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    Cheshire Cat  Avatar von Superluemmel
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    [GM] Heimkehr

    Der Sturm war vorüber. Leise tappend zerplatzten die letzten Boten des Unwetters in Form winziger Tropfen auf den feucht glänzenden Planken des bauchigen Frachters. Das Rauschen der den Bug umspielenden Wellen büßte an Wildheit ein, bis es eher wie ein sanftes Flüstern wirkte, das dem vor wenigen Minuten noch wild bockendem Schiff zuraunte, sich zu beruhigen. Während sich im Osten die bedrohlich düsteren Wolkenmassen des Sturms wie der Leib eines gewaltigen Ungeheuers davonwälzten, brach das Grau des Himmels im Westen auf. Obwohl der blaue Himmel weiterhin verborgen blieb, zeichnete sich ein von Licht durchfluteter Spalt ab, der das graue Wolkenmeer spaltete.
    Eine frische Böe verfing sich in den Leinen des rautenförmigen Hauptsegels und ließ es wie die Brust eines siegreichen Helden schwellen, das Schiff legte sich knarzend auf die Seite. Währand das Handelsschiff an Fahrt gewann, klärte sich allmählich die Sicht. Zuvor verborgen vom raunenden Schleier des Regens, schälte sich der Umriss einer weitläufigen Landmasse am Horizont hervor.
    "Wir haben es geschafft!"
    Dem Ruf Kapitän Fjornars folgte ein Aufschrei der Erleichterung aus gut zwei Dutzend Kehlen. Heftig blinzelnd rieb sich Frost die letzten Regentropfen aus den Augen, um sich davon zu überzeugen, dass er keiner Illusion erlegen war. Doch die wie ein Miniaturgebirge wirkende, graubraune Silhouette am Horizont wollte nicht weichen. War es wirklich wahr? Würde er nach all den Jahren wirklich in seine Heimat zurückkehren können?
    Es war wie das Erwachen aus einem Traum. Während der dunkle Schemen allmählich wuchs, wandelte sich der anfängliche Unglauben geradezu quälend langsam in flammende Hoffnung, dann in stille Erwartung und unangenehme, innere Unruhe. Vor ihm lag die Rimmersmark. Hammerfoldt. Heimat. Familie.
    Esthera.
    Ein tiefer Atemzug füllte seine Lunge mit der kühlen, einen salzigen Hauch mit sich tragenden Meeresluft der Nordmeere. Einen Augenblick lang genoß er das leichte Brennen der Nasenflügel beim Atmen, die Berührung der eisigen Kälte, die sich seine Kehle hinabtastete. Trotz des wie Messerklingen in seine Haut schneidenden Windes war es für Verhältnisse der Rimmersmark ungewöhnlich warm. Glück für die Besatzung des Schiffes. Wäre es etwas kälter gewesen, hätte sie statt einem vergleichsmäßig harmlosen Sturm ein ausgewachsener Blizzard begrüßt. Frost war sich nicht sicher, ob das Schiff einen solchen Schneesturm überlebt hätte.
    Ein Blick auf das Schiffsdeck brachte eine klare Antwort auf diese Frage. Losgerissene Taue lagen wie die blassen Leiber dicker Schlangen in perfektem Chaos auf dem Deck herum, Holzsplitter umsäumten den Teil der Reling, der von zwei Frachtkisten durchschlagen worden war, als sich ihre Halteseile lösten. Vom Kielschwein war nur noch ein armseliger Stumpf übrig, der wie der Stummel eines amputierten Fingers in Richtung der Nordmarken wies. Ein Gemisch aus Salz- und Regenwasser verwandelte das Schiffsdeck in eine gefährliche Rutschbahn, in der Nähe des Mastes zogen sich rote Schlieren durch die Pfützen. Am Mast selbst hing der erstarrte Körper eines Söldners, halb sitzend, die knochenbleichen Hände um den Schaft eines harpunenartigen Geschosses verkrampft, welches ihn mit unbeschreiblicher Wucht in die Brust getroffen, über das Deck geschleudert und an den Mast genagelt hatte. Sein Kopf hing leicht im Nacken, der Mund war zu einem Schmerzensschrei geöffnet, doch hatte niemals mehr als ein qualvolles Röcheln seine Kehle verlassen. Durch den brutal wütenden Sturm hatte bisher niemand Gelegenheit gehabt, die Leiche den Wellen zu übergeben. Und er war nur einer der Toten, die diese Fahrt gefordert hatte.
    Drei Schiffe waren es ursprünglich gewesen. Gemeinsam hatten sie das Wagnis auf sich genommen, die Orkblockade zu durchbrechen. Für Handelswaren aus dem von Orks bedrohten Gebiet wurden beachtliche Preise gezahlt - Grund genug für manchen Kapitän, das Risiko einer Überfahrt einzugehen. Es gab nur zwei mögliche Ausgänge eines solchen Unternehmens. Entweder wechselte eine beträchtliche Anzahl an Münzen den Besitzer oder ein weiteres Schiff befand sich mit Mann und Maus auf der Reise zum Grund des Ozeans. Die Voraussetzungen der Fahrt waren beinahe optimal gewesen. Tagelang war kein einziges Orkschiff in Sicht gekommen.
    Dann hatte sich das Schicksal schlagartig gewendet. Adanos selbst schien das Land in seinen Wassern ertränken zu wollen, als sich das Licht eines Blitzes auf dem schwarzen Holz einer Orkgaleere brach. Sekundenbruchteile später vermischte sich das Getöse von Geschützfeuer mit dem ohrenbetäubenden Donnerschlägen des Sturms. Das Schiff bäumte sich wie ein verletzter Stier auf, als Geschosse in Rumpf und Deck einschlugen, Fetzen aus der Takelage rissen und Leiber wie Papier durchbohrten. Das Ruder der Estharia wurde schon bei der ersten Salve von der Kugel eines Torsionsgeschützes zertrümmert, durch den starken Wellengang vom Kurs abgebracht, krachte das Begleitschiff in die Flanke der Galeere und riss die komplette Seite auf. Die Kollision hatte zwar das Schicksal des Frachters und der Besatzung besiegelt, doch gleichzeitig die beiden anderen Schiffe gerettet. Für die sich in tödlicher Umklammerung mit dem schwarzen Giganten befindene Estharia wäre jede Rettung zu spät gekommen.
    Die Schwesternschiffe hatten den Sturm mit Mühe und Not überlebt, wenn auch nicht ohne Verluste. Von der ehemals mehr als dreißig Mann starken Besatzung waren noch etwas mehr als zwei Dutzend übrig. Das Schiff selbst glich einem Schlachtfeld. Frost zweifelte daran, ob die Lysandrië jemals wieder über die Weltmeere segeln würde. Ebenso fragte er sich, warum er ausgerechnet auf dem Schiff hatte anheuern müssen, das neben der Estharia am meisten Treffer abbekommen hatte.
    Seine Rippen protestierten mit neuen Schmerzwellen, als er seine Hand aus der Umschlingung eines Halteseils befreite, mit dem eine fast mannshohe Kiste an der Achtertrutz festgezurrt worden war. In dem Schlitz zwischen dem ledernen Handschuh und Ärmel wand sich ein roter Striemen um sein Handgelenk. Die Mundwinkel des Kriegers verzogen sich zu einer Grimasse, als er vorsichtig seine Brust befühlte. Der pochende Schmerz erinnerte ihn nur zu gut an die Frachtkiste, welche einem Überbordgehen im Weg gestanden hatte, als eine gigantische Welle das Schiff umzukippen drohte. Immerhin schien nichts gebrochen zu sein. Wahrscheinlich eine Prellung, doch auch dieser Schmerz würde im Lauf der nächsten Tage vergehen.
    Sich auf dem schwankenden Schiffsdeck nach sicherem Halt bemühend, arbeitete sich der Waffenmeister in Richtung des Bugs vor. Das letzte Licht der untergehenden Sonne brach in orangeroten Strahlen aus der noch immer tiefhängenden Wolkendecke hervor, zeichnete die Kronen der Wellen nach und badete die größer werdende Landmasse in einen feurigen Schein. Flammen schienen den zutiefst schwarzen Schatten einzuhüllen, ein geradezu paradox scheinender Kontrast zu dem weißen Mantel aus Schnee, der sich um diese Zeit über die Mark gelegt haben müsste. Dort, in weiter Ferne, verborgen hinter dem dichter werdendem Schleier der nächtlichen Finsternis, lag Hammerfoldt. Von dort aus war es eine knappe Tagesreise bis nach Thjerenfeldt, jenem Dorf, in dem er vor all den Jahren seine Familie zurückgelassen hatte. Fast sechzehn Winter war es jetzt her, seit er die heimatlichen Gefilde verlassen hatte. Sechzehn Jahre, in denen er mit den Erinnerungen gekämpft hatte. Jedes Mal, wenn ihm die Sehnsucht nach Esthera den Schlaf geraubt hatte, hatte er sich selbst verflucht. Verflucht für seine Entscheidung, jemals der Armee beigetreten zu sein. Verflucht für seine unglaubliche Dickköpfigkeit und seinen geradezu lächerlichen Ehrgeiz, der ihn für einen solch verhängnisvollen Fehler erst anfällig gemacht hatte.
    Doch in sechzehn Jahren hatte er viel Zeit zum Nachdenken gefunden. Verdammt, er hatte so viele Fehler begangen. Fehler, die sich nicht mehr rückgängig machen ließen. Nichts, keine Macht der Welt konnte ein Menschenleben zurückbringen. Zumindest nicht in seiner gesamten Form. Eine Lektion, die Frost mehr als ausführlich hatte lernen müssen. Es hatte Momente gegeben, in denen er sich gewünscht hätte, ja, in denen seine gesamte Existenz geradezu danach geschrieen hatte, die Zeit zurückdrehen zu dürfen, und wenn es nur ein kleines Stück gewesen wäre. Die Zeit...
    Im Laufe der Geschichte hatte der Mensch gelernt, seine Umwelt zu verändern, sie zu seinem Vorteil zu formen. Er hatte sich über die anderen Lebewesen erhoben, sich seine Position von nichts streitig machen lassen. Die Gelehrten hatten das Geheimnis der Magie entschlüsselt, um sie sich untertan zu machen, unbezwingbar erscheinende Berge waren erklommen und die See befahrbar gemacht worden. Und jenseits jeglicher Zivilisation hatte ein in Vergessenheit geratener Wissenschaftler künstliches Leben erschaffen und sich sogar den Himmel unterworfen. Dennoch war es keiner bekannten Macht vergönnt gewesen, den Strom der Zeit rückwärts fließen zu lassen. Und Frost hatte ebenso wie jeder andere Mensch lernen müssen, mit den Folgen seiner Entscheidungen weiterzuleben. Persönlicher Schmerz war ein Element, das in der kosmischen Ordnung unwichtig war.
    Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum er sich vom Götterglauben abgewandt hatte. Unfähig, die Schuld für seine Fehler bei sich selbst zu suchen, schob er sie der nächstliegenden, höheren Instanz zu. Ein weiterer Punkt, für den er sich selbst verfluchen könnte. Doch irgendwann hatte er akzeptiert, dass es nichts brachte, die Verantwortlichkeit weiterhin so lange auf seine Schultern zu laden, bis sie ihn erdrückte. So hatte er sich auf die Suche nach einem Weg gefunden, der ihm selbst die nötige innere Zuversicht und somit auch den Respekt vor dem Rest der Welt zurückgeben konnte.
    Und er hatte ihn gefunden.
    Zumindest glaubte er das. Sicher konnte er sich nicht sein. Das konnte niemand. Fehler werden aus anderen Fehlern geboren und bilden eine nicht enden wollende Kette, die sich nicht ohne immensen Kraftaufwand brechen lässt. Dennoch, soweit er es von seinem derzeitigen Standpunkt aus erkennen konnte, hatte er zu sich selbst zurückgefunden. Es war eine Odyssee, die fast ebenso lang angehalten hatte wie sein Exil. Und in der Zwischenzeit hatte sich so viel verändert...
    Als der Krieger nur als einsamer Schatten erkennbar hinter dem zerborstenen Kielschwein stand und in den Horizont starrte, legte sich die Trauer wie eine eiserne Klammer um sein Herz. Die Brise frischte auf, doch er ignorierte die einzelnen Haarsträhnen, die ihm über die Augen sprangen. Nicht nur für ihn hatte sich das Rad der Zeit weitergedreht. Er wusste nicht einmal sicher, ob Esthera noch immer in dem Blockhaus wohnte. Doch er glaubte nicht daran, dass sie ausgezogen sein könnte. Ein Teil seiner Seele schauderte allein schon beim Gedanken daran. Nein, Esthera hatte es nicht getan. Das Haus war mehr als eine bloße Aufeinanderschichtung von Holzbalken. Sie hatten es zusammen errichtet, als sie nach Thjerenfeldt gezogen waren. Es war eine Erinnerung, ein Teil ihres gemeinsamen Lebens, der erste Ort, den sie beide als Zuhause bezeichnet hatten. Und was war aus Sheyra geworden? Als er sie zusammen mit Esthera zurückgelassen hatte, war sie gerade einmal vier Jahre alt gewesen. Frost hatte sie mit dem Versprechen verlassen, dass er bald zurückkehren würde. Noch einmal dachte er an diesen letzten Abschied zurück. Etwas hatte in Estheras Blick gelegen, hatte den klaren, reinen Glanz ihrer blauen Augen getrübt und ihrem Lächeln ein Bruchstück an Ehrlichkeit geraubt. Hatte sie es schon damals gewusst? Eine düstere Vorahnung gehegt, dass Frosts Versprechen nicht mehr als ein heimlicher Wunsch gewesen war?
    Mehr war es letzten Endes nicht gewesen. Wenige Tage später hatte sich Frosts Leben in einen Gestalt gewordenen Alptraum verwandelt, ein Teil seines Weltbildes war in dem schwarzen Schlund von Beliars Reich versunken. Fremde Gier nach Macht hatte ihn davongerissen, fort von seiner Familie, hinein in die zuckende Blitzbarriere der khorinischen Gefängniskolonie. Mitten in eine neue Hölle aus Anarchie und Verbrechen. Damals hatte Frost aufgehört, zu existieren. Ein Teil von ihm, derjenige seiner Seele, der noch immer am Leben hing, hatte seinen innerlich toten Körper weitergetrieben, als ein Schatten seiner Selbst war er durch die Barriere gezogen, stets auf der Suche nach Erlösung von seiner Qual. Erst als selbige ihm nach Jahren verwehrt blieb, begann sich sein zerschundener Körper langsam zu regenerieren.
    Mittlerweile war Sheyra erwachsen. Wahrscheinlich konnte sie sich nicht einmal mehr an ihren Vater erinnern. Er hatte sie nahezu ihr gesamtes Leben lang allein gelassen. Wieder einmal ertappte sich Frost bei dem Gedanken, das Geschehene ungeschehen machen zu wollen. Es brachte nichts, er hatte seiner Verantwortung als Vater nicht nachkommen können. Was auch immer daraus resultieren sollte, er würde die Folgen tragen müssen.
    Bevor er sich umwandte, um dem Rest der Besatzung mit dem Beseitigen der Sturmbeschädigungen zu helfen, bedachte Frost das in Dunkelheit versinkende Land noch einmal mit einem langen, sehnsuchtsvollen Blick. Irgendwo in der Finsternis brach sich ein einzelner, glutroter Lichtstrahl auf stählerner Dachverkleidung, wuchs für den Bruchteil einer Sekunde zu einem gleißenden Lichtpunkt heran, gleich einer miniaturisierten Sonne, bevor er verblasste und den Schatten der Nacht den Weg räumte. Bald, bald würde die Heimat ihn wiederhaben...

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    Klimpernd rempelten Eisenstäbe einander an, als behandschuhte Finger einen weiteren Kletterhaken in seine verlassen wirkende Halteschlaufe fallen ließen. Der lederne Schutzmantel der Kletterausrüstung war abgegriffen und bleich, die Ränder ausgefranst von den Strapazen, die sie über die Jahre hinweg ertragen hatten müssen. Wenn man das zerschlagene Stück Leder betrachtete, kam man unweigerlich zu dem Schluss, dass das kleine Etui über irgendeine verborgene Kraft verfügen musste, die seine Reste zusammenhielten. Anderenfalls hätte es sich längst in seine Bestandteile aufgelöst. Doch so reihte es sich direkt neben einer mit Stoffetzen ausgepolsterten Phiole in den Innenraum der Ledertasche ein, die Frost stets bei sich zu tragen pflegte. Die Phiole stellte den letzten Überlebenden seines Ausfluges zum Herzen des Feuers dar. Die restlichen Flaschen waren bei seinem letzten Abenteuer zu Bruch oder verloren gegangen.
    Haarscharf war er damals an der Schwelle zu Beliars Reich vorbeigeschrammt. Die letzten Augenblicke vor seinem Sturz in die schwarzen Fluten brannten noch immer so frisch in seinem Gedächtnis, als ob sie erst wenige Tage zurückliegen würden. In Wirklichkeit war seitdem fast ein halbes Jahr vergangen. Vor seinem inneren Augen sah er dennoch klar und deutlich das Gesicht des Waldstreichers Scipio Cicero, in seinen Ohren klatschte noch einmal das Wasser über seinem Kopf zusammen, das vom Meerwasser glitschige Seil floss zwischen seinen Fingern dahin als ob er versuchen würde, einen Aal mit bloßer Hand festzuhalten. Während sein erst kürzlich wieder eingerenkter Daumen pulsierend vor Schmerz den Dienst verweigern wollte, zerrte und riss eine unsichtbare Macht an seinem Körper, zog ihn gleichzeitig in Richtung Schiffsheck wie in die Tiefe. Einem galloppierenden Pferd gleich schoss das Schiff an ihm vorbei, oder er selbst an dem Schiff, in seiner Lage ließ sich der Unterschied nicht feststellen. Er spürte die eisige, nasse Umklammerung der Kälte, die seinen Körper zu zerdrücken drohte, fühlte das Brennen seiner nach Sauerstoff keuchenden Lungen. Noch einmal griff er mit all der Kraft, die ihm die schiere Verzweiflung, der Drang eines verwundeten Wolfes zu überleben, gab nach dem Seil, vergrub seine Finger in den durch die Kälte steinhart gewordenen Hanffasern, ignorierte den Schmerz, als er von einer Sekunde auf die andere wieder von dem Schiff mitgerissen wurde. Vor seinen Augen wechselnden schillernde Lichtreflexionen mit schwindelerregender Geschwindigkeit ihre schäumenden Tanzpartner, seine Hände waren ebenso wie das Seil in dem Wirbel übereinanderstürzender Fluten unsichtbar. Er befürchtete, seine Finger würden jeden Augenblick wie Glas zerspringen, in stummer Agonie öffnete er den Mund um seine Schmerzen in die Welt zu entlassen und - konnte wieder atmen. Keuchend erfüllte die kühle Luft seine Lungen, trieb mit sanftem Brennen die Lebensgeister zurück in seinen zerschundenen Leib. Frost gönnte sich eine Sekunde Zeit um sich wirklich davon zu überzeugen, noch am Leben zu sein. Dann griff er erneut nach dem Tau, um sich daran emporzuziehen, vergrub noch einmal seine Zähne in der Unterlippe, um einen schmerzerfüllten Schrei zu unterdrücken. Irgendjemand schrie etwas unverständliches, das im Rauschen seiner von Wasser erfüllten Ohren unterging. Im nächsten Moment traf ihn ein Schlag mit der Wucht eines Vorschlaghammers in den Rücken, raubte ihm für einen Herzschlag die Kontrolle über seinen Körper und ließ ihn wie eine Puppe zusammenklappen. Er spürte noch, wie erneut die schwarzen Wellen nach ihm griffen, dann verwandelte sich die Welt vor seinen Augen in ein Kaleidoskop aus miteinander verschwimmenden Farben.
    Dem Krieger fiel es schwer, sich an das Nachfolgende zu erinnern. In seinem Gedächtnis fand er nur bruchstückhafte Erinnerungen, die von durcheinanderhuschenden Schatten beherrscht wurden. Sie nahmen erst wieder ab dem Zeitpunkt Gestalt an, an dem er von einem Fischer aus dem Meer gezogen worden war. Selbst hier begründete sich sein Wissen hauptsächlich auf den Erzählungen des Fischers, die er mit ihm geteilt hatte, nachdem er nach Wochen im fiebrigen Delirium in die Welt der Lebenden zurückgekehrt war. Zusammengefasst ließ sich sagen, dass er tagelang durch den Ozean getrieben sei musste, bevor das Netz des Fischers seiner Odyssee ein jähes Ende bereitet hatte. Wie er auch nur die ersten Minuten im eisigen Wasser überlebt hatte, blieb dem Waffenmeister weiterhin ein Rätsel. Bislang hatte er sich mit der Erkenntnis zu trösten gewusst, dass er überhaupt noch am Leben war.
    Diese Überlegung hatte ihm gleichzeitig Gelegenheit gegeben, sich mehr Gedanken über den Verbleib seiner Gefährten als um sein eigenes Wohlergehen zu machen. Ob die Meuterei letztendlich doch noch geglückt war? Und selbst wenn, hatte das waghalsige Abenteuer noch weitere Opfer unter den Gefährten gefordert? Hatten sie das mysteriöse Seemonster überhaupt noch gefunden oder waren sie mutlos und entkräftet mit leeren Händen in die heimatlichen Gefilde zurückgekehrt?
    Irgendwo in seinem Innersten schmerzte es dem Krieger, seine Gefährten enttäuscht zu haben, auch wenn ihm seine Vernunft noch so laut sagte, dass er nichts hätte tun können. Hatte er das wirklich nicht? Vielleicht wäre ihm ein besserer Plan eingefallen, wenn er etwas länger über ihre Situation nachgedacht hätte. Und wenn nicht ihm, dann einem der anderen. Dann die Sekunde des Zögerns, der winzige Moment der Ruhe. Hätte er auf seinen Verstand gehört, hätte er sich zuerst in Sicherheit geflüchtet, bevor er eine Pause einlegte. Es gab unzählige Variablen, von denen jede einzelne die komplette Geschichte hätte verändern können.
    Vielleicht war es auch besser so, wie es passiert war. Er war sich nicht sicher, ob er sonst einen Weg zurück in die Heimat gefunden hätte. Doch das Leben war ein Glücksspiel, man konnte nie im Voraus wissen, wie die Würfel fielen. Dennoch dachte Frost oft an die Menschen zurück, die er auf Khorinis zurückgelassen hatte. Ja, selbst in diesem fernen Land hatte er Freunde finden können. Freunde aus den unterschiedlichsten Kasten und Klassen. Er hatte sich sogar mit den Schwarzmagiern eingelassen, ein Umstand, der ihm vor seinem Exil als vollkommen unmöglich erschienen war. Wieder ein Beweis dafür, dass man sich nicht von Äußerlichkeiten lenken lassen sollte. Auch wenn die Wege der Diener Beliars teilweise arg abstrakt und abwegig, oftmals sogar erschreckend wirkten, brachten sie oftmals Lösungen ans Licht, an die ein Mensch mit seinen durch Gesellschaft und Sittentum eingeschränkten Moralvorstellungen niemals auch nur einen Gedanken verschwendet hätte. Sicher, ein gewisser Grad an Verrücktheit gehörte dennoch dazu. Sie als böse zu bezeichnen war jedoch falsch, ebenso wie es falsch gewesen wäre, sie als rechtschaffen zu betrachten. Die Schwarzmagier taten einfach das, was sie für richtig hielten. Genau wie jeder andere Mensch. Ob dies in den Augen anderer falsch war, blieb dem Urteil des Betrachters überlassen. Von ihrem Standpunkt ausgehend konnte Frost die Beliarsdiener durchaus verstehen.
    Endlich hatte der Waffenmeister den Rest seiner Ausrüstung sicher verstaut und begann die Riemen der Schulterpanzerung festzuzurren. Die schwarze Panzerung schmiegte sich wie eine zweite Haut an seinen Körper, zufrieden stellte Frost fest, dass das Rüstungsteil jede Bewegung seines Armes mitmachte, als ob es an ihn festgewachsen wäre. Während er die restliche Armpanzerung mit den selben, geübten Handgriffen die er sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte, anlegte, lösten die Erinnerung an Khorinis und das Abenteuer auf hoher See langsam ihren Griff und verschwanden in derselben Tiefe, aus der sie emporgestiegen waren. Egal wie es seinen Gefährten ergangen sein mochte, er wünschte ihnen viel Glück auf ihrem Weg.
    Die letzte Schnalle rastete leise klickend ein, Frosts Blick richtete sich auf den Waffengurt, der von seinen beiden Schwertern gestützt an der Wand hing. Er war zurückgekehrt um Frieden zu finden. Warum trug er also noch immer seine Waffen mit sich?
    "Weil du deine Natur nicht einfach ablegen kannst", meldete sich eine dunkle Stimme in seinem Kopf, "Egal wohin du gehst, ganz gleich ob du deine Waffen mit dir führst oder nicht, der Kampf wird dir folgen. Du trägst deine Schwerter, sie stützen dich dafür. Gibst du sie auf, wirst du stürzen."
    Nein, aufgeben konnte er sie nicht. Die Klingen hatten seinen gesamten Lebensweg gezeichnet, mittlerweile waren sie mit ihm verschmolzen. Und das gleich in vielerlei Hinsicht. Frost glaubte nicht an Bestimmung, Schicksal oder anderen Aberglauben. Diese Entscheidung hatte er für sich selbst getroffen. Vielleicht war er sich nicht über all ihre Folgen im Klaren gewesen, doch er hatte es gewollt. Im selben, kindlichen Übermut, den wohl alle Kinder ihrem väterlichen Vorbild entgegenbrachten. Doch selbst als er dem Kindesalter sowie der elterlichen Obhut längst entwachsen war, hatte er diesen Weg weiterhin verfolgt. Damals hatte er noch alle Alternativen offen gehabt. Mittlerweile war er über seine selbst gesetzte Grenze hinausgetreten.
    So legte sich wenige Augenblicke später die Schutz vortäuschende Dunkelheit seines Umhangs über die beiden Schwertgriffe, ein letzter Blick auf die Koje brachte ihm die Gewissheit, dass er nichts vergessen hatte. Als ihn kurz darauf die kühle Luft der Polarnacht begrüßte und er die letzten Stufen vom Unterdeck hinaufstieg, sah er Kapitän Fjornar in der Nähe des Landestegs stehen. Die Unterarme des Seemanns stützten sich auf die erst kürzlich reparierte Reling, Rauchwölkchen stiegen aus der locker in seinem Mundwinkel hängenden Pfeife empor. Obwohl sich sein Blick in den von Dunkelheit erfüllten Gassen Hammerfoldts verlor, wusste der Krieger, dass der Kapitän ihn bemerkt hatte.
    "So verlasst ihr uns also schließlich auch", paffte der Seebär zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife, drehte sich jedoch nicht herum. Frost blieb einen halben Schritt hinter ihm stehen und folgte seinem Blick. Die Konturen der Stadt zeichneten sich als unförmiger, schwarzer Schatten vor einem durch den Sichelmond schwach erhellten Nachthimmel ab. Nur noch in wenigen Fenstern war der gelblichrote Schein von Kerzen oder Kaminfeuer zu erkennen, einzig die Flammen der Leuchtfeuer waren auf ihren Säulen gleich in den Himmel stechenden Türmen zu sehen. Von Zeit zu Zeit brachte der Wind das Lachen aus den Tavernenstuben mit sich.
    "Wenn ich ehrlich bin, kann ich es kaum erwarten, meinen Fuß auf das Pflaster zu setzen. Es ist so viel Zeit vergangen, dass ich nicht einmal mehr wusste, wie schwarz die Nächte der Rimmersmark sein können. Früher dachte ich, die Heimat sei eine jener Erinnerungen, die niemals verblassen können."
    Fjornar nickte fast unmerklich, während sich über dem Pfeifenende kleine, rauchige Ringe bildeten.
    "Sagt mir, Frost, was ist es für ein Gefühl, nach all den Jahren in die Heimat zurückzukehren?"
    "Schwer zu beschreiben", meinte Frost als er neben den Kapitän an die Reling trat, "Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, was man mit der Heimat verbindet. Mir vermittelt dieses Land ein Gefühl von Sicherheit, ebenso Ruhe wie auch Aufregung. Einerseits kenne ich dieses Land wie meine Westentasche, andererseits weiß ich nicht, was sich in den vergangenen Jahren verändert haben mag. Ich weiß, dass ich hierher gehöre und dass hier meine Familie auf mich wartet, der Drang, sie wiederzusehen ist stark genug, um mich jahrelang am Leben erhalten zu haben."
    Asche rieselte ins Wasser, als der Kapitän auf die Unterseite des Pfeifenkopfes klopfte.
    "Ein Ort, an den man gehört...", Frost nickte langsam, "Ich habe nie einen solchen Ort gehabt. Bin auf der See geboren und aufgewachsen, hab einmal hier, einmal dort gelebt. Ich hatte nie etwas, dass ich Heimat nennen konnte. Aber ich glaube, dass es schön sein muss, einen solchen Ort zu besitzen..."
    Erneut erwachte die Glut zu feurigem Leben, als Fjornar abermals an seiner Pfeife zog.
    "Was ist mit eurer Mannschaft?", fragte Frost, "Fühlt ihr euch nicht wohl, wenn ihr zusammen über die Meere segelt?"
    Der Kaptän zuckte mit den Schultern.
    "Ich kenn die meisten nicht mal richtig. In jedem Hafen kommen zig Neue dazu, die meisten von ihnen verschwinden am nächsten oder werden von den Orks getötet. Gibt nur noch wenige, die ich als Freunde bezeichnen würde. Der Großteil von ihnen hockt jetzt in ?ner Spelunke und kippt sich den Sold hinter die Binde. Freilich gibt?s auch andere. Herlen zum Beispiel ist ein guter Mann, hat zwar keinen blassen Schimmer von Navigation, aber er ist?n helles Köpfchen. In?n paar Jahren könnte er den Dreh raushaben. Trotzdem, wirklich wohl fühl ich mich nicht mit dem Haufen."
    "Nun, eine Lösung kann ich euch natürlich nicht anbieten", meinte der Krieger, während er die Wanderung einer einsamen Fackel auf einer der Mauern verfolgte, "Allerdings glaube ich, dass der Geburtsort selbst nur wenig mit der Heimat zu tun hat. Nur, weil ich in der Mark geboren wurde, würde ich sie noch lange nicht als Heimat bezeichnen. Ich glaube, ich habe sie erst selbst dazu gemacht, als ich Esthera traf."
    Die Pupille Fjornars löste sich von der Stadt und kroch in den Augenwinkel, um Frost besser sehen zu können.
    "Wollt ihr damit andeuten, ich soll mir ein Weib suchen?"
    Dieses Mal hob Frost die Schultern. "Nicht unbedingt. Eventuell würde es euch helfen, wenn ihr euch zu Ruhe setzt. Eine Garantie gibt es nicht. Genug Geld dürftet ihr nach dieser Reise jedenfalls haben."
    "Ho, das wohl", lachte der alte Seemann, "Dabei weiß ich ja nicht mal selbst, was ich mit dem Zeugs machen soll." Er seufzte tief und lang. "Vielleicht habt ihr recht und ich sollte mir wirklich?n Plätzchen suchen. Andererseits, was ist das Leben schon ohne die Seefahrt?"
    ?Irgendwann wird jeder des Reisens müde", entgegnete Frost, ?Wann, muss jeder für sich selbst entscheiden. Wenn ihr eure Heimat wirklich finden wollt, werdet ihr sie sicher eines Tages finden."
    Frosts Blick suchte die dünne Sichel des Mondes.
    "Ich wollte euch noch einmal danken, bevor ich gehe. Ohne eure Hilfe würde ich wahrscheinlich weiterhin jahrelang nach einer Überfahrtsmöglichkeit nach Hammerfoldt suchen. Ich schulde euch viel, drum schmerzt es mir, dass ich euch nicht mehr geben kann, als meinen zutiefsten Dank. Es war mir eine Ehre, euch bei dieser Reise begleiten zu dürfen."
    Fjornar winkte ab.
    "Lasst mal gut sein. Ich habe meinen Teil unseres Handels eingehalten und euch sicher zurückgebracht, ihr habt dafür die Grünhäute von meinem Schiff gefegt. Ihr schuldet mir ebenso wenig etwas, wie ich euch."
    "Möge Adanos euch und euer Schiff schützen", sagte Frost während er zum Abschied die rauhe Hand des Kapitäns drückte.
    "Und den euren", erwiderte Fjornar mit ernstem Blick, "Wer weiß, vielleicht trifft man sich eines Tages wieder."
    "Vielleicht", antwortete Frost und trat auf den Landesteg hinaus, "Viel Glück auf euren Reisen, Kapitän."
    Kaum setzte er den ersten Fuß auf den harten Stein des Piers, da holten ihn seine Gedanken an seine Familie auch schon wieder ein. Eine knappe Tagesreise trennte ihn von ihr. Sobald er die nötige Ausrüstung für seine Reise eingekauft hatte, war es nur noch eine Sache von Stunden, bis er Esthera wiedersehen würde. Dann würde die Heimat ihn wirklich wiederhaben...

