte ihm nichts ausgemacht: Er mochte die freie Natur, ebenso wie das Reiten als solches. Pferde, so fand er, waren schöne und edle Geschöpfe, die sich durch Eleganz und Treue gleichermaßen auszeichneten. Was ihm hingegen weniger behagte, war der Krieg. Allenthalben war dieser zu spüren. Boten in den Farben der Adelshäuser oder der Milizen waren zuhauf auf den Straßen unterwegs und in den Städten wimmelte es von Soldaten und Rittern. Trotz der Geschäftigkeit, die sich aus der Flut an Aufträgen seitens der Krone ergab - das Heer brauchte nicht nur Waffen, sondern auch Nahrung, Kleidung, Ledersäcke für das Marschgepäck, Karren und Belagerungswaffen - schienen die Menschen aber nicht etwa wohlhabender zu sein, sondern ärmer denn je. Der König pflegte viele Ausgaben durch Schuldscheine zu begleichen, die niemand ablehnen konnte, obwohl jeder wusste, dass sie niemals ausgezahlt würden. Die Händler und Handwerker blieben oftmals auf den Kosten sitzen. Der Lord-Kämmerer, nach wie vor Lord Ronegas, konnte trotz seiner geschickten Ausgabenpolitik die zunehmende Verschuldung der Krone nicht aufhalten. Beliar wusste, dass der alte Paladin den König schon des Öfteren zur Vorsicht gemahnt hatte, zumal die Unzufriedenheit in der Bevölkerung stetig zunahm. Doch der König ließ sich nicht beirren, sondern verteilte die Lasten des Krieges weiterhin an das niedere Volk. Bald aber, so wusste Beliar, würden die Sorgen des Königs sich vorerst in Luft auflösen.
“Im Gegensatz zu jenen des Volkes“, wie Beliar bedauernd dachte.
Eigentlich, so wusste er, war es ja sein eigenes Werk. Doch während er sich von dessen Auswirkungen bisher hatte fernhalten können, erfuhr er diese nun unmittelbar.
“Meister Xardas! Da vorne sind einige Reiter.” Beliar fuhr aus seinen Gedanken hoch, und blickte die Straße entlang. Tatsächlich, es näherte sich ihnen eine Gruppe von Reitern.
“Das wird die Nachhut des Königs sein”, meinte Beliar an Gorax gewandt, und bedachte seinen Schüler mit einem aufmunternden Lächeln. “Hoffentlich! Dann können wir unsere Nachricht ja endlich überbringen.”
Der König strahlte die Neuankömmlinge an, als diese endlich zu ihm vorgelassen wurden. “Wenn das nicht der junge Meister Xardas ist, von dem mir mein Kämmerer bereits so viel berichtet hat!”, begrüßte er sie, oder zumindest den genannten, denn Gorax ignorierte er völlig. Meister Xardas erwiderte das Strahlen des Königs, der sich an der wenig förmlichen Begrüßung durch den Magier nicht zu stören schien.
Der König und seine Berater hatten es sich auf einer Anhöhe bequem gemacht, von der sie auf das Schlachtfeld unter sich blicken konnten. Dort hatten sich einige hundert Krieger beider Seiten versammelt; ein Haufen von Orks auf der jenseitigen, die wohlgeordneten Reihen der Königstruppen auf dieser Seite des Tales. Gorax konnte von hier aus erkennen, dass die königlichen Truppen zu etwa einem Drittel aus berittenen Kämpfern bestanden, die zu beiden Seiten des Heeres postiert waren.
Die Atmosphäre bei dieser Schlacht kam Gorax überraschend entspannt vor. Das Feldlager, in dem sie sich befanden, war aus ordentlichen Zeltreihen errichtet, in denen reger Betrieb herrschte. Offenbar empfand man die orkischen Gegner nicht als große Bedrohung, so dass ein großer Teil des Heeres gar nicht an der Schlacht teilzunehmen schien. In unmittelbarer Näher des Königs, auf dem Aussichtspunkt, saßen hohe Paladine und Generäle auf Hockern an groben Holztischen, zwischen denen Wärme spendende Kohlepfannen aufgestellt waren. Die Herrschaften ließen sich frisch gebratenes Schwein mit Bier und Wein schmecken. Der König selber hatte offenbar bereits gegessen, wie Gorax an einigen Resten erkennen konnte, welche der königliche Hunger übrig gelassen hatte. Beim Bratenduft lief ihm das Wasser im Munde zusammen, und sein Magen gab ein Knurren von sich, so laut, dass er beschämt zu Boden schaute und versuchte, möglichst nicht aufzufallen. Das aber war gar nicht nötig, denn niemand würdigte ihn auch nur eines Blickes.
“Ihr kommt gerade recht, um den Beginn der Schlacht zu erleben”, frohlockte der König und bedeutete Xardas, sich auf einen Hocker zu setzten. Dieser nahm das Angebot an, und wandte seine Aufmerksamkeit der Schlacht zu. Auf einen Wink des Königs kamen Pagen mit Braten und Bier angelaufen, doch zu Gorax' Freude drückte sein Meister ihm beides mit einem Zwinkern in die Hände.
“Was verschafft mir die Ehre eures Besuches?”, fragte der König, wobei er den Blick auf das Schlachtfeld gerichtet ließ, auf dem sich die Heere nun in Bewegung gesetzt hatten. “Ich wurde von der Magiersynode geschickt.” Der König runzelte unwillig die Stirn. Seit dem Scheitern der Besteuerung der Kirche war er auf das höchste geistliche Gremium des Reiches nicht sehr gut zu sprechen. Doch Xardas ließ sich nicht beirren. “Wir haben einen Plan ausgearbeitet, der unsere Rüstungsindustrie erheblich entlasten sollte. Ihr erinnert Euch vielleicht an diesen Dieb, Girret, der sich vor ein paar Jahren am Diebstahl einiger heiliger Artefakte versuchte?” Gorax blickte von seinem Braten auf; davon hatte er nichts gewusst. Der König nickte: “Ja, er ist aus seiner Zelle geflohen, bevor es zur Hinrichtung kommen konnte. Möge Beliar seine Seele verfluchen.” Gorax sah die Mundwinkel seines Meisters zucken, während der König fortfuhr: “Aber was hat das mit den Staatsfinanzen zu tun?” Xardas gab Gorax ein Zeichen, worauf dieser hastig den Bissen Schweinefleisch hinunterschluckte, den er im Mund hatte, und einen versiegelten Brief herauskramte. Er übergab den Brief an Xardas. “Wir haben einen innosgefälligen Plan entworfen, der sowohl der Gerechtigkeit, als auch dem Staatssäckel zugute kommen dürfte”, erläuterte dieser, während er den Umschlag an den König weitereichte.
“Hm”, machte der König, als er das Schriftstück gelesen hatte, “und ihr meint wirklich, dass dies etwas nützt?” Xardas nickte. “Ich versichere Euch, dass kein Tempelräuber aus solch einem Gefängnis entkommen könnte. Zudem könnte er dem Reich noch einen Dienst erweisen, bevor seine Seele zu Beliar geht. In den langen Jahren eurer Herrschaft ist es euch gelungen, alle Feinde des Reiches zu bezwingen. Bis auf einen.” Xardas deutete auf das Schlachtfeld. Gorax’ Blick folgte dem Handzeichen, und er sah, wie die Heere aufeinander prallten: Die Fußtruppen des Königs und die Horde der Orks. Von hier aus hörte er die Rufe und das Schwerterklirren nur leise, bemerkte praktisch nichts von den Dramen, die sich auf dem fernen Schlachtfeld ereigneten. Sein Meister fuhr fort: “Der Krieg mit den Orks fordert seinen Tribut. Warum sollten nicht die Gefangenen des Reiches ihn bezahlen?”
Der König blickte versonnen auf die Schlacht hinab. Dann wandte er sich wieder dem Magier zu. “Ihr habt also diese Fokussteine schon erschaffen, ja?”, fragte er. “Es war der hochwürdige Meister Pyrokar, der diesen Plan entwickelt hat“, antwortete Xardas, “Er hat auch die Foki erschaffen. Unter seiner Leitung wird der Zauber perfekt gelingen.” Der König ging die Liste durch, welche dem Brief der Synode beigelegt war. “Was ist mit diesen anderen Magiern. Saturas, ist das nicht ein Wassermagier?” “Sämtliche Magier auf der Liste haben ihr Einverständnis schon erklärt.”
Der König gab ein befriedigtes Brummen von sich. “Also gut. Dann machen wir es so. Wann wird der Zauber gewirkt?” Xardas stand auf. “Nächstes Frühjahr. Bis dahin sollten sich genügend Sträflinge gesammelt haben.” Der König stand ebenfalls auf. “Ihr wollt schon wieder los?” Xardas bestätigte dies: “Wir sind in Eile. Die Synode muss über euer Einverständnis informiert werden.”
Xardas wandte sich ab und Gorax wollte es ihm gleichtun. Doch als der Blick seines Meisters das Schlachtfeld streifte, auf dem die Reiterei des Königs den Orks gerade in die Flanken fiel und sie in die Flucht schlug, konnte er für einen kurzen Moment einen Ausdruck des Ekels im Gesicht seines Meisters sehen.
Dann lenkte Xardas seine Schritte zu den Pferden.
“Dieser Lee ist wirklich gut”, waren die letzten gemurmelten Worte, die Gorax vom König hörte, der sich wieder ganz der Schlacht zu widmen schien.
Dann schloss er mit schnellen Schritten zu seinem Meister auf.
Geändert von Sir Ewek Emelot (23.09.2008 um 00:12 Uhr)
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X.: Kompetenzgerangel
Grundlegung einer allgemeinen Magietheorie
Von
Xardas
Khorinis, 925 JdF
Vorrede
Es mag als nicht besonders überraschend erachtet werden, dass eine wissenschaftliche Theorie, welche alle bisher als gesichert geltenden Erkenntnisse ihrer scheinbaren Grundlage zu berauben, ja, sie in ihrer Gänze als falsch auszuweisen vermag, nur wenig Anklang finden wird. Die Ablehnung, mit der ein solches System sich wird abfinden müssen, mag zweierlei Gründen geschuldet sein: Zum einen der Verehrung der alten Meister, deren Erkenntnisse sich doch von Alters her bewährt haben, und deren Intellekt, lohenden Flammen gleich, die gesamte Welt der Wissenschaften hat erhellen und ihr ungeahnte Fortschritte hat bescheren können. Der wohl berechtigte Respekt und die Hochachtung vor jenen großen Geistern wird Vielen nicht leicht vereinbar scheinen mit einer gleichzeitigen, kritischen Beurteilung ihrer Theoreme. Der andere, weit gewichtigere Grund aber, mag in der Trägheit unserer von Gewohnheit gefesselten Gemüter liegen, die uns die Behaglichkeit der alten Lehren wird erhalten wollen, unwillig, uns neuen Ufern zuzuführen, wie es doch eigentlich dem Geiste jener, deren Schriften wir uns als Rechtfertigung unserer Faulheit vorhalten, entspräche.
In diesem Sinne mag das in diesem Buche dargelegte System einer allgemeinen, grundlegenden Magietheorie wohl nicht viel Zustimmung finden, sondern allemal den kundigen Leser abschrecken und zum Widerstande treiben, obgleich selbiger mit Leichtigkeit die Wahrheit und die klare Evidenz der dargelegten Beweise wird erkennen und gar selbst nachvollziehen können.
Das in diesem Buche angelegte Projekt besteht, wie dem Titel wohl zu entnehmen ist, in einer Grundlegung einer allgemeinen Magietheorie. Anders als in meinen vorherigen Schriften, den transzendentalen Kritiken unsers Erkenntnisvermögens, handelt es sich hierbei also nicht im Grund um ein transzendentalphilosophisches Werk, welches die Bedingungen unseres Erkennens allgemein zu deduzieren und unser Erkenntnisvermögen als solches, also ungeachtet der Erkenntnis des einzelnen Gegenstandes (oder einzelner Gegenstandsbereiche), zu untersuchen trachtet, sondern vielmehr handelt es sich um den Fortgang der Erkenntnis in eben einem bestimmten Gegenstandsbereich, aber auf Basis der Erkenntnisse, welche in jenen erkenntnistheoretischen Werken errungen wurden. Gleichwohl wird die Methodik meiner Untersuchung derjenigen meiner Transzendentalphilosophie überaus ähnlich sein. Anders als andre Bereiche der natürlichen Wissenschaft nämlich (etwa der Physik, Medizin, Alchemie usw.) behandelt die Magietheorie nicht etwa einen physischen Gegenstand, der uns durch sinnliche Anschauung kann gegeben sein, sondern die Materie, mit welcher diese Abhandlung sich befassen wird, nämlich die Magie selbst, ist ein an sich weder Räumliches, noch Zeitliches, noch überhaupt Körperliches, sondern ein rein Geistiges und dem Göttlichen Verhaftetes.
Da nun unsere transzendentale Erkenntnistheorie die Bedingung der Möglichkeit von Wissen überhaupt beleuchtet hat, sofern dieses sich auf Gegenstände (also eine Materie des Wissens) bezieht, so muss auch alle Erkenntnis über die Magie jenen Bedingungen unterworfen sein. Erkenntnis ist das Übereinstimmen einer subjektiven Vorstellung (sie sei eine anschauliche Vorstellung, aus den Sinnen gegeben; oder eine begriffliche Vorstellung, vom Verstande gedacht; oder beides zusammen, was eigentlich zum Behufe der Erkenntnis der Fall sein muss) mit einem objektiven Gegenstande. Kurz: Erkenntnis ist die Entsprechung eines Subjektiven mit einem Objektiven, bzw. eines dem Gemüte Inneren mit einem dem Gemüte Äußeren. Wenngleich die Materie aller Erkenntnis, also ihr Gegenstand, nur gegeben werden kann (nämlich in der Anschauung), also empirisch sein muss, so sind doch die Formen unseres Erkennens, als dessen Bedingung, a priori im Gemüte angelegt. Zum einen nämlich die Formen der Sinnlichkeit, nämlich Raum und Zeit, unter denen alleine uns alles, was empirisch ist, gegeben sein muss; zum andern die Kategorien, welche die Grundfunktionen unseres Verstandes sind, durch welche dieser mit dem empirisch Gegebenen sich betätigt, und es verknüpft und zum Gegenstande nicht nur unserer Sinne, sondern auch unseres Denkens und damit zu Erkenntnis macht.
Nach dieser Erkenntnistheorie müssen also alle Vorstellungen von realen Gegenständen so beschaffen sein, dass sie den Formen von Raum und Zeit entsprechen, und ihre Verhältnisse und Verknüpfungen müssen den Kategorien des Verstandes entsprechen, sowie dessen Regeln, mithin der Logik. Wir können uns schlechterdings nichts vorstellen, dessen Vorstellungen nicht das Sein in Raum und Zeit beinhaltet, oder den logischen Funktionen des Verstandes zuwider ist (ansonsten würde die Vorstellung sich ob ihrer Widersprüchlichkeit selbst zerstören).
Auch alle Vorstellungen, welche wir uns von der Magie machen, müssen zunächst diesen Bedingungen entsprechen. Die magischen Ströme scheinen räumliche und zeitliche Realität zu besitzen, in Raum und Zeit zu wirken, mithin gleichsam materiellen Charakter zu haben. Jedoch lässt sich aus der Erfahrung leicht erhellen, dass die Magie an sich selbst weder Raum noch Zeit unterliegt, sondern gänzlich geistiger Natur ist: Ein jeder Magier hatte bereits solche zweiten Gesichter, sei es im Traume oder im Zuge meditativer Übungen, welche ihm Aufschluss über wirkliche Ereignisse gaben, welche zu andern Zeiten oder andern Orten statthaben. In der Hellsicht vermögen wir demnach die Bedingungen von Raum und Zeit, welche doch so große Macht zu haben scheinen, außer Kraft zu setzten. Natürlich werden uns innerhalb solcher Visionen gegebene Sachverhalte sehr wohl den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemütes gemäß geben sein, d. i. wir werden diese Sachverhalte den Formen von Raum und Zeit und den Kategorien gemäß vorstellen müssen. Der Aktus dieses Erkennens selber jedoch durchbricht alle Schranken von Raum und Zeit. Daraus erhellt also, dass Magie ewig ist, gewissermaßen zu allen Zeiten und allen Orten gleich, und daher die eigentliche Synthesis der einzelnen Gegenstände zu einer einigen Welt leistet, also alle Gegenstände aller Orte und aller Zeiten (bzw. alle Orte und Zeiten selbst) zusammenhält, auf dass diese alle Teil EINER Welt, bloß EINER einigen Schöpfung seien.
Um also eine der Materie unserer Untersuchung, also der Magie, angemessene Theorie zu entwerfen, wird es notwendig sein, zu forschen, ob nicht eine Form von Vorstellen möglich sei, welche uns die Magie als dasjenige vorstellt, was sie wohl eigentlich sein muss: Geistig, unkörperlich, unzeitlich, unräumlich, ewig.
Wir hatten schon zuvor (in unserer Kritik des reinen Verstandes) erwogen, ob nicht die Transzendentalphilosophie sich eines andern Organons bedienen könne, als dem bloßen, reinen Verstande selbst, das ebenfalls eine Übereinstimmung von Subjektivem und Objektivem Leisten könne, aber eben nicht in der wissenschaftlichen Reflexion, sondern in unmittelbarer Intuition, also Anschauung, einer Anschauung aber, welche zwar unser bewusstes Vorstellen abweisen mag, jedoch unser Unbewusstsein umso mehr ansprechen kann, und uns somit Erkenntnisse zu geben in der Lage ist, deren Erhabenheit weit über alles hinausgeht, was unserem bewussten Denken je möglich ist. Das Organon einer solchen Transzendentalphilosophie, welche die Existenz des Unbewussten als Teil unseres Gemütes anerkennt (und daher auch einen Teil unseres Gemütes, welcher weder den bloßen Formen der Anschauung, noch den Funktionen des Verstandes vollständig unterworfen ist), ist die Kunst, bzw. das Kunstprodukt, sowie dessen Hervorbringung und dessen Anschauung.
In der Kunst nämlich vermögen wir das Innerste unserer Seele äußerlich, nämlich im Kunstprodukte, vollständig und vollkommen auszudrücken, also das Subjektive objektiv zu machen. Gleichzeitig aber vermögen wir in der Kunstanschauung das Objektive, nämlich das Kunstprodukt und seine Eigenschaften, ganz in unser Inneres aufzunehmen, nämlich in unser ganzes Inneres, also die ganze Breite unseres Gemütes davon affizieren zu lassen (künstlerische, d. i. ästhetische, Anschauung vermögen wir übrigens auch von nicht subjektiv Hervorgebrachtem, also von der Natur, zu haben, wenn wir diese in Hinblick auf ihre Schönheit dergestalt anschauen, als sei sie das Produkt eines Künstlers, was in der Theologie gewöhnlich der Fall ist). Das Kunstprodukt vermag also in räumlicher und zeitlicher Form (nämlich in Form eines Bildes oder einer Skulptur oder des bewegten Schalls oder geschriebener Worte) die Unendlichkeit und Ewigkeit unserer tiefsten Regungen darzustellen, das Unendliche in der Endlichkeit auszudrücken und zu vermitteln.
So wie also das Kunstprodukt das Unendliche unserer selbst, unseres Gemütes, endlich ausdrücken kann, so mag es doch zugleich auch am ehesten dazu geeignet sein, auch das dem Gemüte äußerliche Unendliche, d. i. die Magie, in ihrer Gänze darzustellen und auszudrücken.
Demnach wird das Organon unserer Magietheorie das Kunstprodukt sein, sowohl in Hinblick auf die Anschauung des Kunstproduktes (Untersuchung der Magie) als auch in Hinblick auf die Herstellung des Kunstproduktes (Hervorbringung der Magie, bzw., Zauberei).
Im ersten Hauptstück unserer Untersuchung werden wir also das Kunstprodukt als Organ sowohl der Transzendentalphilosophie, als auch der Magietheorie, deduzieren. Danach werden wir, dieses Organon nutzend, uns der Untersuchung gegebener magischer Phainomena widmen, um schließlich in den Grundlagen der eigenen Hervorbringung ebensolcher zu enden.
Zum Behufe der Grundlegung einer allgemeinen…
Das Ruckeln und Zuckeln des Fuhrwerkes nahm plötzlich ab, und wich einem sanften Dahingleiten. Zugleich aber änderte sich der Klang der Räder und der Hufe des Gespannes, die plötzlich ein lautes, regelmäßiges Klacken von sich gaben, so als sei die gestampfte Erde festem, gutem Kopfsteinpflaster gewichen. Saturas unterbrach seine Lektüre, und sah sich um. Tatsächlich rollte das Fuhrwerk nun über Pflastersteine, nämlich über eine große und solide gebaute Brücke, die über eine tiefe Schlucht auf einen Felsen zuführte. Saturas erkannte, dass sie sich nun in einem engen, langgezogenen Tal befanden, das von steilen Hängen umschlossen war. An der Stelle, an welcher der Weg der Brücke wich, erweiterte sich das Tal zu einem Kessel, auf dessen Grund sich ein See befand, der den Felsen, zu dem die Brücke führte, von allen Seiten umgab. Und auf ebenjenem Felsen - Saturas war enorm froh darüber - ragten die Türme und Mauern des Innosklosters auf. Endlich: Sie waren fast am Ziel ihrer Reise angekommen.
Saturas klappte sein Buch zu, und sah der nahenden Klosterpforte erwartungsvoll entgegen. Als das Fuhrwerk den Vorplatz am Ende der Brücke erreicht hatte, ließ der Fuhrmann ein lautes “Hoh!” ertönen, worauf die schweren Arbeitspferde, die den Wagen zogen, anhielten.
“So, da sin ma also”, brummte der Fuhrmann, und stieg vom Bock herunter. Saturas tat es ihm gleich, reckte seine Glieder, und wandte sich zu seinen fünf Gefährten um, welche die Reise auf der Ladefläche des Wagens hatten verbringen müssen: Myxir und Nefarius hatten offenbar die Beine baumeln lassen, die anderen hatten es sich inmitten der Kartoffeln, Möhren, Mehlsäcke und sonstigen Gütern, mit denen der Fuhrmann das Kloster zu beliefern hatte, mehr schlecht als recht gemütlich gemacht. Saturas konnte gerade noch erkennen, wie Cronos sich einer Möhre bemächtigte, und sie mit ausdrucksloser Miene unauffällig in den Weiten seiner blauen Robe verschwinden ließ. Saturas runzelte die Stirn. Cronos war zweifellos ein fähiger Wassermagier, aber seine kleptomanische Veranlagung hatte schon des Öfteren für Probleme gesorgt. Gerade bei den ach so rechtschaffenen Feuermagiern konnten sie sich derartige Ausrutscher eigentlich nicht erlauben. Saturas nahm sich vor, sich Cronos baldigst zur Brust zu nehmen, wandte sich dann aber dem Eingang des Klosters zu.
Aus dem großen Tor kamen denn auch schon einige Novizen, sowie ein Magier in roter Robe. Die Novizen halfen dem Fuhrmann, die Waren von der Ladefläche des Wagens ins Kloster zu schleppen, der Magier aber wandte sich direkt an Saturas, der als Träger der hohen Robe des Wassers leicht als Anführer der Gruppe zu erkennen war.
“Meister Saturas, welch Freude, Euch willkommen heißen zu dürfen. Mein Name ist Karrypto. Ich bin der Novizenmeister des Klosters. Ich werde Euch und Eure Gefährten zu Meister Sandrian geleiten, dem Abt des Klosters von Khorinis. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.”
Karrypto führte die sechs Wassermagier durch das große Tor in den Klosterhof, und dann an der zentral gelegenen Kapelle vorbei zu einem Seitengebäude. Aus der Kapelle des Klosters drangen melodische Klänge. “Ist dies nicht eine etwas ungewöhnliche Tageszeit für einen Innosdienst?”, fragte Saturas den Feuermagier. “Oh, das ist nur der Klosterchor.” Saturas nickte und folgte Karrypto in das Gebäude hinein, durch einige Gänge zu einem großen Raum, dessen Fenster einen Ausblick lediglich auf die Hänge braunen Gesteins erlaubten, von denen das Tal, in dem das Kloster sich befand, umgeben war. Dieser Ort mochte ja abgeschieden und sehr sicher sein, doch Saturas vermittelte er vor allem ein Gefühl der Enge.
“Meister Saturas, darf ich vorstellen: Abt Sandrian.” Karrypto deutete auf einen beleibten, alten Mann in der würdevollen Bekleidung eines hohen Magiers des Feuers, der mit verschränkten Armen aus dem Fenster geschaut hatte. Sandrian wandte sich den Gästen zu, und begrüßte diese herzlich. “Willkommen auf Khorinis. Ich hoffe, Eure Reise war nicht allzu beschwerlich?” Saturas verneinte dies: “Die Reise war nicht übermäßig anstrengend, trotz der Frühjahrsstürme. Ich nehme an, dass die anderen Magier bereits zugegen sind?” “Sicher, sicher, sie sind alle schon da. Eh, Karrypto, sei doch so gut, und lass unseren Gästen etwas zu Essen bringen. Wie wäre es mit Brot und Schinken, dazu etwas Käse? Und Trauben, wir haben doch noch welche von der Herbstlese, nicht wahr? Und zwei, drei Flaschen unseres guten Klosterweins…” Saturas fiel dem Abt ins Wort: “Für uns kein Wein, nur Wasser erstmal, danke.” Sandrian schien etwas enttäuscht. “Oh, na gut. Dann eben nur eine Flasche Wein und dafür Quellwasser für unsere Gäste. Wenn ihr Euch bitte setzen würdet. Oh, nicht dort hin, setzen wir uns lieber ans Fenster, da ist es heller. Genau, da haben wir ja alle Platz.” Dieser Sandrian schien ein wirklich redseliger Kerl zu sein, dachte Saturas belustigt, und setzte sich auf einen Sessel nahe der Fensterfront.
Während der Abt und der hohe Wassermagier allgemeine Floskeln tauschten, brachten einige Novizen die gewünschten Speisen. Nach einem kurzen Mahl, bei dem eher der Abt den Eindruck erweckte, als habe er eine lange und beschwerliche Reise hinter sich, entschied Saturas, dass man sich nun endlich dem Wesentlichen zuwenden könne: “Also, Meister Sandrian. Ich bin wirklich gespannt auf Euren Überflieger”, der Ruhm des Magiers Pyrokar, der die Fokusmagie praktisch neu entdeckt hatte, war in der gesamten bekannten Welt verbreitet. Saturas pflegte sich über den aktuellen magischen Fachdiskurs beständig auf dem Laufenden zu halten, und Pyrokars Schriften hatte er praktisch auswendig gelernt, seit er von seiner Beteiligung an diesem Projekt erfahren hatte. “Ich kann es gar nicht erwarten, Pyrokar endlich kennen zu lernen. Es gibt da ein paar Details zu dem Zauber, die ich gerne mit ihm besprechen würde.” Sandrians Gesichtsausdruck verdüsterte sich leicht: “Es, nun ja … also es gibt da leider ein kleines Problem…” Saturas runzelte die Stirn: “Was denn für ein Problem? Stimmt etwas mit den Foki nicht? Oder hat der König sich doch umentschieden?” Sandrian schüttelte den Kopf: “Oh, nein nein nein. Soweit ist alles in Ordnung. Der König ist absolut dafür, nur keine Sorge. Auch die Fokussteine sind perfekt justiert, soweit wir das beurteilen können. Der Zeitpunkt ist perfekt. Abeeer, naja, wie soll ich das sagen … also, um es kurz zu machen…” Saturas konnte seinen Gesichtsaudruck gerade noch beherrschen; er hatte sich geirrt: Dieser Sandrian war nicht einfach nur redselig, er war ein nervtötender Schwafler. “…Pyrokar ist krank.”
Sandrian lehnte sich in seinen Sessel zurück, und schaute in die Runde, als habe er den Geldernschen Knoten gelöst. “Krank”, sagte Saturas nur, mit ausdrucksloser Stimme. Sandrian nickte: “Genau. Krank. Wirklich richtig krank. Es ist nicht lebensbedrohlich, aber er kann den Zauber in nächster Zeit nicht wirken, leider, das geht nicht, dazu ist er nicht in der Lage, dafür geht es ihm einfach zu schlecht. Darmprobleme, Übelkeit, Fieber, Kopfschmerzen, Ihr wisst schon, es hat ihn so richtig erwischt, er…” Diesmal war es Riordian, der den Abt unterbrach, wofür ihm Saturas überaus dankbar war. Weniger dankbar war er dafür, dass Riordian eine Frage stellte, die voraussichtlich einen weiteren Monolog zur Folge haben würde. Zu Saturas Erstaunen fiel Sandrians Antwort präzise und kurz aus: “Natürlich behandeln wir ihn mit den üblichen Heilzaubern, aber deren Wirkung schlägt leider nicht schnell genug an. Selbst wenn Pyrokar schnell geheilt werden sollte, so wird er doch vorerst zu geschwächt sein, um einen so großen Zauber zu leiten.”
“Also müssen wir warten, bis er wieder gesund ist?”, fragte Saturas. Sandrian schüttelte den Kopf: “Nein, die aktuelle Sternenkonstellation muss genutzt werden. Wir können nicht warten, bis sich Pyrokar von seiner Krankheit erholt hat. Der Zauber wird wie geplant übermorgen ausgeführt.” Saturas stutze: “Wer soll denn den Zauber leiten, wenn Pyrokar nicht verfügbar ist? Etwa Ihr, Sandrian? Wohl kaum. Ich bezweifle doch sehr, dass hier irgendjemand Pyrokars Sachverstand über Fokusmagie ersetzen kann. Ich jedenfalls traue es mir nicht zu, und ich habe mich fast ein halbes Jahr darauf vorbereitet.” Die anderen Wassermagier nickten zustimmend: Auch sie fürchteten, einen solch mächtigen Zauber ohne die Hilfe des Mannes, der bisher die Verantwortung für die Operation getragen hatte, zu wirken. Doch Sandrian wischte den Einwand mit einer unwilligen Handbewegung beiseite: “Pyrokar mag auf diesem Gebiet die größte Kompetenz besitzen, sicher doch, keine Frage. Aber er ist nicht der einzige Fachmann. Meister Xardas, ein anderer junger Magier und Träger der hohen Robe des Feuers, hat sich ebenfalls mit Fokusmagie beschäftigt. Er wurde zudem von Pyrokar instruiert. Er verfügt über die Macht und das Wissen, Pyrokar würdig zu ersetzen, da bin ich mir ganz sicher. Wirklich, ein sehr schlauer Bursche, einer unserer Besten. Ihr habt sicher schon von ihm gehört.” Saturas dachte an das Buch, in dem er auf dem Weg von der Hafenstadt Khorinis hier her gelesen hatte. Er hatte allerdings von Xardas gehört. Neben Pyrokar war Xardas bereits das zweite große Talent, welches das Kloster von Khorinis vorzuweisen hatte. Saturas empfand vor allem die ungewöhnlich offenen und aufklärerischen Gedanken des jungen Feuermagiers als überaus erfrischend. “Daher”, fuhr Sandrian fort, “wird ihm die Leitung dieses Zaubers übertragen.” Saturas war entsetzt. Zwar schätzte er dasjenige, was er von besagtem Manne bisher gelesen hatte, doch schien ihm Xardas vor allem ein brillanter Theoretiker zu sein. Dass dieser nun aber einen solchen Großzauber leiten sollte, empfand er vor allem als leichtsinnig. Es erschien ihm improvisiert, und bei derartigen Projekten war es nicht klug, zu improvisieren. “Meister Sandrian. Bei allem Respekt, Xardas ist zu jung. Er mag großes Talent haben, keine Frage, aber er ist sicherlich noch zu unerfahren, um bei einem solchen Zauber eine führende Rolle zu spielen.” Sandrian schüttelte den Kopf: “Na, also Xardas ist kaum jünger als Pyrokar, nur ein ganz klein wenig jünger, das fällt kaum ins Gewicht. Und bei Pyrokar habt ihr doch offensichtlich auch kein Problem damit, dass er so jung ist." Darauf wusste Saturas nichts zu antworten. “Bevor Ihr aber eine endgültige Entscheidung trefft, ob Ihr Euch tatsächlich noch an dem Projekt beteiligen wollt, solltet Ihr Euch vielleicht erst einmal ein eigenes Bild von Xardas machen.”
Sandrian erhob sich schwer. “Folgt mir, ich stelle ihn Euch vor.”
Geändert von Sir Ewek Emelot (10.01.2009 um 17:13 Uhr)
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XI.: Impressionen
Der alte Magier führte Saturas und seine Kollegen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dabei überhäufte er seine Gäste mit einem Schwall an Informationen über die Geschichte des Klosters und seines Inventars, vor allen Dingen aber mit belanglosen Details über allerlei ach so wichtige Gobelins, Gemälde und kostbare Stuckverzierungen, an denen sie vorbei kamen. Es war Saturas ein Rätsel, wie jemand so schnell und ausdauernd reden konnte. Bei seiner Führung machte Sandrian eine gewichtige Miene, mit der er offenbar die Bedeutung seiner Kunstschätze untermalen wollte. Doch Saturas meinte, ein spöttisches Blitzen in den Augen des Abts zu vernehmen: Offenbar machte sich dieser ein Spaß daraus, die Geduld der Wassermagier auf die Probe zu stellen.
An einer Stelle blieb Sandrian schließlich sogar stehen, und präsentierte stolz ein großes Gemälde, das aus der Werkstadt des großen Meisters Mileno Parachi stamme, der auch die berühmte “Esmeraldabrücke” in Vengard entworfen habe: Ein Meisterwerk der Technik, da sich der Brückenbogen lüften lasse, um auch großen Schiffen die freie Fahrt den Ven entlang zu gestatten. Sandrian wurde nicht müde, die tiefgründige Symbolik des Gemäldes zu erläutern, das nach Saturas’ Ansicht viel zu düster und überladen war: Es stellte einen Teil der Genesis aus der Überlieferung des Barthos von Laran dar. Während Sandrian die kunsthistorische Bedeutsamkeit des Werkes hervorhob, und etliche gängige Deutungsversuche vortrug, vertiefte Saturas sich gedanklich in die Verse der Haran-Ho-Meditation. Die Worte des Feuermagiers begannen, an ihm abzuperlen, und Ruhe und Gelassenheit erfüllten seinen Geist. Mit mechanischem Nicken oder Kopfschütteln bewahrte er Sandrian den Eindruck, dass sein Gast ihm noch immer gebannt zuhöre. Schließlich registrierte Saturas, wie sich der alte Magier wieder in Bewegung setzte, und sein Bewusstsein glitt in die Wirklichkeit zurück. Verstohlen sah er sich zu seinen Gefolgsleuten um, die einen durchweg gelangweilten Eindruck erweckten. Mit strafendem Blick ermahnte er sie, sich zu beherrschen, und nahm die Verfolgung Sandrians wieder auf.
Als sie zuvor die Kapelle des Klosters passiert hatten, waren ihnen dumpf die Klänge würdevollen Gesangs zu Ohren gekommen. Nun hatten sich einige Novizen im Klosterhof verteilt, oder es sich auf den Stufen gemütlich gemacht, die zum schweren Holzportal der Kapelle hinaufführten. Aus der rechteckigen Öffnung, die in das große, bogenförmige Tor eingelassen war, drangen aber auch jetzt noch gedämpft melodische Klänge: Waren es vorher die schweren Choräle gewesen, mit denen der Kreis des Feuers seinen Gott zu lobpreisen pflegte, so drangen nun die verspielten Töne eines Orgelspiels in den Klosterhof. Saturas wunderte sich, mit welch würdevoller Eleganz der Abt seinen massigen Leib zwischen den Grüppchen von Novizen hindurchmanövrierte, die ihren Vorgesetzen höflich grüßten.
Saturas hatte vom enormen, musikalischen Talent des jungen Meisters Xardas gehört, der offenbar eine ganze Reihe an Kirchenliedern überarbeitet, und weitere eigenständig verfasst hatte. Nach Saturas Meinung aber gab es genau zwei Namen, welche man sich zum Thema “Musik” zu merken hatte: Fynn, der Wunderbare, der nicht nur etliche fantastische Lieder komponiert, sondern vor allen Dingen auch die sechssaitige Leier erfunden, und den Vorläufer der modernen Notenschrift entwickelt hatte. Und den großen Liareb, der erst seit wenigen Jahren als tot galt, und doch schon zu einer Legende geworden war. Liareb hatte die myrtanische Musik praktisch neu erfunden, und mittlerweile ganze Heere an jungen Komponisten dazu verleitet, seinen einmaligen Stil fortzuentwickeln. Nur wenige dieser Komponisten konnten es mit ihrem Vorbild aufnehmen, doch nach allem, was Saturas gehört hatte, sollte Xardas die besten Aussichten haben, den Meister sogar noch zu übertreffen.
Doch allen Gerüchten zum Trotze konnte sich Saturas nicht vorstellen, dass der junge Träger der hohen Robe es mit Liareb aufnehmen konnte: Bei einem magiewissenschaftlichen Symposion, das Saturas einst besucht hatte, war den Gästen zur Einstimmung eine Sonate des Liareb in drei Sätzen kredenzt worden - natürlich mit reichlich Wein und allerlei Spezereien - die Saturas nahezu zu Tränen gerührt hatte. Ein Kunststück, das sonst bloß Fynn, der Wunderbare, mit seiner “Akashade” bewerkstelligte, die in ihren zwölf Gesängen vom tragischen Leben des antiken Heroen kündete.
Als die Gruppe nun aber die Schwelle des kleinen Türchens passierte, welche den Hof vom Innern der Kapelle trennte, wurde Saturas eines Besseren belehrt: Der Sonne gleich, die ihr Licht plötzlich über die Welt ergießt, nachdem sich ein Mantel schwerer Wolken endlich aufgelöst hat, brach nun, da er das Innere des Gotteshauses betreten hatte, auch Xardas Musik mit aller Macht über ihn herein. Die spielerischen Klänge umschmeichelten - mal sanft und langsam, mal schnell und voll sprudelnder Lebensfreude - sein Gehör. Sein Blick fiel sofort auf einen kleinen Balkon an der Hinterseite des Hauptschiffs: Dort sah er die Gestalt in roter Robe, die an der Klaviatur der gewaltigen Orgel saß, deren Klänge das Gebäude erfüllten. Xardas wiegte seinen Körper im Takt der Musik. Von seiner Position aus vermochte Saturas die flinken Bewegungen der Hände nicht zu sehen, die über die Tasten glitten, doch selbst aus der Ferne meinte er, das Strahlen zu sehen, welches vom jungen Feuermagier ausging. Er hatte das Gefühl, dass von Xardas Position aus heiße Wellen reiner Energie in den Raum entwichen, im Gleichtakt mit den Klängen der Orgel. Erst jetzt, so erkannte Saturas verwundert, verstand er, was Xardas in seinem Buch gemeint hatte: “Die Kunst als Organon der Magietheorie!” In perfekter Harmonie webte Xardas ein feines Gespinst aus Klängen, doch dieselben Harmonien durchdrangen auch das Gefüge der Magie. So, wie Xardas mit seiner Orgel jede Regung menschlichen Denkens und Fühlens als komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Klänge zustande bringen konnte, vermochte er auch der Magie jede Form zu geben, die ihm vorschwebte. Das Strahlen, das Saturas wahrnahm, war Magie, gebündelt und geformt durch denselben Geistesakt, der auch die Musik hervorbrachte.
Saturas zweifelte nicht mehr länger an der Befähigung des jungen Xardas, das gefährliche, magische Projekt umzusetzen, dessentwegen er hier war. Denn niemand sonst wäre in der Lage, die magischen Strömungen in solch vollkommener Harmonie zu lenken.
Er war, wie immer, ganz in seine Musik versunken. Doch während ihn dies früher von der Welt abgeschirmt, ihn alles Irdische hatte vergessen lassen, so war die Wirkung seines Spieles nun, da er die Geheimnisse der Magie zu ergründen begonnen hatte, eine gänzlich andere: Beliar hatte gelernt, das harmonische Gefüge der magischen Kraftlinien in seine eigene Musik aufzunehmen. Und indem er sich durch sein Spiel auf diese Harmonien einstellte, und seinen Geist mit dem magischen Gefüge verwob, wuchs auch seine Kontrolle darüber. Wie lächerlich schwach waren die Zauber der sterblichen Magier? Wie ungeschlacht ihre primitiven Rituale? Die Magie war wie eine Melodie, in die man einstimmen musste. Wenn dies gelang, so war es ein Leichtes, die Melodie zu beeinflussen, sie langsam zu ändern. Doch nicht etwa indem man sie grob in fremde Formen zwang, sondern indem man sie langsam und sanft dahin überführte. Es erfüllte Beliar stets mit immer neuer und zunehmender Freude, je öfter und anhaltender er sein Gemüt in die magischen Strömungen versenkte. War sein Geist einmal in jene kosmischen Harmonien eingetaucht, so schien es ihm ein leichtes, selbst die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden. In diesen seligen Augenblicken fühlte er sich wahrlich wieder wie das, was er eigentlich war: Ein Gott. Manchmal hatte er gar das Gefühl, dass seine Musik der Schlüssel zur Exkarnation sein könnte. Es schien beinahe, als könne es gelingen. Beinahe.
Doch seine Pläne sahen anderes vor.
Sanft glitten seine Finger über die Tasten der Orgel, und entlockten dieser Klänge, die von einer Wühlmausfamilie kündeten, die sich unter dem Kräutergarten des Klosters ihr Nest errichtet hatte; von einem Spatz, der in den Klauen eines Falken den Tod fand; dem sanften Dahingleiten des Wassers, dass, von den Bergen kommend, in den See mündete, aus dem der Klosterfelsen hervorragte; vom Wachsen der Bäume und Sträucher auf der Insel, und noch weit über all das hinaus. In nur wenigen Tönen fasste Beliar den gesamten Kosmos in all seinen Nuancen, bis hin zu den fernsten Gestirnen.