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    Borins Hütte drängte sich noch immer genauso ängstlich gegen die angrenzende Stadtmauer und die Wand des fast doppelt so hohen Nachbarhauses, wie Frost es in Erinnerung hatte. Es handelte sich wirklich mehr um eine Hütte als um ein Haus, ein Überbleibsel aus der Zeit zu der der vierte Mauerring höchstens in den Träumen irgendeines mittlerweile in Vergessenheit geratenen Architekten existiert hatte. Wenn er den Erzählungen des alten Züchters glauben durfte, so war sie sogar die einzige Hütte des gesamten Viertels gewesen, die das zweite große Feuer überstanden hatte. Schenkte man der Hütte einen längeren Blick, fiel es nicht schwer die Geschichte ernst zu nehmen. Mittlerweile lehnte sie sich weit nach hinten gegen die Stadtmauer und klammerte sich gleichzeitig fest am Nachbarhaus fest, als ob sie Angst hätte, nach hinten umzukippen. Wo das feste Mauerwerk des anliegenden Hauses ein erstes Obergeschoss stützte, krümmte sich bei Borins Hütte ein mehr als nur einmal nachgebessertes Dach über einen von Altersschwäche gebeugten Giebel. Direkt neben der Hütte grenzte ein abgegrenzter Pferch an, aus dem Hundegebell wuchs sobald sich der Krieger der Haustür näherte, unter einem eher behelfsmäßig wirkenden Schuppen ragten die Kufen eines niedrigen Schlittens hervor. Ein schriller, durchdringender Pfiff aus dem Hausinneren, dann verstummten die Hunde. Also war Borin zuhause.
    Gerade als Frosts Fingerknöchel gegen die im Vergleich zur restlichen Hütte ungewöhnlich stabil wirkende Tür pochen wollten, wurde selbige von innen geöffnet und er sah sich einem vollbärtigen Mann mit unter den buschigen Brauen hervorblitzenden Augen gegenüber, dessen Schultern in der recht schmal ausgefallenen Tür wie eingeklemmt wirkten. Von der prächtigen, rostbraunen und scheinbar nicht zu bändigenden Mähne, die das Bild des Hundezüchters in Frosts Erinnerung schmückte, war nur noch ein wirrer Haarkranz übrig, welcher nur unzuverlässig die grauen Strähnen an den Schläfen verdeckte.
    "Hab euch schon gesehen, Fremder. Kein Grund, mir gleich die Tür aus den Angeln zu klopfen."
    Unter gehobener Augenbraue musterte er den Krieger. Frost konnte regelrecht spüren, wie sich sein Blick die Konturen seiner Rüstung entlangtastete, bevor er an seinem Gesicht hängenblieb. Er glaubte sehen zu können, wie in Borins Kopf arbeitete, seine Augenlider zogen sich enger zusammen, die Furchen in seiner Stirn vertieften sich. Schließlich rieb sich der Züchter in plötzlicher Hast imaginäre Staubkörner aus seinem Augenwinkel. Offensichtlich war es ihm unangenehm, den schwarzgepanzerten Mann vor seiner Haustür so lange angestarrt zu haben.
    "Kann ich irgendetwas für euch tun?", fragte er weniger aus Höflichkeit als vielmehr um überhaupt etwas zu sagen.
    "Das will ich zumindest hoffen. Ich brauche einen Schlitten, Fünfergespann sollte reichen", antwortete Frost, die Lippen zu einem schmalen Lächeln verziehend.
    "Na viel mehr kann ich euch auch nicht mehr bieten. Der letzte Wurf war nicht besonders. Dafür sind es gute Tiere." Borin strich sich mit einem seiner breiten Finger durch den Bart, dann zuckte er die Schultern. "Wenn ich's mir so recht überleg, war der ganze verdammte Winter nicht besonders." Er wandte sich wieder Frost zu. "Erlaubt mir eine Frage."
    "Nur zu", ermutigte ihn der Waffenmeister.
    "Hat euch irgendwer hergeschickt? Meine Hütt'n ist nicht gerade günstig, vom Standort her, mein ich. Kommt nicht oft vor, dass ein neues Gesicht vorbeischneit."
    "Nennt es Tradition", meinte Frost während sein Lächeln etwas an Breite gewann.
    Die Falten in Borins Stirn mehrten sich.
    "Seid ihr euch sicher, dass-", er verstummte. Unglauben mischte sich in den Glanz seiner Augen, als er schließlich mit leiser Stimme fragte: "... Frost?"
    "Schön dich wieder zu sehen, Borin", grinste der Krieger.
    Der Hundezüchter schüttelte den Kopf als ob ihn jemand vor die Stirn gestoßen hätte.
    "Seid... bist das wirklich du? Nach all den Jahren..." Borin stand noch immer fassungslos da, den Blick wie festgefroren auf seinen alten Freund gerichtet.
    "Ich bin es. Du hast dich gut gehalten, mein Freund."
    "General! Du bist es wirklich!" Ehe sich Frost versah, fand er sich in fester Umklammerung des Züchters wieder.
    "Nenn mich nicht so", erwiderte Frost während er versuchte, sich aus dem Schraubstockgriff Borins zu befreien. Ein Unternehmen, das schon im Voraus zum Scheitern verurteilt war. Was Borin an Körpergröße fehlte, machte er durch seine breiten Schultern wieder wett. "Komm schon, lass los. Oder willst du unbedingt das beenden, was sechzehn Jahre nicht zu vollenden imstande waren?"
    "Ich kann?s immer noch nicht glauben..." Borin schüttelte den Kopf, als ob er aus einem Traum erwachte. "Wir dachten, du wärst längst tot."
    Für die Dauer eines Wimpernzuckens flackerte das Lächeln des ehemaligen Generals. Wenn sein Freund wüsste, wie nah er sich an der Wahrheit bewegte...
    "Es... gab Zeiten, da habe ich das selbst geglaubt", antwortete er ausweichend. Dann riss er sich zusammen, um endlich die Frage, die schon seit Beginn des Gesprächs aus ihm herausbrechen wollte, in Worte zu fassen. "Hast du etwas von Esthera gehört? Wie geht es ihr? Wohnt sie noch in unserem Haus?"
    Der Züchter wich seinem Blick aus und kratzte sich am Hinterkopf.
    "Frost...", begann er, brach dann aber ab und stampfte stattdessen mit dem Fuß auf. "Ich weiß nicht so recht, wie ich es erklären soll..."
    Frosts Herz gefror zu einem Eisklumpen. Plötzliche Kälte hüllte ihn ein. War ihr etwas zugestoßen? Nein, das konnte nicht sein. Esthera konnte auf sich aufpassen. Es durfte nicht sein.
    "Was ist mit ihr?" Er packte eine der breiten Schultern des Hundezüchters. "Borin, sprich endlich!"
    "Es ist..." Borin blickte kurz in Frosts Augen, nur um dann wieder wegzusehen. "Esthera... sie hat... sie hat wieder geheiratet. Elistin."
    Der Krieger löste seinen Griff.
    "Das ist alles? Bei allen Göttern, ich dachte schon, ihr sei etwas zugestoßen!"
    Borins Blick war starr vor Fassungslosigkeit.
    "Du weißt es bereits?"
    Erneut zeigte sich das Lächeln auf Frosts Zügen.
    "Ja, ein Freund berichtete mir bereits vor zwei Jahren davon. Wohnt sie noch immer in Thjerenfeldt?"
    Ein Nicken bestätigte seine Frage.
    "Ja, zumindest hat sie das noch vor zwei Monaten. Bin hier schon länger nicht mehr weggekommen."
    "Und Sheyra?"
    "Die sieht man öfters hier in der Stadt. Scheint es soweit ganz gut zu gehen. Braucht sich auch vor niemanden zu verstecken. Wahrlich Frost, du kannst stolz auf sie sein." Das Gesicht Borins wurde von einem breiten Grinsen erhellt, als seine Pranke wuchtig auf Frosts Schulter klopfte. "Der Schlitten kann warten. Jetzt komm erstmal rein, damit wir deine Rückkehr feiern können."
    Doch der Waffenmeister schüttelte entschieden den Kopf.
    "Kann er nicht. Tut mir leid Borin, aber ich muss zu Esthera."
    "Dann begleite ich dich", sagte Borin, als ob es selbstverständlich wäre. Er bedeutete Frost mit einem Wink, ihm zu folgen. Gemeinsam näherten sie sich dem Schuppen. "Jetzt, wo ich dich wiedersehe, überkommt mich doch fast wieder die Lust, ins Rudel zurückzukehren. Irgendwie hat mir das Leben hier nicht die Ruhe gebracht, die ich mir ersehnt hatte."
    Das Rudel... Die Erwähnung seiner alten Einheit weckte in Frost neue Fragen.
    "Wie geht es dem Rudel?", fragte Frost nachdenklich, "Ich habe gehört, Lorkar habe das Kommando übernommen."
    Ketten klimperten leise, als Borin einen tiefliegenden, recht kurzen Schlitten aus dem Schuppen zog und das Geschirr überprüfte.
    "Ja. Und rat mal, wer sein neuer Stellvertreter ist."
    "Sifar", meinte Frost. Er brauchte gar nicht erst zu raten. Wenigstens etwas, was dieser Hund Kantar damals ausgespuckt hatte. Den Rest der Geschichte hatte er im Laufe der Jahre selbst herausfinden dürfen.
    Borin reagierte mit achtvoll gehobener Augenbraue.
    "Du hast dich wohl gut informiert. Was das Rudel betrifft, seit meinem Austritt habe ich kaum noch Kontakte. Hab neulich mal Elistin getroffen, der ist nicht gerade glücklich über die Umstände. Ach ja, Lorkar hat das Rudel umbenannt. Nennen sich jetzt die Sturmläufer."
    Frost hatte mit etwas in der Art gerechnet. Offensichtlich versuchte Lorkar, die Erinnerung an seinen Namen auszutilgen. Doch das würde Frost zu verhindern wissen.
    "Frost?" Borin stand mittlerweile vor einem Zwinger und hatte die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt. "Ich geb dir Luka. Stammt noch direkt von der guten alten Eris ab. Pass auf, der Bursche hat mächtig Kraft in den Kiefern. Aber keine Angst, ich steh direkt hinter dir."
    Er wartete noch auf Frosts Nicken, dann öffnete er die Tür. Ein tiefes, kehliges Knurren begrüßte den Waffenmeister, als er in den Zwinger trat. Aus dem Schatten einer Ecke schob sich der Körper eines großen Hundes mit schneeweißem Fell. Wie Borins mittlerweile sicherlich gestorbene Eris ähnelte auch dieser Schlittenhund noch stark einem Wolf. Die Lefzen entblößten ein mörderisches Gebiss, Frost glaubte die Muskelpakete sehen zu können, die sich unter dem dichten Fell spannten. Er tastete sich in geduckter Haltung näher heran, die Ohren aufgestellt, den fremden Krieger nicht aus den Augen lassend. Einen knappen Schritt entfernt verharrte er, einzig das Knurren wurde lauter. Vorsichtig ließ sich Frost in die Hocke sinken, bevor er langsam eine Hand ausstreckte, die Innenfläche den gefletschten Fängen entgegen.
    Der Hund biss ohne Vorwarnung zu.
    Und ließ ein gequältes Jaulen hören, als Frosts Linke blitzschnell seine Kehle packte, den Kopf zurückstieß und zu Boden drückte. Die Gegenwehr des Hundes ließ schlagartig nach, als er sich auf dem Rücken liegend wiederfand.
    "Du hast dazu gelernt." Borin nickte anerkennend. "Ich kann mich noch gut erinnern, wie dir das letzte Mal der Rudelführer fast die Hand abgerissen hätte."
    Luka trollte sich zurück in seine Ecke, als Frost losließ und sich aufrichtete.
    "Manche Fehler macht man nur einmal", entgegnete Frost mit einem Seitenblick auf seine Hand.
    "Sollte man zumindest", lachte Borin. "He, Luka, komm her!" Der Kopf des Rudelführers hob sich erneut, dann trottete der Hund zu seinem Herrn. Borin führte ihn zum Schlitten, wo er ihm das Geschirr anlegte. Nacheinander holte er vier weitere Hunde aus ihren Zwingern, um sie ebenfalls einzuspannen.
    "So, abfahrtsbereit", verkündete er mit einem zufriedenen Grinsen. "Den Schlitten hab ich erst gestern wieder auf Vordermann gebracht. Bevor der auseinanderfällt, rasier ich meinen Bart ab. Wir können jederzeit los."
    Eine erneute Inspektion des Schlittens erschien Frost unnötig. Er wusste, dass er sich auf seinen Freund verlassen konnte.
    "Borin... Ich will mich zuerst alleine mit Esthera treffen. Ich freue mich, dich nach all den Jahren wiederzusehen, aber ich brauche noch etwas Zeit."
    Doch entgegen seiner Erwartung ließ sich Borins Laune trotz seiner Entscheidung nicht schmälern.
    "Kein Problem, Frost. Du hast Recht. Bin wohl etwas voreilig. Hab ganz vergessen, wie lange du deine Esthera nicht mehr gesehen hast."
    "Danke Borin", meinte Frost während er auf den Schlitten sprang und nach den Zügeln griff. "Komm doch einfach in zwei Tagen nach. Was schulde ich dir für den Schlitten?"
    Der Züchter machte seine Frage durch eine wegwerfende Geste wertlos.
    "Gar nichts. Ich leih ihn dir einfach. Um der alten Freundschaft wegen."
    "Ich schuld dir was", lächelte Frost. Noch einmal gab er sich dem festen Händedruck seines Freundes hin. "Bis bald, alter Freund."
    "Das will ich wohl hoffen. Und grüß Esthera von mir."
    "Werde ich ausrichten."
    Nachdem Borin vom Schlitten zurückgetreten war, legte Frost die Finger an den Mund. Ein kurzer, lauter Pfiff und die Hunde trabten los. Die Zügel fest in der Hand und das Herz vor Sehnsucht schmerzhaft pochend, lenkte Frost den Schlitten in Richtung der Hauptstraße. Mit blendendem Licht begrüßte ihn die Morgensonne, als er wenig später das Tor des dritten Ringes passierte und in das geschäftige Treiben der Stadt eintauchte.

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    Hechelnd hetzten die Hunde über die verschneiten Ebenen der Rimmersmark. Ihre Zungen hingen wie rötliche Lappen aus den halb geöffneten Mäulern, gefrorene Luft entwich in kleinen Wölkchen den schnaubenden Nüstern. Hinter sich zogen die Tiere den schmalen, tief liegenden Schlitten. Ab und zu nahm das gleichmäßige, sanfte Schleifen der Kuven einen helleren Klang an, wenn sie über eine versteckt unter dem Pulverschnee liegende Eisplatte glitten, selten erscholl auch ein hartes Knacken, wenn Eisklumpen unter dem geschliffenen Stahl auseinanderspritzten.
    Obwohl die Sonne als grellgelbe Scheibe am zutiefst blauen Himmel prangte, war die Kälte schneidend. Besonders der Fahrtwind verbiss sich mit unsichtbaren Fängen in jegliche ungeschützte Hautstelle die er finden konnte. Aufgewirbelte Eiskristalle stachen wie Nadeln in die gereizte Haut. Selbst die Luft schien zu kalt zum Atmen. Aus Erfahrung wusste Frost, dass diese Tage zu den kältesten des Jahres gehörten. Um sich vor der beißenden Kälte zu schützen, trug er unter dem im Wind wild umherspringenden Umhang einen weiten Mantel, ähnlich dem, den er in Khorinis meistens getragen hatte. Der hohe Kragen schützte sein Gesicht zum einen teilweise vor dem Fahrtwind, zum anderen staute sich die Wärme der ausgeatmeten Luft und erleichterte das Atmen.
    Schon seit mehreren Stunden steuerte er den Schlitten das entlang, was man im Sommer als Straße erkennen konnte, im Winter jedoch nichts weiter als eine lose Aneinanderreihung dutzender Wegsteine darstellte. Im Prinzip hätte er genauso gut quer über die vereisten Felder fahren können. Die Stadt war längst im Dunst der in der Morgensonne aufsteigenden Nebel verschwunden, vor ihm lag das nur selten vom dunklen Grün der Nadelwälder durchbrochene Grau der Eisebenen. Im Land um die Hauptstadt herum konnte im Sommer sogar Feldwirtschaft betrieben werden, auch wenn der Boden aufgrund der langen Winter nur ungern und in kleiner Zahl seine Früchte hergab. Um die spärlichen Beträge zu kompensieren, waren die Äcker dafür umso größer angelegt. Bei klarem Wetter konnte man meilenweit ins Land blicken und trotzdem am Horizont noch weitere Felder entdecken. Im Winter zeugten nur die vereinzelt in der Landschaft stehenden Höfe davon, dass es hier etwas anderes als Schnee und Eis geben könnte. Die meisten Gehöfte standen zu dieser Zeit leer. Die meisten Bauern zogen nach Hammerfoldt oder eine der anderen kleinen Städte der Umgebung um der Kälte zu entgehen.
    Mittlerweile jagte der Schlitten über den sanft gewellten Untergrund des westlichen Hügellandes. Vereinzelt brachen kantige Felsbrocken aus der weißen Decke hervor, vermutlich Überbleibsel aus einer Zeit, zu der die nördlichen Gletscher ihre eisigen Finger noch bis zum Meer ausstreckten. Noch weiter im Westen reckten die Berge der Westzinnen ihre steinernen Häupter dem stahlblauen Himmel entgegen. Vielleicht zwei Meilen entfernt erhob sich der dunkle Umriss eines alten Wachturms aus einer düsteren Waldinsel, die sich nahe des Straßenverlaufs ausbreitete. Und nur ein kleines Stückchen weiter waren mehrere dunkle Flecken zu erkennen. Ein abgehakter Pfiff und kurzer Ruck an den Zügeln ließen die Schlittenhunde langsamer laufen und schließlich ganz zum Stillstand kommen. Mit einem sanften Ruck kam der Schlitten vollends zur Ruhe, die meisten Hunde legten sich sofort hin oder zupften den Schnee von ihren Pfoten. Frost schirmte währenddessen seine Augen ab, um sie vor der blendend hellen Sonne zu schützen. Dennoch machten es die unzähligen, blitzenden Schneekristalle beinahe unmöglich, auf diese Entfernung genaueres zu erkennen. Einige der schwarzen Punkte bewegten sich, er vermutete, dass es sich um Menschen handelte. Für Wölfe oder andere Tiere waren sie zu langsam und drängten sich zu sehr um die größeren Flecken, die der Waffenmeister bei genauerem Hinsehen als Lastkarren identifizieren konnte. Auf einen weiteren Zügelzug hin liefen die Hunde weiter, doch löste der Anblick des kleinen Konvois Unruhe in dem Krieger aus. Eine innere Stimme sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Jahre in der Kolonie hatten ihn gelehrt, auf seine Gefühle zu hören. Es war besser, vorsichtig zu sein. Er wusste nicht, was sich in den sechzehn Jahren in der Rimmersmark geändert hatte, doch damals war sie sicherlich alles andere als ein ungefährliches Gebiet gewesen. Zwar hatten sich die Eisriesen des Nordens die letzte Zeit erstaunlich ruhig verhalten, doch gab es auch noch genug andere Gefahren, die einem unachtsamen Reisenden schnell den Kopf kosten konnten. Immerhin konnte er sich recht sicher sein, dass sein ungutes Gefühl nicht auf der Anwesenheit von Eisriesen beruhte. Vielleicht kam er langsam etwas in die Jahre, doch um einen Eisriesen von einem Lastkarren zu unterscheiden, brauchte er keine Adleraugen. Was war das überhaupt für ein Gedanke, er und alt werden. Wenn selbst Sturm in seinem Alter noch so kraftvoll zuschlagen konnte, dann würde er es mit Leichtigkeit können, sobald er ihn in ein paar Jahrzehnten eingeholt hatte. Alt war man erst, wenn die Verwandtschaft anfängt das eigene Grab auszuheben.
    Als er sich dem Konvoi näherte, wusste er, was ihn gestört hatte. Die Menschen bewegten sich - die Karren jedoch nicht. Der Grund war offensichtlich: Ein reger Kampf war im Gange, der Geleitschutz erwehrte sich erbittert den Angriffen einer größeren Bande vermutlicher Wegelagerer. Auf einem Kutschbock saß der zusammengesunkene und von mehreren Pfeilen gespickte Wagenlenker, einige weitere Reisende, wahrscheinlich Händler, suchten Schutz unter den hölzernen Karren. Sonnenlicht brach sich auf den stählernen Panzerungen des Geleitschutzes, die mit wilden Schwerthieben und Lanzenstichen versuchten, die Plünderer von den Karren fernzuhalten. Die Angreifer trugen hauptsächlich Fellumhänge und Lederpanzerungen, allerdings blitzte es ab und zu metallisch auf, wenn sich ein Lichtstrahl auf eine sich zwischen den Fellen versteckende Eisenplatte verirrte. Auf einer Anhöhe standen zwei Männer mit Langbögen, die von den Nahkämpfern geschützt die Konvoiwachen unter Beschuss nahmen. Die Schützen waren gut, anstatt wie wild ihre Pfeile dem Gegner entgegenzuschicken, beschränkten sie sich darauf, ab und an einen gezielten Schuss abzugeben und ihre Feinde gezielt auszuschalten. Bereits mehrere Männer in glänzenden Stahlpanzern und blauen Umhängen lagen am Boden, ihre Hände um die gefiederten Schäfte der todbringenden Geschosse verkrampft.
    Doch glücklicherweise standen die beiden Scharfschützen mit dem Rücken zu Frost. Erst, als er noch knapp fünfzehn Schritt entfernt war, drehte sich der linke um. Dennoch brauchte er noch gut eine Sekunde um zu erkennen, dass es sich bei dem heranrasenden Schlitten um eine weitere Gefahr handelte. Frost sah, wie er den Langbogen hob, seine Hand schnellte in einer routinierten Bewegung über seine Schulter zum Köcher, fischte einen Pfeil heraus und zog die Sehne durch, ohne zwischenzeitlich zur Ruhe zu kommen. Noch während die Sehne ihr trauriges Lied erklingen ließ und sich der zweite Schütze umdrehte, knickte Frost mit dem linken Knie ein und duckte sich zur Seite. Im selben Moment, in dem er sich vom Schlitten abstieß, spürte er einen heißen Luftzug seine Wange streifen und ein leichtes Brennen hinterlassen.
    Dann krachte er auch schon mit einem Aufschrei gegen die Brust des Scharfschützen, riss ihn von den Beinen und rollte vom eigenem Schwung getragen mehrere Meter weit durch den Schnee. Unweit neben ihm schlug ein weiterer Pfeil mit dumpfen Pochen in den Schnee, obwohl seine linke Schulter durch den Aufprall halb taub war und nur noch aus Millionen winziger Insekten, die mit ihren winzigen Beinchen seine Nervenbahnen bearbeiteten, zu bestehen schien, drückte er sich in eine knieende Position hoch. Gleichzeitig griff er mit der Rechten nach dem Eisbrecher, wirbelte zum zweiten Schützen herum und schleuderte ihm die funkelnde Klinge entgegen. Das Schwert wirbelte direkt auf den Banditen zu, dieser duckte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite weg, um nicht den Kopf zu verlieren. Dennoch hackte die rotierende Klinge den Bogen auseinander, als ob es sich dabei um nichts weiter als ein Streichholz handeln würde. Sein Kumpane stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab, während er keuchend seine Rippen hielt. Dennoch stemmte er sich nach wenigen Sekunden auf die Beine und zog ein Kurzschwert, wenn auch wankend. Auch der andere Schütze hatte ein Schwert gezogen und näherte sich langsam dem ebenfalls mittlerweile wieder stehenden Waffenmeister.
    Ruhig blickte Frost den Angreifern entgegen, während er im Stillen versuchte, den Schmerz aus seiner Schulter zu verbannen. Er wusste genau, dass er sich im Notfall auf seinen Arm verlassen konnte. Das Mistding gaukelte ihm nur vor, nicht mehr mitmachen zu wollen. Die Taubheit würde wieder verfliegen, sobald er ihn richtig bewegte. Für weitere Gedanken hatte er keine Zeit, denn die Banditen griffen bereits an. Und er hatte noch nicht einmal sein zweites Schwert gezogen. Während er dem ersten Angriff spielerisch tänzelnd auswich und die Klinge in den Schnee hacken ließ, fiel ihm ein, dass das eigentlich auch so bleiben sollte. Die Flammenschneide mochte ihm zwar inzwischen gehorchen, aber das änderte nichts daran, dass das Schwert gerne Blut kostete.
    "Du hättest dich nicht einmischen sollen, Fremder!", knurrte einer der Räuber und versuchte offensichtlich, den Waffenmeister von seinem zweiten Gegner abzulenken.
    Der versuchte die Gelegenheit auszunutzen und griff von der Seite her an. Die sirrende Schwertklinge kostete den Krieger ein paar einzelne Haarsträhnen, wurde dann jedoch abrupt gestoppt, als Frost seinen gepanzerten Unterarm gegen die Waffenhand des Angreifers krachen ließ. Sekundenbruchteile später knackten die angeschlagenen Rippen seines Gegners hörbar unter dem Aufprall von Frosts Ellenbogen. Vor Schmerz brüllend ließ der Scharfschütze seine Waffe fallen und ging zu Boden. Als daraufhin eine Schwertklinge nach Frost stocherte und durch ein schnelles Wegdrehen seines Körpers nur an seiner Brustpanzerung entlangschrammte, überdachte der Waffenmeister seinen erst kürzlich gefassten Entschluss noch einmal.
    Nachdem er den Angreifer über sein plötzlich gestrecktes Bein stolpern ließ und mit einem harten Schlag gegen die Schläfe auffing, dachte er jedoch wieder anders. Er hatte sich nicht getäuscht - die Schützen mochten zwar tödlich im Umgang mit ihren Bögen sein, doch im Nahkampf waren sie ihm unterlegen. Je länger er darüber nachdachte, desto leichtsinniger erschien ihm der kurze Kampf gegen die beiden. Einen Moment lang hatte er gedacht, er hätte sich getäuscht. Vielleicht wurde er doch alt?
    Blödsinn.
    Seinem Kampfinstinkt folgend, verdrängte der Waffenmeister die überflüssigen Gedanken und las im Laufen den Eisbrecher auf, während er den Hügel hinabsprintete. Jetzt wo er darüber nachdachte, glaubte er, dass er früher bei den Kämpfen nicht so viel Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Ein Zeichen des Alters? Um sich dieser Frage zu entziehen, stürzte sich Frost kurzerhand auf den nächsten Banditen, um ihn mit harten Schwerthieben von seinem bereits auf ein Knie gesunkenen Gegner davonzutreiben. Dabei ließ er einen feindlichen Hieb an seiner Schulterpanzerung abgleiten, was sein gerade Besserung versprechender Arm mit erneuter Taubheit dankte. Ein Schlag mit der flachen Seite der Klinge gegen den Waffenarm seines Gegners glich diesen Effekt aus. Um einem Faustschlag zu entgehen, sprang Frost schnell zur Seite, wirbelte in altbekannter Tradition herum und brachte unter wehendem Umhang sein Bein nach oben, um begleitet vom Knacken seiner Halswirbel den Banditen zu Boden zu schleudern. Fast wieder zu alter Form zurückfindend, hob er erneut kampfbereit den Eisbrecher, während er aus kalt blitzenden Augen nach einem weiteren Gegner suchte. Der einzige in Sicht wurde allerdings gerade von einer vorstechenden Lanze aufgespießt.
    Mit dem Leben des Banditen verging auch der Waffenlärm. Für die Dauer sich zu qualvoller Länge streckender Sekunden wurde es still. Dann wurde das erste, qualvolle Husten eines Verwundeten laut. Nach und nach füllte sich die Luft mit den verschiedensten Geräuschen, Klingen glitten scharrend in ihre Scheiden zurück, Händler krochen mit angsterfüllten Gesichtern unter ihren Karren hervor, mit klirrender Rüstung schleppte sich einer der Krieger des Geleitschutzes in Richtung eines Wagens.
    "He, ihr da, Fremder!", hörte Frost eine Frauenstimme in seine Richtung rufen.
    Beim Umdrehen erkannte er den Krieger, dem er wenige Minuten zuvor den Banditen vom Hals gehalten hatte. Jetzt fiel ihm auch auf, dass es sich um eine Frau handelte. Die in der Sonne glänzenden und von Blutspritzern befleckte Stahlhaut einer leichten Plattenrüstung schmiegte sich um ihren Körper, ihr Kopf wurde bis auf das Gesicht von einem passenden Helm verdeckt, um die Schultern schwang sich derselbe blaue Umhang wie bei den anderen Wachen. Ihre Hand lag noch immer auf dem Griff ihres Langschwertes, als sie sich dem Waffenmeister näherte.
    "Redet ihr mit mir?", fragte Frost, obwohl er die Antwort ohnehin schon wusste. Leise sirrend fand der Eisbrecher den Weg zurück in sein ledernes Zuhause.
    "Natürlich rede ich mit euch!", erwiderte die Kriegerin forsch, "Oder seht ihr sonst noch jemanden, der einfach aus dem Nichts auftaucht?"
    "Ihr scheint nicht sonderlich erfreut darüber", meinte Frost und gestattete sich ein leichtes Lächeln, "Wäre es euch lieber gewesen, wenn ich weitergefahren wäre?"
    "Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, ebenso wie der Rest von uns."
    "Glaube ich euch gerne, aber in dem Moment sah es für mich eher so aus, als ob ich helfen sollte." Der Waffenmeister bemerkte, dass sich der Stoff ihrer Hose unter der Stahlplatte ihrer Oberschenkelpanzerung langsam rot färbte. "Ihr seid verletzt. Ich hoffe, es gibt unter euren Begleitern jemanden, der sich um eure Wunden kümmern kann?"
    Die Kriegerin knirschte mit den Zähnen.
    "Sagt mir nicht, was ich zu tun habe sondern beantwortet lieber meine Fragen! Wer seid ihr und was sucht ihr in dieser Gegend?"
    "Ich bin nur ein einsamer Wanderer auf der Reise nach Thjerenfeldt. Und zwischendurch helfe ich harmlosen Händlerkonvois gegen Banditenangriffe."
    Seine Gesprächspartnerin ließ sich nicht weiter reizen.
    "Was sucht ihr in Thjerenfeldt? Das ist nur ein kleines Dorf mitten im Nirgendwo. Falls ihr ein Söldner seid, solltet ihr besser nach Hammerfoldt zurückkehren."
    "Ich bin kein Söldner", entgegnete Frost gelassen, obwohl die Einschätzung als Söldner sein Ehrgefühl aufwühlte. "Ich will lediglich ein Versprechen erfüllen, das ich vor vielen Jahren gegeben habe."
    "Dann solltet ihr euch besser beeilen. Bis Thjerenfeldt sind es noch einige Meilen und die Sonne geht in wenigen Stunden unter. Falls ihr nicht bei den Wölfen schlafen wollt, solltet ihr besser schauen, dass ihr weiterkommt."
    Die unverhohlene Freundlichkeit dieser Dame war beinahe atemberaubend. Wäre das Wiedersehen mit Esthera nicht nur wenige Stunden entfernt gewesen, hätte er sich vielleicht auf einen kleinen Streit eingelassen. Vor ein paar Jahren hätte kein Jungspund so mit ihm geredet. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern konnten...
    "Nun, dann sollte ich wohl besser schauen, dass ich weiterkomme." Trotz allem konnte Frost sich nicht verkneifen, den Sarkasmus durchsickern zu lassen. "Und ihr solltet vielleicht das Gleiche tun. Bis Hammerfoldt ist es noch ein gutes Stück und wenn die Sonne für euch keine Ausnahme macht, wird es bald dunkel. Ich wünsche euch noch eine sichere Reise."
    Mit dem freundlichsten Lächeln das er gerade aufbringen konnte, verabschiedete sich der Waffenmeister von der etwas verdutzt wirkenden Kriegerin und ließ einen lauten Pfiff erschallen. Nur Sekunden später zogen die hechelnden Hunde unter Führung Lukas den Schlitten herbei. Auf Borins Tiere war nach wie vor Verlass. Wenigstens etwas, das sich in diesem Land nicht geändert hatte.