Und so war ihm auch die Ankunft der lang erwarteten Gäste nicht entgangen. So, wie sich die Muster ihrer Lebenskraft als kleine Verwerfungen im magischen Gefüge bemerkbar machten, manifestierten sie sich in Beliars Spiel als eine Reihe schneller Akkorde, als ein weiterer Schnörkel seines Stücks. So nahm er wahr, wie sie vom listigen, alten Sandrian empfangen wurden, der schon allzu oft von Rivalen innerhalb und Gegnern außerhalb des Ordens schmählich unterschätzt worden war. Ja, auch diesmal schien der alte Abt wieder sein Spiel zu treiben, und die Gäste mit der Maske des harmlosen, alten Zausels zu blenden. Beliar nahm auch wahr, wie die Gäste, angeführt vom Abt, den Speisesaal in Richtung Klosterhof verließen. Nur die Kapelle konnte ihr Ziel sein. Sandrian hatte die Wassermagier also überzeugen können. Wenigstens soweit, dass sie sich jenen Xardas zumindest einmal anschauen wollten.
Gut!
Als die Gäste die Kapelle betraten, setzte Beliar sein Spiel eine Weile fort. Es war ihm zu wichtig, als dass er es hätte abbrechen wollen. Er konnte nicht von jetzt auf gleich aufhören, seinen Geist aus dem harmonischen Gefüge herausreißen. Er musste sich langsam lösen, die Musik langsam verklingen lassen. Das Stück musste ein Ende haben.
Am Ende seines Spiels steigerten sich die Töne noch einmal zu einem erhabenen, lautstarken Finale, einer Explosion schneller, machtvoller Töne, bis schließlich der letzte schwer und lang anhaltend verklang.
Saturas war ergriffen vom Spiel des jungen Feuermagiers. Niemals hatte er dergleichen gehört. Auch den anderen war es so ergangen, erkannte er: Seine Gefährten sahen verklärten Blickes zu Boden, oder hatten die Augen geschlossen. Auch der Abt Sandrian schien vom Spiel seines Musterschülers hingerissen. Nachdem auch der letzte Ton verklungen war, gab der alte Hochmagier ein Seufzen von sich, und sein Gesicht drückte nichts als reine, unverfälschte Freude aus. Ebenso wie Saturas’ eigenes es wohl tun musste.
Schließlich räusperte sich Sandrian, und setzte sich wieder in Bewegung. Die Wassermagier lösten sich aus der tranceartigen Versenkung, in die sie Xardas’ Musik befördert hatte, und folgten dem Abt die Stufen zur Orgelempore hinauf, wo Xardas noch immer an der Klaviatur saß. Als sie sich ihm näherten, wandte sich dieser auf seinem Hocker um, und erwartete die Neuankömmlinge mit einem freundlichen, gelassenen Lächeln.
“Meister Xardas!”, schnaufte Sandrian, vom Treppensteigen offenbar noch etwas kurzatmig, “Ganz fantastisch, wirklich ganz fantastisch! Du wirst wirklich immer besser, mein Sohn.” Xardas machte dem Älteren höflich Platz, worauf sich dieser schwer auf den Hocker sacken ließ, ein weißes Taschentuch zückte, und sich über die Stirn wischte. Merkwürdigerweise konnte Saturas aber keinerlei Schweißtropfen auf der Stirn des Abtes feststellen, und auch dessen Stimme schien einiges an Kurzatmigkeit verloren zu haben, als er fortfuhr: “Meister Saturas, darf ich vorstellen: Meister Xardas. Jüngster Träger der hohen Robe des Feuers. Und dies, mein Sohn, sind Meister Saturas vom Kreis des Wassers, und sein Gefolge, wie Du dir sicherlich schon hast denken können.” Xardas nickte den Gästen wohlwollend zu. Saturas tat es ihm gleich: “Ihr also seid der berühmte Xardas. Ich bin geehrt.” Verstohlen strichen seine Finger über den Rücken des Buches, das er noch immer in den Falten seiner weiten Robe verborgen hielt. Das Lächeln dieses Xardas war wirklich höchst einnehmend: “Die Ehre ist ganz meinerseits, Herr Saturas. Schließlich trifft man den Erfinder des Eislanzenzaubers auch nicht jeden Tag.” Und zu schmeicheln wusste der junge Feuermagier offenbar auch. Saturas musste vorsichtig sein, sonst würde er sich im Netz Sandrians, oder auch Xardas’ verfangen.
“Euer Spiel ist in der Tat höchst eindrucksvoll. Ich möchte fast sagen, dass ich noch nie etwas derart Schönes gehört habe.” Xardas winkte ab: “Ach was! Ich habe einst ein Konzert des großen Liareb selbst besucht. DAS war grandios! Verglichen mit ihm bin ich bloß ein Lehrling.” Nun, wenn er sich denn unbedingt in falscher Bescheidenheit üben wollte, Saturas würde ihn daran nicht hindern: “Der Grund unserer Anwesenheit ist aber leider nicht die Musik, so schön diese auch sein mag, und so erfüllend das Gespräch darüber. Uns wurde mitgeteilt, dass Ihr als Ersatz für den erkrankten Meister Pyrokar einspringen sollt?” “Oh, ja, da habt Ihr richtig gehört. Pyrokars Krankheit ist ein höchst bedauerlicher Zufall. Ich muss gestehen, dass nicht einmal ich es in Sachen Fokusmagie mit ihm aufnehmen kann.” Von wegen bescheiden! Dieses Mal hatte sich Xardas offenbar verplappert. Doch mehr als ein kurzes Blinzeln ließ sich Xardas nicht anmerken. So selbstbeherrscht er auch sein mochte, unfehlbar war er offenbar nicht. “Der ehrwürdige Meister Sandrian versicherte uns, dass Ihr ein geeigneter Kandidat seid. Wenn Ihr nichts dagegen habt, dann werden wir den Zauber jetzt mit Euch durchgehen.” Sandrian erhob sich: “Ah, hatte ich es nicht gesagt? Unser Xardas ist wirklich ein Wunderknabe, der fast so schlau ist, wie unser Pyrokar. Für Eure Vorbereitungen werdet Ihr mich nicht mehr brauchen. Sagt dann einfach Bescheid, wenn Ihr alles besprochen habt, ja?” Der Abt erhob sich wieder, und stapfte unter den Blicken der anderen die schmalen Holzstufen zum Kapellenschiff hinunter. Während er dem Ausgang zustrebte, ergriff Xardas wieder das Wort: “Ihr werdet sicherlich die Foki inspizieren wollen. Außerdem müssen wir die genaue Aufgabenteilung durchgehen. Ich werde Euch auch mit den restlichen Feuermagiern bekannt machen, die teilnehmen werden. Hier geht’s lang.”
Mit diesen Worten machte sich Xardas auf den Weg.
Saturas seufzte: An diesen Feuermagiern waren wahrlich Fremdenführer verloren gegangen. So langsam bereute er es, nicht doch etwas mehr gegessen zu haben. Auch eine kurze Erholungspause von der Reise, sowie ein Bad, wären ihm nun lieb. Aber er hatte ja unbedingt den Pflichterfüllten spielen müssen! Die vorwurfsvollen Blicke der anderen Wassermagier lasteten auf ihm, während er sich an Xardas’ Fersen heftete. Und das Metronom, das kurz zuvor noch auf der Ecke des Spieltischs gestanden hatte, verschwand unbemerkt in eine von Cronos’ Taschen.
Geändert von Sir Ewek Emelot (15.09.2010 um 15:17 Uhr)
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XII.: Hindernisse
Mit einem Stöhnen entwich alle Luft aus seinen Lungen, und die unwiderstehliche Kraft presste ihn an die Wand. Der Aufprall war überaus schmerzhaft gewesen. “Wäret ihr wohl bitte so freundlich, oh großmächtiger Fürst, eure Worte zu wiederholen? Obwohl ich mein Gehör doch für recht gut halte, muss ich annehmen, dass ich mich soeben verhört habe. Schließlich ist es völlig unmöglich, dass eine derart gescheite und hochherrschaftliche Person wie ihr den zwölf mächtigsten Magiern der bekannten Welt die Gastfreundschaft verweigern wollte. Wer wäre schließlich so dumm, den Zorn der Götter auf sich zu ziehen, deren Willen wir, so wie wir hier stehen, auf Erden vertreten?” Der beißende Spott in der Stimme des Rotgewandeten war schier unerträglich. “Ngh!” erwiderte er mit erstickter Stimme. “Oh, das tut mir wirklich Leid! Ich habe offenbar vergessen, die Magie zu löschen. Moment, das haben wir gleich.” Die Freundlichkeit in der Stimme war nichts als reiner Hohn. Doch wenigstens ließ die unsichtbare Kraft von ihm ab, die seinen Brustkorb gegen die Mauer gedrückt hatte. Er sackte auf die Knie und rang nach Luft. “Ich brenne noch immer auf eine Antwort, Herr Gomez.” Gomez blickte auf, dem Mann ins Gesicht. Ein fürsorgliches Lächeln, strahlende Augen, ein überaus sympathischer und Vertrauen erweckender Anblick. Der Magier stand recht gelassen da, als erlebe er solche Situationen täglich.
“N-N-Natürlich a-achten w-w-wir die G-Götter!” Gomez richtete sich auf, und straffte seine Schultern. Er würde keinesfalls vor diesem elenden Pfaffen kriechen! Er räusperte sich und fuhr mit festerer Stimme, in die er etwas Spott hineinzulegen versuchte, fort: “Auch wenn sich durchaus die Frage stellt, wessen göttliche Gunst wir suchen.”
Einer der anderen Rotgewandeten flüsterte dem Anführer etwas ins Ohr. Dieser jedoch lachte bloß leise: “Wie niedlich! Der kleine Gomez versucht, uns mit dem bösen, bösen Beliar zu drohen.” Obwohl der Magier seine Stimme nicht hob, drang sie in alle Winkel des Hofes. Ein toller Trick, das musste Gomez zugeben. “Wirklich goldig, wie er versucht, uns einen Ork aufzubinden. Wird er als nächstes versuchen, uns mit einem furchtbar bösen Zauber zu drohen?” Gomez wurde rot. Er hasste es, wenn sich andere über ihn lustig machten.
Unauffällig blickte sich Gomez um. Das verlief gar nicht gut. Er konnte die Unsicherheit auf den Gesichtern seiner Leute sehen: Sie waren im Begriff, das Vertrauen in ihn zu verlieren. Den Respekt. Die Furcht vor ihm. Nach dem Auftritt dieses arroganten Innosdieners waren sie zu eingeschüchtert, als dass sie einen Kampf riskieren würden. Idioten! Gegen diese Übermacht hätten die paar Magier doch keine Chance. Dennoch spürte Gomez, dass er sich isolieren würde, würde er den Magiern weiteren Widerstand leisten. Er verlöre seinen Einfluss. Wenn er den Magiern nachgab, konnte er die Situation vielleicht noch retten: “Wie ich bereits sagte: Wir sind alle gläubige Menschen, denen an der Gunst der Götter gelegen ist. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als wären ihre Diener bei uns nicht willkommen. Ganz im Gegenteil.”
Der Magier nickte, als habe man ihm einen komplizierten Sachverhalt erklärt: “Ahja. Nun, dann habe ich mich also tatsächlich verhört. Dachte ich’s mir doch. Es wird uns eine Ehre sein, die Gastfreundschaft eines derart vornehmen Fürsten zu genießen.” Mit diesen Worten wandten sich die Magier den Gebäuden zu, die sich an die Burgmauer drängten.
Gomez kochte innerlich, denn er ahnte, dass er diese eitlen Priester so schnell nicht wieder loswerden würde.
Beliar hatte erreicht, was er wollte. Natürlich wussten das die anderen Magier nicht. Diese empfanden die jüngsten Ereignisse nachgerade als Katastrophe. Dementsprechend zerknirscht musste Beliar sich geben. Am liebsten hätte er ein vergnügtes Lied vor sich hin gesummt, noch musste er sich aber mit einer Trauermiene herumtragen.
Er hatte natürlich die Verantwortung auf sich genommen. Was die anderen Magier natürlich abgelehnt hatten. Innerlich lachte Beliar. Genau genommen hatte er nichts falsch gemacht. Das Ritual war haargenau nach den Vorgaben abgelaufen, die Pyrokar gemacht hatte. Und das wussten die anderen. Daher gaben sie nun Pyrokar die Schuld. Doch auch dessen Berechnungen waren in der Tat makellos gewesen. Mit der Einschränkung, dass er eine kleine Variable nicht beachtet hatte. Kein Wunder, hatte doch niemand davon wissen können. Niemand, außer Beliar.
Der "Unfall" war also perfekt inszeniert worden.
Es hatte mit der Begutachtung der Fokussteine begonnen, die er mit den hungrigen Wassermagiern begangen hatte. Amüsant, wie sie versucht hatten, sich als tadellose und unbestechliche Diener des Gleichgewichts darzustellen. In gewisser Weise hatte ihre Disziplin Beliar Respekt abgenötigt, doch das regelmäßige Knurren ihrer Bäuche schränkte diese Wirkung etwas ein.
Als nächstes hatte er sie mit den beteiligten Feuermagiern bekannt gemacht, mit denen sie sich in Pyrokars Schlafgemach getroffen hatten. Der kranke Feuermagier war bleich gewesen, und ein unangenehmer Geruch nach Krankheit und Medizin hatte im Raum gehangen. Pyrokars Stimme war etwas zittrig gewesen, während er die genaue Vorgehensweise erläutert hatte. Doch seine Ausdrucksweise war klar und präzise gewesen, wie eh und je, und obwohl er es nicht gerne getan hatte, hatte er die Wassermagier doch Xardas‘ Kompetenz’ versichert. Beliar hatte dies durch gelegentliche Einlassungen seinerseits belegt, ohne dem Vortrag des andern dadurch zu viel Raum genommen zu haben. Dennoch, das hatte er gespürt, brodelte Pyrokar innerlich.
Das Ritual selbst war dann einige Tage später vorgenommen worden, unter idealen stellaren Bedingungen: Die zwölf Magier, sechs vom Kreis des Feuers, die anderen vom Kreis des Wassers, hatten die fünf magischen Foki an den Spitzen eines gedachten Pentagramms aufgestellt, welches das gesamte Minental umfasste. Den Berechnungen Pyrokars zufolge hatten sie ihre magischen Kräfte unter Beliars Anleitung vereint, um die magische Kuppel zu erzeugen, welche das Straflager - die Burg in der Mitte des Tales - sowie die Hauptabbaustätten des magischen Erzes umfassen sollte. Jeder der fünf Fokuspunkte stand für eines der Elemente: Feuer, Erde, Wasser, Luft und Geist. Ein jeder der Foki war durch einen Feuer- und einen Wassermagier kontrolliert worden. Saturas und Beliar indes, als höchste beteiligte Magier ihrer Kreise, hatten den Willen von Adanos und Innos vertreten, und die Urgewalten in die angestrebte Richtung gelenkt.
Wie erwartet hatten die Fokussteine ihre Magie entfesselt, und wie erwartet hatten die zwölf Magier ihr die Form jener Kuppel verleihen können, welche jeden Fluchtversuch der Strafgefangenen in den Erzminen im Keim ersticken sollte.
Doch dann hatten die Magier einen unerwarteten Widerstand verspürt. Nun, unerwartet zumindest für elf von ihnen: Die magischen Energien schienen anzuschwellen, ein weitaus größeres Maß zu erreichen, als es geplant gewesen war, und so hatten die Magier die Kontrolle über sie verloren. Die magische Kuppel war regelrecht explodiert, und plötzlich hatten sich Magier in ihrem eigenen Gefängnis wieder gefunden. Und zu allem Überfluss hatte die magische Barriere auch noch ihre Struktur verändert: Keine Teleportation, das hatten die Magier gespürt, könnte sicher aus dem Gefängnis befreien.
Die verwirrten Priester hatten nichts anderes zu tun gewusst, als sich bei der Burg zu sammeln, in der Hoffnung, bei den Gefängniswärtern dort einstweilen Unterschlupf zu finden, um dann an einem Ausgang aus der vertrackten Situation zu forschen. Sie waren einigermaßen verwundert gewesen, die Burg anstatt in den Händen der königlichen Strafvollzugsbeamten unter der Kontrolle aufsässiger Gefangener vorzufinden. Und noch weitaus verwunderlicher war es gewesen, als einer der Gefangenen, Gomez mit Namen, sich ihnen als neuer Burgherr vorgestellt hatte - und sie auf nicht gerade freundliche Weise davon informiert hatte, dass sie in der Burg nicht willkommen seien. Der arme Narr hatte tatsächlich versucht, Hand an Beliar zu legen!
Nun, Beliar waren die Belange dieser Sterblichen letztlich gleichgültig. Was kümmerte es ihn, wer in diesem Minental die Macht innezuhaben meinte? Sollten doch die Gefangenen sich austoben, wie immer es ihnen beliebte. Was er hatte erreichen wollen, war ihm gelungen. Und ein sehr, sehr mächtiger Feind würde schon bald damit beginnen, verhängnisvolle Fehler zu begehen.
Während sich Beliar in seinem neuen, durchaus annehmbaren Zimmer in der Burg einrichtete, und dabei über das Gelingen seiner bisherigen Pläne amüsierte, vernahm er ein leises Zischen hinter sich. Er kicherte leise, und wandte sich zu dem Besucher um: “Oh, Shalfarezel! Endlich bist Du da. Wie laufen die Arbeiten?” "Oh, ziemlich gut", meinte der Dämon, in der wenig spektakulären Gestalt eines grünfelligen Goblins, "wir haben die Baumaterialien schon herangeschafft. Die Baustelle ist getarnt, und das Inventar wurde vorerst in einer Höhle verstaut." Beliar nickte zufrieden: "Sehr, sehr gut. Das freut mich." Beliar blickte sich noch einmal in dem Zimmer um. "Ihr habt den schwarzen Stein genommen?" "Natürlich, wie befohlen." Beliar seufzte, und dachte über seine Situation nach. Schließlich, kam er zu einem Entschluss: "Ich denke, dass ich Euch noch einen weiteren Auftrag geben muss, Shalfe." Der Dämon sah nicht begeistert aus, konnte er sich doch denken, worum es ging. Doch er würde natürlich gehorchen. So, wie er es immer tat.
Geändert von Sir Ewek Emelot (03.01.2010 um 14:34 Uhr)
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XIII.: Vogelblick
Die eisige Kälte hier oben machte ihm nichts aus, ebenso wenig wie die dünne Luft, bei der wohl kaum ein Mensch noch hätte atmen können. Für Finkregh hingegen barg dieser Ort nur Vorteile: Vom Gipfel des Berges aus konnte er das gesamte Minental von Khorinis überblicken, und selbst aus dieser gewaltigen Höhe vermochten seine Drachenaugen noch Einzelheiten zu erkennen. Er selbst hingegen war hier unsichtbar. Vor dem weißen Hintergrund des Schnees war sein Körper kaum zu erkennen, und es wäre ohnehin niemand in der Lage, ihn in so hoher Entfernung noch auszumachen, selbst wenn sein Drachenleib rot und nicht weiß gewesen wäre. Lediglich einige Vögel, die einsam ihre Bahn zogen, mochten hier seiner gewahr werden.
Finkregh beobachtete die Menschen in ihrer Burg, die aus der Mitte des Tales emporragte. Ein machtvolles Bollwerk, jedenfalls gegen andere dieser mickrigen Primaten. Das Tal war nun von einer gewaltigen magischen Kuppel umgeben. Finkreghs magischer Blick erkannte das feingliedrige Netz der Magie, das eine perfekte Sphäre bildete, die sich auch unterirdisch fortsetzte. Gelegentlich, wenn der ein oder andere Vogel die Kuppel von außen oder innen streifte, bildeten sich blaue Schlieren. Doch erst ein Regenguss wäre dazu in der Lage, die Kontur der ganzen Kuppel auch dem Magieunempfänglichen sichtbar zu machen. Oder ein Blitz, dessen Energie sie zum Leuchten brächte. Doch der wolkenlose, blaue Himmel sah nicht nach Regen oder Unwetter aus.
Natürlich hätte Finkregh Feuer und Eis gegen das magische Bollwerk speien können. Die geballte Macht der Elemente hätte sich ebenso sichtbar manifestiert wie ein Blitz, und die Barriere im Ganzen erscheinen lassen. Womöglich wäre er, Finkregh, sogar in der Lage gewesen, den mächtigen Bannzauber zu zerstören.
Doch daran hatte er keinerlei Interesse.
Der Gott, Beliar, lebte nun wohl in der Menschenburg. Nicht einmal Finkregh wäre in der Lage gewesen, seinen Leib von hier oben aus von denjenigen der anderen Burgbewohner zu unterscheiden. Dennoch konnte er die einzelnen Menschlein ausmachen, die im Burginneren hin und her wuselten. Außerhalb der Burg errichteten andere Menschlein Holzhütten, die sich an die Festungsmauer drängten, und einen größer werdenden Ring um die Burg bildeten. Irgendeine dieser vielen Gestalten mochte der Gott sein.