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    Nacht hüllte sich um das Land, breitete ihre schwarzen Schwingen aus um den Himmel zu verdecken und den Weg für den Aufstieg des Mondes zu öffnen. Und mit der Nacht kam die Stille. Außer den hechelnden Hunden, den schleifenden Kufen und Frosts eigenem, gleichmäßigen Atmen war nur selten ein leises Rieseln zu hören, wenn sich einer der Bäume der auf ihm lastenden Schneemassen entledigte. Stumm wie die Schatten riesiger Wächter säumten die Nadelbäume die Straße, ihre weit über den schneebedeckten Weg reichenden Äste ließen den Eindruck eines endlosen Tunnels entstehen. Nur die sich hinter dem dichten Astwerk versteckende Sichel des Mondes störte den Eindruck der schwarzen Röhre. Und irgendwo in weiter Entfernung war Lichtschein zwischen den Baumsäulen zu erkennen. Ein einzelnes Fenster oder eine offenstehende Haustür, beinahe unsichtbar hinter den vorbeihuschenden Stämmen. Doch der bloße Anblick ließ Frosts Herz schneller schlagen. Er näherte sich seinem Ziel. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken herunter. Nicht aufgrund der Kälte. Obwohl es beißend kalt geworden war, ignorierte er den eisigen Kuß der Nacht auf der Haut. Das brennende Verlangen, Esthera wiederzusehen, ließ ihn den Schmerz vergessen und heizte das Feuer in seinem Inneren weiter an.
    Nur noch wenige Minuten und er würde sein Ziel erreicht haben. Thjerenfeldt war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Schon bald würde sich der Wald auftun, den rasenden Schlitten ausspeien und den Blick auf das in der Dunkelheit schlummernde Dorf freigeben. Der Waffenmeister merkte längst nicht mehr, wie fest er die Zügel umklammerte, mit denen er die erschöpften Schlittenhunde immer weiter antrieb.
    "Kommt schon, dieses kleine Stück schafft ihr", flüsterte er in den Fahrtwind, "Die paar Meter, dann bekommt ihr eure verdiente Ruhe..."
    Er wusste selbst nicht, ob er zu den Hunden oder mit sich selbst redete. Es war auch unwichtig. Ebenso unwichtig wie die Kälte. Im Moment war alles unwichtig. Sobald er Thjerenfeldt erreicht hatte, konnte er sich über den Rest Gedanken machen. Das Licht tauchte wieder auf. Doch dieses Mal wurde es nicht wieder augenblicklich von einem Baumschatten verschluckt. Und schon nach wenigen Sekunden gesellten sich weitere Lichter hinzu, Lichter auf derselben Höhe, kleine Lichter, dann schmalere, die sich dafür in die Höhe streckten und zuletzt winzige Pünktchen, die sich leicht hin und her wiegten oder von Zeit zu Zeit flackerten, um dann mit neuer Kraft wieder zu erstrahlen. Dann preschten die Schlittenhunde aus dem dunklen Tunnel hervor und auf die leicht hügeligen Felder hinaus, die Thjerenfeldt auf dieser Seite umgaben. Im Schein der Fackeln und offenen Fenster waren die Umrisse mehrerer Häuser zu erkennen, die sich, umgeben von einer gut drei Schritt hohen Palisade aus mehr als mannsdicken Baumstämmen, in die Talsenke drückten. Frosts Wissen nach war der Wall zu Beginn als Schutz gegen die unzähligen wilden Tiere der Umgebung errichtet worden. Doch da die umherstreunenden Wölfe noch nie die Siedlung angegriffen hatten, diente sie nun einzig der Abschreckung von Räuberbanden, deren Anzahl in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hatte. Thjerenfeldt war nie allzu groß gewesen. In den Jahren vor Frosts Odyssee waren zwar einige neue Seelen hinzugezogen, dennoch war die Siedlung nichts weiter als ein Dorf. Zwar gab es einen eigenen Schmied, der sein Erz jedoch meist direkt aus der Hauptstadt oder dem ein Stück weiter im Norden liegenden Jorbingen bezog, eine Taverne und gerade genug Bauern, um das Dorf im Notfall autark zu halten, doch wirklich attraktiv wurde Thjerenfeldt nur aufgrund des Handels. Frost glaubte nicht, dass jemals viel mehr als die ungefähr zwanzig Häuser ihren Sitz in diesem abgelegenen Tal finden würden. Einer der Gründe für diese Vermutung war, dass mehr einfach nicht geduldet wurden. Zu viele Menschen zerstörten den Frieden. Und ohne den Frieden würde der Handel untergehen. Deshalb wurde in Hammerfoldt selbst darauf geachtet, dass Thjerenfeldt in seinem jetzigen Zustand erhalten blieb.
    In einiger Entfernung konnte der Waffenmeister den kantigen Umriss des Mühlrades erkennen, welches sich träge in der Khjer, jener Mischung aus einem Bach und einem Fluss, drehte, die sich quer durch das Tal wand um dann irgendwo inmitten des dichten Waldes zu verschwinden. Das Wasser der Khjer war selbst im kältesten Winter noch warm genug, um darin baden zu können. Kein Wunder, immerhin entsprang sie direkt aus der Quelle...
    Hundebellen erwachte als erstes im Dorf, als sich der Schlitten dem niedrigen, hölzernen Tor näherte. Eine Fackel erwachte in der Dunkelheit, dann trat ein Mann in einfachem Lederharnisch aus den Schatten neben dem Tor, schaffte es gerade noch rechtzeitig, seine Hand vor den gähnenden Mund zu heben und blieb dann in der Mitte des Tores stehen. An einem der beiden Fackeln, die das Tor flankierten, war der Urheber des lauten Bellens angebunden und versuchte der Leine trotzend, seine näherkommenden Artgenossen zu begrüßen.
    "Halt! Gebt euch zu erkennen!", kam die überraschend wache und kräftige Stimme des Torwächters als Begrüßung.
    Frost brachte den Schlitten knapp zwei Meter vor dem Wächter zum Stillstand, ließ die Zügel fallen und sprang ab. Sein Gesicht hellte sich auf, als er Jergas erkannte. Der alte, brummige Wächter hatte das Tor schon bewacht als Frost zum ersten Mal nach Tjherenfeldt gekommen war. Manche Dinge schienen sich wohl niemals zu ändern.
    "Jergas, alter Hund, du wirst einem alten Freund doch nicht den Durchgang verweigern?" begrüßte Frost den Wächter und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
    "Zwick mich mal eben, ich hab ?nen komischen Traum...", brummte dieser nur und rieb sich mit der freien Hand die Augen.
    "Zum Träumen ist es noch zu früh", meinte Frost und klopfte noch einmal fester auf die Schulter seines Freundes.
    "Muss ich aber, sonst bild ich mir noch ein, Leute zu sehen, die seit sechzehn Jahren tot sind."
    "Jetzt tust du mir aber Unrecht", entgegnete Frost mit gespieltem Tadel, "Ich werde zwar vielleicht langsam alt, aber ein Gespenst bin ich deshalb noch lange nicht."
    Plötzlich ließ Jergas die Fackel fallen und packte Frost mit beiden Händen an den Schultern, um ihn kräftig zu schütteln. Das Bellen des Hundes wurde lauter. In einem der nahen Häuser erlosch das Licht hinter einem der Fenster, nur um dann an einem anderen zu neuem Leben zu erwachen.
    "Verdammt nochmal, Frost! Wo warst du die ganze Zeit?! Niemand wusste wo du bist, geschweige denn was passiert war!"
    Der Waffenmeister versuchte sicht mit sanftem Druck aus dem Griff Jergas? zu befreien, doch dieser ließ nicht los.
    "Auf einmal heißt es, du seist tot, dann, du wärst verschollen! Ein anderer meint, du wärst des Verrats angeklagt worden und dann ein anderer plötzlich, dass du dich in Khorinis herumtreibst! Und jetzt tauchst du einfach so aus dem Nichts auf, als ob nichts geschehen wäre! Wo warst du?!"
    "Das ist eine verflucht lange Geschichte", antwortete Frost, nachdem Jergas endlich aufgehört hatte, ihn zu schütteln. "Vielleicht stimmen all die Gerüchte. Oder zumindest ein Teil von ihnen." Ein Seufzer entfloh dem Krieger, als er daran dachte, wie viel er in den nächsten Tagen richtigzustellen hatte. "Ach Jergas, ich werde es dir bei Gelegenheit gerne erklären. Doch im Moment will ich nichts anderes als nach Hause. Ich muss Esthera sehen. Lass mich bitte durch."
    Das Gesicht des Wächters zeigte nur zu deutlich, dass ihm die Antwort alles andere als gefiel. Dennoch meinte er schließlich mit seinem üblichen, brummigen Tonfall:
    "Ja ja, geh du nur mal. Lass den Schlitten stehen, ich kümmer mich um die Hunde. Aber denk bloß nicht, dass du mir so einfach davonkommst."
    "Danke Jergas, du bist ein echter Freund", der Waffenmeister klopfte dem Wächter abermals auf die Schulter.
    Dann eilte er durch das Tor und die Straße hinab. Aus einem Fenster zu seiner rechten konnte er einen neugierig vorgestreckten Kopf sehen, der sich erkundigen wollte, wer den Lärm verursacht hatte. Doch als er an dem Haus vorbeikam, verschwand der Kopf schnell wieder. Er störte sich nicht weiter daran. Sofern kein Gott in einem Anflug von Langeweile sein Haus versetzt hatte, musste er noch durch den halben Ort. Es war eines der größten Häuser Thjerenfeldts, wie viele der anderen Häuser verfügte es ebenfalls über ein Obergeschoss, zudem allerdings noch über zwei zusätzliche Flügel und einen kleinen Innenhof. Er hatte damals eigenhändig beim Bau mitgeholfen, zusammen mit einigen seiner engsten Freunde. Das Ergebnis war in gewisser Hinsicht sicherlich als eigenwillig zu bezeichnen, da sich der übliche, hammerfoldter Baustil mit dem der eher dörfischen Blockhütten kreuzte. Somit bestand das Fundament aus festem Stein, das eigentliche Haus jedoch aus dickem Holz. Der vordere Teil konnte wohl als Hauptgebäude bezeichnet werden, dort befanden sich die am meisten genutzten Räume. Zudem beschränkte sich das Obergeschoss einzig auf diesen Bereich. Der Rest des Hauses spannte sich wie ein Ring um den Innenhof. Einen Abschnitt dieses Rings hatte er damals speziell für Gäste einrichten lassen, da er oft Besuch empfangen hatte, sofern er in Thjerenfeldt war. Meistens hatte es sich dabei um Freunde gehandelt, eher selten um Boten aus der Hauptstadt oder sonstigen, sogenannten "höheren Besuch".
    Das Haus lag etwas abseits der restlichen Siedlung und der Weg schien noch einmal sechzehn Jahre zu dauern. Mit jedem Schritt, jeder vergangenen Sekunde wurde die Sehnsucht stärker, wollte sein Herz von innen verbrennen und ließ seine Gedanken in einem Tornado aus Gefühlen tanzen. Mit aller Gewalt hämmerte sein Herz gegen seinen Brustkorb, als ob es herausbrechen wollte um schneller zum Haus zu gelangen. Er dachte an Esthera, versuchte sich den lieblichen Glanz ihrer klaren, blauen Augen in ihrem sanften, schmalen Gesicht vorzustellen, das lange kastanienbraune Haar, das stets einen Hauch des Frühlings in sich zu tragen schien. Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie ihn wiedersah? Hatte sie ihn nicht vielleicht schon vergessen? Der Gedanke schmerzte wie ein Schwertstich in seiner Brust. Nein, das würde sie niemals. Unvorstellbar. Doch sie hatte mittlerweile Elistin geheiratet. Was, wenn sie es nicht nur getan hatte, um ihre und Sheyras Zukunft zu sichern? Frost glaubte zu spüren, wie er sich der Schwelle zum Wahnsinn annäherte. Er durfte nicht daran denken. Es waren falsche Gedanken, und er wusste es. Er würde zurückkehren und alles würde wieder in Ordnung kommen. Vielleicht würde es einige Zeit dauern, bis sich die Wogen geglättet hatten, doch dann konnte er wieder leben. Zusammen mit Esthera. Die sechzehn Jahre in Einsamkeit und Verzweiflung würden wie ein Alptraum verblassen. Und das Leben normal weitergehen.
    In seinem Haus brannte noch Licht, als er endlich die schwere Holztür erreichte. Kurz blieb er stehen und trat den gröbsten Schnee von den Stiefeln, dann trat er an die Tür und hob die Hand um zu klopfen. Doch er führte die Bewegung nicht zu Ende. Konnte er wirklich einfach in dieses Haus treten? Mittlerweile waren sechzehn Jahre vergangen, seitdem er zum letzten Mal einen Fuß hinter diese Schwelle gesetzt hatte. Jergas hatte gemeint, dass niemand so recht wusste, was mit ihm geschehen war. Wahrscheinlich hielten ihn die meisten für tot. Konnte er nun ohne weiteres zurück in ihr Leben treten? Niemand rechnete mehr mit ihm. Selbst seine alten Freunde hatten ihn nicht mehr sofort erkannt. Was nach sechzehn Jahren auch kaum noch zu erwarten war. Vielleicht erkannte ihn nicht einmal mehr Esthera selbst. Jeder Schlag seines Herzens ließ Frosts gesamten Körper erzittern. Wie ging es Sheyra? Konnte sie sich überhaupt noch an ihren Vater erinnern? Jede verstreichende Sekunde brachte neue Fragen mit sich. Es gab kein Zurück mehr. Schwer durchatmend spannte Frost seine Hand. Dann klopfte er. Dreimal war das dumpfe Pochen seiner behandschuhten Faust auf dem dicken Holz zu hören. Im Haus klirrte etwas. Dann das Schaben eines Stuhls auf dem Boden. Der Waffenmeister schluckte. Er hörte schwere Schritte näherkommen. Sie plötzlich verstummen. Direkt hinter der Tür. Etwas klackte im Schloß. Er hörte wie ein Riegel zur Seite geschoben wurde.
    Dann öffnete sich die Tür.
    Geändert von Superluemmel (23.06.2004 um 21:34 Uhr)

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    "Ich grüße euch Fremder."
    Im hell erleuchteten Hauseingang stand Elistin. Mit der linken Hand die schwere Tür offenhaltend und mit der rechten imaginäre Staubkörner von seiner Schulter scheuchend, war seine schlanke, etwas gedrungen wirkende Figur in den ersten Sekunden nur als schemenhafter Umriss im unsteten Licht der Öllampe zu erkennen, die vom Wind erschrocken knapp unter der Decke des kleinen Vorraumes zitterte.
    "Was ist euer...", mitten im Satz abbrechend, stieß er die Tür ganz auf, um den Schein der Lampe bis in das Gesicht der düsteren Gestalt vor ihm dringen zu lassen. Ein Windstoß verfing sich im Raum, strich im Vorbeiziehen durch Elistins schulterlanges, schwarzes Haar und ließ die Eckschatten im Takt der schwingenden Lampe wachsen und schrumpfen. Elistins Mund öffnete sich halb, als ob er etwas nachfragen wollte, sich dann jedoch eines Besseren besann. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, blinzelte, dann glitt sein Blick erneut über Frosts Gesicht, fuhr wie unsichtbare Finger jede einzelne Kontur nach, um den vertrauten, aber doch fremd wirkenden Mann vor sich endlich einordnen zu können. Schließlich verzogen sich die hinter dem Bart halb verborgen liegenden Mundwinkel zu einem unsicheren, aber dennoch freundlichen Lächeln.
    "... Frost?"
    Doch es war nicht Elistins Stimme, die leise, wie eine behutsam gezupfte Melodie fragend durch das Zimmer schwebte. In der Tür zum Hausflur war eine Gestalt aufgetaucht. Und die Welt hörte auf, zu existieren. Alles um den Krieger herum verblasste, verlor sich in der Unwichtigkeit der bloßen, materiellen Existenz und ließ Frost allein. Allein mit dem Titanen, der von innen gegen seinen Brustkorb klopfte und jede weitere Millisekunde, in der er regungslos in der Haustüre stand, zur Qual werden ließ. Allein mit dieser unscheinbaren Gestalt, deren zarter Körper sanft vom Flammenschein der sich im Wind wiegenden Lampe umschmeichelt wurde, seinen Blick mit unsichtbaren Ketten an sich fesselte und ihn die Welt um sich herum vergessen ließ. Der Anblick Estheras verschlang die angsterfüllte Unruhe, die sich im Verlauf der letzten Tage in dem Waffenmeister aufgestaut hatte, verbrannte mit glühender Intensität den Käfig aus Eis, der sein Herz seit sechzehn langen Jahren gefangen hielt. Er fühlte seine durch die Kälte und sehnsuchtsvolle Einsamkeit versteinerte Maske bröckeln, als sie von einem erneut aufflammenden Funken der einstigen Leidenschaft aufgebrochen wurde. Sein Bein bewegte sich ohne sein Zutun vorwärts, seine Schulter schob etwas oder jemanden unsanft zur Seite, als Frost langsam wie ein Schlafwandler auf die zierliche Gestalt unter dem Türrahmen zuschritt. Die schweren Kampfhandschuhe klirrten zu Boden, seine Rechte hob sich um die leichte Kurve von Estheras Kinn zu berühren. Zärtlich strichen seine Finger über ihre weiche, warme Haut, während sich seine Linke um ihre Hand faltete. Die bloße Berührung jagte wie eine Feuerwalze durch seinen Körper, fröstelnd wurde ihm erst jetzt gewahr, wie tief die Außentemperaturen mittlerweile gefallen waren.
    "Du bist zurück..."
    Estheras Augen glitzerten wie kristallklare, blaue Seen die etwas zu viel Wasser führten, als ihre Finger Frosts Wange berührten. Langsam glitten sie an ihr herab, brachten die kurzgeschorenen Barthaare zum Knistern und hinterließen auf ihrem Weg zu seiner Brust einen Strom wohliger Wärme. Eine einzelne Träne trat über das Ufer ihres linken Auges, kullerte als schillernde Perle über den Hügel ihres Wangenknochens und wurde von Frosts Zeigefinger sachte beiseite geschoben. Esthera weinen zu sehen, versetzte dem Waffenmeister trotz aller Wiedersehensfreude einen schmerzhaften Stich. Noch immer ihre Hand haltend, strich er vorsichtig, wie bei einer zerbrechlichen Rose, ein paar Strähnen des langen, kastanienbraunen Haares aus ihrem Gesicht. Mehr Tränen fanden ihren Weg zu ihrem schmalen Kinn, zu viele, um sie aufzuhalten. Die schillernde Spur, die von der ersten Träne hinterlassen worden war, wuchs zu einem Bächlein, welches schon bald von einem kleinen Sturzbach verschlungen wurde.
    "Was ist mit dir geschehen?"
    Ihr Blick glitt an Frost herab, bis er sich an ihre Hand heftete, die wenige Haarbreit über dem mattschwarzen Brustpanzer hängengeblieben war. Ein Kribbeln durchlief Frosts Körper, wie der Luftzug einer Hand, die dicht über seinen Rücken hinwegstrich. Und obwohl es nur ein Hauch war, glaubte er zu fühlen wie er jede einzelne Faser seines Körpers durchdrang. Für diese unsichtbare Macht bestand er aus nichts als einem Gitter, zwischen dessen Streben sein Wesen ausgebreitet hing. Der mysteriöse Windhauch verging in der Nacht und Frost blickte wieder in Estheras inzwischen von roten Schlieren leicht verklärte Augen. Als sie sprach, war ihre Stimme leise, als ob sie fürchtete, den gerade begonnnen Traum durch zu laute Worte vergehen lassen zu können.
    "Ich weiß, dass vor mir noch immer derselbe Mann steht, der mir vor sechzehn Jahren versprach, bald zurückzukehren. Und doch hast du dich verändert... weniger äußerlich als in deinem Inneren... Du wirkst so... düster..."
    "Und dennoch strahlt mein Herz vor Freude, wenn ich dich sehe."
    Er lächelte, warm genug um sämtliche Kälte, die von den düsteren Hornplatten des Dämonenlords ausging, in der Ehrlichkeit seiner Antwort verglühen zu lassen.
    "Ich habe die letzten sechzehn Jahre nur gelebt, um diesen Moment erfahren zu dürfen. So oft ich mein Schwert auch hob, ich tat es einzig und allein, um dich wiedersehen zu können. Und wie du weißt, musste ich auch Opfer bringen. Doch da wir nun endlich wieder vereint sind, weiß ich, dass sich jedes dieser Opfer gelohnt hat."
    Esthera wandte den Kopf ab und blickte zu Boden. Frost spürte weitere, heiße Tränen die über den Rücken seiner Hand rannten und gen Boden stürzten.
    "Es ist so lange her..." Er fühlte ihre Hand zittern, ihre schultern bebten leicht, als sie mit leiser Stimme weitersprach. "Nachdem du auf dieses Schiff gestiegen bist, hatte nie wieder jemand von dir gehört. Niemand wusste, wo du warst, geschweige ob du überhaupt noch lebtest. Jahrelang wartete ich auf eine Botschaft, irgendeinen Hinweis... Tag für Tag war das Warten umsonst... Selbst Elistin wusste nicht, was passiert war... Dann kam ein Brief von diesem Nek, in dem er schrieb, dass du in der Kolonie von Khorinis festsitzen würdest. Neuigkeiten vom Zusammenbruch der Barriere erreichten Hammerfoldt, doch von dir fehlte weiterhin jede Spur... Und jetzt... jetzt tauchst du einfach aus der Nacht auf..."
    Der Krieger schob seine Hand sanft unter das Kinn seiner Geliebten, um erneut in ihr Gesicht blicken zu können.
    "Glaube mir, ich würde lieber tausend Jahre in Beliars Feuern brennen, als dich auch nur für einen Tag freiwillig zu verlassen. Mögen die Götter jene Reise verdammen, die uns auf solch brutale Weise voneinander trennte. Jede Nacht, wenn mir der Gedanke an dich den Schlaf raubte, verfluchte ich mich dafür, jemals einen Fuß auf die Planken der Galeone gesetzt zu haben. Doch auch jedesmal, wenn Beliar bereits seine Klauen nach mir ausgestreckt hatte, gab mir das Verlangen, dich wiederzusehen neue Kraft. Und dennoch... konnte ich nichts tun, um früher zurückzukehren..."
    Das Klacken einer schweren Tür beraubte den ständigen Luftzug seines Ursprungs, der Tanz der kleinen Öllampe verlor zunehmend an Wildheit. Als Frost daraufhin den Kopf drehte, sprang ihm die Erkenntnis, Elistin vollkommen überrant zu haben, mit der Gewalt eines Luzkan ins Gesicht. Gerade, als er zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, winkte sein alter Freund jedoch ab.
    "Denk gar nicht erst dran", meinte Elistin lächelnd, "Immerhin ist es dein Haus, in das du gerade eingefallen bist."
    Er schob sich an Frost und Esthera vorbei und trat halb in den Hausflur hinein. Ein verschmitzt-freundliches Grinsen umspielte seine Mundwinkel, als er mit einer gespielt vornehmen Geste ins Hausinnere einlud.
    "Ohne euch zwei stören zu wollen - Meint ihr nicht, dass es drinnen etwas gemütlicher ist? Außerdem siehst du so aus, als ob du einen Tee vertragen könntest, Frost."
    "Danke für das Angebot, alter Freund", erwiderte Frost dankbar. Erneut hing sein Blick an Estheras, als er weitersprach. "Wir sollten wirklich reingehen. Die Nacht ist noch lang und ich denke, ich habe euch viel zu erzählen..."

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    "Was ich noch nicht ganz verstehe", meldete sich Elistin zu Wort, als Frost seine Erzählung unterbrach, um die Trockenheit in seiner Kehle mit einem kräftigen Schluck des starken Kräutertees zu vertreiben, "Wie hast du den Sturz ins Wasser überlebt, nachdem das Ablenkungsmanöver fehlschlug? Mitten im Ozean ins Wasser zu fallen, ist der sichere Tod."
    Ein Lächeln flog über die Züge Frosts. Der Hauch von Unsicherheit, ein Gedanke, der zwar permanent sein Unterbewusstsein mit Unruhe erfüllte, jedoch stets wie ein Aal davonglitt, wenn er ihn zu ergründen versuchte.
    "Nun", begann Frost, während sich sein Blick zwischen den umhertreibenden Kräuterresten seines mittlerweile kalten Tees verlor, "Ehrlich gesagt kann ich es selbst nicht erklären."
    Lächelnd sah er zu Esthera hinüber, welche die meiste Zeit schweigend an seiner Seite gesessen und seiner Geschichte gelauscht hatte. Ihre Hand lag leicht und warm auf seinem linken Bein, die Finger sanft um die Seinen geschlossen. Der Waffenmeister musste sich zusammenreißen, um sich nicht selbst im Glanz ihrer kristallklaren Augen zu vergessen. Selbst nach all den Jahren verlor der Anblick nichts von seiner Faszination. Die Iris war ebeno klar und blau wie das Eis der hammerfoldter Tundra. Und dennoch strahlten Estheras Augen eine wohltuende Wärme aus, wie ein stetiger Vorbote des Frühlings, der das Feuer in Frosts Herzem heißer lodern ließ als den Odem eines Drachens.
    Als er von seinen Abenteuern berichtete, hatte er bewusst bestimmte Stellen seiner Odyssee umschifft. Wie hätte er seiner Frau erklären sollen, dass er eigentlich längst tot sein müsste? Wie sollte er über etwas reden, dass er selbst nicht verstand? Er war einmal gestorben, zerfetzt von der unkontrollierbaren Macht einer Waffe, die schon vor vielen Jahren seinen Vater ins Verderben gestürzt hatte. Gewaltsam seinem Körper entrissen, war er als ruhelose Seele durch die Barriere gestriffen. Gefangen in einer Welt zwischen verblassender Existenz und unüberwindbarer Vergangenheit war der einzige Ausweg die Hilfe des Schwarzmagiers Don-Esteban gewesen. Doch auch der ihm geliehene Körper war den Gesetzen des zeitlichen Verfalls unterworfen gewesen. Schwach war er geworden. Verdammt in einen sterbenden Körper, verkommen zu einem Schatten seiner einstigen Selbst war er in die Abgründe seines menschlichen Seins gestürzt. Wut, Hass und Verzweiflung hatten ihn voran und in den Krieg gegen den Gorthaner Kaszan Toras getrieben. Erneut hatte er den Weg zu seinem Erfolg mit den Leichen junger Männer und Frauen gepflastert. Und wie durch eine Ironie des Schicksals war es seine eigene Hand gewesen, die ihn aus dieser Existenz zwischen Leben und Tod gerettet hatte. Korrumpiert von der Macht zwei uralter Artefakte, der Hände von Kol?Sheraz, hatte Sorim, der Hofmagier des Herzogs von Gorthar, den seelenlosen, wenn auch noch immer lebenden Überresten Frosts seinen eigenen Willen eingehaucht. Niemand hatte erahnen können, dass Frosts Tod durch einen Teil seiner Seele, den Eisbrecher, gleichzeitig die Erlösung bringen sollte.
    Esthera nicht die Wahrheit zu sagen, drohte Frost innerlich zu sprengen. Doch er wusste beim besten Willen nicht, wie er ihr es erklären sollte. Vielleicht würde er es ihr sagen. In ein paar Wochen. Wenn er den richtigen Weg gefunden hatte. Er würde schon einen geeigneten Zeitpunkt finden, um es ihr beizubringen.
    "Ich habe wohl das Bewusstsein verloren, kurz nachdem ich ins Wasser gefallen war", griff er den Faden seiner Erzählung wieder auf, "Viel weiß ich nicht mehr. Nur noch, wie die Kälte meine Glieder zu Eis erstarren ließ, während ich in ewigwährende Dunkelheit herabsank."
    Noch einmal versuchte der Waffenmeister, die Mauer vor seiner Erinnerung zu durchbrechen, sich an jene Sekunden vor seiner Ohnmacht zurückzuerinnern. Er wusste noch, wie das durch die aufgewühlten Wogen einfallende Sonnenlicht von einer dunklen Wolke verschlungen wurde und die unsichtbaren Ketten seinen Körper tiefer in die ewige Schwärze gleiten ließen. Frosts Blick fiel auf die Tischkerze. Hungrig hatte die Flamme im Verlauf des Abends beinahe das gesamte Wachs verzehrt. Nun fraß sie gesättigt, aber auch müde an den letzten Resten des einst weißen Miniaturturms. Das Bild ließ eine Erinnerung in Frosts Kopf aufflackern. Ein Licht, schwach, einsam in wogender Dunkelheit. Auf der Stirn des Waffenmeisters waren Falten zu erkennen, als er den Schleier des Vergessens weiter beiseite zu ziehen versuchte. Schließlich schüttelte er den Kopf.
    "Etwas war dort unten. Ich bilde mir ein, einen Lichtschimmer gesehen zu haben. Wobei das auch Einbildung gewesen sein könnte." Er zuckte mit den Schultern. "Fakt ist, dass ich noch lebe. Und noch wichtiger", Sein Blick verfing sich erneut im Glanz von Estheras Augen, "Ich bin endlich zurück."
    "Hast dir auch reichlich Zeit gelassen", grinste ihm Elistin von der anderen Seite des Tisches entgegen.
    "Und die Zeit in der Rimmersmark ist währenddessen nicht stehengeblieben", fügte Esthera mit ihrer ruhigen, wie auf dünnen Saiten gezupften Stimme hinzu. "Wahrscheinlich weißt du schon, dass Lorkar kurz nach deinem Verschwinden das Kommando über die Frostwölfe übernommen hat."
    Frost nickte. Seltsamerweise spürte er kein Bedauern. Nicht mehr. Als er damals in Khorinis von Lorkars Verrat erfahren hatte, war er nur noch von dem Gedanken besessen gewesen, diesen falschen Hund Gerechtigkeit erfahren zu lassen. Jetzt, da er nach Hammerfoldt zurückgekehrt war und Lorkar sich nicht länger hinter hunderten von Meilen Entfernung verstecken konnte, war der Hass wie weggeblasen. Jahrelang war der Zorn über den feigen Verrat eines seiner treibenden Feuer gewesen. Wieder und wieder hatte die Wut Frost das Schwert heben lassen. Jeder niedergestreckte Feind hatte ihn einen Schritt weiter zur ersehnten Rache getragen. Nun war die Flamme erloschen. Die Freude über die Wiedervereinigung mit Esthera hatte sie verzehrt wie die Kerze das Wachs.
    "Lorkar ist unwichtig", meinte Frost plötzlich, "Genau wie das Kommando."
    Elistins Becher knallte auf den Tisch, als er fassungslos den Arm fallen ließ.
    "Was sagst du da?"
    Der Waffenmeister hob beschwichtigend die Hände.
    "Du hast richtig gehört. Mir ist es gleichgültig, wer das Rudel führt."
    Er spürte Estheras fragenden Blick in seiner Seite. Dennoch schwieg sie.
    "Ich fass es nicht!" Elistins Stuhl kippte gefährlich weit nach hinten, als er wütend aufsprang. "Sechzehn Jahre lang lässt du nichts von dir hören. Kaum bist du weg, da ergreift dieser Bastard Lorkar das Kommando und fordert uns auf, erstmal abzuwarten. Wäre dieser Schweinehund nicht gewesen, wären Borin und ich dir sofort gefolgt!"
    Frost spürte, wie sich der Druck von Estheras Hand leicht verstärkte. Doch er hätte sich ohnehin nicht von Elistins Wutausbruch mitreißen lassen. Wenn er in der Barriere etwas gelernt hatte, dann, sich zu beherrschen.
    "Und wärt dabei wahrscheinlich direkt in die nächste Orkgaleere gekracht." Der Krieger schüttelte den Kopf. "Es ist gut, dass ihr mir nicht gefolgt seid."
    "Das meinst du...", schnaubte Elistin, "Du hast keine Ahnung, was in den vergangenen sechzehn Jahren hier passiert ist. Lorkars Führungsqualitäten befinden sich auf demselben Niveau wie seine Loyalität." Unruhig wie ein hungriger Wolf ging er neben dem Tisch auf und ab, bis er sich erneut mit einem Ruck zu Frost umwandte. "Du willst also einfach alles hinschmeißen? Das Rudel im Stich lassen?"
    Ein Seufzer drang traurig und bitter über Frosts Lippen. Er wollte es einfach nicht verstehen...
    "Elistin, hör mir bitte zu. Meine Zeit als Kommandant ist abgelaufen. Für mich gibt es nichts mehr, für dass es sich zu kämpfen lohnen würde. Früher tat ich es für Ruhm und die Sicherheit des Vaterlandes und meiner Familie. Die Jahre meines unfreiwilligen Exils haben mir vor Augen geführt, dass ich letzteres am besten erreichen kann, indem ich mich aus Konflikten fernhalte. Und was das Land angeht - Das kann auch ein anderer verteidigen. Und ich will meine Familie nicht noch einmal verlassen."
    "Und Lorkar?" Flammen des Zorns loderten in Elistins Augen. "Was ist mit ihm? Willst du ihn einfach so davonkommen lassen? Er hat dir sechzehn Jahre deines Lebens gestohlen! Dir, und deiner Familie! Was glaubst du, was es für Sheyra bedeutet haben muss, ohne ihren Vater aufwachsen zu müssen?"
    Estheras Druck nahm weiter zu. Für einen Moment schloss Frost die Augen, während er tief durchatmete. Das Schlucken fiel ihm schwer.
    "Auch Lorkars Blut würde diesen Verlust nicht wieder gutmachen können. Es tut mir leid, wenn du falsche Hoffnungen in mich gesetzt hast. Aber ich habe genug Blut vergossen. Ich habe erkannt, dass auf den Schlachtfeldern kein Platz mehr für mich ist. Mein Platz ist hier bei meiner Familie."
    "Ich kann es immer noch nicht glauben", meinte Elistin ungläubig, "Ich... natürlich kann ich dich verstehen, aber..." Er warf hilflos die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf. "Ach, ich weiß auch nicht, was ich erwartet hab. Ich... ich leg mich besser hin..."
    Seine Hand streckte sich bereits nach der Türklinke aus, als er sich noch einmal umdrehte.
    "Ich nehm eines der Gästezimmer."
    Elistin war schon halb im Gang verschwunden, als Frost ihn zurückrief.
    "Eilistin?" Noch einmal erschien der Kopf seines Freundes in der Tür. "Danke für alles. Ich schulde dir was."
    "Nicht der Rede wert", meinte Elistin müde. Dann trat er vollends aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

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    Sekundenlang starrte der Waffenmeister auf das rötliche Holz der Türe, hinter der Elistin vor wenigen Momenten verschwunden war. Stille teilte sich die Herrschaft über den Raum mit dem Duft der vollends heruntergebrannten Kerze. Schließlich entfloh ein Seufzer Frosts Kehle, hing eine Zeit lang über dem Tisch und flüchtete dann vor dem über den Holzboden schabenden Stuhl als der Krieger aufstand. Das Pochen der Stiefelschritte versuchte das zurückkehrende Schweigen zu vertreiben, gab den Versuch jedoch auf sobald der Waffenmeister vor einem Schränklein stehen blieb. Unsicher griff er zuerst nach der obersten, dann nach der tiefer gelegenen Schublade. Ein Lächeln hob seine Mundwinkel, als er das Fach aufzog und die sauber aneinandergereihten Wachskörper einfacher Kerzen entdeckte. Schön, dass sich manche Dinge selbst in sechzehn Jahren nicht änderten.
    "Erzähl mir von Sheyra", forderte Frost seine Frau auf, während er eine neue Kerze an der Öllampe an der Wand entzündete und sorgfältig in der nun leerstehenden Metallhalterung verankerte.
    "Sie ist in vielerlei Hinsicht ihrem Vater ähnlich", lächelte Esthera halb neckisch, halb wehmütig.
    "Sag mir bitte, dass ich auch ein paar gute Seiten habe", knirschte Frost zwischen den Zähnen hervor und setzte sich zurück an seinen Platz.
    "Natürlich hast du die. Bloß zeigst du die nur so ungern." Erneut zierte dieses bezaubernde Lächeln Estheras Züge.
    "Mir reicht es völlig, wenn du sie kennst", zwinkerte Frost zurück. "Aber nun sag schon, wie geht es unserer Kleinen?"
    "Sie ist groß geworden und kommt schon recht gut alleine zurecht. Sie liest gerne und viel wenn sie zuhause ist. In letzter Zeit ist sie jedoch viel unterwegs. Und sie hat den selben Sturkopf wie du." Als Belohnung kassierte Frost einen Stubser gegen die Nasenspitze.
    "Und... warum ist sie so viel unterwegs?", hakte Frost nach. Er spürte, dass Esthera einen bestimmten Aspekt bewusst zu umschiffen versuchte.
    "In deiner Abwesenheit hat sich vieles geändert", versuchte sie es aus einer anderen Richtung, "Das Wiedererstarken der Eisriesen stellt nicht die einzige Bedrohung dar. Auch hier, im direkten Umland Hammerfoldts ist es deutlich rauher geworden. Viele Soldaten wurden nach Myrthana abgezogen, um dort gegen die Orks zu kämpfen. Daraus ziehen nun unzählige Räuberbanden ihren Vorteil, indem sie die schlecht bewachten Handelsrouten überfallen. Momentan gibt es viele Händler, die gutes Geld für etwas Geleitschutz zahlen."
    Auf einmal schien jegliches Licht den Kontakt mit Frosts Gesicht zu scheuen.
    "Sie arbeitet also als Söldner", schloss er düster.
    Esthera legte ihren Arm um seine Schulter. Ein kurzes Zurückzucken, als sie den schwarzen Panzer seiner Rüstung berührte, doch dann spürte er ihre warme, wenn auch ungewohnt rauhe Haut an seinem Nacken.
    "Ich sagte ja, sie ist dir ziemlich ähnlich. Von dem Zeitpunkt an, zu dem sie das erste Mal ein Schwert in der Hand hielt, war für sie klar, dass sie den Schwertkampf erlernen wollte. Du kannst dir vorstellen, dass ich alles andere als glücklich gewesen bin."
    "Es ist nicht deine Schuld." Entschieden schüttelte Frost den Kopf und fasste Estheras Hand. Beunruhigt stellte er fest, dass sie eine leichte Gänsehaut hatte. "Ich hätte euch niemals verlassen dürfen. Wäre ich geblieben, hätte ich Sheyra vor solchen Dingen beschützen können. Ich wollte stets verhindern, dass sie je in meinen Fußstapfen wandeln könnte."
    "Früher oder später hätte sie ohnehin ihren eigenen Weg beschreiten müssen", meinte Esthera sanft und strich durch Frosts langes Haar. Einen leisen Seufzer ausstoßend, ließ er seinen Kopf auf ihre Schulter sinken.
    "Natürlich hast du recht. Ich hatte nur gehofft, dass die Richtung anders ausgefallen würde. Wäre ich bloß niemals fortgegangen..." Plötzlich schreckte er auf. Sein Blick suchte den Estheras. "Wann und wohin ist sie aufgebrochen?"
    "Heute morgen, noch bevor der erste Sonnenstrahl das Wasser der Quelle berührte", antwortete seine Frau.
    Ein schwaches Kopfschütteln Frosts, gepaart mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit.
    "Als ich heute die Ebenen durchquerte, half ich einen Händlerkonvoi gegen Banditen zu verteidigen. Dabei bin ich unter dem Geleitschutz auf eine Kriegerin getroffen... Ich habe meine eigene Tochter nicht wiedererkannt..."
    "Hast du das denn nach sechzehn Jahren wirklich erwartet?", fragte Esthera milde lächelnd.
    "Wenn ich ehrlich bin, habe ich wohl gar nichts erwartet. In all der Zeit vergisst man irgendwann, sich seine Gedanken zu machen. Das Einzige, was blieb, war der Wunsch endlich zurückzukehren. Mit welchen Komplikationen dies verbunden sein könnte, wird dabei wohl einfach vergessen." Erneut streichelten seine Finger zärtlich Estheras Hand. "Doch sag, ist dir kalt? Mir scheint, du würdest frösteln."
    "Was ist das für eine Rüstung?", wollte Esthera wissen und zog ihren Arm zurück. "Die bloße Berührung lässt mich erschaudern."
    "Es ist der Panzer eines Dämonenlords, der meinem Hass zum Opfer fiel. Ich war naiv, als ich ihn zu meinem Schutz wählte und diese Naivität hätte mich beinahe mein Leben gekostet - Oder sogar schlimmeres."
    Düster dachte Frost an das vorige Jahr zurück, als die wiedererstarkende Dämonenseele sein Innerstes zwischen ihren schwarzen Klauen zu zerreißen gedroht hatte. Keine guten Erinnerungen...
    "Das war in der Tat sehr leichtsinnig von dir", meinte Esthera ohne den Blick von den mattschwarzen Panzerplatten zu nehmen. "Du hast dich mit Mächten eingelassen, die nicht zu kontrollieren sind. Selbst die mächtigsten Schwarzmagier müssen einen hohen Preis für einen Pakt mit solchen Dämonen zahlen."
    "Hätte sich mir eine andere Wahl geboten, so hätte ich sie mit Freude ergriffen." Ein Lächeln erhellte Frosts ernste Gesichtszüge. "Aber nun werde ich sie ja hoffentlich nicht mehr brauchen. Ganz im Gegensatz zu etwas Schlaf. Die Reise hat meine Kräfte wohl doch mehr beansprucht, als ich angenommen hatte."
    "Wenn du mir verzeihen kannst, dass ich nicht aufgeräumt habe - Ich hatte nicht mit deinem Besuch gerechnet", erwiderte Esthera schelmisch.
    "Ich bin mir sicher, dass ich noch einmal über diesen Frevel hinwegsehen kann", antwortete Frost und brachte die Kerze mit einer schnellen Handbewegung zum Erlischen.

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    Die Quelle lag in fast perfekter Ruhe umrundet von den hoch aufragenden Bäumen, die den Ort zuverlässig vor zufälliger Entdeckung bewahrten. Grüne Giganten von ungewöhnlicher Höhe und Breite für diese Klimazone, deren tiefhängende, immergrüne Äste bis knapp über den Boden reichten. Stumme Zeugen, die wahrscheinlich sogar das letzte Rinnsal des Flusses beobachtet hatten, der einst dieses Tal gegraben hatte. Die Bäume waren alt, die Borke von einer Moosschicht verborgen, die dick genug war um Frosts Hand bei Berührung vollständig zu verschlucken. Gespeist vom Wasser der Quelle waren sie die ewigen Wächter, die selbst dann noch über diesen Ort wachen würden, wenn er von den Menschen längst vergessen war.
    Hier, verborgen in dem entferntesten und unzugänglichsten Winkel des Thjerenfeldter Tales, zwängte ein unaufhörlicher Strom reinen Wassers die Felsen auseinander und stürzte mehrere Schritt weit in die Tiefe, um dort einen großen Teich zu formen. Hier, mitten in der Tundra aus ewigem Eis und Schnee hatte sich eine Oase immerwährenden Grüns gebildet. Hier, ebenso unerwartet wie schicksalshaft, hatte er zum ersten Mal Esthera kennengelernt.
    Ein leises Plätschern durchbrach die Stille, als sich Frost entspannt zurücklehnte und die Beine ausstreckte. Seerosen wiegten sich sanft auf den Wellen, die sich von der Bewegung aufgeschreckt auf der Wasseroberfläche ausbreiteten. Das Wasser war warm, trotz der eisigen Kälte, welche die Menschen in Thjerenfeldt vor ihre Kamine trieb. Doch die Quelle ließ keine Kälte in ihre Umgebung vordringen, ebenso wie die umstehenden Bäume jegliche unnatürliche Geräusche wie eine dichte Mauer abblockten. Dieselbe magische Kraft, die diesen Ort seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Anbeginn der Zeit vor jeglicher Bedrohung und äußerem Einfluss bewahrt hatte, war auch für die mystische Ruhe verantwortlich. Die Quelle hatte ihre eigenen Gesetze und ließ sich von niemanden beherrschen. Die wilden Kräuter, die nur hier, in unmittelbarer Nähe zum lebensspendenden Wasser wuchsen, entwickelten in den Händen eines kundigen Heilers Kräfte, die selbst einen Todgeweihten zurück ins Leben rufen konnten. Die Quelle war der Grund, warum Thjerenfeldt überhaupt jemals zu einer Siedlung von mehr als drei Häusern herangewachsen war. In Hammerfoldt wurden für aus den Kräutern hergestellte Elixiere oder auch die Rohmaterialien astronomische Preise gezahlt. Allerdings ließ die Quelle nicht jeden an ihre Schätze. Nur einer einzigen Person war es erlaubt, die Früchte ihres Gartens zu ernten. Und diese ließen sich nur in winziger Zahl und unregelmäßigen, oftmals über ein halbes Jahr andauernde Abständen einbringen.
    Frost erinnerte sich noch gut daran, wie ein Händler aus der Hauptstadt versucht hatte, sich eigenhändig an der Quelle zu bereichern. Der Gedanke trug ein leichtes Lächeln mit sich. Damals war er selbst noch unwissend und beinahe unaufhaltbar in seinem Pflichtbewusstsein gewesen. Hätte ihn Esthera nicht zurückgehalten, hätte er den Krämer wahrscheinlich mit blanker Klinge aus dem dorf geprügelt. Doch Esthera hatte nur gelächelt und den Mann in den die Quelle umgebenden Wald spazieren lassen. Nach gut drei Stunden war er erneut am Waldrand erschienen, mit leeren Taschen und halb wahnsinnig von dem Gedanken, stundenlang im Kreis gelaufen zu sein. Zwei Versuche später zog er verbittert von dannen. Die Quelle suchte sich ihre Gäste selbst aus.
    Langsam und mit geschlossenen Augen ließ Frost seinen Kopf nach hinten sinken. Er spürte die Wärme von Estheras Schoß unter seinen Haaren, seine Augenlider gaben die winzige Reflexion hellen Sonnenlichts auf seinen Pupillen frei. Ein Schatten stahl den Glanz aus Frosts Augen, als sich Estheras Gesicht dicht über das seine schob. Ihre Lippen fanden sich. Schmiegten sich aneinander, wurden in ihrer zarten Liebkosung eins mit der Ruhe des magischen Ortes. Sekunden vergingen, wurden zu Minuten die gleich dem aus dem Felsen springenden Wasser der Quelle im Sturzbach ihrer Gefühle hinfortgeschwemmt wurden. Die Zeit verging, doch sie war unwichtig, so wie sie für die Quelle schon immer unwichtig gewesen war. Es gab nur noch den Moment und Estheras Kuss auf Frosts Lippen. Endlich war wieder alles so, wie es immer hatte sein sollen. Er und Esthera, vereinigt bis zum Ende aller Zeiten. Nie wieder wollte er sie verlassen, die Berührung dieser Lippen vergessen. Und während er dort lag, halb im Wasser und in der Umarmung seiner Geliebten, fragte er sich, wie er auch nur einen einzigen Tag ohne sie hatte überleben können.
    Irgendwann lösten sich Estheras Lippen von den Seinen, ihre Ellenbogen legten sich auf Frosts Schultern zur Ruhe. Sein eigener Finger hinterließ eine glitzernde Spur klaren Wassers auf ihrer Wange, als er behutsam eine einzelne Haarsträhne zur Seite schob.
    "Weißt du noch, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind?", fragte Esthera in die Stille hinein.
    "Wie könnte ich je vergessen?", antwortete Frost mit einem beinahe träumerischen Lächeln. "So alt bin ich nun auch wieder nicht, dass ich eine meiner schönsten Erinnerungen vergessen würde."
    Noch einmal ließ er die Bilder aus der Vergangenheit vor seinem geistigen Auge Revue passieren.
    "Es war direkt nach der Schlacht gegen die Orks auf dem Glitzerkamm", erinnerte er sich, "Eine einzige Katastrophe, auch wenn die Grünhäute besiegt und aus Hammerfoldt vertrieben wurden. Eine doppelte Falle - Die Orks liefen in unser Kreuzfeuer, wir in ihre Lawine. Der Schneerutsch hatte mich von dem Rest der Einheit getrennt, ich hatte ebenso viele Probleme mein Blut bei mir wie mich selbst auf den Beinen zu halten. Orientierungslos irrte ich durch den Wald... Bis ich auf diese Lichtung stolperte."
    Estheras Finger tasteten sich langsam über seine Rippen an seiner Brust nach oben, sandten dabei bei jeder Berührung wohlige Schauer über Frosts Rücken.
    "Nach einer langen Reise und einem beschwerlichen Kampf fandest du völlig entkräftet den Weg zu dieser Quelle." Ihre rechte Hand verharrte über einem langgestreckten, dunklen Fleck an Frosts Schulter. Die Hinterlassenschaft eines Dämonenspeeres, der sich vor mehr als zwei Jahren an eben dieser Stelle durch sein Fleisch gebohrt hatte. Die Wunde war zwar verheilt, doch hatte sich die Haut seltsam verkrampft und eine fast schwarze Färbung angenommen. Der Waffenmeister erinnerte sich, dass er nach dem Kampf gegen die Orks eine ähnliche Wunde durch einen Orkpfeil an fast genau derselben Stelle davongetragen hatte. Er sah Esthera die Augen schließen, auf ihren Zügen spiegelte sich die Ruhe des Ortes wider.
    "Nun kehrst du erneut von einer langen Reise zurück und wieder trägst du die Narben des Krieges." Ihre Fingerspitzen berührten die Dämonennarbe. Es war wie der Kuss eines eisigen Wassertropfens, der Frost erschaudern ließ. Doch er spürte, wie sich das verkrampfte Gewebe zu entspannen begann.
    "Viele der Narben sind der Preis für ein Schwert, dass sich durch eine von Hass beseelte Hand führen ließ. Ein ruheloses Herz verträgt die Verbitterung besser als das kühle, berechnende. Andere Narben, die weniger zahlreichen jedoch auch jüngeren, entstanden als ich das eigentliche Wesen meiner Klinge zu verstehen begann."
    "Ich weiß, dass du die Wahrheit sprichst", sagte Esthera mit ihrer ruhigen, sanften Stimme die wie süße Milch über ihre Lippen kam und von Frost begierig aufgesogen wurde, "Aber selbst wenn du den Wolf in dir gezähmt hast, so kannst du ihn niemals verbannen. Auch wenn du deine Zähne nicht mehr offen zeigst, so wirst du sie zur gegebenen Zeit doch wieder einsetzen."
    "Lass uns einfach hoffen, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch viele, viele Jahre vergehen", meinte Frost und blickte an Estheras Gesicht vorbei in den blauen, wolkenlosen Himmel. Ein Schatten flog über ihn hinweg. Das leise Schlagen von Flügeln war zu hören, er sah Esthera den Kopf heben. Ihrem Blick folgend, konnte er einen Falken mit schneeweißem Gefieder erkennen, der ihn mit klugen, gelben Augen aufmerksam musterte. Als Esthera aufstand, riss der Vogel den scharfen, gebogenen Schnabel auf um sie mit einem leisen, langgezogenen Schrei zu begrüßen und kurz darauf auf ihrem ausgestreckten Arm zu landen.
    "Wie ich sehe, ist der alte Zeyron noch immer recht gut beinander", lächelte Frost seiner Frau zu.
    "Das will ich doch hoffen." Mit sanften Fingern strich sie durch das Gefieder ihres Vertrauten. Nach ein paar Sekunden wandte sie sich wieder Frost zu. Ein Ausdruck leichter Sorge schillerte in ihren Augen. "Sheyra ist zurückgekommen."
    Die Luft entwich in einem Seufzer aus Frosts Lungen, als er sich langsam erhob und auf seine Kleidung zuging, die sauber zusammengelegt einen kleinen Stapel neben dem Teich bildete.
    "Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, noch etwas mehr Zeit zu haben", sprach Frost während er sich abtrocknete und dann zuerst Lendenschurz, dann Hose, Hemd und zu guter Letzt die weite, weiße Robe anzog, die er bisher nur zuhause in Thjerenfeldt getragen hatte. Das Gewand wirkte schlicht, doch die Leinen aus Colzefasern waren nicht nur leicht, sondern hielten auch zuverlässig Wind und Kälte ab. Es ähnelte dem Estheras, allerdings war es weiter geschnitten und der Kragen aus dem Fell eines Silberwolfes fehlte.
    Kaum hatte er die schweren Stiefel aus Klippenwurmleder geschnürt und sich wieder aufgerichtet, da spürte Frost auch schon das Gewicht des Falken auf seine Schulter drücken und einen scharfen Schnabel behutsam an seinem Ohrläppchen zupfen. Erst als er die Hand hob um den Schneefalken unter dem Kinn zu kraulen, ließ Zeyron von seinem Ohr ab und begnügte sich stattdessen mit seinem Daumen.
    "Na alter Knabe? Es ist lange her, nicht wahr?" Doch trotz seines unglaublich hohen Alters strahlte das Gefieder des Tieres noch immer in dem selben, prachtvollen Weiß wie vor sechzehn Jahren. Frost führte die lange Lebensdauer des Falken auf die Quelle oder seine Verbundenheit zu Esthera zurück.
    "Hast dich aber gut gehalten." Ein unerwartet fester Kniff des Falkens ließ Frost seine Hand hastig zurückziehen. Zeyron hatte seine ganz eigene Art, seinen Humor durchsickern zu lassen.
    "Mutter?", kam plötzlich ein fragendes Rufen zwischen dem dichten Geäst der Bäume hervor, "Mutter, ich bin zurück!"
    Der Waffenmeister hatte gerade noch Zeit, Esthera einen kurzen Blick zuzuwerfen, dann raschelten die Zweige und eine junge Frau in im Sonnenlicht blitzender Rüstung betrat die Lichtung. Frost hatte sich nicht geirrt. Es war dieselbe charmante Dame, die er am Vortag bei dem Räuberüberfall getroffen hatte. Doch dieses Mal konnte er auch ihr Gesicht erkennen. Der metallene Helm lag locker in ihrer Armbeuge, dunkles, rötliches Haar fiel offen über ihre Schultern. Sie hatte dieselben feinen Gesichtszüge ihrer Mutter und denselben klaren, ehrlichen Glanz ihrer Augen.
    "Es gab ein paar-" Ein Teil der für Frost typischen Härte mischte sich in ihre Züge, als sie den Waffenmeister erblickte. "Was... was macht ihr denn hier?"
    "Sheyra, ich-", Esthera wollte auf Sheyra zugehen, doch Frost hielt sie sachte zurück.
    "Lass nur Esthera, ich denke ich sollte einiges erklären..."
    "Das denke ich auch", meinte Sheyra und verschränkte die Arme.
    Langsam trat Frost an Esthera vorbei, stützte sein Bein auf einem Felsen ab und rieb sich das Kinn. Er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Sich im Voraus die Worte zu den vermeintlich richtigen Sätzen zurechtgelegt. Auf einmal war alles weg, sein Geist leer. Als ob ein Bauer mit seiner Sense seine kompletten Gedanken sorgsam niedergemäht hätte. Nun stand er da, der große Krieger. Nach vorne gebeugt, das Kinn schwer auf seine Hand gestützt wie ein alter Erzähler, der den Faden zu seiner Geschichte verloren hatte. Manchmal trafen die Weiseheiten der Kriegskunst auch auf das restliche Leben zu - Egal wie gut der Plan war, auf dem Schlachtfeld zersprang er beim ersten Kontakt zu kleinsten Scherben.
    "Vor einiger Zeit", begann er trotz seiner Unsicherheit mit kräftiger Stimme, den Blick abgewandt, "Vernahm ein Mann den Ruf seiner Pflicht und verließ die Heimat und Familie. Er wusste weder wie weit, noch wie lange seine Reise ihn fortführen würde, doch er zog aus um die ihm auferlegte Pflicht zu erfüllen."
    Es kostete ihn Kraft die Worte zu sprechen. Der Gedanke an den Verrat, der ihn so viele Jahre seines Lebens gekostet hatte, ließ seine Stimme für einen Augenblick wie unter einem Schwertschlag erzittern.
    "Als er seinen Fehler erkannte und in sein Heimatland zurückkehren wollte, musste er erkennen dass der Rückweg versperrt war. Der Krieg hatte vor den Landesgrenzen nicht Halt gemacht und machte eine Fahrt zurück zu seiner Familie unmöglich. Jahrelang blieb er fort, niemand in seiner Heimat wusste wirklich, was mit ihm geschehen war. Jahrelang kämpfte er in fremden Ländern um sein Überleben, stets auf der Suche nach einem Weg zurück. Der Krieg tobte weiter und lockerte an manchen Stellen seinen Griff. Doch als der Krieger schließlich zurückkehrte, war er nicht der Einzige, der sich verändert hatte."
    Er schluckte schwer, als ihm die Kraft zum Weitersprechen fehlte. Hinter ihm raschelten Schritte im Gras.
    "Mutter, was soll das alles?", hörte er Sheyra fragen. "Wer ist dieser Mann?"
    Im selben Moment, in dem Esthera antwortete, fiel der Helm scheppernd ins Gras.
    "Er ist dein Vater, Sheyra."
    "Dieser... er ist mein Vater?", entfuhr es Sheyra stockend.
    Mit einem Ruck richtete sich Frost auf und trat auf seine Tochter zu.
    "Sechzehn Jahre ist es her, seit ich Hammerfoldt verlassen habe. Das letzte Bild meiner Erinnerung zeigt dich noch im Alter von vier Jahren. Nun kehre ich zurück und du bist bereits erwachsen. Ich wünschte, ich hätte euch niemals alleine gelassen."
    "Ja, das wünschst du dir jetzt!", schoss Sheyra plötzlich. Er sah Tränen in den klaren, blauen Augen schwimmen während sich ihre Wangen leicht röteten. "Aber hast du dir das auch damals überlegt?!"
    "Sheyra, ich-", wollte er antworten, doch seine Tochter schüttelte nur den Kopf, das rote Haar sprang wild umher.
    "Das Einzige das dir wichtig war, war deine Pflicht! Ich und Mutter waren dir doch völlig egal!"
    Mit diesen Worten fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte davon. Frost blieb stehen, als ob ihn ein Blitz getroffen hätte. Auf dem Teich zogen aufgebrachte Wellen ihre Kreise. Er spürte Estheras Hand auf seiner Schulter.
    "Es tut mir leid, Frost. Ich hätte es wissen müssen."
    Traurig schüttelte der Waffenmeister den Kopf, während er noch immer auf die Stelle zwischen den Ästen starrte, an der Sheyra vor wenigen Sekunden verschwunden war.
    "Nein", meinte er leise, "Ich hätte es wissen müssen. Schon damals."