Beliar, so dachte Finkregh, war sicherlich vom Gelingen seiner Pläne überzeugt. Finkreghs Verbündeter im Innern der Barriere würde bald schon aktiv werden. Die Isolation, in die er durch die magische Kuppel versetzt worden war, verschaffte ihm neue Handlungsmöglichkeiten. Der Plan des Gottes, das musste der Drache zugeben, war wirklich raffiniert. Das Wesen im Innern der Barriere musste glauben, dass die Erschaffung der magischen Kuppel ein gescheiterter Versuch gewesen sei, es einzusperren. Doch solch ein Fehler wäre dem Gott wohl kaum unterlaufen, wie Finkregh wusste. Er war aber mit dem mutmaßlichen Unwissen seines Verbündeten durchaus zufrieden: Letzten Endes war dieser ja auch nicht mehr als ein Werkzeug. Ebenso wenig wie Beliar.
Finkregh ließ seinen Blick durch das Tal schweifen. Er erkannte die kolossalen Körper von Trollen, die in den Ausläufern der Berge lebten, einige Snapper, Skavenger, und andere Tiere. Das sanfte Dahinströmen der Flüsse, die das Tal durchzogen, und die Landschaft erblühen ließen. Westlich der Burg begann das wilde Gebiet, welches vom örtlichen Orkstamm bewohnt wurde. Er wollte sich gerade deren Ansiedlung zuwenden, als er plötzlich eine merkwürdige Verzerrung wahrnahm. Dort: Auf einer kleinen Insel inmitten eines Sees, der auf einem Hochplateau aus etlichen Bergquellen gespeist wurde, und selbst wiederum in zwei Ströme überging, welche über Wasserfälle hinab ins das Tal donnerten. Niemand sonst, außer Finkregh, wäre wohl in der Lage gewesen, jene Erscheinung auszumachen. Jeder der Menschen hätte allenfalls ein Flirren in der Luft bemerkt, wie es von großer Hitze erzeugt wurde. Finkregh aber sah unter die Illusion: Auf der Insel ragten die Mauern eines noch unvollständigen, düsteren Bauwerks empor. Schwarze Steine, Zacken; offenbar war jemand im Begriff, dort einen Turm zu errichten, und zwar ganz im Geheimen.
Beliar.
Der Gott hatte also entschieden, dass er die Burg der Menschen verlassen würde. Doch noch, so schien es, wollte er sein Vorhaben geheim halten.
Einerlei! Der Gott sollte wohnen, wo immer wollte. Theoretisch könnte er wohl sogar die Barriere verlassen - immerhin war sein Körper unsterblich.
Finkregh wandte sich endlich dem Orkdorf zu. Und öffnete seinen Geist für den Verbündeten. Noch musste er den Diener spielen, und sich dem mächtigen Wesen fügen, sein Vertrauen gewinnen. Finkregh würde den Einfluss des Wesens in dieser Welt verbreiten, seine Macht mehren und an die Erde binden. Letztlich würde er selbst gar nichts zu tun brauchen, um sich dieses vermeintlichen Herren zu entledigen.
Der Gott würde ihm alle Arbeit abnehmen, und am Ende bräuchte ihm Finkregh nur den begehrten Preis vor der Nase wegzuschnappen.
Als Finkregh die Anweisungen des Verbündeten erhalten hatte, grub er seine Klauen tief in den Schnee, stieß sich mit einem mächtigen Satz vom Boden ab, und breitete seine Flügel aus. Würde jemand zufällig in die Höhe blicken, wäre Finkreghs Gestalt von der eines Vogels nicht zu unterscheiden. Hier oben war Finkregh verborgen, unsichtbar für alle.
Lediglich einige Vögel mochten seiner hier gewahr werden.
Geändert von Sir Ewek Emelot (31.05.2009 um 12:41 Uhr)
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XIV.: Glanzstücke
L234: Goldpokal; ornamentale Flammenverzierungen an den Rändern mit 5 eingelassenen Rubinen,…
Von Gorax’ sicherer Hand geführt bannte die Feder sorgfältig alle Informationen in das Inventarbuch. Er hatte bereits eine enorme Anzahl alter Kisten, Truhen und Regale, ganze Lagerräume aufgenommen, und die Besitztümer des Klosters waren so gut geordnet wie schon lange nicht mehr. Er gestattete sich einen versonnenen Blick auf den Gegenstand, den er gerade eingetragen hatte: Es war ein schöner Kelch, der im Kerzenlicht schimmerte. Gorax wendete ihn hin und her, um die Lichtreflexionen darauf beobachten zu können, bewunderte die eingefassten Edelsteine, die das Kerzenlicht rot zurückwarfen. Wahrlich, dieser Kelch war eines Dieners Innos würdig! Er entschied, sich zusätzlich eine Notiz zu machen, ob man diesen Kelch nicht wieder in Verwendung bringen könnte - Meister Sandrian hätte sicher seine Freude an ihm -, schlug ihn dann wieder in das Tuch und legte ihn in die Kiste, der er ihn entnommen hatte, zurück.
Der nächste Gegenstand war ebenso in Tuch geschlagen, und wie schon beim Pokal fühlte Gorax goldene Schwere. Es handelte sich um ein Amulett von offenbar großer Kunstfertigkeit. Bewundernd folgte er den verschlungenen Verzierungen, welche eine stilisierte Sonne zeigten, in deren Mitte ein strahlend weißer Diamant eingefasst war. Dieses Amulett, das spürte Gorax sogleich, was etwas Besonderes. Irgendwie, so meinte er, kam es ihm bekannt vor.
Er schaute in das alte Inventarbuch, und fand zügig den entsprechenden Posten: “goldenes Amulett mit eingefasstem Diamanten”. Mehr stand da nicht. Die alten Lagerlisten waren oft unvollständig, ungenau und schludrig geführt, die einzelnen Posten ungeordnet und alles war eher wahllos durcheinander verstaut.
Er überlegte noch eine Weile, ob er diesen neuen Posten einfach so übertragen sollte, wie schon all die vorherigen, ob er mit seiner Inventur fortfahren sollte. Dann aber entschied er, sie einstweilen zu unterbrechen: Er wollte Nachforschungen über dieses Amulett anstellen.
Seit sein Meister Xardas von seinem eigenen Zauber verschluckt worden war, zusammen mit weiteren elf der mächtigsten Magier der Welt, hatte Gorax die Klosterverwaltung vollständig übernommen. Xardas hatte sämtliche Verfahren der Buchführung, Lagerung und Organisation des Klosterbesitzes modernisiert, und es zu beachtlichem Wohlstand geführt. Gorax selbst hatte täglich etliche Stunden damit zugebracht, die alten Bestände zu dokumentieren, und dabei viele verloren geglaubte Schätze wieder ans Tageslicht befördert. Von allen Klosterbewohnern war er allein dazu in der Lage, Xardas’ Vermächtnis fortzusetzen, und dem Kloster somit auch weiterhin jenes wohlgeordnete, materielle Erblühen zu sichern, das sein verlorener Meister einst eingeleitet hatte.
Daher hatte auch nach Xardas’ Verschwinden niemand dessen Anweisungen an Gorax in Frage gestellt: Noch immer hatte er vollständigen Zugang zu allen Lagerräumen, sämtlichen Gütern, und … der Bibliothek. Es war eine Angewohnheit von ihm, über die interessanteren Fundstücke zu recherchieren. Oftmals gaben die alten Lagerlisten nicht hinlänglich Kunde über Herkunft und Bedeutung der einzelnen Posten. Gorax vermutete, dass es sich hier ebenso verhalten mochte.
Mit einem Notizblock und dem eingeschlagenen Amulett schlenderte er nachdenklich über den Klosterhof zum Bibliotheksgebäude. Dieses stand etwas abseits von den Wohnbereichen, gleich links neben dem Klostertor. Auf diese Weise war die Wahrscheinlichkeit eines Brandes in diesem wichtigsten Teil des Klosters vermindert: Zwar war es winters in der Bibliothek bitterkalt, doch war sie weit genug von allem mit Feuer Beheizten entfernt, dass ein Übergreifen eines eventuellen Brandes leicht vermieden werden konnte. In der aktuellen frühsommerlichen Zeit aber spendete das Gebäude angenehme Kühle, vor allem in den letzten Tagen, welche von einer besonders wohlwollenden Innosscheibe bedacht worden waren, und den arbeitenden Novizen den Schweiß aus den Poren getrieben hatten.
Das Innere der Bibliothek war von magischen Lichtern erhellt, welche den Raum großzügig und gleichmäßig ausleuchteten. Schnell fand Gorax seinen Weg zum Stichwortkatalog. Seine Nachforschungen gestalteten sich oft schwierig, vor allem zu Beginn, wenn er noch keinerlei Anhaltspunkte auf die Identität der fraglichen Gegenstände besaß. Er musste oft mühsam unzählige Listen durchgehen, auf der Suche nach geeigneten Werken, welche Informationen zu gerade diesem oder jenem Gegenstand bergen mochten.
Da Gorax vermutete, dass das Amulett magisch sein könne, schaute er nach Werken über “magische Amulette”. Es gab freilich hunderte davon in der umfangreichen Klosterbibliothek, von denen er aber etliche schon ausschließen konnte: Ihn interessierte nicht die Herstellung, Funktion oder der Gebrauch dieser Gegenstände, sondern er bedurfte eher eines enzyklopädischen Werkes, welches möglicherweise besonders bekannte Amulette beschrieb oder aufführte. Dummerweise aber waren die Hinweise, die Gorax suchte, oft versteckt. So mochte zum Beispiel in einer historischen Chronik das Geschenk an einen Grafen, König oder Primas beschrieben werden, das dann später zufällig seinen Weg in die unergründlichen Lagerkeller des khoriner Klosters, und schließlich in die Hände Gorax‘ gefunden hatte. Er hatte sogar schon - meist eher aus Zufall denn durch systematisches Recherchieren - in Biographien wichtiger Persönlichkeiten oder gar poetischen Werken konkrete Hinweise auf das ein oder andre Unikat gefunden. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass dieser komische, alte Schild, der offenbar seit Jahrhunderten in einem Rümpelkeller gelegen hatte, der sagenumwobene “Schild des Feuers” war, der vom Innosheiligen Dominique geführt worden war? Und wer hätte gedacht, dass Gorax ausgerechnet in der Trelias, dem alten Epos des Dichters Helrion, eine präzise und eindeutige Beschreibung des Schildes finden würde? Manchmal musste man eben Glück haben! Dass das Kloster nach dem Fund des Schildes zudem noch die Herausgabe des heiligen Hammers Innos hatte bewirken können, der angeblich ebenso vom “schnellfüßigen Dominique” geführt worden sei, wie der Schild, war dabei ein dem Verhandlungsgeschick Xardas‘ geschuldeter Erfolg gewesen: Beide Gegenstände sollten am selben Orte verwahrt werden, denn sie gehörten schließlich zusammen. So fanden offenbar mehr und mehr Reliquien ihren Weg nach Khorinis - und mit ihnen Scharen von Pilgern, welche nur allzu begierig waren, die Bevölkerung mit ihrer Zeche und das Kloster mit großzügigen Spenden zu erfreuen.
Gorax fand einige allgemeine Werke zu besonderen, magischen Artefakten, welche er nach magischen Amuletten überflog. Doch es gab nur wenige Illustrationen, und daher musste er die Beschreibungen allesamt mit größerer Sorgfalt lesen, als ihm lieb war. Er fand einige Einträge, welche ihm zunächst viel versprechend erschienen, doch keiner stimmte genau mit dem Amulett überein, das er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.
Gorax entschied, dass er es anders machen müsste, denn auf diese Weise käme er nicht weiter. Das Amulett sprach etwas in ihm an, er hatte den Eindruck, als hätte er es schon einmal gesehen. Oder war es ein Bild davon gewesen? Dann müsste er also in einem der illustrierten Werke fündig werden.
Angestrengt dachte Gorax nach, und zerkaute dabei die Spitze des Federkiels, den er in Händen hielt, um sich Notizen zu machen. Meister Talamon schritt gerade mit einigen Büchern unter den Armen an ihm vorbei, und schaute ihn dabei etwas scheel an: Gorax hatte in Folge seiner Studien den Ruf der Verschrobenheit erhalten. Doch niemand störte sich mehr an seinen eigentümlichen Recherchen, da diese doch dem Kloster zum Vorteil gereichten. So schritt der junge Magier also nur an Gorax’ Tisch vorbei, ohne diesen in dessen Studien zu stören.
Wo hatte er es gesehen? Gorax blätterte aufs Geratewohl einige alte Folianten durch.
Nichts, so würde er ewig suchen.
Er hatte das Amulett schon mal gesehen, dessen wurde er sich von Minute zu Minute sicherer. Aber wo nur, wo…
DA, jetzt fiel es ihm wieder ein!
“Heureka!” Gorax patschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn. “Wie albern und offensichtlich!”
Schnell stand er auf, raffte seinen Kram zusammen, und verließ eilends die Bibliothek. Talamon, der es sich mit seiner Lektüre an einem anderen Tischchen bequem gemacht hatte, sah ihm verwundert und weise kopfschüttelnd hinterher.
Es war ein herrlicher Abend für ein Abendbrot auf dem Balkon. Die Sonne fiel schräg und warm in den Klosterhof, und ließ das bleigedeckte Dach der Kapelle aufschimmern. Unten im Hof konnte Sandrian einige Novizen sehen, die es sich an diesem schönen Feierabend in der milden Abendluft gut gehen ließen: In kleinen Grüppchen saßen sie im Gras oder auf den Eingangsstufen der Kapelle, und schwatzen oder ließen Flaschen des guten Messweins umgehen, der auf den Ländereien des Klosters kultiviert und in seinen Kellern selbst gekeltert wurde. So war es recht und dem Herren Innos gefällig! Die Novizen waren die Diener der Magier, doch sie arbeiteten gut und hart, und so hatten sie sich ihre Ruhepause am Ende dieses von Innos wahrlich gesegneten Tages wohlverdient.
Sandrian lächelte wohlwollend auf seine Schäfchen hinab und vergnügt in sich hinein, während er einen goldenen Pokal mit reichlich Wein aus einer Falsche füllte. Vor sich auf dem Tischlein lag ein üppiges Mahl ausgebreitet: Knusprig gebratenes Kaninchenfleisch in einer Weißwein-Senfsauce, dazu Kartoffeln aus khoriner Anbau, in Salzwasser gekocht und mit Petersilie garniert: Das Essen duftete, noch heiß dampfend, und genießerisch sog er das Aroma ein. Dazu gab es original khoriner Spargel - den letzten dieser Saison -, preiselbeergefüllte Birnen, mit Mandeln überbackene Datteln und mit Käse- und Speckstückchen gebackenes Brot. Herrlich duftender Rotkohl kam hinzu, und zudem noch ein hervorragender Feldsalat mit kleinen Kirschtomaten und gebratenem Schafskäse im Teigmantel.
Langsam und Bedächtig sprach Sandrian das Tischgebet, und pries den Herren Innos, dass er ihn mit einem derart üppigen Male gesegnet hatte.
Dann platschte ihm ein großer Spritzer köstlicher Bratensauce ins Gesicht…
Hastig überquerte Gorax den Kirchhof und betrat das Haus der Magier. Er, als Kämmerer und Verwalter des Klosters, hatte praktisch unbegrenzten Zugang selbst zu den Mitgliedern des hohen Rates und zum Abt. Aufgrund seiner Tätigkeit hatte er, obwohl noch ein Novize, fast schon die Autorität eines der Magier inne. Obwohl er nur über bescheidene magische Talente verfügte, würde man seine gehobene Stellung wohl bald auch offiziell legitimieren, indem man ihm die Robe des Feuers verleihen würde. Normalerweise müssten ihm die anderen Novizen seine privilegierte Stellung neiden, doch sie wussten, was sie an ihm hatten: Auch er pflegte die Tradition der khoriner Kämmerer fortzusetzen, und wie schon bei Xardas und Ulthar zuvor ging es den Novizen unter seiner Haushaltsführung ungewöhnlich gut: Der Wohlstand des Klosters mehrte sich, und alle seine Bewohner hatten daran Teil; das wussten seine Mitnovizen sehr wohl zu schätzen.
Es hielt ihn also nichts auf, als er Treppen und Flure entlang stürzte: Er besaß Schlüssel für fast jede Tür im Kloster. Schnaufend erklomm er die Treppe zu den Gemächern des Hohen Rats. Dort, der Eingang zu Abt Sandrians geräumigem Zimmer! Hastig stürmte er hinein. Der Abt saß offenbar auf dem Balkon, um die Aussicht auf die letzten Sonnenstrahlen zu erhaschen, welche, den sanften Fingern eines liebenden Vaters gleich, noch ein wenig Wärme und Geborgenheit spendeten, bevor sie sich schließlich zurückzögen, um das Kind dem Schlummer zu überlassen.
Der breite Rücken des Abts war ihm zugewandt. Gorax stürmte auf den Balkon, umrundete hastig den sitzenden Sandrian, und donnerte ihm das aufgeschlagene Buch vor die Nase.
Patsch!
“Oh, Meister Sandrian! D-das tut mir Leid!”
Die drei Magier des Hohen Rats blickten streng auf den jungen Novizen herab. Doch dieser fühlte sich weniger unbehaglich, als man meinen könnte. Er wusste, dass Sandrian ihm nicht lange zürnen würde. Den ledernen Einband der herrlich illustrierten heiligen Schrift hatte man erfolgreich von Fett und Bratensauce gereinigt, und so war die Schändung des heiligen Buches zu verschmerzen. Auch der alte Sandrian hatte keinerlei dauerhafte Schäden davongetragen. Weit wichtiger war Gorax’ Entdeckung: Es war plötzlich alles so einfach gewesen! Natürlich, die Antwort war in den heiligsten Schriften des Herren selbst zu finden gewesen, die doch jeder Klosterbewohner fast auswendig kannte. Es war im Buche Ukara gewesen, Kapitel 12 Vers 7 folgende: “Und als die lodernden Flammen der heiligen Esse verloschen, ward das Werk vollendet, und es war schön: Gülden glitzerte das Kleinod, eine Scheibe aus göttlichem Golde. Darauf aber war des Herren heiligstes Zeichen gepräget, die Sonne, und in ihrer Mitte der gleißende Edelstein der Macht, strahlend und das gepriesene Licht Innos’ in die Welt ergießend. Und als der Herr sah, dass es gut war, da schenkte er es seinem Erwählten, und dieser nannte es die ‘Aura Innos‘, denn gütige Wärme umgab seinen Träger, und so schützte Innos seinen Diener vor den Schergen der Finsternis…”
Gorax konnte zufrieden mit sich sein: Man würde ihm eine geringe Formalstrafe aussprechen. Doch erneut hatte er dem Kloster einen unschätzbaren Dienst erwiesen, und einem weiteren heiligen Artefakt aus alter Zeit den Weg zurück ins Licht der Gegenwart geebnet.
Geändert von Sir Ewek Emelot (08.06.2009 um 00:56 Uhr)
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XV.: Üble Vorzeichen…
Der Abend war ganz wundervoll verlaufen: Zuerst war er im jharkendarischen Theater gewesen, und hatte sich das neue Stück “Ishtar und Hamilkar” angeschaut, danach war er zum Diner bei Comtessa Alisa Venesa gewesen: Die von Geburt an gelähmte Adelige erfreute sich in höchsten Kreisen größter Beliebtheit, was ihrer zarten und trotz der Lähmung anmutigen Gestalt ebenso zu verdanken war, wie ihrem einnehmenden Wesen, einer ruhigen, zuweilen leicht traurigen Heiterkeit und ihrem auserlesenen Geschmack in der Ausrichtung ihrer Empfänge, sowohl was die geladene Gesellschaft betraf, als auch in Hinblick auf Speisen und Unterhaltung.
Melchior hatte sich, wie immer, prächtig unterhalten, recht eifrig mit der Comtessa sowie diversen weiteren Fräuleins und Damen geflirtet, hatte mit den anwesenden Herren über Kunst, Wissenschaft, Politik und die Überlegenheit des Adels gegenüber dem gemeinen Volke disputiert, hatte dem hervorragenden und reichlich vorhandenen Wein angemessen reichlich zugesprochen, Kaviar gegessen, und sich überhaupt ganz und gar köstlich amüsiert.
Melchior liebte sein Leben. Er nahm seine Taschenuhr aus der Westentasche, klappte sie auf und schielte durch das Monokel die Zeit ab, bevor er das kostbare Gerät mit einem “Klack” wieder zuschnappen und in seiner Tasche verschwinden ließ. Melchior liebte Taschenuhren, er liebte es, sie jeden Morgen aufzuziehen, liebte die Gesten, mit denen er sie benutze, gewichtig hervorholte, er genoss den Klang ihres Tickens, des Verschlusses der Klappe, mit dem die Anzeige geschützt wurde.
Auch liebte Melchior das Klappern des Spazierstocks, den er bei jedem seiner Schritte aufs Pflaster stieß, die Bewegung, mit der er ihn umher schwingen ließ: Geziert, bedeutungsvoll und Respekt gebietend. Melchior liebte es, die von Minecrawlern, von “Tiefenschaben” gezogenen Kutschen zu beobachten, die hohe Herrschaften, Adelige, Kaufherren, Beamte und Gelehrte hin und her fuhren. Er liebte die gusseisernen Gaslaternen, welche die Straßen nächstens erhellten, die sauberen und prachtvollen Fassaden und Vorgärten der Stadt. Melchior liebte die einzigartige Kultur, in der er sich sein Leben eingerichtet hatte. Ja, Melchior liebte Biblur, und diese putzigen, gemütlichen, in ihrer Art sehr konservativen, zugleich aber auch ungeheuer fortschrittlichen Goblins: Ihr Parlament, in dem mehr debattiert als entschieden wurde, ihre Königin, die mehr Teepartys feierte, als regierte, ihr Militär, das schön ausstaffiert war und grandios paradierte, sonst aber wenig zu tun hatte, die Polizisten mit ihren lustigen Hüten und den Schlagstöcken, die alten Frauen über die Straße halfen und Moleratbesitzer abmahnten, wenn deren Tiere den Gehsteig beschmutzten, sonst aber vor allem wichtig aussahen, ohne es wirklich zu sein.
Behaglichkeit: Dieses seit Jharkendars Untergang auf einem abgelegenen und der Außenwelt unbekannten Teil von Khorinis isolierte Volk von Goblins strebte vor allem nach Behaglichkeit. Und Melchior liebte das. Er liebte alle Formen von Bequemlichkeit, Gemütlichkeit und träger Gelassenheit. Er liebte den etwas verrückten, leicht schwarzen biblurschen Humor, den Witz und den Scharfsinn dieses Volkes. Alles hier schien irgendwie wie Spielerei, und Melchior liebte es, zu spielen. Sein ganzes Leben war ein Spiel.
Er näherte sich seinem Haus, ein prächtiges und sehr zentral gelegenes, altes Bürgerhaus, in dem er schon seit sehr langer Zeit residierte, wann immer er sich in Biblur-Stadt aufhielt. Fröhlich pfeifend sprang er die Treppen hinauf, der Pförtner hatte ihn bereits erwartet und öffnete ohne Umschweife. Im Vorbeigehen warf Melchior seinen Gehrock auf die Garderobe, rief nach einem Glas warmer Milch, mit dem er den Tag ausklingen lassen wollte, und setzte sich im Salon auf den Sessel vor dem Kamin. Der Kammerdiener brachte die Milch, und Melchior lehnte sich zurück, rückte seine Position im Sessel wohlig zurecht, und genoss sich selbst.
Fürwahr, ein wundervolles Leben, das er da führte, ein Tag so schön wie der andere!
Melchior nippte an der Milch, nahm den Geschmack des Tiefenschabenhonigs wahr, mit dem sie aromatisiert war: Köstlich!
War es nicht eine Wonne, auf Adanos Welt zu sein?
Seine Gedanken schweiften ab, diesem und jenem Gegenstande zu. Seine grün befellte Stirn krauste sich leicht. Ja, er lebte ein bequemes, angenehmes, vergnügliches, ein gutes Leben. Wäre da nicht… wäre da nicht eine klitzekleine Sorge, die ihn jüngst beschäftigte, ein winziges Detail, das ihm tatsächlich den Schlaf raubte, und zwar buchstäblich: Träume. Melchior hatte in letzter Zeit durchaus unangenehme Träume, die ihn Nachts erwachen ließen und ungebührlich erregten, nachgerade aufwühlten. Es waren Träume, die Melchior an eine andere Zeit erinnerten, Träume von Schuppen und mächtigen Schwingen, kalten Echsenaugen und Klauen, von einer weit unter ihm dahin ziehenden Landschaft. Träume von Macht und Untergang.
Denn obwohl Melchior ein grün schimmerndes Fell hatte, wie es sich für Goblins gehörte, obwohl er kleine Hauerchen hatte, wie ein Goblin, wie ein Biblur-Goblin sprach, sich so kleidete und so verhielt, obwohl er heute in jeder Hinsicht wie die anderen Bewohner Biblurs war, so war er doch als etwas anderes geboren worden, und seine Träume gemahnten ihn daran, dass sein Leben ein Spiel war, eine Farce. Dass er in Wahrheit etwas anderes war, und nicht dazu gehörte: Er hatte schon gelebt, als die Goblins von Biblur noch mit dem großen Reich von Jharkendar Handel trieben, und Entdecker und Expeditionen in die Welt entsandten. Er würde noch auf der Welt weilen, wenn Biblur, wie einst das stolze Jharkendar, zu Staub zerfallen wäre, und nur noch Ruinen von der einstigen Pracht kündeten. Melchior mochte seine Dienerschaft, die ihn umsorgte, seine Bekanntschaften und Freundschaften, die er in allen Schichten der Bevölkerung geschlossen hatte, und doch würde er jeden einzelnen davon überleben, und niemanden je ganz in sein Vertrauen ziehen, bliebe im Grunde doch immer distanziert, über die anderen erhaben.
Er seufzte schwer.
Seine Träume waren sonderbar. Nicht nur erinnerten sie ihn an sein wahres Wesen, sie erinnerten ihn an alte Bekannte, Freunde und Verwandte aus alten Tagen. Und es lag etwas in diesen Träumen, das ihm bedeutungsvoll schien. Etwas veränderte sich. Die Welt, wie sie war, geriet zusehends aus den Fugen, und alte Konflikte, denen Melchior entsagt zu haben glaubte, begannen, wieder aufzuflammen. Melchior spürte, dass er sich nicht auf ewig vor der Welt würde verstecken können, und das erfüllte ihn mir Trauer.
Sein Bruder, Melchior dachte an seinen Bruder, der so verblendet, so töricht war, in seinem Stolz. “Was tust Du nur?”, dachte Melchior, “was hast Du nur vor? Kannst Du es immer noch nicht lassen? Glaubst Du wirklich, dass es sich noch ändern lässt, die Zeit sich zurückdrehen lässt? Du bist so dumm. Ja, Du bist ein Narr, Bruder!”
Melchior hatte das Glas Milch ausgetrunken, und begab sich zu Bett. Doch die Ruhe, der Frieden, der ihn die letzten Jahrhunderte erfüllt hatte, war von ihm genommen. Er wusste, dass er diese Nacht wieder träumen würde. Von Finkregh, seinem Bruder, und den finsteren Plänen, die dieser verfolgte.
Geändert von Sir Ewek Emelot (21.08.2010 um 10:27 Uhr)
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XVI.: ...von noch viel übleren Dingen.
“Warum fristest Du Dein Dasein in dieser kümmerlichen Gestalt, so klein und schwach? Warum verwehrst Du Dir die Freuden, Deine wahre Natur auszukosten?” Die kleine Gestalt der Frau stand gelassen da, ließ den Blick über die unendlichen Dünen Varants streifen, die sich vom Fuße des Plateaus, auf dem sie standen, bis zum Horizont hin erstreckten. Dann wandte sie sich dem mächtigen Drachen zu: “Hast Du mich hier hergebeten, um mich mit Deinem dämlichen Geseiere zu langweiligen? Mein lieber Finkregh, Du solltest wohl besser davon Abstand nehmen, mich darüber zu belehren, was MIR Freude bereitet!”
Finkregh jedoch ließ sich nicht beirren: “Alzhara, Du hast eine größere Bestimmung! Was ist denn Dein Leben als Mensch schon wert? Du lebst unter diesen kläglichen Kreaturen, gefesselt an die Erde und spielst eine der ihren. Warum nur erniedrigst Du Dich in dieser Weise? Du hast ein Schicksal, WIR haben ein Schicksal! Schließ Dich uns an, und teile unsren Ruhm mit uns!”
Ihr zierlicher Körper erbebte, die langen, schwarzen Locken erzitterten, als Alzhara lachte, und ihre dunklen Augen vor Belustigung aufblitzten: “Euren Ruhm mit Euch teilen!”, sie sprach in einem Tonfall, wie zu einem Kind. “Mich Euch anschließen! Ach, Finkregh! Du bist einfach niedlich, so unendlich putzig, in all Deiner Dummheit!” Erneut ertönte das glockenhelle, vergnügte Lachen. “Ich will Dir mal was erklären, mein Lieber…”, wollte Alzhara, diesmal ernsten Tones, fortfahren, doch der eisige Drache brüllte auf. Auch sein Körper erbebte, vor kaum unterdrücktem Zorn: “Schweig!”, zischte er, und eine Welle magischer Kraft drang auf Alzhara nieder.
Die kleinen Hände hoben sich zu einer beschwörenden Geste über den Kopf, und der magische Angriff prallte auf eine unsichtbare Barriere. Doch Finkregh war noch nicht fertig. Ein Strahl eisiger Kälte schoss aus seinem Maul, und hüllte den Leib der kleinen Frau ein, umschloss ihn und sperrte ihn in ein Gefängnis aus Eis. “Du wirst mir zuhören, Alzhara! Du wirst nicht mehr…”
Das Eisgefängnis explodierte, Flammen stoben auf, und Finkregh wich zurück, senkte den Kopf. Er schaute zu dem Wesen auf, das nun vor ihm emporragte, zu dem rot geschuppten Spiegelbild seiner weißen Gestalt.
“Bist Du nun zufrieden?”, zischte sie. “Ja. So ist es besser. Fühlst Du es nicht? Die Kraft Deines Leibes? Oh, Alzhara, wie schön Du bist! Ist es nicht besser so?” Alzhara ignorierte die Frage: “Warum sind wir hier? Was willst Du von mir? Du hast mich kommen, mich diese Gestalt annehmen lassen, aber warum das Ganze? Hör auf, mich mit Deinem Geschwätz von Macht und Ruhm zu langweilen, und sag endlich, was Du willst!”
Die beiden Drachen standen sich gegenüber, die Flügel ausgestreckt, die Häupter erhoben.
“Nun gut. Alzhara, ich werde unser Volk neu beleben. Ich werde uns wieder an die Macht führen. Und dafür brauche ich Dich. Sag mir, Alzhara, willst Du…”, er stockte kurz, verunsichert, doch dann führte er den Satz zu Ende, “…willst Du Dich mit mir paaren?”
Alzhara schwieg. Zu groß war die Verwunderung. “Paaren?”, fragte sie, und betonte das Wort, als spreche sie von etwas unaussprechlich Ekelerregendem. “Du hast mich hergebeten, um mich zu fragen, ob…” Die Muskeln ihres Leibes spannten sich an, und unbändiger, unverhohlener Hass blitzte in ihren Augen auf. Wie unter einem Peitschenhieb zuckte Finkregh zusammen. “Alzhara, wir…”
Weiter kam er nicht.
Feuer umhüllte ihn, und Alzhara zuckte vor, ihre Zähne gruben sich in Finkreghs Hals und ihre Klauen rissen an seiner Bust. Finkregh bäumte sich auf, stieß sie von sich.
Schwer atmend standen die beiden Drachen da. “Du kannst mich nicht verletzten”, bemerkte Finkregh ruhig. “Du kannst mir nichts anhaben.” Alzhara regte sich nicht.
“Was immer Du getan hast”, erwiderte sie schließlich, “interessiert mich nicht. Es kümmert mich nicht, und helfen wird es Dir auch nicht. Du verschwendest unsere Zeit.” Sie wollte sich umwenden, sich in die Lüfte erheben, doch diesmal war es Finkregh, der angriff. Alzhara schrie auf, als Finkreghs Klauen tiefe Wunden hinterließen. “Du kannst mich nicht besiegen, Du WIRST mir helfen. So, oder so.”
Alzharas Blick traf den Finkreghs, der erneut zusammenzuckte. “Fordere mich nicht heraus!”, dröhnte es schmerzhaft in Finkreghs Geist, “Du bist mächtiger geworden, doch fordere mich nicht heraus!” Alzharas Hass bohrte sich wie eine Nadel in Finkreghs Gehirn. Seine mächtigen Beine gaben nach, sein Körper sackte in sich zusammen. “Du wirst niemals mächtiger sein, als ich, ganz gleich, was Du für Tricks aufwendest.” Finkregh wimmerte.
Doch Alzhara hatte sich getäuscht. Flügelrauschen ertönte, ein Klaue grub sich in ihren Rücken und riss Schuppen heraus. “Feomatar?” “Du hättest uns freiwillig helfen sollen! Helfen wirst Du uns trotzdem.”
Weiteres Rauschen, ein weitere Drache näherte sich, von der anderen Seite. “Pandrodor? Das werdet Ihr bereuen!”, zischte sie, doch nur Finkreghs boshaftes Lachten antwortete ihr…
…Melchior ruckte hoch. Sein Fell, sonst grün schimmernd, klebte ihm vor Schweiß feucht am Körper. Er zitterte, wollte die Augen schließen, um sich von dem schrecklichen Traum zu erholen, da schreckte er erneut hoch. “Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Zimmer?”
Ruhig saß er da, in Melchiors Sessel: Ein Goblin, einfach gekleidet, ohne besondere Merkmale. Im Zwielicht des Schlafzimmers wirkte sein Fell grau. “Du solltest besser antworten…”, drohte Melchior, und hob eine Hand, doch kam der andere seinem Zauber zuvor: “Ich bin nicht zum Kämpfen hier. Spar Dir die Magie!” Melchior ließ die Hand auf die Bettdecke sinken. “Ein Dämon”, stellte Melchior fest, “und zwar ein höherer, wenn ich mich nicht irre.” Der Dämon in Goblingestalt nickte. “Allerdings, guter Melchior. Und Du bist ein Drache.” Der Dämon hob eine seiner Hände, die sich für kurze Zeit in eine Drachenklaue verwandelte, bevor er sie wieder gelassen auf die Armlehne legte.
“Beeindruckend!”, spottete Melchior. “Wenn Du gekommen bist, mir mit zweitklassigen Gestaltwandlungen zu imponieren, bist Du umsonst gekommen, Dämon!” “Ich bin nicht hier, um Dich zu beeindrucken, Drache. Ich bin als ein Bote hier.” Melchiors Augen verengten sich misstrauisch. “Wenn Du von meinem Bruder kommst, dann…” “Ich bin nicht von Deinem Bruder. Jemand anders schickt mich. Du hast unangenehme Träume, nicht wahr? Gefällt Dir, was Dein Bruder plant?” Melchior zuckte zusammen. “Woher…Ah! Natürlich! Du kommst von…IHM?”
Der Dämon lächelte: “Mein Name ist Shalfarezehl. Du liegst richtig, ich bin ein Bote des dunklen Gottes. Ihm gefällt nicht besonders, was Dein Bruderherz so alles ausheckt. Insbesondere nicht, was eine gewisse Drachendame anbetrifft.” Shalfarezehl hielt inne, und wartete die Reaktion Melchiors ab. “Ist es wahr, was ich in meinen Träumen sehe? Stimmt es, dass Finkregh diesen…Frevel begeht?” “Finkregh ist das, was Ihr Sterblichen ‘Fanatiker’ nennt, würde ich sagen. Deine Träume sind zutreffend.” “Ist es die Zukunft, oder ist das schon passiert? Ach, sag nichts! Es scheint, als müsste ich Stellung beziehen?” “Ja, das musst Du. Und wir wissen ja, für wen Du Dich entscheiden wirst, nicht wahr?”
Melchior nickte: “Ja. Sag mir nur, wohin ich gehen muss!”
Shalfarezehl sagte es ihm. “Wir werden uns bald wieder sehen”, sagte er zum Abschied, bevor er in einer Rauchwolke verschwand.
Melchior saß noch lange still, und dachte an seinen Traum, an seine Vergangenheit, und an die Gefährtin von einst: An Alzhara, die er, ebenso wie Finkregh, vor langer Zeit geliebt hatte.
Geändert von Sir Ewek Emelot (29.08.2010 um 00:21 Uhr)
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XVII.: Sträflingsalltag
Herzhaft biss Gomez in die saftige, kross gebratene Scavengerkeule. Saft und Sauce liefen ihm die Mundwinkel herunter und troffen von seinem Kinn. Hastig griff er nach dem Pokal und spülte sich den Bissen mit einem großen Schluck Ardea-Weins herunter, rülpste laut, und nahm den nächsten Bissen. Ihm gegenüber saß Raven, sein Stellvertreter und zweitmächtigster Erzbaron, und tat sich seinerseits an Speis und Trank gütlich.
Gomez war zufrieden, die Dinge entwickelten sich gut. Er war der unumschränkte Herrscher der Barriere. Zwar mochte er von dieser magischen Kuppel gefangen sein, doch kontrollierte ER das Erz, und niemand sonst. Er war es, der es mit dem König für Waren aus der Außenwelt tauschte. Für Waren, und Frauen, und beides sicherte ihm und den anderen Erzbaronen Luxus. Wen interessierte schon Freiheit, wenn man wie die Made im Speck lebte?
Gomez genoss sein Leben als der größte Haifisch im zugegebenermaßen kleinen Becken aus vollen Zügen, und selbst diese elenden Magier stellten kein großes Problem mehr dar, denn, wie gesagt, es verlief alles ganz nach Plan.
Zumindest dachte Gomez das, als er zu einem erneuten Schluck Wein ansetzen wollte. Dummerweise explodierte in genau diesem Moment sein Teller, und schleuderte ihm Knochen, Sauce, Brot, Fleisch und Wein ins Gesicht. Kurz darauf packte ihn etwas, hob ihn hoch, donnerte ihn mit einem ordentlichen WUMMS auf die Tischplatte, und zog ihn dann, das Gesicht voran, längs über den Tisch, durch Schattenläuferbraten in Rotweinsauce, Rotkohleintopf, Nudeln in Tomatensauce Kap-Ardea, verschiedene Salate (darunter Ruccola), die Käseplatte und die verschiedenen Torten, Kuchen und Puddings, die schon zum Nachtisch bereit gestanden hatten. Gestoppt wurde sein unfreiwilliger Vorstoß erst durch eine noch sehr viel unfreiwilligere Bekanntschaft mit Ravens Schoß, der von dem Vorfall offenbar ebenso überrascht und schockiert war, wie Gomez selbst.
Und dann, Gomez hätte darauf wetten können, ertönte die Stimme. SEINE Stimme.
Der Morgen war in der Tat schön. Die Vögel zwitscherten, die Sonne fiel schräg in das Lager, und das Wetter war mild und versprach, sich den ganzen Tag zu halten. Als Gravo, Sträfling und “Buddler” im Minental von Khorinis, aus seiner Hütte trat, war er bester Dinge, reckte seine noch vom Schlaf steifen Glieder, genoss das Gefühl seines noch vom Schlaf steifen einen Gliedes, gähnte wohlig und wischte sich den Schlaf aus den Augen.
Gravo war ein älterer Buddler, was für gewöhnlich nicht von Vorteil war, denn die Arbeit der Buddler, der in der Hierarchie des Minentals am niedrigsten stehenden Häftlinge, war hart und anstrengend, und eigentlich hätte man annehmen müssen, dass Gravo den Strapazen nicht standhalten könne. Doch Gravo war kein normaler Buddler: Gravo hatte Beziehungen. Beziehungen bis ganz nach oben. Er kannte alle möglichen, einflussreichen Leute des Minentals, und statt wie die anderen Niemande in den Minen zu schuften, sich eine Staublunge zu holen, von Minecrawlern gefressen zu werden oder sich einfach den Rücken kaputt zu machen, handelte Gravo mit Information, Waren und Gefälligkeiten, seine Ware waren seine Beziehungen. Ein gutes Wort hier, eine Bekanntmachung dort, und schon war ihm wieder jemand etwas schuldig. Gravo führte ein gutes, ruhiges und beschauliches Leben. Er war bescheiden genug, und genoss die Ruhe, die er hier, in der Barriere, gefunden hatte: Keine Orcs, keine königlichen Soldaten und Steuereintreiber. Hier lebte es sich besser, als dort draußen.
Gravo wankte, noch schlaftrunken, von seiner Hütte zum großen Wasserloch am ehemaligen Burggraben.
Seit die Gefangenen die Kontrolle über die Burg übernommen hatten, sich einige der stärksten und einflussreichsten Gefangenen zu den neuen Herrschern, den “Erzbaronen”, aufgeschwungen hatten, hatte sich die Burg verändert. Am offensichtlichsten war die Zerstörung des östlichen Turmes, dessen obere Stockwerke in Folge magischer Entladungen beim missglückten Zauber der Magier eingestürzt waren. Weiterhin war der Burggraben mittlerweile fast vollständig trocken gelegt. Stattdessen umgab die Burg nun ein Lager aus einfachen Hütten und Katen, die aus Holz, Lehm und Kot zusammengezimmert waren, und in denen die meisten Sträflinge hausten, sofern sie nicht gerade in den Minen arbeiteten. Geschützt wurde das Lager wiederum durch eine Holzpalisade.
Auch in anderer Hinsicht hatte es Veränderungen gegeben: Das Lager der Sträflinge wurde von den in der Burg residierenden Erzbaronen und deren Stiefelleckern und Lakaien beherrscht, im Außenring lebte der Pöbel von Gefangenen, die sich in der Hackordnung nicht hatten durchsetzen können - und Gravo, der irgendwo dazwischen lag.