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    Ein Hauch der Morgensonne lag über den zum Innenhof gerichteten Dachschindeln. Es war frisch, um nicht zu sagen schneidend kalt. Dennoch lösten sich unter der warmen Berührung der Sonnenstrahlen winzige Perlen von der dünnen Schicht aus Rauhreif, die sich wie ein glitzerndes Kleid über das Hausdach ausgebreitet hatte. Als schillernde Tropfen rollten sie auf die Dachkante zu. Dort angekommen, blieben sie für einen Moment stehen, zögerten, schwangen sich doch noch beherzt über die Kante. Schneller werdend rutschten sie an den grauen Eiszapfen hinab, sprangen über deren Spitze und rissen winzige Löcher in die dünne Schneedecke des Hofes. Das leise Platschen der aufschlagenden Wassertropfen war die einzige Geräuschskulisse.
    Völlige Stille hatte sich über das Haus gelegt. Esthera war heute schon früh zur Quelle aufgebrochen. Eine innere Unruhe habe sie getrieben, hatte sie gemeint. An sich nichts außergewöhnliches, doch Frost hatte dennoch keine Ruhe mehr zum Schlafen gefunden. Sheyra machte ihm Sorgen. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, dass alles reibungslos lief. Ihre Reaktion war hart und direkt gewesen, hatte sich machtvoll wie ein Stoßspeer zwischen seine Rippen gebohrt. Er wusste nich, was er besser hätte machen können. Noch immer war sein Kopf leer von dem Gefühl der Ohnmacht, welches ihn seitdem plagte. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu fokussieren. Die Vergangenheit begann die Gegenwart zu verdrängen. Ständig hallte die Frage, wie die Situation aussähe, wenn er damals nicht auf seine verhängnisvolle Reise gegangen wäre, in seinem Kopf wider. Sie blockierte den Fluss seiner Gedanken, hinderte ihn am rationalen, gegenwartsorientierten Handeln. Sturm hatte damals recht gehabt. Es brachte nichts, der Vergangenheit nachzutrauern. Fehler wurden begangen und konnten nicht rückgängig gemacht werden. Wenn sich etwas ändern sollte, dann musste der Weg zu dieser Änderung in der Gegenwart frei geräumt werden. Dennoch war es einfacher, in der Vergangenheit zu wühlen...
    Mehr und mehr Sonnenstrahlen kletterten über den Giebel des Hauses. Warmer, oranger Lichtschein ergoss sich wie flüssiges Feuer über den großen, knorrigen Baum, der in einer Ecke des Hofes seine Äste in die Höhe reckte. Blattlos waren seine Äste, unter der schweren Last des Schnees nichts weiter als ein trauriger Schemen seiner eigentlichen Gestalt. Trotzdem war die Kraft, die dem jungen Baum innewohnte, deutlich zu spüren. Seine dicken, unnachgiebigen Wurzeln hielten ihn fest im Erdreich, trotz der auf ihn drückenden Kraft gaben seine Äste nicht das kleinste Stück nach. Im Frühling, wenn der größte Teil des Schnees geschmolzen war, würde er erneut seine gesamte Pracht entfalten. Abermals würden seine Blätter nach dem Sonnenlicht gieren, die jungen Knospen der farbenprächtigen Blüten ihre dünnen Hälse ins Freie recken. Als Frost seine Heimat verlassen hatte, war er noch ein kleiner Sprössling gewesen, der ihm gerade einmal bis zum Knie reichte. Inzwischen war allein der Stamm mindestens genauso breit wie er selbst und fast doppelt so hoch. Während der Waffenmeister in Khorinis um sein Überleben kämpfte, trotzte der Baum der Kälte des Nordens mit unermüdlicher Kraft. Bloß hatte der Baum nicht auf Estheras Pflege verzichten brauchen...
    Reglos stand Frost auf der anderen Seite des Innenhofes. Seine rechte Hand lag locker um den Griff des Eisbrechers. Die Linke hielt die Schwertscheide in Hüfthöhe, die Beine des Kriegers waren leicht gespreizt und sicherten seinen Halt im weichen Schnee. Fest, aber dennoch entspannt war sein Blick. Die Augen eines Mannes, der mit seinen eigenen Gedanken kämpfte, gleichzeitig jedoch die Ruhe seines Umfeldes aufnahm, um sie in eiserne Konzentration umzuwandeln. Brennend fraß sich eisige Luft in seine Lungen und ließ die Störenfriede in seinem Kopf erstarren. In einem Stoß weißen Dampfes entwich der Sauerstoff erneut in die Morgenröte. Ein leises Sirren erhob sich. Es war ein heller, klarer Ton wie von einer gefühlvoll gezupften Saite, der in der Luft schwang und bestätig lauter wurde. Licht brach sich auf Silber, ein kraftvoller Schwung befreite den Eisbrecher aus seiner ledernen Ummantelung. Der Singsang schwoll an, das Schwert leuchtete wie eine Säule gefangenen Lichtes in Frosts Hand. Sanft berührte sein Zeigefinger die Breitseite und ließ die Klinge verstummen.
    Träge hob sich das Schwert auf Kopfhöhe, schwang zischend herab, kreiste in einer engen Drehung um den Körper des Waffenmeisters und schoss in einem schnellen Stich nach vorne. Ein Ruck zog den Eisbrecher zurück, erneut durchschnitt er als silbriger Schemen die Luft. Schnee knirschte unter den schweren Lederstiefeln. Zuerst kehrte das Geräusch erst nach mehreren Sekunden wieder, doch je öfter und kraftvoller die Schwertstreiche kamen, desto unruhiger und gehetzter wurde der Takt.
    "Auch wenn du deine Zähne nicht mehr offen zeigst, so wirst du sie zur gegebenen Zeit doch wieder einsetzen." Noch einmal hörte Frost in Gedanken Estheras Worte. Es war schmerzhaft für ihn selbst einzugestehen, doch er wusste, dass sie recht hatte. Egal, ob er sich in die Ruhe des Familienlebens zurückzog oder nicht, er konnte seine Natur nicht einfach wie ein Stück Kleidung ablegen. Er hatte sein Wesen selbst dazu geschliffen, als er vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal zu einem Schwert gegriffen hatte. Doch er hatte die letzten Jahre genug gekämpft und die Hoffnung, endlich Ruhe zu finden blieb. Nach all der Zeit hatte er sie sich einfach verdient...
    Stahl scharrte über Stahl, in einem Ausfallschritt erblickte die dunkle Klinge der Flammenschneide das Licht des Tages. Sichelförmige Schnitte zerteilten in schneller Folge die Luft, als die Bewegungen Frosts weiter an Geschmeidigkeit zunahmen. Schnelle Schritte gaben den Rhythmus vor, der Eisbrecher die Richtung und die Flammenschneide tanzte mit chirurgischer Präzision nach. In immer kürzer werdenden Abständen schoss die Luft als neblige Wolke zwischen Frosts Lippen hervor. Der Takt der wirbelnden Klingen änderte sich, schon bald schwangen sie nicht mehr in gleichmäßiger Bewegung sondern entwickelten jeweils ein Eigenleben. Ein Netz aus reflektierten Lichtblitzen umgab den Krieger, glitzernd brachen sich die Strahlen erneut auf den mikroskopisch kleinen Eiskristallen. Ebenso abrupte wie geschmeidige Körperdrehungen, die blitzschnelle aber dennoch präzise Bewegung der Klingen sowie das sichere Auftreten der Stiefel ließen den Eindruck eines rasanten Tanzes entstehen. Ein Eindruck, der sich trotz oder gerade durch seine hypnotische Wirkung leicht zu einer tödlichen Fehleinschätzung wandeln konnte.
    Plötzlich explodierte der Schnee in einer Wolke aus glitzerndem Kristallstaub. Stoff flappte hörbar, als Frost einen Salto zur Seite schlug und gleichzeitig die Klingen fahren ließ. Knirschend stemmte sich sein Bein in den Schnee und riss eine fast ein Schritt lange Schneise in das Kristallmeer. Im selben Moment, in dem Frost selbst zur Ruhe kam, verharrten auch die beiden Schwerter bewegungslos. Abermals verließ ein tiefer Atemzug Frosts Lungen, seine Augenlider fielen wie Fallgatter herab. Erst nach mehreren Sekunden sog er erneut die kalte Luft in seine Lungen, genoss das Gefühl der Ruhe und den langsam abklingenden Adrenalinschub. Erstaunlich und gleichzeitig beunruhigend, wie schnell die bloße Handhabung seiner Schwerter seine Gedanken aufräumen konnte. Was andere in stiller Meditation erreichten, gaben ihm die Klingen durch die aufwühlende Erregung des Adrenalins.
    Ein betont langsames Klatschen zerriss die Stille. Frosts Augen öffneten sich, spähten an den Rändern seines Sichtfeldes nach dem Urheber des Geräuschs.
    "Bravo", erscholl es in seinem Rücken, "Wirklich beeindruckend."
    Der Waffenmeister drehte sich herum, um in die spöttisch funkelnden Augen seiner Tochter zu blicken. Leise sirrend glitten die Schwerter synchron in ihre Scheiden zurück. Konzentriert auf seine Übung hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn beobachtete. Seine Unaufmerksamkeit war ihm unangenehm, er suchte absichtlich die Stille der Einsamkeit zum trainieren. Der Gedanke, zur Unterhaltung anderer seinen Umgang mit den Klingen zu demonstrieren, gefiel ihm nicht.
    "Und dafür hast du sechzehn Jahre lang üben müssen?"

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    Der Spott in Sheyras Stimme schnitt tiefer, als es eine Klinge jemals vermochte. Warum hasste sie ihn so sehr? Warum wollte sie nicht verstehen, dass er seine Entscheidung selbst am allermeisten bereute?
    "Sheyra, du bist unverschämt", erwiderte er mit schwacher Stimme. Die Angesprochene zuckte nur mit den Schultern und trat aus dem Schatten des Daches hervor.
    "Immerhin sage ich offen was ich denke und verkrieche mich nicht hinter einer heuchlerischen Wand aus Schweigen."
    Innerlich den Kopf schüttelnd, wandte sich der Waffenmeister ab und löste die Schwertscheiden von seinem Gürtel.
    "Bist du nur gekommen um mich zu verspotten?", fragte er tonlos, während er die Flammenschneide auf einem kleinen Tisch ablegte.
    "Nein", antwortete Sheyra beim Näherkommen, "Eigentlich nicht."
    Frost bemerkte die unverhohlene Neugier, die mit ihrem Blick auf dem Eisbrecher in seiner Hand lag. Ein unangenehmes Gefühl presste seine Eingeweide zusammen.
    "Man erzählt sich, du seist einer der besten Schwertkämpfer Hammerfoldts gewesen", sprach Sheyra weiter, "Doch mittlerweile scheinst du etwas in die Jahre gekommen zu sein."
    "Du bist wirklich unverschämt", wiederholte Frost ernst. "Wenn du dich unbedingt streiten willst - bitte. Bloß erwarte nicht, dass ich auf deine Beleidigungen eingehe."
    "Dann zieh deine Waffe und beweise mir das Gegenteil", forderte sie kühn. In ihren Augen loderte der Funke der Kampflust vor kaltem Blau.
    "Ich muss niemandem etwas beweisen", war Frosts lustlose Antwort. Bei den Göttern, er konnte sich wahrlich schönere Dinge vorstellen, als sich mit seiner eigenen Tochter zu streiten.
    "Traust du dich nicht?", bohrte Sheyra nach, "Du hast doch nur Angst, gegen eine Frau zu verlieren!"
    "Wenn du meinst", seufzte Frost und wollte den Eisbrecher neben seine Schwesternklinge legen.
    Doch er führte die Bewegung nie zuende. Das leise Singen von geschliffenem Stahl berührte sein Ohr. Mehr aus einem Instinkt heraus ließ er sich zur Seite kippen, sein Stiefel schob sich durch den Schnee, Sheyras Stich wurde durch die emporschnellende Schwertscheide abgelenkt und perforierte lediglich leere Luft. Frosts Augenbrauen rückten näher zusammen.
    "Lass das", warnte er seine Tochter.
    "Zieh!", rief diese und sprang einen Schritt zurück, um erneut in Angriffsposition zu gehen. Frost schüttelte nur den Kopf über so viel Sturheit.
    "Ich sagte bereits, ich werde meine Klinge nicht mit dir kreuzen."
    "Dann tu ich es!"
    Ein Ausfallschritt und erneut zerschnitt Sheyras Klinge die Luft. Und wieder ging der Stich ins Leere, als Frost seinen Körper aus dem Gefahrenbereich drehte. Doch Sheyra ließ nicht locker. Gekonnt glich sie den Schwung aus, zog die Waffe in einem engen Bogen in die Höhe und stieß zornig die Luft aus, als sich der Eisbrecher in ihren Weg schob. Ohne nachzugeben setzte sie mit weiteren Hieben und Stichen nach, traf jedoch nichts außer körperloser Kälte oder die zur Parade erhobene Schwertscheide.
    "Meinst du nicht, dass es reicht?", fragte Frost betont gelangweilt.
    "Schwing keine Reden und zieh endlich!", fauchte Sheyra zwischen zwei Stichen.
    Ihr Rapier zischte knapp an seiner Schulter vorbei, bevor er die Waffe mit einem Schlag zur Seite prellte. Die dünne, aber dennoch scharf geschliffene Klinge Sheyras war für einen Fechtkampf gut geeignet. Das geringe Gewicht ließ schnelle und gezielte Attacken ohne allzu großen Kraftaufwand zu, allerdings wurde die Waffe durch ihre Elastizität und vergleichsweise filigrane Klingenform anfällig gegen harte Schläge stabilerer Schwerter. Sobald Frost die gefährlich scharfe Klinge des Eisbrechers aus seiner ledernen Schutzhülle befreite, lief er Gefahr Sheyra zu verletzen. Der Rapier würde ihm kaum Widerstand bieten und ihr wattierter Waffenrock bot seiner Tochter gegen den Ironiastahl den Schutz eines Laubblattes.
    "Das werde ich nicht tun", erwiderte er gelassen.
    "Dann beschwer dich auch nicht, wenn du verlierst!"
    Eine schnelle Folge aus Stichen und Hieben prasselte auf Frost nieder, klirrend und vibrierend wurde der Rapier durch Frosts Paraden zurückgeworfen.
    "Ich hoffe du hast nicht vor, mit einem Rapier in einen echten Kampf zu ziehen?"
    "Ich kann mich nicht erinnern, nach deiner Meinung gefragt zu haben!", gab Sheyra gereizt zurück.
    Ein erneuter Ausfall ließ Frost zurückweichen.
    "Du willst es also wirklich nicht lassen?", fragte er beim Abwehren eines Hiebs von der Seite.
    "Nicht, bevor du am Boden liegst!", knurrte Sheyra.
    "Na schön", seufzte Frost.
    Er wartete einen Augenblick, bis seine Gegnerin zu einem neuen Stich ansetzte, dann trat er unerwartet auf sie zu und schlug den Rapier mit einem abrupten Stoß des Eisbrechers zur Seite. Sein Fuß schob sich zwischen ihre Beine, hakte sich hinter ihr Standbein und riss es beim Zurückziehen mit. Ehe sich Sheyra versah, lag sie auf dem Rücken im Schnee.
    "Soviel zum Thema altwerden", meinte er trocken und bot seiner Tochter die Hand zum Aufstehen an.
    Die Verblüffung in Sheyras Gesicht wurde sogleich von einer neuen Welle von Zorn verschlungen. Finger krampften sich um den Griff des Rapiers, der vorschnellende Stiefel verfehlte ihren zurückweichenden Vater. Katzengleich rollte sie sich auf die Seite, drückte sich vom Boden hoch und wirbelte zu ihrem Gegner herum. Dieser griff jedoch keinesfalls an, sondern hielt die Schwertscheide weiterhin in der linken Hand und blickte ihr gelassen entgegen.
    "So leicht kommst du mir nicht davon", zischte Sheyra, stürmte nach vorne und kam ins Straucheln, als der Waffenmeister von einem Augenblick auf den nächsten neben ihr stand. Ein spielerischer Klaps mit dem Eisbrecher in die Kniekehle zwang seine Tochter vollends in die Knie.
    "Lass es besser bleiben", riet er ihr, "Du tust dir nur selbst weh."
    Ein zorniger Aufschrei begleitete ihren nächsten Angriff. Silberner Stahl blitzte im Licht und schoss als verschwommenes Zerrbild seiner Gestalt von der Seite auf Frost zu. Seine Hand zuckte bereits um dem Hieb mit der Schwertscheide abzufangen, da erkannte er die Finte. Ein Schlag mit der flachen Seite seines Schwertes gegen ihre Rippen kam Sheyra zuvor. Noch während sie rückwärts taumelte, setzte er mit einem weiteren, vorsichtig geführten Stoß gegen ihre andere Seite nach, zog den Eisbrecher dann nach links und ließ ihn gegen Sheyras Oberarm fahren. Ein unterdrückter Schmerzenslaut floh über ihre Lippen. Frost sah, wie sich ihre Kiefermuskeln verhärteten. Doch anstatt den Rapier fallen zu lassen, krallte sie sich mit ihrer Linken in den Waffenarm um die schlanke Klinge ruhig zu halten. Ein Versuch, der nur halbwegs gelang.
    "Bitte Sheyra, tu mir den Gefallen." Ein flehender Unterton schwang in Frosts Stimme mit. "Was bringt dir dein Stolz? Von ein paar blauen Flecken mal abgesehen."
    "Mal sehen, ob du immer noch so große Töne spuckst wenn ich mit dir fertig bin!"
    Schweigend standen sich die Kontrahenten gegenüber. Sheyras Schultern hoben sich unter ihrer schweren Atmung, das Haar hing wirr wie nasse Algen über ihr Gesicht. Und als Frost in ihr Gesicht blickte, sah er sich selbst. Wilde Entschlossenheit verlieh ihren Augen einen kalten, berechnenden Glanz. Heißer Zorn verschmolz mit unerbittlichem Stolz, formte ihr Antlitz zu einer undurchdringlichen Maske. Er sah sich selbst, seinen eigenen Schatten, der sich unter Sheyras zierliche Gestalt geschoben hatte. Sie würde nicht aufgeben. Ebenso, wie er damals vor mehr als zwanzig Jahren niemals aufgegeben hatte. Wahrscheinlich würde sie den Kampf fortführen, bis sie die Erschöpfung wie eiserne Ketten an den Boden fesselte.
    Innerlich verfluchte sich Frost selbst. Er hätte einfach gehen sollen, schon nach der ersten Parade. Warum er es nicht getan hatte, wussten wahrscheinlich nur die Götter. Vielleicht hatte Sheyra auch einfach recht und er musste sich ihr doch beweisen. Wer behauptete, Dämonen seien lediglich Geschöpfe Beliars? Nichts als ein weiterer Begriff für alptraumhafte Kreaturen. Das dämonische an sich versteckte sich im Menschen. Es war Sheyras, Frosts, ganz persönlicher Dämon, der sie nach jedem Sturz wieder auf die Beine zwang. Er war es, der sich solange an ihren Schmerzen, ihrer Verzweiflung und ihrer Wut weiden würde, bis sie entkräftet in den Schnee sank. Vielleicht war das auch die Erklärung, warum die Seele des Dämonenlords stets stärker als er selbst gewesen war. Sie war mehr ein Teil seiner Selbst, als er je erwartet hatte.
    "Deine Schwertführung ist gut, aber deine Beinarbeit lässt zu wünschen übrig", urteilte Frost als sich Sheyra näherte. "Zudem lässt du dich zu sehr von deinem Zorn leiten. Es ist ein leichtes, deine eigene Kraft gegen dich zu kehren. Verliere die Kontrolle über dich und du verlierst die Kontrolle über das Schwert."
    "Danke für die Lehrstunde...", spottete Sheyra.
    Die Spitze ihres Rapiers deutete wie eine Kompassnadel auf den Pol stets auf die Brust des Kriegers, während ihre Schritte eine Kreisbahn in den schneebedeckten Hof malten. Frost folgte ihr mit ruhigem, wachsamen Blick.
    "Versprichst du mir aufzuhören, wenn ich wirklich mit dir kämpfe?"
    Vor Überraschung ließ Sheyra ihre Waffe sinken.
    "Du willst dich wirklich herablassen, deine edle Klinge mit der einer solch niederen Kreatur wie mir zu kreuzen?"
    "Ja. Auch wenn mich dein Sarkasmus das Angebot schon wieder bereuen lässt." Er blickte seiner Tochter fest in die blauen Eiskristalle ihrer Augen, die durch ihren sonst sanften Glanz gar nicht zu denen einer Kämpferin passen wollten. "Sobald du mir dein ehrliches Versprechen gibst."
    "Einverstanden!", rief Sheyra triumphierend und hob ihre Klinge.
    Gemächlich trat Frost zurück an das Tischlein, auf das er bereits die Flammenschneide aufgebahrt hatte. Mit einem Ruck kam der Eisbrecher frei, seine schützende Hülle wurde behutsam auf dem Holztisch abgelegt. Die Schwertklinge glänzte bläulich im hellen Sonnenlicht, die gestaltgewordene Reflexion eines zu Eis erstarrten Flusses. Ein tiefer Atemzug, dann kreuzte er das Schwert mit dem Rapier seiner Tochter. Und wusste augenblicklich wieder, warum er sich bisher geweigert hatte, die Waffe zu ziehen. Auch Sheyra schien etwas zu schrumpfen, als sie das Schwert zum ersten Mal aus der Nähe sah. Neben dem Eisbrecher wirkte ihr Rapier ähnlich verloren wie ein Goblin neben einem Troll. Obwohl sie als Waffe der Eleganz entworfen worden war, verblasste Sheyras Waffe neben der ebenfalls schlanken, aber dennoch kraftvoll erscheinenden Klinge aus den Feuern Ironias.
    "Also gut", warf Frost in die plötzliche Stille hinein.
    Ein deutliches "Pling" blieb zwischen den Mauern des Innenhofes hängen, als der Eisbrecher kurz Sheyras Klinge mit der Breitseite liebkoste. Übermütig setzte Sheyra sogleich zum ersten Schlag an, wich jedoch ebenso schnell zurück, als Frost härter als erwartet parierte. Ein rasanter Schlagabtausch folgte. Die beiden Klingen klirrten aneinander, Funken liefen über den kalten Stahl während sich ihre Schneiden eng aneinander schmiegten, Schnee spritzte unter den Stiefeln der Kombattanten zur Seite. Längst war die einst undurchbrochene Schneedecke des Hofes aufgewühlt wie ein Schlachtfeld nach dem Aufeinandertreffen der Armeen. Die Linke still hinter dem Rücken, beschränkte sich Frost weiterhin hauptsächlich darauf, seine Deckung aufrecht zu erhalten. Diese Defensivhaltung schien Sheyra erneut zu reizen - Ihre Stiche und Hiebe wurden erneut von starker Hand geführt und prasselten mit der Wildheit einer tollwütigen Bestie auf seine Verteidigung. Ein Fehler, der sie schon in wenigen Sekunden den Sieg kosten konnte.
    "Du hältst dich immer noch zurück!", keuchte sie nach einer abgeblockten Attackeserie, "Kämpf endlich richtig!"
    "Du irrst dich - Ich warte nur", entgegnete ihr Vater ruhig.
    Zweimal stocherte die Spitze des Rapiers einer vorschnellenden Lanze gleich an seinem Körper vorbei. Ein weiterer Hieb wurde vom Eisbrecher abgefangen, doch dann machte Sheyra einen plötzlichen Ausfallschritt auf Frost zu. Im selben Moment stieß sie erneut zu. Adrenalin schwemmte jegliches Zeitgefühl mit der Macht einer Springflut davon. Blut rauschte in Frosts Ohren, er spürte kalten Schweiß seinen Arm herabrinnen. In Gedanken sah er bereits die dünne Klinge des Rapiers auf seine Brust zuschießen und einen millimetertiefen Schnitt in seinem Fleisch hinterlassen. Er wusste, dass er dem Stoß nicht mehr ausweichen konnte.
    Mit der Schnelligkeit eines Schattenläufers sprang seine Linke hinter seinem Rücken hervor, packte Sheyras Handgelenk und riss ihren Arm zur Seite. Gleichzeitig duckte er sich unter dem Rapier weg und an Sheyra vorbei. Urplötzlich wirbelte er auf dem Absatz herum, verdrehte im selben Augenblick Sheyras Arm auf ihren Rücken und schwang sein Bein in einem schwachen, aber schwungvollen Tritt in selbigen. Keuchend ließ seine Tochter ihre Waffe fallen und taumelte um ihr Gleichgewicht kämpfend nach vorne. Polternd fiel sie gegen den Holztisch am Rande des Hofes, hielt sich an ihm fest und blickte beim Umdrehen verblüfft auf die Schwertklinge, die wenige Zentimeter vor ihrem Hals schwebte.
    "Ich glaube, das reicht", beendete Frost das Duell.
    Auf einmal hatte Sheyra die Flammenschneide in der Hand, ein schauerliches Heulen hallte über den Hof, als die Klinge den Eisbrecher beiseite schmetterte. Bevor Frost reagieren konnte, fiel Sheyra auch schon auf die Knie, das Heft des Schwertes mit beiden Händen umklammernd.
    "Was ist das für eine Hexerei?", fluchte sie und zerrte mit aller Macht am Griff, ohne die Klinge mehr als einen knappen Fuß weit heben zu können. Es vergingen kaum zwei Sekunden, ehe sie vollends in den Schnee fiel.
    "Sheyra, lass los!"
    Erschrocken stürzte Frost zu seiner Tochter und versuchte mit sanftem Druck ihre Hände vom Schwertgriff zu lösen. Vergebens, ihre Finger schienen an Heft festgefroren zu sein.
    "Ich kann... nicht..."
    Ein feuriger Schimmer, wie eine Erinnerung an das Drachenfeuer in dem das Schwert geschmiedet worden war, leckte über die Schneide. Sheyras Augen weiteten sich vor Entsetzen, ihr Blick schien jedoch geradewegs durch Frost hindurch zu gehen.
    "Was ist das...?", flüsterte sie starr vor Schrecken, "Bei den Göttern, lass mich los!"
    "Sheyra!", mittlerweile versuchte er selbst verzweifelt, Sheyras Griff aufzubiegen, "Verdammt, was zum...?"
    "Nein, geh weg..." Ein Schaudern lief durch Sheyras Körper, ihre Hände waren kalt wie die einer Toten. "Fass mich nicht an!"
    Fluchend fing Frost seine Tochter mit einer Hand auf, als sie das Bewusstsein verlor und wie kraftlos wie eine Puppe zur Seite kippte. Seine Linke strich sanft über die Schneide der schwarzen Klinge. Ohne eine Regung zu zeigen, ertrug er den brennenden Schmerz als das Schwert in seinen Handballen schnitt. Dunkles Blut quoll aus der Wunde und lief als roter Strom an der Schneide entlang. Herabfallende Tropfen malten blutrote Flecken in den Schnee.
    Plötzlich erschlaffte Sheyras Griff, die Flammenschneide löste sich aus ihren Fingern und wurde von Frosts blitzschnell zugreifenden Hand aufgefangen. Behutsam ließ er seine Tochter zu Boden gleiten, stand ruckhaft auf und rammte das Schwert zurück in die schützende Scheide. Seine Miene war noch immer ausdruckslos, als er die beiden Waffen hastig an seinem Gürtel befestigte und dann erneut auf die Knie sank, um Sheyra vorsichtig hochzuheben.
    Verdammt, er hatte gewusst, dass irgendetwas schiefgehen würde. Hoffentlich kam Esthera bald zurück. Er musste dringend mit ihr reden...