Gravo bewegte sich also auf das Wasserloch zu, das vom Burggraben noch übrig war, und direkt vor seiner Hütte lag. Wie jeden Morgen hockte sich Gravo an den Rand des Wassers, und schaufelte sich mit zusammengelegten Händen einen Schwall ins Gesicht. Herrlich! Er prustete, als das kalte Nass ihn erfrischte, und schöpfte gleich noch eine Ladung.
Doch was war das? Irgendetwas trieb in dem Wasser des Kelches, den er mit seinen Handflächen bildete. Er bemerkte es, als er gerade dazu ansetzte, sich das Gesicht erneut zu netzten. Verwundert blickte Gravo auf seine Hände hinab, kniff die Augen zusammen, und näherte sein Gesicht den Händen noch etwas mehr, seine Augen waren nicht mehr so gut, wie einst.
“Was?”, murmelte er, als er plötzlich aufschrie, zurückschreckte und unsanft auf dem Hosenboden landete. Angeekelt wich er noch weiter zurück, und schrie ein weiteres mal.
Das, was er mit den Händen aufgenommen hatte, trieb auf dem Wasserspiegel. Länglich, in kränklichem rosa, blutrot an einem Ende. Es sah aus, wie ein abgetrennter Finger.
Denn es WAR ein abgetrennter Finger.
“Es hat sich in dieser Nacht etwas höchst eigentümliches zugetragen”, hörte Gomez die Stimme sagen, während er recht ungeschickt von Raven herunterkletterte, der ihm eine Nudel abzupfte, die sich an seinem linken Ohr verfangen hatte. “In der Tat”, so fuhr die Stimme fort, “etwas ganz und gar ungeheuerliches. Etwas derart empörendes, dass ich es kaum auszusprechen wage, und niemals für möglich hielte, wäre ich nicht selbst, höchstpersönlich, Zeuge dieses abscheulichen Vorfalls geworden.”
Die Stimme war unangenehm. Nicht, weil sie mit besonderer Schärfe gesprochen hätte. Vielmehr war sie Gomez unangenehm, weil sie eben den Hohn, den Spott ausdrückte, den er so hasste. Jedenfalls, wenn er Gegenstand und Ziel dieses Spotts war. Und das war er. Und sie war ihm natürlich auch unangenehm, weil sie von IHM war.
Gomez fluchte innerlich, verfluchte diesen Tag und verfluchte die Entscheidung, die er Tage zuvor getroffen hatte. Wie dumm er doch gewesen war, ach, er hätte es besser wissen müssen. Doch nun war es zu spät.
Gomez wappnete sich.
An diesem Tag, wie auch an allen anderen, stand Thorus schon früh morgens auf, wusch sich, frühstückte, und zog sich die edle Rüstung an, die sie von den einstigen Herren der Burg erbeutet hatten. Einst hatten die Aufseher der Strafgefangenen diese Rüstungen getragen, heute trugen sie die Gefangenen. Oder zumindest die Gefangenen, die von den Erzbaronen als würdig erachtet wurden. Und Thorus war ein solcher Gefangener, war es schon immer gewesen. Von allen Gefangenen war Thorus der vielleicht beste Kämpfer, und sicherlich hätte er sich an Gomez statt die Macht in der Barriere aneignen können. Es gab einige, die Thorus bedrängt hatten, eben dies zu tun, galt er doch als besonnen und klug, und genoss den allseitigen Respekt. Tatsächlich, so musste er zugeben, wäre er vielleicht besser geeignet, als die launenhaften und vergnügungssüchtigen Erzbarone, doch Thorus wollte nicht. Thorus war damit zufrieden, für die Erzbarone das Lager zu leiten, und sich um den sauberen Ablauf aller Geschäfte zu kümmern. Irgendwer, so fand Thorus, musste doch dafür sorgen, dass alles friedlich blieb, und genau darum stand er täglich früh auf, machte sein Runde durch Burg und Außenring, kümmerte sich um größere und kleinere Streitigkeiten, und tat seine Arbeit.
Thorus war gerade im Begriff, zu seinem morgendlichen Rundgang anzusetzen, als man ihn ansprach: “Kommandant, da ist ein Schatten, der Dich sprechen will!” Kommandant! Thorus verzog das Gesicht. Er fand es lächerlich: Die Gefangenen hatten eine Hierarchie ausgebildet, die den Verhältnissen da draußen, im Königreich, alle Ehre gemacht hätte. Thorus war nämlich seit kurzem nicht mehr einfach nur Thorus, sondern “Kommandant Thorus“, Anführer der “Gardisten der Erzbarone”, wie die starken Kämpfer und Günstlinge der Erzbarone, die in der verhältnismäßig luxuriösen Burg leben durften, sich nun nannten.
Thorus wandte sich dem Gardisten zu, der ihm den Bittsteller angekündigt hatte: Ein junger, aufgeregter und schwer atmender Mann, der eine rote Uniform trug. “Schatten!”, dachte Thorus, und verzog erneut das Gesicht: Auch wieder so eine dumme Erfindung der Erzbarone. Die Schatten waren die Diener der Erzbarone auf zweiter Ebene, lebten, wie die Buddler, im Außenring, genossen jedoch Privilegien und dienten den Erzbaronen als Boten und Spione. Sie hatten den Vorteil, nicht schürfen zu müssen, jedoch den Nachteil, praktisch alles tun zu müssen, was ihnen von Erzbaronen oder Gardisten aufgetragen wurde - eine Verhaltensweise, die sie sogleich an die Buddler weitergaben. Thorus seufzte: Nach oben buckeln, nach unten treten: Offenbar eine Konstante im Leben jeder menschlichen Gesellschaft.
“Also?”, fragte er den Schatten, “Was willst Du?” Der Schatten stotterte, setzte neu an, und berichtete schließlich, was ihn hergeführt hatte.
“Holt mir diesen irren Doktor, wie heißt er gleich? Na, Du weißt, schon, der mit den Augengläsern!”, richtete Thorus das Wort an den Gardisten. “Der soll uns dort treffen. Und Du”, sprach er zum Schatten”, führst mich hin!”
“Ich hatte eigentlich gedacht”, die Stimme ging Gomez mehr und mehr auf den Geist, “dass wir die Dinge geklärt hätten. Dass es keine weiteren Probleme zwischen uns geben werde, und wir uns in…”, die Stimme hielt inne, während ihr Eigentümer den Blick über die derangierte, durchaus aber immer noch üppig volle Tafel schweifen ließ, jeweils kurz bei den Männern verweilte, die daran saßen: Kostbar gekleidet, doch schmutzig, mit Fleischkeulen in der einen und kostbaren, aber schmierigen Pokalen in der anderen Hand, “…zivilisierter Weise miteinander verständigen könnten. Offenbar habe ich mich geirrt.” Der rot gewandete Besitzer der Stimme setzte sich auf den Platz, den Gomez zuvor eingenommen hatte. Die beiden Begleiter, der eine in ebenfalls roter, der andere in blauer Robe, setzten sich an die Seiten der Tafel. Arto und Scar, Gomez Leibwächter, beeilten sich, den beiden Magiern Platz zu machen, die sich ebenso gelassen niederließen, wie ihr sprechender Anführer.
“Ich bedauere sehr, dass es immer wieder diese Missverständnisse zwischen uns gibt”, fuhr dieser ruhig fort, ließ einen einsam auf der Tischplatte liegenden Apfel in seine Hand schnellen, und biss hinein. Er kaute, lange und bedächtig, schluckte den Bissen hinunter, bevor er fortfuhr.
Gomez kochte vor Wut, doch wagte er nicht, dieser Stimme ins Wort zu fallen. Denn Furcht lähmte ihn, eine Furcht, die größer war, als sein Zorn.
“Es ist ein Arm”, sagte der Doktor. Thorus stöhnte auf: “Ach, was Du nicht sagst. Dafür habe ich Dich nicht kommen lassen, Doc!” Der hagere, kahle Mann verzog die Lippen. Er verzog die Lippen zu diesem ekelhaften, schmalen Lächeln, bei dem die Lippen fest aufeinandergepresst blieben. Thorus lief ein Schauer über den Rücken, wann immer er dieses Lächeln sah. Die Augen hinter den Augengläsern blitzen auf, in kaltem und boshaftem Vergnügen. Dieser Mann war gelehrt, medizinisch geschult, und ein hervorragender Chirurg und Alchemist. Weder war er Gardist, noch Schatten, doch Buddler war er auch nicht. Seine Fähigkeiten waren zu wichtig. Und die Furcht vor ihm zu groß. Es gab Gerüchte darüber, weshalb man ihn verurteilt hatte, und diese hatten Thorus daran gehindert, sich weiter über diesen Mann zu erkundigen. Doch der genoss die Situation: Thorus Ärger ebenso, wie den blutigen, zerfetzten Arm, der da auf dem Boden lag.
“Wie ist er abgetrennt worden, das interessiert mich!”, fuhr Thorus gereizt fort, erntete aber nur erneut diesen unheimlichen, kalten Spott. “Nun, ich jedenfalls war das nicht”, stellte Doc fest. “Schade”, fügte er hinzu, “es hätte sicherlich Spaß gemacht.” Thorus drängte das Gefühl des Abscheus vor diesem Mann zurück: “Ist das etwa Deine fachmännische Meinung?”, fragte er. “Fachmännisch? Mhm…”, ein verträumter Ausdruck trat in die Augen des Doktors, “ist hieran sicherlich nichts. Der Arm wurde offenbar ganz und gar dilettantisch entfernt. Ich würde nicht gerade sagen, dass es sich bei dem gesuchten corpus delicti um eine stumpfe Klinge gehandelt habe. Ich denke eher, dass GAR KEINE Klinge im Spiel war. Ich denke, dass dieser Arm eher…”, eine sonderbare Gier trat in seine Augen, “ausgerissen wurde. Mhm…”
Thorus wollte zu einer Erwiderung ansetzten, da wurde er an diesem Morgen zum zweiten Mal in derselben Weise angesprochen: “Kommandant, da ist ein Schatten, der Dich sprechen will!” “Was denn nun?”, fuhr Thorus den Gardisten an, der hinzugetreten war. “Es geht um Gravo, am Wasserloch. Der hat was gefunden”, ein kurzes Stocken, “offenbar ist der Arm da heute nicht das einzige abgetrennte Körperteil im Außenring.”
Thorus seufzte schwer.
Dieser Tag versprach anstrengend zu werden, dreckig und sehr, sehr unappetitlich.
“Wir hatten stets unsere Differenzen, doch vermochten wir diese auch stets auf eine kultivierte und vernünftige Weise auszutragen. Mein lieber Gomez”, Xardas Stimme war leise und gelassen, spöttisch und höhnisch, vor allem aber unheildrohend, “war das wirklich notwendig? Glaubtest Du wirklich, dass es so leicht sei? Ich bin enttäuscht von Dir, mein Sohn.” Saturas, der Wassermagier, schnalzte missbilligend mit der Zunge, Corristo schüttelte bedauernd sein weises Haupt. “Den Anführer der Magier des Feuers ermorden zu lassen”, nahm er den Faden Xardas’ auf, “wie konntest Du das nur versuchen?”
Gomez fluchte auf seine Entscheidung, auf die Götter, und vor allem auf diesen elenden Schatten, auf diesen Sträfling aus Varant. Assassine, von wegen! Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte wissen müssen, dass das Scheitern vorprogrammiert war. Er hätte die Ermordung des Feuermagiers niemals befehlen sollen!
Jetzt gab es nur eines, was er tun konnte: Gomez senkte den Kopf, verzog das Gesicht zu einer betrübten Miene, und machte sich bereit. Heute würden die Magier ihm den Kopf waschen. Gehörig. Und er könnte froh sein, wenn es bloß dabei bliebe.
Beliar war bester Laune. Trotz des unerfreulichen Vorfalls in der Nacht und seiner wenig angenehmen Reaktion auf das misslungene Attentat - der bedauernswerte Meuchelmörder war im Laufe des Tages an verschiedenen Stellen im Außenring gefunden und mittlerweile fast vollständig zusammengetragen worden - entwickelten sich seine Pläne durchaus nach Wunsch. Die Verhältnisse in der Barriere würden sich nun schnell ändern, und seine Gegner, allen voran dieser lächerliche Drache Finkregh, trieben die eigenen Bemühungen unablässig voran. Jetzt war es bald an der Zeit, die Barriere für die Ankunft von Beliars Joker vorzubereiten, doch dies würde noch einiges an Zeit und Mühe erfordern.
Die Ankunft in seiner Kammer wurde bereits erwartet: Shalfarezehl saß in Goblingestalt auf der Fensterbank: “Ah, mein Herr und Meister, wie immer zu spät.” “Ach komm, als ließe ich Dich jemals warten. Willkommen zurück, Shalfe! Wie ist’s gelaufen?” Shalfarezehl ließ sein Goblinlächeln aufblitzen: “Prima. Der Drache hat, wie erwartet, die nächsten Schritte eingeleitet, und sein Bruder ist, wie erwartet, auf unsere Einladung eingegangen. Also, von ‘Geschwisterliebe’ kann da wohl kaum die Rede sein, mannomann. Ich glaube, dass die Brüder wirklich nicht gut aufeinander zu sprechen sind.” “Niemand ist auf Finkregh gut zu sprechen, und Finkregh auf niemanden, Shalfe. So jemand hat keine Freunde. Wenn Melchior also unterwegs ist, dann können wir an der anderen Stelle fortfahren: Was ist mit dem Ork?” “Um den Ork”, sagte Shalfarezehl gedehnt, “kümmert sich Ishthara. Glaub mir, das wird ihr keine Probleme bereiten. Und hier? Hast Du hier alles unter Kontrolle?” Beliar lächelte boshaft. “Aber ja, alles unter Kontrolle. Ach Shalfe, diese Menschlein sind unglaublich dumm”, er lachte vergnügt, “erst heute Nacht hat jemand versucht, mich umzubringen.” “Nein so was!” “Hach, was für eine Verschwendung! Nunja, dafür konnte ich dem hiesigen Obermotz wieder ordentlich die Leviten lesen. Na, er wird mir fehlen, der gute Gomez, wenn ich erst hier weg bin. Schade drum.” Shalfarezehl zuckte mit den Schultern: “Sieh’s positiv: Dafür musst Du nicht mehr lange in dieser Bruchbude von Burg leben.”
Beliar nickte. “Du hast Recht, im Grunde kann ich es doch kaum erwarten, in mein neues Heim zu ziehen. Lass uns doch schauen, wie die Arbeiten vorangehen. Nach Dir!”
Geändert von Sir Ewek Emelot (24.09.2010 um 03:02 Uhr)
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XVIII.: Irritationen
Obwohl sie mit aller Macht versuchte, es zu verbergen, obwohl sie den Kopf hoch zu tragen, seinen Blick stolz zu erwidern versuchte, sah Finkregh ihr an, dass sie litt. Alzhara sah schlecht aus. Ihr mächtiger Leib war in Ketten geschlagen, das sonst schillernde Rot ihrer Schuppen war nun stumpf und ohne Glanz, die stolze und aufrechte Haltung eingesunken. Lediglich aus den Augen sprach nach wie vor ungebändigte Kraft. Ihr stechender Blick schien ihn noch immer so zu durchdringen, so ganz und gar zu durchschauen, wie es schon immer der Fall gewesen war. Obwohl Alzhara ihm nun in jeder Hinsicht ausgeliefert war, weckte dieser Blick seine Ehrfurcht - und der kalte Hass, den er aus ihren Augen las, ließ ihn frösteln. Ausgerechnet ihn, der er doch selbst ein Geschöpf des Eises war! Wie konnte Alzhara, ein Feuerdrache, nur solch unerbittliche Kälte ausstrahlen?
Finkregh ärgerte sich darüber. Alzhara war eine Verräterin. An ihrem Volk, und an SEINER Sache. Sie war nichtswürdig und nurmehr eine Sklavin seiner Pläne. Es gab nichts, nicht das Geringste, was sie gegen ihn tun könnte. Und dennoch hatte sie immer noch Macht über ihn. Ihr schlechter Zustand dauerte ihn, ihr Blick ängstigte ihn. Beide Emotionen erregten seinen Zorn, auf sie, und auch auf sich selbst. Es war eine ganz und gar sinnlose, unnötige und unverzeihliche Schwäche.
Warum nur empfand er noch immer einen solchen Respekt vor ihr?
“Seid vorsichtig damit!”, knurrte er die Novizen an, welche die Eier abtransportierten.
“Sie zu zähmen war nicht einfach”, ließ sich der Magier vernehmen. Finkregh veränderte die Haltung seines langen Halses ein wenig, so dass er das mickrige Menschlein, das neben stand, in sein Blickfeld nehmen konnte. Der elende Schwarzmager stand in seiner schwarzen Robe ebenso steif da, wie immer. Den Rücken gerade, die Hände dahinter zusammengelegt. Wie immer drückte er eine Macht und Erhabenheit aus, die er sich bloß einbildete. Zu gerne würde Finkregh sich dieses Winzlings entledigen, doch besaß Armatrion zu viel Einfluss unter den Beliargläubigen, sein Nutzen war zu groß. Finkregh würde das allzu selbstsichere Auftreten des Menschlein ertragen, vorerst.
Armatrion fuhr fort: “Aber nun habt Ihr es ja geschafft. Damit steht den Plänen unsres Herrn nun nichts mehr im Wege.”
Finkregh knurrte. Alzhara war alles andere als gezähmt. Sie war…mehr als unwillig. Und er fürchtete, dass dies Konsequenzen haben würde. Sie legte Eier. Dracheneier. Doch etwas an ihrem Blick beunruhigte Finkregh. Es schien beinahe so etwas wie Triumph zu sein, doch war dies nicht vollkommen unmöglich, in ihrer Lage?
Alzhara fühlte sich elend. Gedemütigt und missbraucht. Sie hatten es gewagt! Doch so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. Die Ketten, in die sie geschlagen war, hielten ihren Leib, doch das war nicht alles, was zählte. Finkregh glaubte, das bekommen zu haben, was er wollte. Nun, er würde sich wundern.
Er betrachtete sie. Diese Menschlein, diese jämmerlichen Männlein in den schwarzen Roben, sammelten ihre Eier ein, und derweil betrachtete Finkregh sie. Alzhara erwiderten seinen Blick, warf ihm alles entgegen, was sie an Kraft aufzubieten hatte, allen Hass und alle Verachtung. Oh, und wie süß war doch die Unsicherheit, die sie in seinen Augen las!
Die Menschlein verließen die Höhle, auch der, welcher die ganze Zeit neben Finkregh gestanden hatte, schloss sich ihnen an. Und endlich wandte sich auch Finkregh selbst ab.
Endlich. Endlich war sie alleine. Endlich konnte sie sich ihrer Müdigkeit hingeben. Sie ließ das Wimmern, welches sie zurückgehalten hatte, aus ihrer Kehle entweichen, und die schmerzenden Muskeln, welche sie ihren Leib aufrecht zu halten gezwungen hatte, erschlaffen.
Endlich ergab sich Alzhara der Schwäche ihres Leibes.
Sie schloss die Augenlider, um die finstere Höhle, die ihr Gefängnis war, auszublenden.
Ihre Umgebung rückte in weite Ferne. Sie blende ihren geschundenen Körper aus, ließ auch ihren Geist erschlaffen.
Und…
…fischte ebenso beiläufig wie geschickt eines der Gläser vom Tablett des livrierten Dieners, der an ihr vorbeitänzelte. Sie nippte am Inhalt - einer Art ekligem, prickelnden Schaumwein, der sich in den höheren gelderner Kreisen jüngst außergewöhnlicher Beliebtheit erfreute - und verzog unwillig das Gesicht. Geldern mochte zwar das kulturelle Herz Myrtanas ausmachen, hier residierte der Chic der Gesellschaft, und von hier aus eroberten Mode, Kunst und Wissenschaft den Rest des Reiches, doch warum nur musste man jeder auch noch so dämlichen Modeerscheinung, wie geschmacklos sie auch sein mochte, blind folgen? Alzhara legte einige Schritte zur nächsten Topfpflanze, einem stattlich gewachsenen Fikus, zurück, und schüttete den Rest des Gesöffs in die Blumenerde.
Fürwahr, hier wurden die Feste anders gefeiert, als im fernen Vengard, oder gar dem biederen und rückständigen Khorinis. Mochte Vengard auch das Machtzentrum des Reiches sein, und Khorinis die wohlhabendste Stadt, so war doch alleine Geldern wirklich städtisch, fortschrittlich und zivilisiert. In Vengard pflegte sich der Adel, selbst am Königshof, noch an dicke und schwere Tafeln zu setzen, wo man mit viel Geschmatz, Gerülpse, Gefurze und dem tatkräftigen Einsatz der bloßen Finger fetttriefende Fleischkeulen verschlang. Dort tanzte man noch die alten Quadrillen und Ringelreigen, wie sie in Geldern selbst dem gemeinsten Volke bloß Verachtung abgerungen hätten.