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    Ruhig lag sie da. Reglos, die Augen geschlossen, die feinen Gesichtszüge entspannt, strahlte ihr Antlitz eine innere Ruhe aus, die sich in der Stille im Zimmer wiederzuspiegeln schien. Ihr Atem ging langsam und regelmäßig, nur schwach hob sich die dicke Decke, die ihren zierlichen Körper fast vollständig verschluckte. Wie ein kleines Kind im traumlosen Schlummer.
    Alles Eindrücke, die täuschten. Eine knappe Stunde zuvor hatte sich noch ein ganz anderes Bild geboten. Kaum fünf Schritte von ihrem Zimmer entfernt, hatte Sheyra plötzlich angefangen um sich zu schlagen als ob sie gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen würde. Es hatte Frost einige Mühe und beinahe ein blaues Auge gekostet, sie überhaupt bis zum Bett zu bringen. Schweißtropfen hatten auf ihrer Stirn geglänzt, schwere Krämpfe ihren Körper geschüttelt. Gut zwei Stunden hatte Frost stillschweigend an ihrer Seite gesessen, ihre wie im Fieber glühende Stirn mit einem nassen Tuch gekühlt und warmen Tee eingeflößt, als sie sich etwas beruhigt hatte. Zwei Stunden, die sich für Frost ins Unendliche zu dehnen schienen.
    Das Schlimmste war die Ungewissheit. Er wusste nicht genau, was passiert war, auch wenn er es sich vorstellen konnte. Die Flammenschneide war nach wie vor gefährlich, obwohl er selbst sie mittlerweile einigermaßen gezähmt hatte. Für Sheyra jedoch war der Angriff des Schwertes völlig überraschend gekommen. Frost bezweifelte, dass sie schon jemals mit etwas derartigem konfrontiert worden war. Dies war eine Macht, gegen die man mit dem bloßen Körper nicht bestehen konnte. Was auch immer Sheyra gesehen hatte, ihr junger Geist hatte ihm nichts engegensetzen können.
    So blieb dem Krieger nichts anderes übrig, als still neben seiner bewusstlosen Tochter zu sitzen und auszuharren. Immerhin hatte sich ihr Zustand mittlerweile stabilisiert. Die Sonne malte bereits ihr goldenes Signum auf den Holzboden unter dem Fenster. Von Esthera fehlte immer noch jegliche Spur und Rückmeldung. Als ob der Vorfall mit Sheyra nicht schlimm genug gewesen wäre...
    Wenn Esthera derart lange bei der Quelle blieb, musste etwas geschehen sein. Normalerweise war sie höchstens ein oder zwei Stunden fort. Oder sie gab Frost durch Zeyron wenigstens Bescheid. Verdammt sei dieser Tag, alles schien aus dem Ruder zu laufen. Seit wann war er unfähig, alleine Probleme zu regeln? Oder wollte er es nur einfach nicht? Sechzehn Jahre lang hatte er jegliche Entscheidung alleine treffen müssen. Nein, die Welt würde nicht leichter werden, nur weil er aus der Verdammnis zurückgekehrt war. Im Gegensatz zu dem, was er in den letzten Stunden durchgestanden hatte, kamen ihm seine bisherigen Abenteuer wie ein Spaziergang vor. In Khorinis hatte er nur auf sein eigenes Leben Acht geben müssen. Hier, zurück in der Rimmersmark, hatte er sich plötzlich um eine Familie zu kümmern. Und jetzt, da er schweigend in der Stille neben seiner Tochter saß, wurde ihm erstmalig bewusst, wie verwundbar er auf einmal geworden war.
    Nach einen Seufzer wanderte sein Blick nicht zum ersten Mal durch das Zimmer. Der Tag beugte sich weiter zu seinem Ende hin, ebenso wie sich das vom schwarzen Schatten des Fensterkreuzes geteilte Viereck aus Licht durch die tiefer sinkende Sonne zu strecken begann. Lautlos stand der Waffenmeister auf, wanderte sekundenlang ziellos durch den kleinen Raum, um überhaupt irgendetwas zu tun. Schließlich blieb er vor dem Stuhl stehen, auf dem die hell silber glänzenden Panzerteile von Sheyras Rüstung lagen. Seine Hand streckte sich dem geschliffenen Stahl entgegen, wollte zugreifen, zögerte, führte die Bewegung doch noch zuende und schloss sich um die sanft gewölbte Brustplatte. Metall klirrte, die Schulterpanzer rutschten auf den Stuhl. Reflexionen grellen Lichts bewegten sich langsam über den Harnisch, kletterten über die feinen Gravuren im sonst glatten Stahl, flohen dann hastig, als Frost den Panzer aus der Sonne drehte. Verloren in seinen Gedanken fuhr er die Verzierungen mit dem Finger ab, zeichnete langsam das stilisierte Bild der Quelle mit den beiden wachsam davorsitzenden Wölfen nach. Das Wappen Thjerenfeldts, noch jung und nur selten auf Schilden oder gar Bannern zu sehen. Seine Tochter schien es mit Stolz in den Kampf hinauszutragen. Sie erinnerte ihn immer mehr an sich selbst, wie er vor vielen Jahren gewesen war. Bloß war er damals auch stolz auf seinen Vater gewesen...
    Abschätzend wog er den Harnisch in seiner Hand. Das Metall war leicht und für eine Gefechtspanzerung recht dünn. Ein direkter Treffer einer schweren Waffe würde sie wahrscheinlich eindrücken wie bloßes Blech. Diese Rüstung würde bestenfalls vor Schrammen schützen oder einen verirrten Pfeil ablenken. Dem Waffenmeister wurde es kalt ums Herz, wenn er daran zurückdachte, was passiert wäre, wenn er bei dem Banditenüberfall nicht eingegriffen oder etwas länger gezögert hätte.
    Der Brustpanzer sank zurück zu den restlichen Rüstungsteilen, schwere Stiefel klangen dumpf auf dem Holzboden und bewegten sich zielstrebig auf den Holztisch in der Ecke zu. Ein Tintenfass stand reglos neben einer säuberlich abgewischten Schreibfeder, mehrere Blätter schichteten sich nahe der Tischkante zu einem kleinen Stapel. Daneben hatte sich ein schweres Buch in dickem Ledereinband verirrt. Ohne den Titel zu beachten, griff Frost danach, fuhr mit der Fingerspitze über die Seiten und fühlte den Stoff des Einmerkers. Sein Fingernagel spaltete das eng aneinandergepresste Papier, leise raschelnd zerfielen die Seiten in zwei ungleiche Hälften. In einer fließenden Bewegung strich Frost die aufgeschlagenen Seiten glatt, schob gleichzeitig mit dem Fuß den Schreibtischstuhl zurück und ließ sich auf selbigen nieder. Ein Bein gegen die Tischkante gestützt, bettete er das Buch in seinen Schoß und begann zu lesen.
    Entscheydend fuer den Sieg sey weyterhin der richtige Stand der Beyne. Das Duell erfordert eyne hohe Beweglichkeyt des Duellanten, demzufolge sey keynes der Beyne zu schwer belastet, um eynen schnellen Wechsel des Schrittes zu erlauben.
    Es folgten mehrere vereinfache Skizzen eines Kämpfers in verschiedenen Schrittstellungen sowie mit dem jeweiligen Schwerpunkt und Möglichkeiten, die Bewegung fortzusetzen. Dazu noch Beispiele, wie ein falsches Gleichgewicht das Ausweichen oder Angreifen behindern konnte. Ein Schmunzeln lockerte die Züge des Waffenmeisters. Er kannte das Buch.
    "Ueber den Zweykampfe - Von Turol Gotsteyn". Dazu brauchte er nicht einmal den Titel lesen. Offensichtlich hatte sich Sheyra an seiner Bibliothek bedient. Ein schwerer, erschöpfter Seufzer, dann das Rascheln des Betttuchs in der gegenüberliegenden Zimmerecke. Frosts Kopf ruckte herum.
    "V... Vater?...?", fragte Sheyras schwache Stimme in die Stille hinein.
    "Ja. Ich bin hier Sheyra", kam die leise Antwort.
    Frosts Erleichterung manifestierte sich in einem Seufzer, zwar lautlos, aber durch die lange Zeit des stillen Bangens ebenso erschöpft wie Sheyras. Erneut bewegte sich die Decke, die junge Frau stützte sich auf die Ellenbogen, rutschte ein Stück nach hinten und setzte sich dann vollends auf, den Rücken an die Holzwand gelehnt. Benommen blinzelnd hob sie die Hand, befühlte vorsichtig ihre Stirn. Dann blickte sie mit trüben Augen zu ihrem Vater.
    "Was... ist passiert?"
    "Du hast versucht die Flammenschneide zu führen. Dann wurdest du ohnmächtig."
    Sheyras Augen sagten ihm, dass sie nur die Hälfte von dem Gesprochenen verstand. Ihr Blick verharrte kurz auf dem Gesicht des Schwertmeisters, wanderte zu dem Buch auf seinem Schoß und weiter zu der Schwertscheide an seiner Seite. Der aus den unterschiedlichsten Elementen dieser Sphäre zusammengesetzte Griff mit den bedrohlich geschwungenen Parierstangen ragte aus der schützenden Hülle hervor.
    "Die... Flammenschneide?", brachte sie stockend hervor.
    Frost nickte, schon beinahe andächtig.
    "Mein zweites Schwert." Er schwieg für einen Moment. "Darf ich fragen, was du gesehen hast?"
    Seine Tochter ließ den Kopf nach hinten gegen die Wand sinken und schloss die Augen.
    "Ich... bin mir nicht mehr ganz sicher. Da war... etwas großes... ein Monster, ich glaube ein Drache." Frost nickte wieder. "Schmerzen... unsagbares Leid... Dann ein Schatten, körperlos und doch nicht zu übersehen. Er griff nach mir, packte mich mit unsichtbaren Klauen. Er zeigte mir Bilder, eine Vision und..." Ein Schaudern ließ ihren Körper erzittern. "... ich weiß es nicht mehr." Hilflos öffnete sie die Augen und blickte auf einen Punkt am Boden. Frost schwieg weiter. Die Kälte, die sein Herz mit einem Käfig aus Eis zu umspinnen begann, wollte nicht weichen, obwohl Sheyra nichts zu fehlen schien.
    "Du meinst... das war alles dieses Schwert?"
    "Ja", antwortete Frost. Das Buch klappte hörbar zu, als er es auf den Tisch legte und aufstand, um zum Fenster zu gehen. Draußen herrschte noch immer heller Sonnenschein. Ein unpassender Zeitpunkt für ein derart düsteres Kapitel seiner Vergangenheit. Andererseits... spielte dabei wirklich die Tageszeit eine Rolle? Oder suchte er nur schon wieder nach einer Ausflucht? Um sich selbst nicht die Möglichkeit zu geben, sich weiter vor einer Erklärung zu drücken, begann er mit ruhiger Stimme zu erzählen.

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    "Vor einigen Jahren tötete ich mithilfe einiger mutiger Gefährten einen Dämonenlord in der Minenkolonie von Khorinis. Kein leichter Kampf, viele wurden schwer verletzt, andere starben an den fürchterlichen Wunden, die ihnen der Dämon zugefügt hatte. Töricht wie ich war, ließ ich mir aus den Panzerplatten der Kreatur eine Rüstung fertigen ohne mir der Folgen bewusst zu sein. Selbst der tote Körper des Dämons war noch derart verdorben von seiner unheiligen Seele, dass ein Teil von ihr mit mir selbst verschmelzen konnte. Anfangs spürte ich nichts von der Gefahr. Doch der Dämon wartete geduldig ab und lauerte nur, bis ich ihm ein Zeichen der Schwäche zeigte. Monatelang nährte er sich an meinem Hass und dem Schmerz, den ich in unzähligen Kämpfen ertragen musste."
    Unbewusst war seine Hand zu jener Stelle an seiner Schulter geglitten, an der ihn der Speer des Dämonenlords vor vielen Jahren durchbohrt und wie einen Schmetterling aufgespießt hatte. Erst das reinigende Wasser der Quelle hatte die Wunde vollends verheilen lassen.
    "Schon bald war das Biest stark genug, um sich mit mir messen zu können. Unfähig, dem unbeugsamen Willen der Kreatur standzuhalten, begann ich langsam aber sicher die Kontrolle über meinen eigenen Körper zu verlieren. Die verbleibende Zeit zerrann zwischen meinen Fingern wie tauender Schnee. Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit, den bereits entschiedenen Kampf doch noch zu meinen Gunsten zu wenden - Und fand sie in Form uralter Schriften, die die Erschaffung beseelter Gegenstände beschrieben."
    Er unterbrach sich kurz, um eine Strähne seines silbergrauen Haares aus dem Gesicht zu streichen.
    "Eine lange Geschichte. Das Ende vom Lied ist, dass das Schwert im noch schlagenden Herzen eines sterbenden Drachen geschmiedet wurde. Gleichzeitig wurde der Geist des Dämons in der Klinge gebannt. Eine Lösung, die mich zwar vor dem sicheren Verderben rettete, allerdings nicht minder gefährlich war. Die Waffe besitzt ein Eigenleben, das selbst ich nicht vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich ehrlich bin, will ich das auch nicht."
    Er drehte sich zu Sheyra herum, die schweigend seiner Geschichte gelauscht hatte. Ein Lächeln flog über seine Züge, vertrieb den bitteren Glanz, der sich beim Sprechen in seine Augen geschlichen hatte. Er kam sich schon vor wie ein alter Märchenerzähler, der abends vor dem Kamin den Kindern seine Geschichten zum besten gab. Lange Sekunden blickt ihn Sheyra an, ohne Spott, ohne den Trotz, der ihm noch vor wenigen Stunden feurig entgegengesprüht hatte. Dies war wieder die Tochter, die er vor sechzehn Jahren im Arm gewiegt hatte, die Frau, in der die Zukunft seiner Familie lag. Die stolze Kriegerin von vorhin lag zusammen mit der Rüstung und ihrer Waffe auf dem Stuhl neben dem Bett. Sheyra, so wie sie sich jetzt zeigte, war eine wunderschöne junge Frau, eine zarte Knospe direkt vor ihrer Blütezeit. Die Welt begann gerade erst sich ihr zu öffnen und die Pfade der Zukunft lagen noch unbeschritten vor ihr. Warum musste sie sich schon jetzt ausgerechnet für den Weg des Schwertes entscheiden? Wer zwang sie zu dieser Entscheidung? War es sein Blut, dass durch ihre Adern strömte? Konnte sie durch ihre Abstammung nicht anders, als den verhassten Fußstapfen ihres Vaters zu folgen? War es wirklich ihr eigener Wille? Wollte sich dieses unschuldige Kind wirklich selbst in den Mantel des Schmerzes und des Leids hüllen? Der Ruf der Schlacht lockte mit dem Verlangen nach dem Sieg, dem Ruhm, den der Triumph über die gefallenen Feinde mit sich brachte. Niemand wollte sehen, dass der Schlüssel zu diesem Sieg aus dem Blut von Freunden wie Feinden gleichermaßen gegossen werden musste. Und selbst der erbitterste Gegner war letzten Endes nur ein Mensch wie jeder andere. Im Nachhinein wollte niemand zählen, wieviele Seelen vom Moloch des Krieges verschlungen, wieviele Familien auseinandergerissen, wieviele hoffnungsvolle Zukünfte schlagartig ausgelöscht worden waren. Er hatte es in den Orkkriegen gesehen, hatte es auf dem Glitzerkamm ebenso wie in Gorthar erlebt. Am Ende blieb nichts als die Asche und die Trauer für eine Gegenwart, die sich nicht mehr umkehren ließ.
    War dies wirklich ihr Wille?
    "Hast... Warst du die ganze Zeit über hier?"
    Die Frage stieß Frosts umhertreibende Gedanken aus ihrer Bahn, führte sein Bewusstsein sanft in die Realität zurück.
    "Ja", antwortete er zuerst noch leicht abwesend, dann hatte er seine Gedanken wieder unter Kontrolle. "Ja, das war ich. Aber ich hatte etwas zum Lesen." Seine Hand klopfte schwer auf den Einband des Buches. "Eine interessante Lektüre", seine Finger trommelten leise auf dem Leder, "Allerdings etwas praxisfremd. Der gute Gotsteyn hatte nie selbst eine echte Klinge in der Hand. In der Realität sieht alles wieder anders aus. Zudem gibt es auch noch einen deutlichen Unterschied zwischen einem echten Kampf und einem Duell. In einer Schlacht gibt niemand etwas auf Formalitäten oder Regeln, hauptsache der Gegner ist möglichst schnell tot. Es gibt kaum ein dreckigeres-"
    "Vater, bitte!", unterbrach ihn Sheyra. Frost sah auf.
    "Verzeih, ich wollte dich nicht mit den Weisheiten eines alten Mannes quälen." Jetzt klang er schon fast wie Sturm...
    Holz scharrte aneinander, als der Stuhl zurückgeschoben wurde und Frost aufstand.
    "Wie fühlst du dich?", fragte er schon allein, um auf ein anderes Thema umzulenken.
    "Noch etwas schwach und ausgelaugt, aber lange bleib ich garantiert nicht mehr liegen."
    Da war er wieder, der unbeugsame Wille, der keinerlei Widerspruch duldete. Eine Zeit lang spielte der Waffenmeister mit dem Gedanken, etwas zu erwidern. Doch die Entscheidung wurde ihm durch Schritte abgenommen, die sich rasch der Tür näherten. Frosts Laune schmolz um ein kleines Stück. Er war sich sicher, dass es nicht Esthera war. Zu schnell die Schrittfolge, zu schwer das Aufsetzen der Stiefelsohlen auf dem Holz und zu bestimmt die Laufrichtung. Elistin. Im nächsten Moment ging auch schon die Tür auf und Elistin stand in der Öffnung.
    "Frost?" Die Verwunderung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er die noch immer im Bett liegende Sheyra erblickte. "Was ist denn hier passiert?"
    "Wir hatten einen kleinen Übungskampf und Sheyra ist etwas erschöpft. Kein Grund zur Sorge", erklärte Frost seinem Freund und ließ wie in einer zufälligen Bewegung die notdürftig verbundene Hand hinter seinem Rücken verschwinden. Elistin hob wenig überzeugt die Brauen, bekam jedoch keine Gelegenheit zu einer Erwiderung, da Frost sogleich selbst fragte:
    "Wo hast du dich eigentlich so lange herumgetrieben? Hast du etwas von Esthera gehört?"
    Elistin hob unschuldig die Schultern.
    "Ich musste ein paar Sachen erledigen. Esthera müsste auch gleich kommen, sie hat mir etwas unter die Arme gegriffen."
    Unter die Arme gegriffen. Beinahe hätte Frost das unverhohlene Misstrauen durch seine aufgelegte Maske aus Gleichgültigkeit sickern lassen. Wobei griff Esthera Elistin unter die Arme? Hatte er etwas verpasst? Verheimlichten ihm die beiden etwas?
    "Darf ich fragen, wofür ihr beide so lange gebraucht habt?" Der Schwertmeister bemühte sich, die misstrauische Neugierde in seiner äußeren Ruhe zu ertränken. Er war sich nicht sicher, ob es ihm ganz gelang.
    "Das erfährst du noch bald genug", meinte Elistin mit seinem charakteristischen, verschmitzten Grinsen bei dem man nie genau wusste, ob er es aus purer Hinterlist oder Freundschaft zeigte. In diesem Moment war es genug, um in Frost einen kleinen Feuersturm zu entfachen. Was bei allen Göttern hatte Esthera vor ihm zu verheimlichen? Doch er riss sich zusammen. Er würde niemandem an die Gurgel springen, bevor er keine Details kannte. Und er wusste, was er tun würde. Die Lösung lag auf der Hand: Er ging einfach zu Esthera und fragte sie. Würde sie ihn jemals anlügen?
    "Ich geh dann besser mal zu Esthera und schau, ob ich ihr irgendwie helfen kann", entschuldigte er sich mit einer Beherrschung, die so manchen Schauspieler vor Neid in den Suizid getrieben hätte. "Ruh du dich noch etwas aus", verabschiedete er sich von Sheyra und verschwand schneller aus dem Zimmer, als ein Schattenläufer seine Beute erlegen konnte.
    Seine Gedanken kreisten immer nur um dasselbe Thema, während er schnellen Schrittes den Flur durchquerte. Was in aller Welt war hier los?

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    Gegen den Abend glühte Frost innerlich heiß genug, dass jeglicher Schnee um ihn herum augenblicklich in Dampf vergehen müsste. Sie hatte es ihm nicht gesagt. Obwohl, eigentlich hatte sie es ihm gesagt. Doch die Art, wie sie geantwortet hatte, implizierte gleichzeitig, dass es nur ein Teil der Wahrheit war. Genau das machte ihn ja verrückt. Wenn sie ihm wenigstens einfach sagen würde, dass es da außerhalb seines Wissens nichts gab. Er hatte kein Problem damit, ihr zu glauben. Aber sie machte ja keinen Hehl daraus.
    "Es ist nichts. Nichts, was du nicht ohnehin bald erfahren würdest", hatte sie gesagt und ihm ein Lächeln geschenkt, neben dem selbst der süßeste Honig noch bitter schmecken würde. Allein dieses Lächeln ließ seinen Zweifel zu purer Agonie werden, die sein Herz mit wild züngelnden Flammen einzuhüllen drohte. Hoffentlich verbrannte er sich nicht noch daran...
    Wahrscheinlich machte er sich einfach zuviele Gedanken. Selbst wenn Esthera etwas zu verbergen hatte, würde sie einen guten Grund haben. Vermutlich wurde er langsam paranoid. Kein Wunder, bei den Ereignissen, die sich in der Vergangenheit abgespielt hatten. Aber seine eigene Frau zu verdächtigen... nein, das war einfach absurd. Sie würde ihn niemals belügen. Zumindest redete er sich das ein.
    Wie um seine Gedanken zu bestätigen, fasste er Estheras Hand fester und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Der Schnee knirschte kaum hörbar unter ihren Füßen, Hand in Hand schritten sie den schmalen Weg von ihrem Haus in den eigentlichen Ort hinab. Sterne bedeckten das Firmament wie winzige, funkelnde Diamanten und strahlten ihren schwachen Glanz in die Schwärze der Polarnacht. Es war eine Nacht, wie sie es nur in der unwirtlichen Region der Rimmersmark sein konnte. Tiefer im Süden waren die Tage länger, der höhere Stand der Sonne warf in einer Sommernacht noch immer einen leichten Lichtschimmer in die Dunkelheit. Hier im Norden wirkte es auf Frost manchmal, als ob die Kälte gleichzeitig den Nachthimmel klar fegte und die Himmelsgestirne in ihrem Glanz schärfte. Groß und gelb prangte der Halbmond über Thjerenfeldt und verteilte seinen Schein millionenfach auf die mikroskopisch kleinen Eiskristalle.
    "Hast du ein bestimmtes Ziel?"
    Frost blickte an seine Seite zu der Frau, die er liebte. In ihren klaren, blauen Augen schwomm ein Bruchteil des Mondes.
    "Eigentlich nicht." Ein Lächeln strich zusammen mit ihrer Hand ein paar Strähnen aus ihrem schlanken Gesicht. "Ich will die Nacht genießen. So wie früher. Es sei denn, du hast etwas dagegen?"
    Wie selbstverständlich schüttelte Frost den Kopf. Er würde sich hüten, ihr zu widersprechen. So wie früher... Solange er Esthera an seiner Seite wusste, würde er wohl niemals Einspruch erheben. Sein Blick wanderte erneut zum Mond und ließ die kalte Nachtluft die beunruhigenden Gedanken von vorher aus seinem Kopf blasen.
    Für einen Moment gewann der Wind an Kraft, glitt lautlos über die sanft gewellte Landschaft, krallte sich auf den Hügelkuppen in den Schnee und nahm Wölkchen aus Schneekörnern mit sich. Er spürte Esthera frösteln und sich fester an ihn schmiegen. Sanft löste er seine Hand aus der ihren und legte seinen Arm um ihre Schulter, um sie mit seinem Mantel vor dem schneidenden Wind zu schützen.
    "Der Wind trägt schlechte Erinnerungen mit sich", sagte Esthera leise, als sie in enger Umarmung zwischen den Häusern hindurchschritten.
    Frost nickte stumm. Es war eine Nacht wie diese, in der Frost Esthera erzählt hatte, dass ihn eine Mission weit aus der Heimat fortführen würde. Am nächsten Tag war er abgereist. Und für die nächsten sechzehn Jahre aus der Geschichte Hammerfoldts verschwunden.
    "Es wird einige Zeit brauchen, um die Erinnerungen wieder reinzuwaschen."
    "Manchmal muss man auch bereit sein, die Vergangenheit loszulassen", meinte Frost und suchte den Mond zwischen den schwarz in die Nacht ragenden Hausgiebeln. Irgendwo in der Dunkelheit fiel eine Tür zu und schnelle Schritte entfernten sich knirschend.
    "So schwer es sein mag, man muss das Vergangene akzeptieren. Mir ist mittlerweile klar geworden, dass wir nicht einfach dort weitermachen können, wo wir vor meiner Abreise aufgehört hatten. Die Zeit ist wie ein ewiger Sturm, unaufhaltsam, zerstörerisch und zu unbändig, um sich von einem einzelnen Menschen aufhalten zu lassen. Passt man nicht auf, reißt sie einem die komplette Welt auseinander. Sich gegen sie zu stellen ist närrisch. Was sie einmal gepackt hat, gibt sie nicht wieder her. So obliegt es dem Einzelnen, weiterhin festzuhalten und sich dadurch den Launen des Sturms auszusetzen oder loszulassen, um nach neuem und sicheren Boden zu suchen."
    Esthera blickte auf. Ihre klaren Augen glänzten im schwachen Mondlicht.
    "Dann bleibst du also bei deinem Entschluss? Du willst keinen Anspruch auf das Kommando erheben?"
    Frost mied ihren Blick. Er wusste selbst nicht, warum er es tat. Für einen Moment schien sich ein glühender Dolch zwischen seine Rippen zu schieben. Vielleicht bedauerte er seinen Beschluss doch und wollte nicht, dass Esthera es bemerkte.
    "Ich weiß noch gut, wieviel dir an dem Rudel gelegen hat", fuhr Esthera fort, als Frost nicht antwortete, "Es kann dir nicht leicht fallen, Lorkar einfach klein beizugeben."
    Der Waffenmeister richtete seinen Blick wieder geradeaus. Dennoch schien es, als ob seine Augen beim Wegschauen ihren lebendigen Glanz verloren hätten.
    "Ich habe heute früh ein Schreiben des Herzogs beantwortet", sagte er tonlos, nur halb seiner eigenen Stimme folgend, "Es traf vor zwei Tagen hier ein. Herzog Wildorn der Zweite ließ mir ausrichten, dass er sich über die Rückkehr eines seiner erfahrensten Generäle freue und glücklich wäre, mich in meinem alten Amt willkommen heißen zu dürfen."
    Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Mundwinkel, als er schließlich doch in Estheras Gesicht sah.
    "Ich dankte ihm für die Anerkennung, entschuldigte mich jedoch gleichzeitig, da ich mich einer solchen Aufgabe nicht mehr gewachsen fühle. Damit ist es für mich gelaufen. Wenn man mal von etwas weiterem Briefverkehr absieht."
    Das Knirschen des Schnees war das einzige Geräusch, als sie weitergingen. Als sie den Dorfplatz erreicht hatte, blieb Esthera plötzlich stehen.
    "Nur wenige im Rudel wissen wirklich, was zwischen dir und Lorkar vorgefallen ist. Insgesamt vielleicht vier Leute. Doch solange du lebst, stellst du eine Gefahr für ihn dar. Meinst du, er wird uns in Ruhe lassen?"
    Frosts Hand strich sacht über Estheras Schulter, während er seine eigene Unsicherheit in einem aufmunternden Lächeln ertränkte.
    "Er täte zumindest gut daran. Was mich betrifft, so werde ich die Sache ruhen lassen. Auch wenn ich damit vielleicht vor meiner Verantwortung davonlaufe..."
    "Ich wünsche mir nur, endlich wieder in Frieden zu leben...", flüsterte Esthera.
    Ein schwaches Klopfen auf ihre Schulter. Frosts Wange berührte Estheras.
    "Das werden wir, Esthera, das werden wir. Ich verspreche es dir."
    Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und spürte ihr zartes, warmes Lächeln. Plötzlich löste sie sich aus seiner Umarmung und lächelte ihn schelmisch an.
    "Komm mit! Ich will dir etwas zeigen."

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    Sie fasste ihn erneut bei der Hand und zog ihn mit sanftem Nachdruck hinter sich her durch die schneebedeckten und schweigenden Straßen Thjerenfeldts. Als er fragte, was sie ihm zeigen wollte, drehte sie nur den Kopf, grinste verschwörerisch und legte den Finger auf die kirschfarbenen Lippen. Wieder war es die Unruhe, die durch Frosts Glieder fuhr, seine Fingerspitzen herab und seine Arme hinauflief, seine Schultern schwach und seine Gedanken ziellos machte. Er mochte diese Ungewissheit nicht, die einer unerwarteten Erfahrung folgte und die eben noch kontrollierbare Gegenwart in eine ungewisse Zukunft umschlagen ließ. Doch dann waren da Estheras Lächeln und der neckische Glanz in ihren Augen, die ihm sagten, dass er nichts zu befürchten hatte und so ließ er sich treiben, schaltete für den Moment einfach ab und folgte der sanften Hand seiner Geliebten.
    Sie passierten Erwulfs Bäckerei, tauchten in den Schatten einer Gasse und begleiteten ein Stück weit die leise vor sich hinplätschernde Khjer, bevor sie an der Schänke vorbeikamen. Obwohl die Nacht noch recht jung war, lagen die sonst hellgolden schimmernden Fenster dumpf und matt in der Dunkelheit. Kein Lachen, kein Grölen und kein Knallen der Metkrüge auf dem Thresen war zu hören. Ungewöhnlich, gerade an diesem Wochentag sorgte sonst zumindest Jergas aufgrund seines frühen Schichtwechsels für einen entsprechenden Geräuschpegel und drastisch steigende Einnahmen.
    Die Schänke blieb schon bald hinter ihnen zurück, ebenso wie die kleine Holzbrücke, die ihre altersschwachen Balken über die Khjer streckte und unter der Berührung ihrer Stiefel zu ächzen begann. Der Schnee hinter der Brücke war gröber als im Ort, hier auf dem Feld, wo er zu dieser Jahreszeit nur selten durch schwere Schritte zusammengepresst wurde. Dennoch konnte der Waffenmeister eine breite Schneise in der tiefen Schneedecke erkennen, in die das Mondlicht einen schwachen Schatten warf. Leichtfüßig sprang Esthera in diese Schneise und verlor dabei einen Großteil der Schneelast, die sich an ihre Beine gehängt hatte. Frost folgte ihrem Beispiel und trat neben sie.
    "Was wolltest du mir denn nun zeigen?"
    Esthera bohrte ihren Zeigefinger zwischen seine Rippen.
    "Sei doch nicht so ungeduldig", neckte sie ihn, "Wir sind ohnehin gleich da."
    Und schon hatte sie wieder seine Hand gefasst und führte ihn die Schneise entlang. Das weiße Schneekleid funkelte schwach im Mondlicht und breitete sich weit über die Hügel des kleinen Tales aus. Was suchte Esthera nur auf dem Feld? In fast einer Meile Entfernung standen die Bäume des Waldes wie eine undurchdringliche, schwarze Mauer und dazwischen gab es nur noch das unter den Schneemassen begrabene Feld, auf dem die Scheune des Bauern Elgor wie ein unförmiger Klotz stand. Doch genau dorthin führte nicht nur die Schneise, sondern auch Esthera den Krieger. Der Schnee vor den ausladenden Toren war von mindestens einem guten Dutzend Füße festgetrampelt worden. Frosts Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. Esthera öffnete die Seitentür und wartete, bis Frost herangetreten war, bevor sie ihn mit leichtem Nachdruck hineinschob.
    Noch bevor sich seine Augen an die ungewohnte Helligkeit im Scheuneninneren gewöhnt hatten, schallte ihm bereits ein vielstimmiges "Willkommen zurück, General!" entgegen.
    Beinahe wäre Frost vor Überraschung rückwärts aus der Scheune getaumelt. Die Scheune war keinesfalls leer. Vielmehr war ein Großteil der Einrichtung ausgeräumt worden, um einer ausladenden Tafel Platz zu machen, um die ein gutes Dutzend Gestalten standen. Fast das komplette alte Rudel hatte sich hier eingefunden. Die mächtige Silhouette Tarwulfs schien Koris’ deutlich kleinere Gestalt fast zu verschlucken, ein breites Grinsen lag auf den Zügen des hünenhaften Kriegers, seine linke Pranke auf den Schultern der Späherin. Offensichtlich hatte während seiner Abwesenheit einer der beiden doch noch genug Mut gefasst, um dem anderem seine Gefühle zu verstehen. Frost konnte sich noch an die heimlichen Wetten erinnern, die hinter Tarwulfs Rücken abgeschlossen worden waren...
    Ein Stück dahinter und halb in den Schatten zweier schwerer Kisten verborgen, lehnte Karaph und lächelte sein übliches, geheimnisvolles Lächeln, bei dem man sich nie sicher sein konnte, ob er nicht noch eigene Hintergedanken hegte. Seine dunklen Augen verliehen seinem unergründlichen Gemüt jedoch die nötige Ehrlichkeit. Karaph war eine mysteriöse Gestalt, die erst spät zu den Frostwölfen gestoßen war. Eines Nachts hatte es unerwartet an der Tür geklopft und der drahtig wirkende Mann mit der zutiefst schwarzen Hautfarbe hatte ihm seine Dienste angeboten. Er wusste bis heute nicht, was ihn zu diesem Entschluss bewegt hatte. Damals war er für Frost ein völlig Fremder gewesen und der Waffenmeister hatte nicht schlecht gestaunt, als der Südländer plötzlich an der Tür seines eigenen Hauses stand. Begründungen zu liefern, schien noch nie Karaphs Stärke gewesen zu sein. Er handelte je nachdem, wie es ihm sein eigener Wille vorschrieb und folgte seinen eigenen Prinzipien. Dennoch hatte er sich nicht nur als treuer Kampfgefährte erwiesen, sondern auch als äußerst verlässlicher Kämpfer, der Frosts Befehle stets augenblicklich und mit beängstigender Schnelligkeit ausgeführt hatte. Die eigentliche Motivation dieses Mannes war ebenso unergründlich wie die schwarzen Löcher seiner Pupillen und wahrscheinlich würde er Frost immer ein Mysterium bleiben. Trotzdem vertraute er ihm. Er wusste nicht genau warum, aber selbst nach Lorkars Verrat hatte er niemals auch nur eine Sekunde lang vermutet, dass Karaph mit zu den Verschwörern gehören könnte. Heuchlerei passte nicht zu seinem sonstigen Auftreten.
    Deutlich mehr im Vordergrund saß Corwen auf einem der Stühle. Die dreckigen Stiefel lässig auf den Tischrand gelegt und vorsichtig auf zwei Stuhlbeinen balancierend, zwinkerte er Frost fröhlich zu, während er ein kleines Metallkästchen unter den leicht krummen Tabakstengel in seinem Mundwinkel hielt. Irgendetwas schien jedoch nicht so zu funktionieren, wie er es sich vorgestellt hatte, denn so sehr er das Kästchen auch schüttelte, außer schnellen, kratzenden Geräuschen war kein Effekt zu sehen. An sich nichts außergewöhnliches - Der noch recht junge Schwertkämpfer hatte eine unerschöpfliche Phantasie, die sich in der Ungepflegtheit seiner Haare und seinem selten rasierten Kinn wiederzuspiegeln schien. Von Zeit zu Zeit nahm dann Corwens Basteldrang überhand und er versuchte seine "Geistesblitze", wie er sie zu nennen pflegte, in materielle Form zu pressen. Die Ergebnisse kamen in unterschiedlicher Genialität daher. So hatte er vor vielen Jahren stolz seine Kampfstiefel aus weißem Hurjokleder präsentiert, die durch den Einsatz irgendeiner Tinktur sämtlichen Schmutz und Dreck mit Ausnahme von Blut abgewiesen hatten. Das Ergebnis nach der nächsten Schlacht waren zwar blitzblanke, aber auch rote Lederstiefel gewesen. Wenig später hatte er sich für das deutlich unaufälligere Standardmodell entschieden.
    Den Arm locker auf die Lehne des nächsten Stuhls gelegt, stand Tjerik neben seinem Kampfgefährten und schüttelte den Kopf ob der verzweifelten Versuche Corwens, seiner Erfindung etwas mehr als ein schwächliches Kratzen zu entlocken. Ein seltsames Bild, befand sich doch die Lehne des Stuhls auf derselben Höhe wie Tjeriks Schultern. Der Armbruster war fast das exakte Gegenteil Tarwulfs. Er war ausnahmslos das kleinste Mitglied des Rudels, selbst die schmal gebaute Koris überragte ihn um mehr als einen Kopf. Wo Tarwulf mitten in die Gegnermassen zu pflügen pflegte, um seine überlegene Körperkraft voll ausspielen zu können, blieb Tjerik in der Ruhe der hinteren Reihen sitzen, um mit gezielten Schüssen aus seiner geliebten Armbrust seine Körner aus der Ernte zu picken. Der Scharfschütze wurde nie müde, am Abend vorm Lagerfeuer seine Geschichten zum Besten zu geben, bevorzugt dann, wenn neue Anwärter anwesend waren. Dabei achtete er stets darauf, zu betonen, dass schon sein Urgroßvater mit dieser einen Armbrust Hammerfoldt gegen die nach Süden vorrückenden Eisriesen verteidigt hatte. Dabei war Tjerik sonst eine eher ruhige Person. Eine lange Narbe spaltete sein rechtes Auge präzise in der Mitte, wie ein dünner Wurm, der unter seiner Haut schlummerte, zog sie sich an seinem Nasenflügel vorbei bis zu dem schmutzig rotbraunen Vollbart. Die mittlerweile zu einem schmalen Strich verblasste Erinnerung an eine Orkaxt, die ihn sein Augenlicht gekostet hatte. Dennoch trotzte das Auge der trüben Leere, dem leblosen Mitbringsel der Blindheit mit einem inneren, geradezu gespenstischen Feuer. Ein Geschenk der Quelle, die geführt von Estheras gefühlvollen Händen dem toten Organ neues, magisches Leben eingehaucht hatte. Doch die astrale Macht belebte sein Auge nicht nur, sondern veränderte es auch. Eine zweite Iris hatte sich herausgebildet, schloss die ursprüngliche mit einem Ring von infernaler, roter Farbe ein. Es war ein seltsamer, fremdartiger Anblick, da sich die beiden Ringe unabhängig voneinander bewegten und dem Auge ein eigenartiges Eigenleben verliehen. Die ohnehin beachtliche Treffsicherheit des Armbrusters schien durch die Verletzung sogar noch zugenommen zu haben - Selbst auf eine Entfernung von über einhundertfünfzig Schritt schoss er einem Ork auf Befehl das linke Ohrläppchen ab.
    Als nächster im Bunde stützte sich Elistin mit dem Ellenbogen auf der breiten Schulter Tjeriks ab. Er schien Frost stumm zuzugrinsen: "Warum denn so ungeduldig, jetzt hast du’s ja doch rausgefunden." Das war also der Grund für all die Geheimniskrämerei. Irgendwann musste ihm Frost freundschaftlich den Hals als Dank dafür umdrehen, dass er sich sonstwelche Gedanken gemacht hatte. Andererseits war er ihm unglaublich dankbar, seine alten Freunde wiedersehen zu können. Irgendwie musste er sich später bei ihm und Esthera dafür bedanken...
    Direkt neben Elistin stand Sheyra und gleich neben ihr ein recht jung wirkender Mann, den Frost nicht kannte. Er schätzte ihn in etwa auf Sheyras Alter, vielleicht auch ein paar Jahre älter. Das Gesicht rief eine schwache Erinnerung hervor, einen nicht zu erfassenden Namen, ein verwaschenes Bild, das wie ein Banner im starken Wind flatterte und nicht mehr greifbar war. Die hellen, grünen Augen sowie sein restliches Gesicht schienen der Welt gegenüber offen zu sein, seine Züge wirkten entspannt und gleichzeitig freundlich, als sich ihre Blicke trafen. Trotzdem raunte Frost eine innere Stimme zu, dass die Erinnerung nicht mit positiven Gedanken zusammenhing...
    In diesem Moment wanderte Frosts Blick weiter nach rechts. Für den Bruchteil einer Sekunde gefror sein Herz zu einem Klumpen aus purem Eis. Im nächsten Augenblick explodierte es in einer Woge flammenden Hasses, die wie flüssiges Magma durch seine Glieder fuhr und sein Denken zu einem Spielball seiner Gefühle werden ließ. Seine Lunge gab ein paar kurze, abgehackte Atemstöße von sich, seine Hand wollte sich zur Faust ballen, die nächste Klinge packen um die Scheune mit Blut rot zu färben. Die Augenlider zuckten, schlossen sich mit mechanischer Kälte zu schmalen Schlitzen. Er konnte deutlich spüren, wie ihm die Kontrolle über seinen Körper entglitt wie ein schmieriger, noch zappelnder Fisch den bloßen Händen. Es war keine Wut, kein Zorn mehr, der ihn zu verzehren drohte, sondern purer Hass, reingewaschen in den Abgründen seines eigenen Herzens. Er kam wie eine Springflut, traf sein Bewusstsein brutaler als die Faust eines Trolles im Todeskampf und zerfetzte all die Barrieren, die er in den letzten Jahren mühsam errichtet und für sicher erachtet hatte mit der Leichtigkeit mit der ein Drache zentimeterdicke Stahlpanzer zertrümmerte. Und er drohte alles zu vernichten, wofür er all die Zeit über gekämpft hatte. Jetzt, da er sich mit der Ursache all seines Leids urplötzlich konfrontiert sah, drohte seine Selbstbeherrschung in sich zusammenzufallen wie ein Kartenhaus im Herbststurm. Kalt brennend vor Mordlust fixierte der Wolf seinen größten Feind.
    Lorkar.

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    Es war die Probe aufs Exempel, die Feuertaufe ohne spürbaren Schmerz. Für die Dauer von Augenblicken verlor Frost den Kampf mit seinen Emotionen und gleichzeitig seine Maske. Die Zeit verwandelte sich in zähflüssigen Sirup, in dem die Umstehenden zur Regungslosigkeit erstarrten. Sein Blick hing wie festgefroren an den jadegrünen Augen seines Erzfeindes, musterte mit eisiger Berechnung die zu einem falschen oder hinterlistigen Lächeln gekrümmten Mundwinkel, schlich durch die säuberlich zurechtgestutzten Barthaare über seinen Hals nach unten, an der Hand vorbei bis zu dem Schwertgriff in Form eines fremdartigen Tierkopfes, von dem Lorkar einst behauptet hatte, es würde einen sogenannten Löwen, ein Tier aus dem tiefen Süden, darstellen.
    Knapp vier Schritt lagen zwischen Frost und Lorkar. In Gedanken rechnete Frost nach und kam zu dem Schluss, dass er vielleicht zwei Sekunden brauchen würde, um die Distanz zu überwinden, die Flammenschneide zu befreien und Lorkars Schädelinhalt über den Raum zu verteilen. Vorausgesetzt, Lorkar spielte nicht mit demselben Gedanken oder bereitete sich innerlich genau auf diesen Fall vor.
    Seine Vernunft rastete ein wie der Geißfuß einer gespannten Armbrust. Lorkar hier direkt und unvermittelt anzugreifen und zu töten, wäre nichts weiter als Mord. Er hatte keinerlei Beweismaterial gegen ihn in der Hand. Und er war sich sicher, dass dieser Bastard das ebenfalls wusste. Andererseits... die Worte Elistins hallten in seinem Gedächtnis wider. "Sechzehn Jahre lang lässt du nichts von dir hören. Kaum bist du weg, da ergreift dieser Bastard Lorkar das Kommando und fordert uns auf, erstmal abzuwarten. Wäre dieser Schweinehund nicht gewesen, wären Borin und ich dir sofort gefolgt!"
    Die Folgen dieser Möglichkeit drohte ihn zu erschlagen wie ein Backstein nach einem Sturz von zehn Schritt Höhe. Vielleicht wusste Lorkar auch gar nicht, dass Frost mittlerweile in Erfahrung gebracht hatte, dass er hinter dem Verrat steckte. Schlagartig wurde ihm klar, dass derjenige, der zuerst sein Wissen preisgab, sich gleichzeitig verwundbar machte. Halte deine Freunde nah, aber deine Feinde noch näher, rezitierte er in Gedanken eine alte Weisheit.
    Seine Gedanken schwirrten wie die Wolken vor einem Wärmegewitter durch seinen Kopf, während er um seine Selbstbeherrschung kämpfte. Sein Inneres verkrampfte sich, als ob er einen Schlag in die Magengrupe eingesteckt hätte. Seine Hand schien nur noch aus fragilem Glas zu bestehen, krampfhaft versuchte er sie zu entspannen, während seine Muskeln sie weiter dem Schwertgriff nähern wollten. Der Druck auf den Knochen wurde unerträglich, jeden Moment musste er gleich morschem Holz zerspringen. Seine Augenlider waren schwer wie zentimeterdicke Torflügel, mit der Entschlossenheit eines Verdurstenden wenige Schritt vor der rettenden Oase stemmte er sie nach oben, riss seine Erinnerung auf der Suche nach einem Entspannung versprechenden Gedanken auseinander, um seine Miene zu glätten. Estheras Hand glühte warm neben seiner eigenen, er spürte ihren Blick auf sich liegen. Der kühle Luftstrom der geradezu lächerlich langsam zufallenden Scheunentür durchströmte seine Lungen und seinen Geist gleichermaßen, das Feuer seines Hasses begann zu flackern.
    Plötzlich berührte ihn Esthera leicht an der Schulter. Die Berührung ließ seinen Zorn erstarren und zu kleinen Eissplittern zerfallen, die Anspannung fiel von ihm ab wie ein schmutziger Mantel. Seine Selbstbeherrschung lag wieder in greifbarer Nähe und Frost packte instinktiv zu. Ebenso schnell wie er seine Fassung verloren hatte, gewann er sie wieder zurück.
    "Komm schon, hat es dir völlig die Sprache verschlagen?", stubste ihn Esthera von der Seite an.
    Ohne Umschweife stieg der Waffenmeister auf das Spiel ein. In Gedanken hauchte er Esthera als Dank für ihre Unterstützung einen Kuss auf die Wange.
    "Ich... weiß gar nicht, was ich sagen soll", brachte er gespielt stockend hervor. Die erste Überraschung des unerwarteten Wiedersehens hatte er schon verarbeitet. Momentan machte er sich eher über die Folgen von Lorkars Erscheinen Gedanken.
    "Wie wär’s mit: "Danke", oder "Schön euch zu sehen"?", schlug Corwen vor.
    Silbergraue Haarsträhnen tanzten über seine Schultern, als Frost wie beim Erwachen aus einem bösen Traum langsam den Kopf schüttelte. Gewaltsam verbannte er seinen Hass Lorkar gegenüber in einen abgelegenen Winkel seines Denkens und begann während dem Antworten, Stein für Stein eine neue Barriere zu errichten.
    "Zuerst lockt mich Elistin mit zweideutigen Anspielungen auf eine falsche Fährte, dann hüllt sich Esthera auch noch in völlig untypische Geheimniskrämerei. Und jetzt springt mich unvermittelt die Vergangenheit an, als ob es niemals ein Dazwischen gegeben hätte..."
    "Also?", fragte Tarwulf erwartungsvoll.
    Ein Blick in die gesamte Runde, dann ein dankbares, ehrliches Lächeln, das nur in Frosts Kopf diese falsche Schlange Lorkar ausschloss.
    "Danke Freunde."
    "Na also!", rief Corwen und plötzlich war die Scheune von Bewegung erfüllt.
    Ehe er sich versah, hieb ihm auch schon Tarwulfs Pranke kräftig auf die Schulter, Koris drückte ihn kurz aber herzhaft an sich, Hände wurden geschüttelt und die Wiedersehensfreude flutete die Scheune wie greller Sonnenschein. Dann flog erneut die Tür auf und Borins brummige Stimme tönte in den Raum.
    "Ihr werdet doch nicht ohne mich angefangen haben?"
    "Wir sind doch nicht lebensmüde", lachte Elistin, während Frost und Borin einen kräftigen Händedruck austauschten.
    "Du gehörst also auch dazu", meinte Frost mit einem Augenzwinkern.
    "Was glaubst du, wer das ganze Essen rangeschafft hat?", fragte Borin mit gespielter Empörung und deutete auf die Tafel, auf der sich Fleischplatten, Metkrüge und Töpfe in der unterschiedlichsten Größen türmten.
    "Bei den Göttern, was hab ich euch vermisst." Der Waffenmeister drehte sich zu seinen Freunden herum und blickte unentschlossen zwischen ihnen umher.
    "Du denkst schon wieder nur an dich...", scherzte Lorkar und lachte laut. Der Großteil der Runde fiel mit ins Lachen ein, darunter auch Frost.
    "Tja, manche Dinge ändern sich wohl nie", sagte der Krieger.
    "Komm mir zu nahe und dein verräterisches Maul läuft künftig rückwärts", dachte er. Der Gedanke besserte seine Laune schlagartig und verlieh seinem Lachen einen guten Schub an Ehrlichkeit.
    "Manche Dinge sollen sich auch nie ändern!", donnerte Tarwulf und legte seinen mächtigen Arm um Koris’ Schulter.
    "Einspruch!", warf Corwen mit einem Augenzinkern zu der Späherin dazwischen und ließ seinen Daumen abermals über die Kante des unscheinbaren Metallkästchens streichen. Da schoss auf einmal eine kleine Stichflamme empor, die ihn erschrocken zurückspringen ließ, gleichzeitig jedoch auch das Ende seiner Zigarette in warme Glut verwandelte.
    "Na, na? Ich hab doch gesagt, es funktioniert!", sagte er mit seinem üblichen Selbstbewusstsein, erntete dafür allerdings nur spärlichen Applaus von Seiten Tjeriks. Und selbst dieser kam nur spöttelnd langsam daher.
    "Nach dem wievielten Mal?", wollte der junge, Frost unbekannte Mann wissen und hob zweifelnd die Augenbraue.
    Auf einmal machte Lorkar ein Gesicht, als ob ihm ein Eisriese versehentlich auf den Fuß gestiegen wäre.
    "Verzeih bitte meine Unhöflichkeit", meinte er mit um Vergebung bittenden Augen zu Frost, "Habe ich doch glatt vergessen, dir meine Begleiter vorzustellen."
    Der Waffenmeister war sich sicher, dass es ihm nicht im Geringsten leid tat. Dennoch machte er eine gute Miene zum bösen Spiel.
    "Das ist mein Sohn Terjan", er legte beide Hände auf die Schultern des jungen Mannes, der zuvor neben Sheyra gestanden hatte und sich nun leicht verbeugte, "Und das", er bewegte die Linke in Richtung der Scheunentür, in deren Schatten ein Mann stand, den Frost zuvor nicht bemerkt hatte, "Ist Shorun, ein enger Freund von mir."
    Terjan. Lorkars Sohn. Jetzt fiel es Frost wie Schuppen von den Augen. Natürlich, diese Augen...
    Genau wie Sheyra hatte er den Knaben zuletzt vor sechzehn Jahren gesehen und mittlerweile war aus ihm ein stattlicher Mann geworden, der mit dem einst schüchternen Fünfjährigen kaum noch etwas gemein zu haben schien.
    "Noch mehr Verräterblut", dachte sich Frost, während er Terjan kurz zunickte und seine Aufmerksamkeit dann dem anderem Mann zuwandte, der mittlerweile aus den Schatten nach vorne getreten war. Seine Körpergröße war beachtlich, er war sicherlich fast eine Handbreit größer als Frost, wenngleich immer noch ein gutes Stück kleiner als Tarwulf. Die Haut war bleich, gerade noch an der Grenze zwischen Weiß und vergilbtem Papier. Dafür spannten sich die Strukturen Dutzender Tätowierungen über seine Hände, seine Arme und sogar sein Gesicht wie ein dunkles Netz. Frost fiel es schwer, dem Verlauf von Linien und Mustern zu folgen, der sich an einem für ihn unergründbaren System orientierte und eine hypnotisierende Wirkung erzielte. Muster gleich stilisierten Flügeln überzogen seine Hände bis zu den Fingern, die hellen Augen mit den grauen Pupillen lagen in der schwarzen Umrandung der maskenähnlichen Tätowierung, die das komplette, glatzköpfige Gesicht mit einschloß, wie weiße, stumpf glänzende Perlen. Sie waren leblos wie die eines Blinden, strahlten jedoch gleichzeitig eine geradezu stechende Intelligenz aus, obwohl sie geradewegs durch den Waffenmeister hindurchzublicken schienen. Das gesamte Gesicht war starr, eine Totenmaske, das Antlitz eines Menschen dessen Muskeln schon vor Tagen erschlafft und verkümmert waren. Die Lippen waren schwarz und an den Mundwinkeln durch die dunkle Tinte zu nach unten deutenden Zacken verlängert worden. Als er sprach, schienen sie sich nur widerwillig und viel zu langsam zu bewegen - Ein Eindruck, der durch seine tiefe, monotone und fast gehauchte Stimme noch verstärkt wurde.
    "Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen, General."
    Der Krieger war sich nicht sicher, ob er das auch von sich behaupten konnte, ergriff aber trotzdem die ihm angebotene Hand. Es war wie ein Griff ins kalte Wasser. Shoruns Hand strahlte keinerlei Wärme aus sondern war so kühl, dass sie feucht wirkte. Und dieses Gefühl beschränkte sich nicht nur auf Frosts Haut, sondern schien bis in den Knochen zu reichen. Dennoch bemühte er sich, dem starren Blick des Glatzköpfigen standzuhalten und den Händedruck trotz der Abscheu zu erwidern.
    "Freut mich ebenfalls", log Frost. Dann drehte er sich erneut zu den anderen herum.
    "Wo wir gerade dabei sind - Wo sind Palessan und Ayrim?"
    Das nachfolgende Schweigen schrie ihm geradezu zu, dass etwas nicht stimmte. Ein klammes Gefühl presste seine Eingeweide zu einem engen Bündel zusammen. Er brauchte nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um die unter gesenkten Augenlidern ausgetauschten Blicke zu deuten.
    "Palessan ist tot", meldete sich nach schwer lastenden Sekunden Koris mit leiser Stimme. "Die Riesen haben ihn erwischt. Ziemlich genau vor einem Jahr." Sie senkte ihren Blick.
    Frost sog lautlos die Luft zwischen den Zähnen ein. Palessan - tot. Seltsam, er spürte nichts. Nichts, außer einer tief zwischen seinen Eingeweiden hängenden Leere. Die Vorstellung, dass Palessan nicht mehr sein sollte, war noch zu irreal. Das Gesicht des schmalbrüstigen Kriegers mit dem wilden, roten Haarzopf und dem verwegenen Lächeln war noch zu deutlich in seinem Gedächtnis. Palessan hatte es immer irgendwie geschafft, sich selbst aus den auswegslosesten Situationen herauszuwinden, sei es beim Glücksspiel oder damals beim Hinterhalt der Orks auf dem Glitzerkamm. Nichts hatte ihn umbringen können. Dennoch war er tot, zermalmt von einem der gnadenlosen Riesen des hohen Nordens. Es war so seltsam... unwirklich. Doch Frost wusste, dass der Schmerz irgendwann seinen Weg durch die Leere finden würde. Irgendwann, eines Tages würde er ihn treffen und sich schmerzvoller als ein Orkspeer zwischen seine Eingeweide bohren. So war es schon immer gewesen. Und solange das Schlachten weiterging, würde auch der Schmerz und Verlust geduldig warten.
    "Ayrim ist spurlos verschwunden", durchbrach Tarwulf das betretene Schweigen. "Ist schon ein paar Jahre her. Wir waren direkt an der Grenze, als er eines Morgens nicht mehr da war. Hat nur einen Zettel dagelassen. Meinte, wir sollten nicht nach ihm suchen, da er etwas zu erledigen hätte. Weit und breit keine Spur von ihm, nicht einmal Fußabdrücke. Frag mich wirklich, welcher Dämon den gepackt hat..."
    Wieder Stille. Blicke wechselten wie prall gefüllte Bierkrüge zwischen den Umstehenden, doch niemand wusste etwas zu sagen. Schließlich trat Tjerik nach vorne und stemmte die Fäuste in die Hüften.
    "Also, ich weiß nicht wie es euch geht, aber wollten wir nicht eigentlich feiern? Lasst uns hier nicht Trübsal über etwas blasen, das wir ohnehin nicht mehr ändern können sondern zechen, bis die Krüge brechen!"
    Und obwohl die gedrückte Stimmung anfangs bestehen blieb, löste sie sich spätestens nachdem Corwen und Tjerik ihre Krüge zum zweiten Mal geleert hatten. Während die kleine Gesellschaft die Essensbestände rapide dezimierte, wurden Geschichten zum Besten gegeben, noch mehr Krüge geleert und auch herzhaft gelacht. Dabei interessierte es letzten Endes reichlich wenig, ob Tarwulf in Wirklichkeit nur zwei oder doch fünf Eisriesen mit bloßen Händen niedergerungen oder Tjerik zwanzig Orks mit einem einzigen Magazin seiner Repetierarmbrust zu ihren Ahnen geschickt hatte. Mal davon abgesehen, dass das Magazin ohnehin nur zwölf Bolzen fasste, wenn sich Frost recht erinnerte. Doch solang der Met floss, war das alles nebensächlich. Und er floss reichlich - Dafür hatte Borin mit drei herangerollten Fässern gesorgt.
    Auch Frost musste ausgiebig von den vergangenen Jahren erzählen und er feuchtete seine Kehle von Zeit zu Zeit mit einem kräftigen Schluck aus seinem eigenem Krug an, um durch die vielen Worte nicht zu verdursten. Obwohl er einen guten Teil seiner Geschichte erst in diesen Momenten erfand, erschien sie ebenso flüssig wie der süß auf seinem Gaumen brennende Met. In seiner Erzählung existierten keine gefälschten Befehle, der wahre Grund für sein Exil lag im Orkkrieg. So war das Schiff, auf dem er gen Süden gereist war, kurz vor seiner Ankunft von einer Orkgaleere versenkt worden und er selbst hatte sich mit Mühe und Not bis zur rettenden Küste durchgeschlagen. In die Barriere war er gelangt, als er einen Attentäter verfolgte, der einen Paladin in Khorinis gemeuchelt hatte. Während er erzählte, beobachtete er Lorkar aus den Augenwinkeln mit der Aufmerksamkeit eines spähenden Falken. Lorkar wusste seine Maske ebenfalls meisterlich zu tragen, doch er glaubte zu erkennen, wie sich seine Kiefernmuskeln verhärteten, als er von seiner Ankunft auf der Insel berichtete. Elender Bastard. Je weniger er wusste, desto besser. Solang er nicht mit offenen Karten spielte, würde sich Frost hüten, dasselbe zu tun.
    Als Frost geendet hatte, ließ Tarwulf seine Pranke hart genug auf den Tisch knallen, dass einer der Metkrüge umkippte und der Rest seines Inhalts eine feuchte Pfütze auf dem Holz bildete.
    "Dann ist ja jetzt wieder alles wie früher! Lasst uns darauf anstoßen, den General wieder in unserer Mitte zu haben!"
    Doch Frost stand abermals auf und hob die Hand, um erneut Stille in den Raum einkehren zu lassen.
    "Nicht ganz. Lasst mich bitte noch etwas verkünden."
    Der Hüne blickte mit leichter Verwirrung zu Esthera, doch diese wich dem Blick aus. Elistin rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher. Zwischen Koris’ Augenbrauen war eine steile Falte entstanden. Selbst Corwen hatte den Versuch aufgegeben, sich eine neue Zigarette anzuzünden. Die Blicke der Runde lasteten schwer auf ihm, als sich Frost räusperte und den letzten Schluck aus seinem Krug herunterkippte.
    "Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich erinnere mich noch deutlich an die Anfangszeit des Rudels", begann er mit trockener Stimme. Ein zustimmendes Grunzen Tarwulfs folgte und Tjeriks Krug klackte hörbar auf dem Tisch. Frost fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sprach dann mit gefestigter Stimme weiter.
    "Auch wenn ich stets gewusst hatte, diesen Ausdruck von meinen Ohren fernzuhalten, waren wir nichts weiter als eine Bande von Söldnern - Die Rauhwölfe. Ein wilder Haufen von Einzelkämpfern, die mit den eingebildeten Innoslern nichts anzufangen wussten und die Grünpelze gleich noch viel weniger leiden konnten. Dennoch haben wir uns zu einer eingespielten Einheit zusammengerauft und nach ein paar Monaten genug Gemeinschaftsgefühl aufgebaut, um den Spelunken in Hammerfoldt für die Folgemonate ausreichend Gesprächsstoff zu liefern, um unseren Ruf zu festigen."
    "Das wohl!", rief Borin.
    "Die konnten sich gar nicht einigen, mit welchem der Dreien wir uns nun verbündet hatten", lachte Corwen.
    "Und unser Anführer war in Wirklichkeit ein Dämon in Menschengestalt", zwinkerte Koris Frost zu.
    "Als dann die Großoffensive der Orks begann, standen wir bereit, um ihre Angriffswellen an Hammerfoldts Mauern brechen zu lassen. Und als die Bastarde auf dem Rückzug waren, zerschlugen wir ihre versprengten Gruppen wie der Schnitter das Korn. Nach der Schlacht auf dem Glitzerkamm garantierte uns der Herzog seine Unterstützung. Genug, um einen weiteren Zug auszubilden und unsere Lücken zu füllen - Die Frostwölfe waren geboren."
    Erneut zustimmende Rufe. Lorkar hielt sich bedeckt.
    "Es war ein Triumph, der uns viel Blut und das Leben liebgewonnener Freunde gekostet hat. Sie haben uns den Sieg mit ihrem Leben erkauft und sie sind es, denen wir unseren jetzigen Ruhm zu verdanken haben. Unser Erfolg lag weder an meiner führenden Hand, noch an den Talenten jedes einzelnen. Wir waren siegreich, weil wir in jeder Situation, egal wie aussichtslos sie auch erscheinen mochte, zusammengehalten haben. Wir gaben unser Bestes, um die Anonymität des Soldatenseins aus unseren Reihen zu tilgen. Wir hielten zusammen wie die Wölfe im tiefsten Winter und dadurch zahlten wir für jedes Opfer einen hohen Preis. Doch am Ende haben wir überlebt und wenn ich mir heute diese Runde ansehe, darf ich wohl mit Recht behaupten, dass ihr stolz auf euch sein könnt. Ich bin es jedenfalls, nicht, weil ich das Rudel jahrelang geführt habe, sondern weil ich mit solch guten Freunden Seite an Seite kämpfen und euch auch sonst stets an meiner Seite wissen durfte."
    "Das will ich wohl meinen!", meldete sich Corwen, doch der Rest der Runde blieb stumm, als sie Frosts Blick bemerkte. Der Waffenmeister griff nach seinem Krug, bemerkte dass er leer war und schob ihn ein Stück von sich weg. Die Worte, die er für diesen Moment vorbereitet hatte, lagen schwer wie Blei auf seiner Zunge. Schwere Blöcke, die sich mit Gewalt weigerten, über seine Lippen zu schlüpfen. Er sah Esthera langsam nicken. Sheyra blickte ihn mit fragenden Augen an. Bisher hatte er nur Esthera davon erzählt. Elistin kannte bisher nur den Entschluss des ersten, gemeinsamen Abends, aber er schien es zu spüren. Frost schluckte noch einmal gezwungen, bevor er aufblickte und Kraft für die folgenden Sätze zu sammeln.
    "Vor wenigen Tagen sandte mir der Herzog einen Brief und bat mich erneut in seine und damit in die Dienste des Königs zu treten. Ich nahm mir einige Tage Zeit, mir meine Entscheidung zu überlegen."
    Er schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, trafen sie den Glanz Estheras’. Frosts Inneres schien durch einen versteckten Ausfluss komplett aus seinem Brustkorb verschwunden zu sein. Jedes Wort schmerzte wie ein Dolchstich.
    "Schließlich schrieb ich ihm zurück und antwortete, dass ich mich nach all den Jahren nicht länger in der Lage fühle, meine Familie so oft zurückzulassen, wie es mein Posten als General vorschreiben würde. Der Herzog bedauerte meine Entscheidung, akzeptierte sie jedoch."
    Eine längere Pause folgte. Die Blicke der Runde drohten ihn zu erdrücken.
    "Es tut mir leid, aber ich werde das Rudel nicht länger führen. Entschuldigt mich bitte."
    Auf einmal kam Frost die Scheune winzig wie eine Besenkammer vor. Die Last der gesprochenen Worte war überall im Raum zu spüren und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Während das Gemurmel seiner ehemaligen Kameraden lauter wurde, stieß er die Tür auf und trat hinaus in die Schwärze der Nacht.