Hier jedoch gaben Adel und die reicheren Bürger der Stadt ihre Bälle und Bankette unter zeitgemäßen Menuetten und Walzern, serviert wurden leichte Speisen auf so genannten “Buffets”, und in der Regel aß man im Stehen. Getränke und kleinere Happen wurden von Pagen auf Tabletts durch die Reihen der Feiernden balanciert, die in kleinen Grüppchen beieinander zu stehen pflegten, um sich über die gerade angesagten Künstler zu unterhalten, über den aktuellen Klatsch und Tratsch, über die Skandale und Intrigen sowie die neueren, politischen Wirrungen. Gelegentlich wagte sogar ein besonders mutiger Genosse, ernstere Themen anzusprechen, und brachte das Gespräch auf jüngere Entwicklungen aus der Wissenschaft oder Philosophie. Letzteres war vor allem dann der Fall, wenn einer der vielen Professoren und Dozenten der Universität unter den Gästen war. Diese waren zwar kaum gute Gesellschafter (bis auf wenige, besonders trinkfeste Ausnahmen), aber durchaus prestigeträchtig, weshalb es auf nahezu jeder Festivität zumindest ein Exemplar dieser Spezies gab.
Viel schillernder und interessanter waren indes die Künstler und Musiker, welche die Stadt zuhauf hervorbrachte, jährlich ausspuckte, damit sie von Festsaal zu Festsaal gereicht würden, um sodann wieder von der Bedeutungslosigkeit verschluckt zu werden. So jedenfalls erging es den Meisten von ihnen.
Natürlich gab es auch wenige Ausnahmen, nämlich die wirklich begabten, deren Werke nicht nur kurzfristigen Ruhm bescherten, sondern von denen abzusehen war, dass sie auf Dauer das kulturelle Erbe Myrtanas prägen würden. Bedauerlicherweise schafften die es zu Lebzeiten in der Regeln nicht mal saisonweise in die höhere Gesellschaft: Ihr Ruhm stellte sich erst nach ihrem üblicherweise entbehrungsreichen Leben ein.
Aber auch hier gab es gewisse Ausnahmen. Und eine ebensolche hatte sich gerade an Alzhara gewandt: “Wie ich sehe findet auch Ihr keinen besonderen Gefallen an diesem neumodischen Schaumwein? Man kann es Euch wirklich nicht verdenken.” “Oh, Geheimrat Liareb, welch Überraschung! Ihr hier?” Natürlich wusste Alzhara, dass der ebenso junge, wie erfolgreiche Komponist und Musiker unter den Gästen wäre. “Ach, sagt bloß nicht, Ihr wärt überrascht!”, entgegnete der, und fasste sie unter. “Lasst uns doch ein paar Schritte gehen! Vielleicht in Richtung Buffet? Nein?” Alzhara ließ sich von ihm mitziehen. Er steuerte die beiden auf die geöffnete Balkontür zu. “Hier ist es doch wesentlich ruhiger und angenehmer, findet Ihr nicht?”, sagte er schließlich, und schenkte ihr sein strahlendes Lächeln. Alzhara wusste, dass es weniger seine zugegebenermaßen brillanten Musikstücke waren, welche ihm den Zugang zu den höheren Kreisen sicherten, als dieses Lächeln.
“Nun, Herr Geheimrat, wie ich hörte war Euer jüngstes Konzert wieder ein großer Erfolg? Gratulation.” “Oh, vielen Dank. Ein Erfolg, ja, in der Tat. Der Kurfürst erwägt, mich zu seinem neuen Kapellmeister zu machen. Offen gesagt versteht der Fatzke nichts von Musik, aber in diesem Falle hat er zufällig ins Schwarze getroffen. Schade, dass ich ihm seinen Wunsch wohl werde ausschlagen müssen.”
Dieser Liareb hatte eine ziemlich freche Art! Das gefiel Alzhara. Und doch, irgendwie kam ihr etwas merkwürdig vor. Die Situation, der erleuchtete Festsaal, Liareb…es kam ihr alles sonderbar bekannt vor, als ob… Aus dem Augenwinkel nahm sie die Bewegung eines der Pagen wahr. Sie zuckte zusammen. Dann ertönte das Klirren von Glas. Ein kleiner Tumult entstand, der unglückliche Page hatte sein Tablett zu schräg gehalten, und die Gläser darauf waren allesamt zu Boden gefallen und geräuschvoll zerbrochen. Die gräfliche Schimpftirade über sich ergehen lassend, machte sich der arme Tropf daran, die Folgen seines Malheurs zu beheben, wobei ihm seine Kollegen eifrig halfen.
“Ihr habt gewusst, dass das geschehen würde, oder?”, sagte Liareb, mit amüsiertem Lächeln. Alzhara krauste ihre Stirn. Der Blick dieses Mannes ruhte auf ihr, ruhig und gelassen. Er wirkte freundlich und arglos. Und doch lag etwas in diesem Blick, das sie nicht einordnen konnte. Es meldete sich etwas in ihrem Unterbewusstsein, das sie nicht recht zu fassen wusste. Es war da, das spürte sie, doch es entzog sich ihr. Irgendetwas, das sie vergessen hatte. Was war es nur?
“Déja-vu?”, fragte Liareb. “Offenbar”, murmelte sie, während sie fieberhaft nachdachte. Dann sah sie von den Aufräumarbeiten weg, wieder Liareb in die Augen. “Aber ich denke, dass mehr dahinter steckt. Um einiges mehr. Nicht wahr, Meister Liareb?” Sie unterzog ihn einer Musterung: Die entspannte Haltung mit der lässig auf dem Balkongeländer abgelegten Hand, die modische, künstlerisch-nachlässige Kleidung, das freundliche Lächeln und der ruhige, sanfte Blick. Und sie sah auch etwas, das dahinter stand, das unter all dem verborgen war. Etwas dunkles.
“Ihr seid ein ausgezeichneter Blender”, meinte sie, ebenso hintergründig lächelnd, wie er. Dachte er denn wirklich, dass er sie zum Narren halten könne? Auf Täuschung verstand sie sich doch mindestens ebenso gut, wie er. “Diese Menschlein sind allerdings wohl nicht gerade der Maßstab, oder?”, fuhr sie fort, wobei sie mit einer Handbewegung auf die ahnungslos feiernde Festgesellschaft wies, “Andererseits nehme ich an, dass ihr niemand anders ernsthaft zu täuschen beabsichtigt. Denn wolltet ihrs mit mir tun, so wäre dies ein einigermaßen enttäuschender Versuch.” Liareb nickte anerkennend: “In der Tat. Euch zu täuschen, werte Alzhara: nichts läge mir ferner!”
Liareb. Mit diesem Namen war etwas. Sie dachte nach.
“Was haltet Ihr vom Nativismus?” “Vom…?”, Alzhara stutzte. “Eingeborne Erinnerungen? Ihr habt doch sicherlich eine Meinung dazu?”, Liarebs Lächeln war ekelerregend dreist, und zugleich auf sonderbare Weise anziehend.
Liareb.
Es durchfuhr sie, wie ein elektrischer Schlag! Liareb - Beliar!
Aber das… “Ihr habt es doch gewusst. Alzhara, das hatten wir doch schon, erinnert Ihr Euch nicht mehr? Damals fandet Ihr es weit weniger überraschend, als heute.” Er lachte leise, spöttisch, “aber so ist das wohl. Sagt, Alzhara: Wundert Ihr Euch nicht, wie wir hier hergekommen sind?” “Hergekommen? Wie sollten wir hergekomm…” Sie brach ab. Schaute sich um. Die Gesellschaft, das Fest, der Balkon, diese Nacht: Alles das hatte sie schon einmal erlebt. “Damals standen wir nicht hier!”, meinte sie. “Richtig”, stimmte er zu. “Dennoch ist es dasselbe Fest.” “Ein Traum?”, fragte sie, “was soll das? Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir einander nicht mehr in die Quere kämen. Warum dann diese Entführung”, sie machte eine Geste, welche die gesamte Szenerie zu umfassen schien, “in einen Traum?”
“Oh, dies ist kein Traum,” Entgegnete Beliar, “oder hattet Ihr schon mal einen Traum, an dem jemand anders als Ihr selbst und Euer Unterbewusstsein beteiligt gewesen wäre?” “Aber real ist es auch nicht, oder?”, gab sie zurück. “Nun, was willst Du, Beliar?” Er gluckste vergnügt: “Was ICH will? Was sollte ich wollen? Ich habe alles, was ich brauche. Im Gegensatz zu Euch, werte Alzhara. ICH bin jedenfalls nicht Gefangener irgendeines rotzfrechen Fanatikers, der sich an mir unerhörte Dinge herausnimmt.” Alzharas Augen warfen förmlich Speere. “Oh, warum denn so zornig? ICH kann wohl kaum etwas dafür, oder? Ich habe Euch nur von Eurer recht unangenehmen Lage befreit.” “Befreit?”, sie stieß ein unvergnügtes Lachen aus, “oder nur in ein weiteres, wenn auch weniger körperliches, Gefängnis entführt?”
“Och, wenn Euch Eure Zelle lieber ist, kann ich Euch gerne wieder dorthin entlassen. Ich habe so eine gewisse Vorstellung von Eurer Unterbringung auf Irdorath - es ist doch Irdorath? Schönes, erfrischendes Schwarz, kuschelige Schatten und bequemer Felsgestein. Jaja, mein Haupttempel ist schon ein wirklich herrliches Plätzchen, oder? Und da man einem so hohem Gast wie Euch dort gewiss alle körperlichen Annehmlichkeiten zuteil werden lässt…” Alzhara schnaubte unleidlich. “Schon gut, ich habe verstanden! Ja, zugegeben: Hier ist es angenehmer. Und mein Leib? Was geschieht mit ihm, während ich hier bin? Ach, womöglich gar nichts. Die Zeit mag hier anders vergehen. Nicht wahr? Wir könnten Stunden hier verbringen. Wenn ich dann erwache, sind kaum Minuten, oder gar Sekunden vergangen.” “Ich habe Euren Scharfsinn stets bewundert.”
Seltsamerweise glaubte ihm Alzhara dies sogar. Der leibhaftige Beliar war ein Spötter, und doch: Dies meinte er ernst. Alzhara verdrängte das angenehme Gefühl, dass sich ihr bei diesen Worten eingestellt hatte.
“Aber Du hast mich gewiss nicht aus bloßer Drachenfreundlichkeit hier hergebracht, oder?” “Nun, warum nicht? Dass ich Eurem geneigten Exliebhaber nicht gerade freundschaftlich gegenüberstehe bedeutet doch nicht, dass ich Eurem ganzen Volke gram sein müsste.”
Sie zuckte die Schultern: “Hast Du jemals etwas ohne Grund gemacht? Ohne Hintergedanken?” “Natürlich habe ich. Oft. Aber zugegeben: Ihr habt Recht. Ich habe Hintergedanken. Ich weiß zufälligerweise, was der gute Finkregh mit Euch plant.” “Was Du nicht sagst! Nicht, dass es nicht ziemlich offensichtlich wäre! Alles andere würde mich, beim Gott der Finsternis, ehrlich gesagt maßlos enttäuschen. Und weiter? Finkregh dürfte es ziemlich egal sein, wenn Du mich in eine schöne Traumwelt versetzt. Er braucht nur meinen Körper, nicht meinen Geist.” “Wir beide wissen, dass dem nicht so ist. Außerdem ist dies kein Traum.” “Jaja, schon gut. Träume teilt man nicht. Fein. Also willst Du mir helfen? Dann wirst Du eine Gegenleistung verlangen. Wie wäre es, wenn Du zur Abwechslung mal ein wenig direkter wärst? Was bietest Du mir an, und was willst Du im Gegenzuge von mir? Wir wissen beide, dass meine Verhandlungsbasis gerade nicht so gut ist. Also sag endlich, wie Du meine Notlage ausnutzen willst!”
“Ich will Eure Notlage nicht ausnutzen”, Alzhara schnaubte verächtlich, “Ich will Euch informieren: Ich plane Eure Befreiung.” “Schon klar. Aber zu welchem Preis?” “Zu keinem Preis. Ich werde Euch befreien. Und danach werden wir über ein mögliches Arrangement verhandeln. Wenn Ihr dann immer noch an keinem Bündnis Interesse habt, dann eben nicht. Glaubt Ihr denn wirklich, ich würde die Notlage einer holden Maid ausnutzen?” “’Holde Maid’?”, lachte Alzhara. Beliar nickte: “Holde Drachenmaid. Ganz recht. Ich schlage vor, dass Ihr einstweilen hier bleibt. Vielleicht sucht Ihr Euch aber eine andere Bleibe, als die, welche Ihr damals belegt habt. Sonst könnten die da hinten etwas irritiert sein.” Mit einem Nicken deutete er in den Festssaal hinein.
“Das sind doch…” Beliar vollendete ihren Satz: “Wir beide. Dort haben wir damals gestanden, erinnert Ihr Euch?” Alzhara sah sich selbst, wie sie in einem Grüppchen hochgestellter Herrschaften stand. Auch Beliar/Liareb war dabei. Beide waren, zum Vergnügen der Umstehenden, in einen recht hitzigen Disput verwickelt. Sie sah sich etwas sagen, das offenbar recht humorvoll war, denn sie erntete von den Umstehenden ein Lachen. Der zweite Beliar indes antwortete offenbar nicht minder schlagfertig, und steigerte die allgemeine Erheiterung noch.
“Damals waren wir ziemlich gemein zueinander”, kommentierte Beliar die Szene. “Heute hingegen stehen wir in anderem Verhältnis. Ihr werdet sicherlich noch feststellen, dass der Umstand von unser beider Macht uns durchaus nicht zur Konkurrenz verdammt.”
“Nette Vorstellung”, gab sie trocken zurück. “Du hast das wirklich schön inszeniert. Aber wir brauchen unsere Doubel nun nicht mehr, oder? Du meinst also, ich solle hierbeiben?” “Ja. Um Euren Leib kümmere ich mich, keine Sorge. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe mich um Eure Befreiung zu kümmern. Genießt doch ein Bisschen das Fest und lasst es Euch gut gehen!”
Bevor Alzhara noch etwas erwidern konnte, war Beliar verschwunden. Oder besser gesagt: Beliars Traum-Ich. Beziehungsweise, noch besser gesagt - wie sie missgelaunt dachte - Beliars Nichttraum-Ich.
Alzhara seufzte und wandte sich wieder der Festgesellschaft zu.
Beliar hatte Recht: Hier war es ganz entschieden angenehmer, als in der Höhle auf Irdorath.
Sie zuckte mit den Schultern. Wenn sie schon hier war, so könnte sie sich wenigstens ein Bisschen entspannen.
Geändert von Sir Ewek Emelot (25.09.2010 um 18:55 Uhr)
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XIX.: Von Ketzerei und Prunksucht
Das Tal der Minen von Khorinis war schon seit jeher Schauplatz geschichtsträchtiger Ereignisse gewesen. Schon die frühesten Kulturen von Mensch, Ork und Goblin hatten hier gesiedelt, und wahlweise Handel oder Krieg miteinander geführt. Bereits zur Blütezeit der untergegangenen Stadt Jharkendar wurden die reichhaltigen Bodenschätze, die hier bis heute zu finden sind, gefördert. Im Laufe der Jahrhunderte hatte es so einige Kriege um diese Bodenschätze gegeben, bis, in jüngerer Zeit, die myrtanische Dominanz immer stärker geworden war.
Geografisch lässt sich das Minental, grob gesagt, in einen westlichen und nördlichen sowie einen östlichen und südlichen Teil gliedern. Der östliche Teil ist von sanften Hügeln geprägt, die von saftigem Gras oder dichten Laubwäldern bedeckt sind, zwischen denen sich Bäche und Flüsse schlängeln, um schließlich, ganz im Osten, ins Meer zu fließen. Im westlichen Teil hingegen dominieren schroffe Felsen die karge, bergige Landschaft. Zwischen diesen beiden Gebieten zieht sich eine steile Felsenkette, die wie eine natürliche Mauer wirkt, und sich etwa in der Mitte des Tals zu einem hohen Berg erhebt, auf dem einst ein altes Kastell über das gesamte Tal und allen Bergbau darin wachte. Nachdem aber der westliche Teil mehr und mehr ausgebeutet und daher zunehmend uninteressant geworden war, zudem die orkische Präsenz mehr und mehr nachgelassen hatte, und militärische Erwägungen zunehmend in den Hintergrund rückten, verließ man das alte Kastell, und baute stattdessen die Burg im östlichen Teil, die weitaus komfortabler und - obzwar weit weniger wehrhaft - viel leichter zu erreichen, sowie als Handelsposten und Umschlagplatz viel besser geeignet war.
Der östliche Teil des Tales blieb fest in myrtanischer Hand, der Westen hingegen wurde zu entlegener Wildnis - und zu Orkgebiet. Denn hier lebte der letzte auf Khorinis verbliebene Orkstamm, fristete ein recht karges und einfaches Dasein, und verhielt sich im Ganzen so ruhig und unauffällig, dass sich das Königreich Myrtana (sowie auch nach Errichtung der Barriere die Häftlinge unter der Führung der Erzbarone) darauf beschränkten, die Zugänge zu diesem Gebiet nachlässig zu bewachen, also die Stellen, wo die Felsenkette Durchlass bot.
Der Ork, der sich von Westen her dieser Felsenkette näherte, hätte in so manchem Menschen sicherlich Verwunderung ausgelöst: Seine Statur war ungewöhnlich klein und zierlich, der Schritt ungewöhnlich leicht. Womöglich hätte man diesen Ork für einen Halbwüchsigen gehalten. Tatsächlich aber handelte es sich um eine Frau.
Die Orkfrau strebte einem ganz bestimmten Punkt dieser Felsenkette zu. Ein bedrohliches Knurren ertönte, als sie ein Rudel der auch unter dem Namen “Orkhunde” bekannten Warge passierte. Doch auf einen Blick in die Augen des Rudelführers hin senkte dieser, plötzlich winselnd, den Kopf, und auch die anderen Warge, die ihr vermeintliches Opfer bereits zu umkreisen begonnen hatten, ließen nun doch von ihm ab. Die Orkfrau passierte ebenso gelassen wie unbehelligt das Rudel.
Schon bald erreichte sie das Felsmassiv, an einer Stelle, wo die Klippe durch wild wuchernde Sträucher nahezu vollständig verdeckt war, schob einige der dornenbewehrten Äste zur Seite, und verschwand durch eine kleine Öffnung in der Felswand. Durch eine enge Schlucht, die wie ein Keil in das Felsmassiv getrieben war, erreichte sie schließlich einen winzigen, runden Talkessel, an dessen anderem Ende sich eine Höhle anschloss.
Sie beschleunigte ihre Schritte, um nicht zu spät zu ihrer Verabredung zu kommen. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, in Gedanken an das, was die letzten Tage geschehen war.
Mit müdem Schritt und doch zornigem Brodeln im Bauch, ging Ur-Shak auf seine Hütte inmitten des Orkdorfes zu. Sein Tag war überaus schlecht gewesen: Als jüngstes Mitglied im Rat der Schamanen hatte er es nicht leicht. Zwar hielt Hosh-Pak, der älteste, angesehenste und mächtigste Schamane des Stammes sehr große Stücke auf ihn, protegierte ihn und ließ ihn an seinem Wissen und seiner Weisheit teilhaben, doch trotz seines Scharfsinns und seiner Talente wurde Ur-Shak von den meisten anderen Schamanen eher despektierlich behandelt. Natürlich wusste Ur-Shak, dass dies keineswegs Verachtung für seine Person war, vielmehr war man der Auffassung, dass er schlicht zu unerfahren sei, und noch viel zu lernen habe. Manchmal jedoch fand er, dass die Schamanen (Hosh-Pak eingeschlossen) viel zu engstirnig und konservativ waren.
Heute jedoch war es besonders schlimm gewesen und schließlich zum Eklat gekommen.
Lange schon war Ur-Shak ein Querulant unter den Schamanen gewesen, hatte er es doch an der erforderlichen Frömmigkeit und der Ehrfurcht gegenüber den Göttern, insbesondere gegenüber Krushak, dem Schläfer, von dem hieß, dass er in uralten Tempelanlagen tief unterhalb des Orkdorfes schlummere, mangeln lassen. Heute jedoch war er besonders weit gegangen: Er hatte behauptet, das Krushak das Dorf nicht etwa beschütze, sondern im Gegenteil die Orks ausbeute, sie versklave und für alle eine Gefahr sei, kurz: Krushak sei böse. Das war Ketzerei, die anderen Schamanen waren über diese Worte entsetzt, auch Ur-Shak war über die eigene Unverblümtheit erschrocken, und man hatte sich im Streit getrennt.
Doch Ur-Shak wusste, dass man es dabei nicht bewenden lassen würde: Er war zu weit gegangen.
Zweifel nagten an ihm. Zweifel an der Weisheit der Ahnen, an den alten Traditionen und auch an seinen Lehrmeistern, insbesondere an Hosh-Pak. Aber auch Selbstzweifel. Hatte er denn das Recht, sich selbstherrlich über die alten Lehren hinwegzusetzen? Hatten die Schamanen den Stamm nicht seit alter Zeit stets weise geführt? Wie kam nun ausgerechnet er, der jüngste und unerfahrenste von ihnen dazu, an den althergebrachten Werten zu zweifeln? War es nicht respektlos gegenüber seinen geschätzten Lehrmeistern?
Und doch: Krushak verlangte viele Opfer, und um die Errichtung seines Tempels rankten sich düstere Legenden. Es hieß, dass er die Schamanen, die ihn einst, vor tausend Jahren, um Hilfe angerufen hatten, zum Bau seines Tempels gezwungen, dass er sie verflucht und zu ewiger Dienerschaft verdammt hätte und dass hunderte weiterer Orks des Stammes dieses Schicksal geteilt hätten. Krushak war gewiss kein sorgender und liebender Vater, sondern ein unerbittlicher Gott, ein Herrscher, dessen Willen man sich zu beugen hatte. Dass das Wesen schlief, schien, unter diesem Gesichtspunkt, nur gut. Ur-Shak spürte, dass die anderen Schamanen die Gottheit keineswegs liebten. Sie achteten sie, dienten ihr, vor allem aber fürchteten sie sie. Ur-Shak war jedoch nicht bereit, sich einem solchen Wesen zu fügen. Er sprach aus, was die anderen wohl in sich selbst verbargen, was sie sich selbst nicht eingestehen wollten: Dass sie einem finsteren Dämon dienten. Und dafür hassten sie ihn nun.
In diese sorgenvollen Gedanken versunken erreichte er schließlich sein bescheidenes Heim. Die Wärme eines prasselnden Herdfeuers empfing ihn, sowie der Duft saftig gebratenen Snapperfleisches, das mit Orkblatt, Feuernesseln und anderen Gewürzen verfeinert war. Empfangen wurde er auch von der liebevollen Umarmung seiner Frau.
Endlich zu Hause! Das Wiedersehen mit Wisrotha, seiner Frau, war seit längerer Zeit das einzige, was ihn den Alltag im Schamanenrat ertragen ließ. Auf der anderen Seite war sie es, deretwegen er sich so mit den anderen Schamanen überwarf: Er wollte nicht, dass seine Kinder unter der Bedrohung eines Wesens wie Krushak aufwachsen müssten.
“Endlich bist Du wieder da”, hauchte sie ihm in die Ohren, bevor sie ihm stürmisch das Gesicht abschleckte. “Wie war es im Rat?” “Mhm”, brummte er, “nicht gut. Die anderen Schamanen wollen die Bosheit Krushaks nicht sehen. Sie nennen mich einen Ketzer. Nur Hosh-Paks Besonnenheit ist es zu verdanken, dass es nicht zu Gewalt kam.” Ur-Shak erwiderte die Liebkosungen von Wisrothas Zunge und kraulte ihr zärtlich das Rückenfell. Doch dann trat er einen Schritt zurück und hielt sie auf Armeslänge von sich.
“Dieses mal war es anders. Der Rat wird sich geschlossen gegen mich stellen. Wenn ich so weitermache, verbannen sie mich. Wisrotha, vielleicht liege ich falsch?” Wisrotha hingegen legte ihre Hand auf Ur-Shaks Wange und schaute ihm zärtlich in die Augen. “Falsch? Aber nein, Ur, Du liegst nicht falsch. Ich weiß, Hosh-Pak ist ein weiser Mann, aber er und die anderen im Rat können nicht erkennen, was Du erkannt hast. Sie sind zu alt und hängen zu sehr an den Traditionen. Du musst Dich ihnen weiter entgegenstellen. Für den Stamm. Und für mich.”
Ur-Shak war unschlüssig. Er war im Glauben an Krushak erzogen worden, und hatte von Kindheit an zu ihm gebetet. Zudem wusste er, dass er sich dem Rat nicht entgegenstellen konnte. Das war unmöglich, der Rat war zu mächtig. Er setzte alles, was er erreicht hatte, aufs Spiel. Doch wenn er Wisrotha anblickte, ihren liebevollen Blick sah, ihre schlanke, wohlgeformte Gestalt, dann wichen alle seine Zweifel der Gewissheit, dass er recht hatte.
“Ja, Du hast recht!”, sagte er. Zärtlichkeit für seine Frau durchflutete ihn, und er zog sie eng an sich heran. “Wir werden unseren Stamm befreien und Krushak bekämpfen. Ohne Dich hätte ich die Wahrheit niemals erkannt”, erneut schleckten sie einander ab, eng umschlungen.
Eine Zeit lang waren nur das Prasseln des Feuers, der keuchende Atem und das wohlige Grunzen der sich liebenden Orks in der Hütte zu vernehmen.
Doch dann drangen andere Geräusche an die Ohren der Liebenden: Schritte. Viele, schwere Schritte.
Ur-Shrak schreckte auf, und Angst bemächtigte sich seines Gemüts. Er wusste, was diese Schritte zu bedeuten hatten.
“Was ist denn…?“, fragte Wisrotha verwundert, doch Ur-Shak unterbrach sie hastig: “Wir müssen weg. ICH muss weg. Die anderen Schamanen, sie haben die Tempelwächter geschickt.” “Aber, woher…?” “Ich höre sie. Sie kommen näher.” “Was machen wir nun?” Wisrothas Stimme war erstickt, nur ein Schluchzen. “Dir wird nichts geschehen. Mich hingegen werden sie verbannen. Ich werde den Stamm verlassen müssen.”
Doch noch war nicht alles verloren. Er würde den Kampf gegen Krushak nicht einfach aufgeben. Und auch nicht seine Frau. “Aber wir werden uns wieder sehen.”
Ur-Shak erklärte seiner Frau, wo sie ihn finden würde, bevor er den sich nähernden Tempelwachen aufrecht entgegentrat.
Seither waren zwei Tage vergangen. Ur-Shak hatte man in Gewahrsam genommen, ihm den Prozess wegen Ketzerei gemacht, und schließlich hatte man ihn verbannt und für Snapperfrei erklärt: Kein Ork durfte mehr Wasser, Fleisch und Feuer mit ihm teilen. Jeder Kontakt zu ihm war untersagt, und ihn zu töten jedem Ork des Stammes freigestellt. Ur-Shak hatte den Stamm und dessen Gebiet binnen eines Tages zu verlassen, was bedeutete, dass er einen Abstand von mindestens einer Tagesreise einzunehmen, oder aber mit unerbittlicher Verfolgung zu rechnen hatte. Das einzige, was ihm das Leben rettete, war sein Rang als Schamane.
Nun hatte die Orkfrau die Höhle erreicht. Es war dunkel hier, kahl, und nichts deutete darauf hin, dass es hier mehr zu finden gäbe, als Staub und Steine. Sie näherte sich der rückwärtigen Höhlenwand, die jedoch nicht die geringste Besonderheit aufwies. Dennoch ging sie unverwandt und ohne zu zögern darauf zu.
Es gab keinen Aufprall, als sie die Wand erreichte. Kein besonderes Geräusch, nichts. Sie verschwand einfach in der Wand, als würde sie von dieser verschluckt.
“Hey, nicht da hin, Du Depp! Brings da rüber!”, schnauzte Granimoth, einer von Beliars höheren Dienern, den niederen Dämon an, der eine der schweren Kisten trug. Ein Blick Beliars genügte, um sie als eine seiner Kleidertruhen zu erkennen. Granimoth selbst hatte sich eine obskure Gestalt mit einem halben Dutzend Armen verliehen, mit denen er wahlweise selbst schwere Gegenstände trug, oder aber die niederen Dämonen instruierte. Um sein verbales Vermögen dem gestischen anzupassen, besaß er in seiner derzeitigen Gestalt auch drei Köpfe, die alle unabhängig voneinander in verschiedene Richtungen blicken und Anweisungen geben konnten. Nur, wenn ein Dämon eine besonders schlimme Dummheit anstellte, richteten sich alle sechs Augen glühend auf ihn, und es erklang eine dreistimmige Schimpftirade. In diesem Falle aber war das Vergehen des niederen Dieners nur geringfügiger Natur, und so ließ es Granimoth bei einer Beleidigung, einer Anweisung und einem Handzeichen bewenden.
Beliar indes war ebenso beeindruckt, wie zufrieden von dem, was sich ihm darbot.
Shalfarezehl an seiner Seite, besichtigte er seinen designierten Wohnsitz, und seine Vorfreude darauf, hier einzuziehen, wurde immer größer und teilte sich ihm durch ein angenehmes Kribbeln und Hüpfen im Bauch mit.
Zur Zeit gab es zwei Bauprojekte, die er anstrengte: Das eine war ein düsterer Turm inmitten des Orkgebietes. Dieser würde aus schwarzem Stein erbaut sein, martialisch aussehende Zacken aufweisen, und im Ganzen den Eindruck erwecken, den ein Schwarzmagierturm eben zu erwecken hatte. Diesen Turm würde er mit alchemistischen Geräten, Runentischen, Pentagrammen und Regalen mit großen, schweren, ledergebundenen Büchern füllen, so dass jeder Besucher den Eindruck haben würde, dass hier ein mächtiger Dämonenbeschwörer lebte.
Doch dann gab es da noch Beliars zweites Bauprojekt: Seine echte neue Residenz.
Diese sollte gut verborgen sein, im großen und ganzen unauffindbar, und vor allen Dingen um einiges luxuriöser. Daher hatte sich Beliar dafür entschieden, sie nicht etwa eigentlich bauen, sondern vielmehr aushöhlen zu lassen. So hatten seine dämonischen Diener damit begonnen, eine natürliche Höhle in dem Felsmassiv, welches das Minental teilte, auszubauen und bewohnbar zu machen.
Kniffligerweise hatten die Dämonen hier mit den besonderen Wünschen ihres Herrn und Meisters zu kämpfen. Obwohl er hier nämlich gänzlich abgeschieden leben wollte, und nichts auf seine Residenz hinweisen sollte, wollte er doch auf Tageslicht nicht verzichten. Nun also einfach Fenster in die Wände zu schlagen verbot sich aus Gründen der Heimlichkeit. Also hatte man sich entschlossen, anstelle von Fenstern die Decke an einigen Stellen zu durchstoßen, und das massive Gestein mit durchsichtigem Kristall zu ersetzen, der zwar unerhört teuer war, aber eben auch unerhört stabil, und außerdem optisch ziemlich was hermachte.
Die Architektur der Höhle war nun in gewünschtem Zustand, und an vielen Stellen fiel das Sonnenlicht ins Innere hinein. Durch den Kristall gebrochen verteilte es sich gleichmäßig in den Räumen, so dass sich eine angenehme und warme sowie sehr lichte Atmosphäre ergab. Nachdem die Arbeiten an der Behausung selbst fertig gestellt waren, widmeten sich Beliars Diener nunmehr dem Mobiliar, welches von weit her gebracht worden war. Niedere Dämonen wuselten hin und her, brachten schwere Truhen und Kisten herein, stellten Regale auf, ordneten Bücher ein, packten Gemälde aus, die sie an den Wänden aufhängten, rückten Tische, Stühle und Sessel an die gewünschten Stellen, rollten Teppiche aus und sammelten Staub und Dreck, der bei all der Arbeit entstand, wieder ein.
All dies erregte Beliars Wohlgefallen, förderte das Bauchkribbeln, und lächelnd rieb er sich die Hände, während ihm Shalfarezehl Details von Planung und Durchführung des Projekts erläuterte, ganz der leitende Architekt und Vorarbeiter.
“An dieser Stelle mussten wir eine Säule einbauen, um die schwere Felsendecke zu tragen. Wir haben uns für eine Runde Säule mit südinsulanischem Kapitell entschieden, da wir dachten, dass die Leichtigkeit und Eleganz dieser Architektonik Dir gefallen könnte.” “Oh, Shalfe, ganz hervorragend!”, stieß Beliar freudig aus, und bewunderte die ebenso schlichten, wie eleganten Verzierungen der Säule.
“Und hier kommt das Klavier hin”, fuhr Shalfarezehl fort, deutete dabei auf eine Ecke des großen Raums, in dem sie sich befanden, und der später einmal den Wohnbereich, das Herzstück der Anlage ausmachen sollte. “Wir haben dafür Sorge getragen, dass Form und Struktur des Raumes eine ausreichende Akustik möglich machen. Die Unebenheiten in der Decke sind nicht nur nach ästhetischen, sondern auch nach tontechnischen Kriterien angebracht worden. Sobald die Inneneinrichtung komplett ist, werden Wandteppiche, Bücherregale und Schränke sowie die Bodenteppiche jegliches unangenehme Widerhallen verhindern.
Erneut wogte schiere Vorfreude durch Beliar. “Ach Shalfe, Du bist einfach grandios!”, lobte er seinen engsten Vertrauten. Langsam näherte er sich der ziemlich großen Holzkiste, welche an der von Shalfarezehl gewiesenen Stelle stand. Andächtig legte er seine Hand auf das raue Holz, und näherte sich ihm mit seinem Ohr. Sehnsucht erfasste ihn beim Gedanken an den Inhalt, und ließ sein Herz schneller schlagen: Hinter diesen Brettern war sein Piano, auf dem er schon so lange nicht mehr hatte spielen können. Oh, wie sehr er das vermisste!
Ein plötzliches Poltern riss ihn aus seiner Andacht, dann ein scheppern und Klirren.
“PASS DOCH AUF!”, brüllten drei identische Münder mit drei identischen Stimmen, während sechs identisch finster blickende Augen einen der niederen Dämonen schier aufspießten. “Das war wohl das varantiner Porzellan”, kommentierte Shalfarezehl den Vorfall trocken. Beliar tat es um die schönen, kunstvoll bemalenen Tassen und Teller Leid. “Ach, Granimoth, ist doch nicht so schlimm”, warf er ein, und schenkte dem armen Dienerdämon ein mitleidiges Lächeln.
“Granimoth ist aber ziemlich mies gelaunt”, zischte er Shalfarezehl zu. Das Herumfahren von Granimoths Kopf hingegen, sowie der ziemlich unleidliche Ausdruck auf seinem Gesicht machten deutlich, dass er Beliars Worte gleichwohl gehört hatte. “Ähm, wieso zeigst Du mir nicht das Badezimmer? Hier entlang?”, plapperte Beliar hastig, und zog seinen höchsten Diener weiter, um möglichst schnell aus Granimoths Blickfeld zu entkommen. “Was ist denn DEM über die Leber gelaufen?”, fragte er Shalfarezehl schließlich, als sie den Raum verlassen hatten. “Och, das ist nur der Stress”, meinte der Dämon mit einem Schulterzucken. “Nimms ihm nicht übel, der hatte in letzter Zeit ziemlich viel um die Ohren.”
Beliar nickte beiläufig, und trat an eines der sonderbaren Möbelstücke heran, welche den Raum dominierten, in dem sie nun waren. “Eine biblursche Toilette! Endlich nicht mehr diese elenden Plumsklos!”, stieß er aus. “Wie lange braucht Ihr noch?” “In zwei, drei Tagen sollte alles fertig sein.”
Das angenehme Gefühl im Bauch wurde stärker und stärker, und Beliars Lächeln, dem durch den Vorfall mit dem Porzellan nur ein temporärer Dämpfer widerfahren war, wurde breiter und strahlender. Hier würde er sich wohl fühlen, ganz sicher.
Es hatte ausgesehen, als sei sie von der Wand verschluckt worden. Tatsächlich war an dieser Stelle aber gar keine Wand, sondern lediglich die Illusion einer solchen. So war sie in einen kurzen, engen Gang getreten, der schon bald zu einer Wendeltreppe führte, welche in den Fels hineingetrieben war. Sie machte sich an den Aufstieg, und je höher sie kam, desto lichter wurde es. Schließlich trat sie in einen Gang, der von Löchern in der Decke hell erleuchtet wurde. Sonderbare, oft schwer beladene Gestalten wuselten hier umher. Doch die Orkfrau beachtete sie kaum, sondern ging den Gang entlang bis zu einem größeren Raum, in dem ebenso rege Tätigkeit herrschte. Nach kurzer Orientierung wandte sie sich einem anderen Gang zu, der von diesem Raum abzweigte, und ignorierte hierbei das Gezeter einer größeren Gestalt, welche mit anderen, kleineren schimpfte, und auch ihr einen recht bösen Blick zuwarf.
“Meister?” Beliar und Shalfarezehl fuhren herum. Eine Orkfrau war in den Raum getreten. Beliar lächelte strahlend, bei ihrem Anblick. “Ishthara, meine Liebe, wie schön Dich zu sehen!”, begrüßte er sie. “Shalfarezehl hat mir schon berichtet, dass Du gute Fortschritte machst?”
Die Gestalt der Orkfrau verschwamm, begann, zu zerfließen und sich zu ändern. Statt einer Orkdame stand nun eine ziemlich ansehnliche, menschliche Frau in dem Raum, gänzlich nackt, und überaus verführerisch. “Aber ja”, sagte sie, mit dunkler, warmer Stimme. Lediglich ein raubtierhaftes Glitzern in ihren Augen strafte das unschuldige Lächeln lügen. “Der dumme Tropf hat mir alles abgekauft, und sich mit seinem Stamm absolut überworfen. Der wird so schnell nicht mehr auf die Füße kommen, und überhaupt hat es sich für den jetzt ’ausgekrushakt’.” Sie kicherte vergnügt und ein Bisschen hämisch. “Mhm… Ein guter Liebhaber war er übrigens auch…”
Shalfarezehl verdrehte die Augen. “Sukkubus!”, murmelte er. Beliar hingegen klopfte der Dämonin wohlwollend auf die Schulter: “Gut gemacht, Ishthara”, lobte er sie. Ein wenig tat ihm der Ork ja Leid, doch andererseits war dieses Vorgehen für seine Pläne nunmal notwendig, “Damit haben wir einen weiteren, sehr wichtigen Teil unseres Planes erfüllt.” Shalfarezehl mischte sich ein: “Na, wenn Du meinst. So ganz verstehe ich es zwar nicht…” Nun verdrehte Beliar die Augen: “Ach, Shalfe! Wir brauchen den Ork noch. Für später. Ach, muss man Euch denn alles erklären?” Er schaute erst Shalfarezehl, dann Ishthara an. Letztere wirkte nicht so, als läge ihr irgendetwas an Erklärungen, und zuckte bloß mit der Schulter: “Mir doch egal, warum ich den Ork flachlegen sollte. Hauptsache, es hat Spaß gemacht.”
Shalfarezehl jedoch wartete auf eine Erklärung.
“Wir brauchen jemanden, der sich mit der orkischen Kultur auskennt, der sehr in ihren Gebräuchen und ihrem Glauben bewandert ist, der sich mit dem Schläfer, mit Krushak, wie sie sagen, auskennt, und dennoch die geistige Offenheit besitzt, um ihren alten Lehren nicht mehr anzuhängen. Im Übrigen, liebste Ishthara, ist er keineswegs ein ‘dummer Tropf’, wenn er Dir geglaubt hat. Immerhin hast Du ihm nicht weniger als die Wahrheit gesagt.” Er erntete bloß ein schnippisches Schulterzucken und konnte sich wohl glücklich schätzen, dass sie ihm nicht auch noch die Zunge herausgestreckt hatte. Andererseits war Ishthara selbst dann, wenn sie sich divenhaft zeigte, überaus anziehend…
“Schön, nur was soll uns das nützen”, riss ihn Shalfarezehl aus seiner Betrachtung, “wenn er nun nicht mehr bei seinem Volk ist? Alleine wird er kaum überleben können, zumal er die besten Jagdgebiete seines Stamms nun meiden muss. Ich hätte ihn später von den anderen entfremdet.”
“Für sein Überleben sorgen wir schon. Schließlich muss er ja noch die myrtanische Sprache lernen, und das dauert seine Zeit. Und bis wir hierfür alles in die Wege geleitet haben, wird sich Ishthara um ihn kümmern”, beschied ihm Beliar, “Du hast doch dafür Sorge getragen, dass dies weiter möglich ist, Ishthara?” “Ja, habe ich”, sie kicherte wieder, “er und ich haben uns ein schnuckeliges Plätzchen ausgeguckt, wo wir uns regelmäßig treffen können. Bei unseren Rendez-vous werde ich ihn auch mit allem Nötigen versorgen, was so ein Sterblicher braucht.” Ishtharas anzügliches Grinsen ließ darauf schließen, dass sie dem Ork durchaus mehr, als nur das Nötigste würde angedeihen lassen.
Beliar indes nickte zufrieden. “Sehr gut. Dann entwickelt sich ja alles ziemlich prima, würde ich sagen.”
Vergnügt hakte er Ishthara unter, und machte sich wieder an die Besichtigung des neuen Domizils.
“Shalfe war gerade dabei, mir hier alles zu erklären, wie wärs, wenn Du uns begleitest?”, fragte er. “Ich möchte jetzt gerne die Laboratorien und den botanischen Garten sehen, Shalfe”, und zu Ishthara, “hier entlang, liebste Ishthara.”
Beliar freute sich über den nahenden Umzug, über den Fortgang seiner Pläne und überhaupt auf die Zukunft, die sicherlich noch viele angenehme Dinge für ihn bereit halten würde.
Der leichte Druck von Ishtharas Händen an seinem Arm, ihr Duft, ihre Präsenz weckten ein leichtes, angenehmes Kribbeln in ihm. Doch nicht im Bauch: Sondern Dieses war durchaus tiefer.
Geändert von Sir Ewek Emelot (29.09.2010 um 16:31 Uhr)
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