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    Der Krieger fröstelte, als ihn die Polarnacht mit stummen Gruß willkommen hieß. Mittlerweile war ein leichter Wind aufgekommen, der Frost wie eine kalte Hand an der Wange berührte und staubige Wolken aus winzigen Eiskristallen von den Hügelkuppen blies. Er war sich nicht sicher, ob die Temperaturen wirklich gefallen waren, aber zumindest schien es ihm deutlich kühler als zuvor. Schaudernd zog er den Kragen enger ging halb um die Scheune herum, bis er den Rand des unförmigen Halbkreises erreicht hatte, in dem der Schnee von schweren Stiefeln nieder- und festgetrampelt worden war.
    Der Mond hatte mittlerweile den Höhepunkt seiner nächtlichen Reise erreicht und warf sein kaltes Licht auf die verschneite Landschaft, welche mit kristallenem Glitzern antwortete. Die Scheune verschluckte mit gnadenloser Kaltherzigkeit sämtliche Geräusche in ihrem Inneren und ließ Frost in völliger Stille zurück. Einzig der Wind flüsterte ihm leise zu, als die aufgewirbelten Schneekörner rieselnd zurück auf das weiße Bett fielen.
    "Manche Dinge ändern sich wohl nie..."
    Von wegen. Nichts war mehr so wie früher. Von allen Lügen, die er heute abend über seine Lippen gezwungen hatte, war das vielleicht die größte gewesen. Und die Veränderungen beschränkten sich nicht darauf, dass die Falten in den Gesichtern seiner alten Kameraden tiefer und ihre Züge ein Stück härter geworden waren. Das komplette Land gab vor, noch immer dasselbe zu sein, aber es fühlte sich anders an. Es war keine sichtbare Veränderung und dennoch war sie da, unsichtbar, verborgen unter der zentimeterdicken Schneeschicht auf seinen Feldern und versteckt hinter dem Lächeln seiner Bewohner.
    Vielleicht hatte er sich auch einfach selbst verändert.
    Lorkar. Frost hatte nicht damit gerechnet, seinen ehemaligen Kameraden so bald wiederzutreffen. Die Begegnung heute abend war unerwartet gekommen und er hatte sich nicht darauf vorbereiten können. Warum hatte ihn Esthera nicht wenigstens vorgewarnt? Um ein Haar hätte sich die kleine Wiedersehensfeier in ein Schlachtfest verwandelt. Sie musste einen guten Grund haben, ihm Lorkars Kommen verheimlicht zu haben. Er hatte ihr von Lorkars Verrat erzählt und sie war sich mit Sicherheit im Klaren darüber gewesen, welche Folgen ein erneutes Zusammentreffen der Erzfeinde mit sich bringen konnte. Warum also ein derartiges Risiko eingehen? Oder hatte sie andere, eigene Gründe?
    War wirklich so viel Zeit vergangen, dass er seine eigene Frau nicht mehr einschätzen konnte?
    Geistesabwesend strich sich der Krieger ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und vergrub die Hände in den Taschen seiner Robe. Zeiten änderten sich. Und so auch die Menschen.
    Ein Kopfschütteln trieb seine Gedanken zurück zu Lorkar. Was war nur geschehen, damals, vor sechzehn Jahren? Auch wenn er es geschafft hatte, einen Teil seines Netzes aus Lügen und Intrigen zu zerschneiden, so blieben ihm Lorkars eigentliche Motive weiterhin unbekannt. Er bezweifelte, dass Lorkars Handeln sich wirklich nur auf der Gier nach Macht begründete. Dafür kannte er ihn einfach zu lang. Verdammt, er kannte ihn seitdem sie damals die Hallen der Kriegerakademie hinter sich gelassen hatten!
    Was brachte einen Menschen dazu, derartig zu hassen? Was war der Auslöser für Lorkars Verrat gewesen? Sollte Lorkar all die Jahre, in denen sie gemeinsam Rücken an Rücken in unzähligen Schlachten gekämpft, am Abend vorm Lagerfeuer die Metkrüge aneinander geknallt und in den Prüfungen der Akademie sich die Lösungen zugeraunt hatten, nur darauf hingearbeitet haben, ihn eines Tages zu verraten? Nein, das war einfach zu unwahrscheinlich. Dennoch wollte sich der Leere in seinem Inneren nicht füllen lassen. Was war aus der einstigen Freundschaft, aus all dem Vertrauen geworden?
    Lorkar hatte ihn nicht töten wollen. Aus welchem Grund auch immer hatte er nicht Frosts Tod gewollt. In diesem Punkt hatte sich Kantar geirrt. Der Dämon hätte die Gelegenheit gehabt, doch irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Damals, wenige Tage vor seiner Inhaftierung in einem fernen, von den Göttern verlassenen Land...
    Nein, Lorkar hatte unzählige Male die Gelegenheit gehabt. Hätte er ihn wirklich töten wollen, hätte er nur eines Nachts in sein Zelt schleichen und ihm den Dolch ins Herz rammen brauchen. Es war unwahrscheinlich, dass er sein Vorhaben schon vor allzu langer Zeit geplant hatte. Irgendetwas, irgendeine Entscheidung Frosts musste der Auslöser gewesen sein. Das Desaster am Glitzerkamm? Damals waren viele ihrer Freunde und Kameraden ums Leben gekommen. Frost wusste, dass Lorkar mit Dashor eng befreundet gewesen war - genau wie er selbst. Doch dieser Grund würde sich wahrscheinlich im gesamten Rudel reflektieren. Es musste etwas anderes sein. Ein Stein, der weitaus weitere Kreise im See der Gefühle geschlagen hatte, als Frost bisher vermutete. Ein Mensch wurde nicht als Dämon geboren, das Leben machte ihn erst zu einem. Und der Gedanke, diesen Dämon eigenhändig erschaffen zu haben, gefiel Frost ganz und gar nicht.
    Frosts Nackenhaare stellten sich in der Gewissheit auf, dass er beobachtet wurde. Unmerklich senkte er die Schulter, unter dem weißen Stoff der Robe kontrahierten sich Muskelfasern zu festen Strängen, bereit, innerhalb weniger Sekundenbruchteile die Hand aus der Tasche und das Schwert aus der Scheide zu ziehen.
    "Gute Reaktion", hörte er einen tiefen Bass, "Aber deine Aufmerksamkeit lässt nach."
    "Karaph." Selbst bei genauem Hinsehen war der dunkle Schatten unter dem Scheunendach nahezu unsichtbar. Einen Moment lang ärgerte sich Frost im Stillen darüber, ihn nicht bemerkt zu haben. Er selbst hatte in Khorinis gelernt, wie er zwischen den Schatten wandeln konnte, um sich ungewollten Blicken zu verbergen. Doch gegen Karaph wirkte wahrscheinlich sogar noch ein Chamäleon wie ein greller Farbfleck. Solange er nicht gesehen werden wollte, wurde er es auch nicht.
    "Wie lange beobachtest du mich schon?"
    "Eine Weile", antwortete Karaph nichtssagend. Frost bemerkte das belustigte Aufblitzen in seinen dunklen Augen. "Wie ist der weitere Plan, General?"
    "Plan?", fragte der Waffenmeister verwirrt, bevor er verstand, worauf Karaph abzielte.
    "Es gibt keinen Plan", antwortete er kopfschüttelnd.
    Die Augenbraue des Schwarzen hob sich.
    "Du meinst es ernst?" Karaphs Stimme ließ nicht erkennen, wie er selbst über Frosts Entschluss dachte.
    "Ja", war Frosts leise Antwort, als er Karaph erneut den Rücken zuwendete und in den Himmel starrte. "Lorkar bloßzustellen ist mir zu gefährlich. Nicht nur, was mich selbst anbelangt, sondern vor allem für meine Familie. Ich weiß nicht, wie weit Lorkar gehen würde. Solange ich eine Familie zu beschützen habe, kann und werde ich nichts riskieren. Ich bin des Kämpfens müde, Karaph. Tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe."
    Stille. Für lange Minuten des Schweigens war Frost wieder allein mit der Kälte und dem Wind. Als er sich umwandte, hatte seine Miene wieder an Härte und seine Stimme an Kraft gewonnen.
    "Was weißt du über diesen Kerl... Shorun?"
    "Er ist ein Geist", antwortete Karaph mit seiner üblichen, völlig anteilslosen Stimme.
    "Ein Geist?", hakte Frost nach. Manchmal konnte es wirklich anstrengend sein, Karaph selbst die einfachsten Informationen zu entlocken. Dafür war er zuverlässig.
    "So hat ihn Lorkar selbst bezeichnet. Ein Mann, dessen Wille und Geist durch mentales Training so stark geworden ist, dass er ihn nach außen projizieren kann. Vielleicht sogar stark genug, um ihn in den Geist eines anderen zu projizieren und ihn vollständig zu vernichten."
    "Ein Psioniker?", fragte der Waffenmeister mit wachsender Besorgnis.
    Karaph nickte.
    "Einer, der die höchsten Kreise seiner Zunft gemeistert hat. Shorun ist mächtig. Ich stufe ihn als große Gefahr ein. Sei vorsichtig, wenn du ihm begegnest."
    Frost konnte nicht behaupten, dass ihm das Gehörte gefiel. Ein Psioniker als Lorkars Verbündeter. Die Baals der Sumpfbruderschaft in der Gefängniskolonie hatten über ähnliche Fähigkeiten verfügt. In diesem Moment verfluchte sich der Krieger dafür, sich nicht näher mit der Magie der Sumpfsekte auseinandergesetzt zu haben.
    "Wie kommt Lorkar an einen Geist?"
    "Ich bin mir nicht sicher", erwiderte Karaph. "Er stieß plötzlich und wohl auf Geheiß Lorkars zum Rudel. Keiner kennt ihn genauer. Ich vermute, dass der Orden dahinter steht."
    Der Orden der Sieben. Frosts Stimmung erreichte einen neuen Tiefpunkt. Der heilige Orden der Sieben hatte ihm schon in der Vergangenheit das Leben wo es nur ging erschwert. Er hatte keine Ahnung, inwiefern Lorkar mit den Fanatikern des Ordens in Kontakt stand, aber die bloße Gewissheit, dass der Orden seine Finger im Spiel hatte, warf einen weiten Schatten auf seine Rückkehr. Offensichtlich hatte er noch weitaus größere Probleme als Lorkar allein. Was auch immer den Orden dazu bewegt hatte, Lorkar Unterstützung zuzusichern, es verhieß nichts gutes. Als Frost noch das Rudel gefüht hatte, war die komplette Einheit beim Orden als Unruhestifter verschrien. Wenn er ausschloss, dass sich Karaph mit seiner Vermutung irrte, war hier etwas mächtig faul...
    In dieser Sekunde war ein Klacken, dann das langgezogene Quietschen der Scheunentür zu hören. Schnee knirschte leise unter Koris’ Stiefeln, als sie aus dem Schatten der Scheune trat, sich kurz in beide Richtungen umsah, Frost erblickte und auf ihn zukam.
    "Na, alles klar bei dir?", fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln.
    "Ja. Danke der Nachfrage", versicherte er. Besorgnis flackerte kurz in ihren Augen, wurde aber fast augenblicklich wieder verdrängt.
    "Ich bin wirklich froh, dass du wieder zurück bist. Es ist lange her und ich muss zugeben, dass ich die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben hatte. Umso besser, dich unversehrt zurück zu haben."
    "Nicht ganz so unversehrt, wie du glaubst...", dachte Frost düster. Er hatte nicht alles erzählt und nicht jede Wunde war ohne weiteres verheilt.
    "Geht’s dir wirklich gut?", fragte die Späherin noch einmal, "Du wirkst abwesend."
    "Die ganzen Erinnerungen schwappen auf einmal zurück", wich Frost mit einem Lächeln, das zwischen Freude und Trauer hing, aus. Sein Blick suchte kurz die Schatten an der Scheunenwand. Doch Karaph war verschwunden.
    "Wie ich sehe, geht es dir und Tarwulf auch gut?", versuchte er vom Thema abzulenken.
    "Hat etwas gedauert, aber ja", gab Koris mit einem verschmitzten Grinsen zurück. "Tarwulf ist deutlich ruhiger geworden. Ich glaub, er hat sich seitdem um einiges besser unter Kontrolle."
    "Unglaublich...", murmelte Frost noch immer leicht abwesend, "Wozu zwanzig Orks nicht in der Lage sind, schaffst du mit einem einzigen Augenaufschlag."
    "Ach, man muss den Stier nur richtig an den Hörnern packen", meinte Koris fröhlich und wippte leicht auf den Absätzen ihrer Stiefel.
    "Und du solltest nicht ständig deinen Gedanken nachhängen - Das steht dir nicht."
    Frost zuckte leicht zusammen, als Koris ihm unerwartet von der Seite in die Rippen boxte.
    "Warum will sich in letzter Zeit eigentlich jeder mit mir prügeln?", seufzte Frost, blockte einen weiteren Schlag ab und packte kurzerhand Koris’ Handgelenke, um sie festzuhalten. "Zuerst schlag ich mich sechzehn Jahre lang mit irgendwelchem Gesindel herum, dann muss ich mich auch noch mit meiner eigenen Tochter duellieren und jetzt auch noch du..."
    "Ach ja, Sheyra ist gerade vorhin gegangen. Terjan auch."
    Mit einer geschmeidigen Drehung befreite sie sich aus Frosts Griff.
    "Und wir sollten vielleicht auch langsam wieder reingehen. Die anderen warten schon. Außerdem ist es kalt."
    "Ja", murmelte Frost mit einem letzten Blick zum hoch über den Baumkronen thronenden Halbmond, "Da hast du wohl recht..."
    Und mit einmal spürte er wieder das unverdrängbare Verlangen nach Estheras Nähe.
    Geändert von Superluemmel (16.07.2004 um 04:47 Uhr)

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    Grelles Licht hüllte Frosts Bewusstsein in einen Zustand der Schwerelosigkeit. Er trieb durch einen Ozean aus kontrastlosem Weiß, eingelullt von der ohrenfüllenden Lautlosigkeit der vollkommenen Stille. Geblendet schloss er die Augen.
    Selbst die geschlossenen Lider konnten die unnatürliche Helligkeit nicht verbannen. Das zuerst flackernd weiße Negativbild vor seinen Augen wandelte sich nur langsam in einen verschwommenen, zwischen rot und blau pendelnden Fleck, dann in einen pulsierenden, schwarzen Umriss.
    Dann starb die Stille.
    Zuerst dachte Frost, es sei das Rauschen seines eigenen Blutflusses in seinen Ohren. Als er sich zu konzentrieren versuchte, konnte er jedoch feine Unterschiede in dem brausenden Strom des Blutes heraushören. Ein unverständliches, zart gehauchtes Wispern, das im Geräuschfluss auf und abtauchte wie eine junge Forelle.
    "... erin... di... zah...", raunte eine hohe, samtweiche Stimme, die fast vollständig vom Tosen seines eigenen Blutes unterging.
    Zaghaft, zuerst nur einen haarfeinen Spalt weit, dann millimeterweise weiter, öffnete der Krieger seine Augen. Die Umgebung hatte sich verändert. Die blendende Farblosigkeit war einem kristallblauem Schimmer gewichen, der von seltsam schlierigen Lichttentakeln wie in einem gigantischen, gleißenden Netz durchkreuzt wurde. Frost fühlte sich unweigerlich an Schaumkronen auf dem Meeresspiegel erinnert, in denen sich greller Lichtschein verfing.
    Dann platzte das merkwürdige Gebilde auseinander und Frost klatschte ins Wasser.
    Schäumend schlugen die Wellen über ihm zusammen und drückten ihn mit erbarmungsloser Gewalt tiefer in die wogende Dunkelheit. Schillernde Luftblasen stiegen in einer endlosen Kette der Wasseroberfläche entgegen, mit aller Kraft stemmte sich Frost gegen die flüssigen Hände, die ihn nach unten pressen wollten. Mit aalgleicher Schlängelbewegung und zusammengekniffenen Augen, versuchte er seine Augen vor dem aggressiven Salzwasser zu schützen und sich durch die unnachgiebige Strömung zu winden.
    Vergebens. Anstatt der kaleidoskopartigen Lichtbrechung auf der Oberfläche näherzukommen, hatte er das Gefühl rückwärts zu schwimmen. Völlig gleich, wie verbissen er um den Aufstieg kämpfte, die gestaltlosen Dämonen des Ozeans stießen ihn immer weiter in die Tiefe. Er spürte, wie der Druck auf seine Lunge wuchs als ob versuchen würde, einen Troll mit bloßen Händen davon abzuhalten, ihn in den Boden zu stampfen. Beobachtete mit stiller Angst, wie der Strom aus Luftblasen dünner und dünner wurde, der glitzernden Kette plötzlich Glieder fehlten, dann ganze Stücke. Trotz der Kälte, die ihn zu umschließen begann, explodierte seine Lunge in einem lodernden Inferno, als der Strom aus Luftblasen fast vollständig versiegte. Das Feuer schien sich auszuweiten, durch seine Adern seine Arme und Beine herabzulaufen und seine Kräfte mit rasender Geschwindigkeit dahinzuschmelzen. Eine krampfhafte Zuckung ließ ihn erschaudern, als seine Lunge das salzige Wasser einatmen wollte.
    Fetzen völliger Dunkelheit glitten an ihm vorbei, während der Lichtschimmer an der Oberfläche zu einem winzigen, funkelnden Diamanten in weiter Ferne verkommen war. Zwei neue, deutlich kleinere Bläschen glitten lautlos an Frosts Gesicht vorbei. Schweigend blickte er ihnen hinterher, wertvollen, nein, unbezahlbaren Perlen gasförmigen Lebens, die langsam dem Licht entgegenstiegen und aus seinem Sichtfeld verschwanden. Neue Krämpfe schüttelten seinen Körper. Salzwasser drang in seine Atemröhre und zwang ihn zum Husten. Qualvoll krümmte er sich in der düsteren Schwerelosigkeit des Meeres, versuchte verzweifelt, das Wasser aus seiner Kehle zu würgen und gleichzeitig seine Lunge zu beruhigen.
    Tief in seinem Inneren wusste er, dass er den Kampf schon lange verloren hatte.
    Neues Wasser erfüllte seine Atemwege, ein röchelndes Blubbern drang über seine Lippen, als seine Lunge vergeblich versuchte, der salzigen Flüssigkeit Sauerstoff zu entreißen. Und mit jeder Sekunde, in der sich sein Körper weiter gegen sein Schicksal aufbäumte, wusste er, dass die Dunkelheit endgültiger wurde.
    Längst hatte er den schwachen Lichtschimmer, seine Hoffnung, aus den Augen und die Kontrolle über seinen Körper verloren. Er war nur noch das letzte Überbleibsel eines sterbenden Körpers. Eine Existenz, die zwischen dem schwindenden Rest ihrer Menschlichkeit und dem ewigen Dunkel hin und her pendelte.
    "... erinner dich an den Preis...", wisperte ihm die körperlose Stimme, die aus dicht hintereinander ins Wasser plätschernde Tropfen zu bestehen schien, zu.
    "Wir warten...", rauschte es.


    Frost schreckte hoch, als ob ihm jemand vors Schienbein getreten hätte. Keuchend schnappte er nach Luft, schwindelte ob des plötzlichen Sauerstoffschocks und schloss stöhnend die Augen, als das gesamte Schlafzimmer wie ein Schiff auf hoher See zu schwanken begann.
    Ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen.
    Dennoch fühlte er sich wie gerädert. Jeder einzelne Muskel in seinen Armen schien in Flammen zu stehen und folgte nur widerwillig seinen Befehlen und sein Herz klopfte gegen seine Rippen, als ob er zwölf Stunden durchgelaufen wäre. Zudem fühlte sich sein Magen an, als ob er zwei Liter Wasser direkt hintereinander getrunken hätte.
    Es war nur ein Albtraum...
    Die Felldecke raschelte, als sich Esthera auf der anderen Bettseite herumwälzte. Frost spürte ihren Arm unter der Decke nach seiner Hand tasten.
    "Frost?", fragte sie schlaftrunken und richtete sich leicht auf.
    Der Waffenmeister starrte zur Wand, deren Konturen zu dieser späten Stunde vollständig von der Finsternis verschluckt wurden. In seinem Sichtfeld schienen die schwarzen Geister greller Lichtreflexe auf und ab zu springen.
    "Ich habe... schlecht geträumt", war seine stockende Antwort.
    "Leg dich wieder hin", sagte Esthera mit ihrer Ruhe versprechenden, sanften Stimme.
    Zögernd, als ob sich ein Teil seines Geistes erst vollständig vom Traum lösen musste, ließ er sich zurück ins Bett sinken. Esthera schmiegte sich warm an seine Schulter und den Hals. Ein leiser Seufzer entfloh aus Frosts Kehle in die Stille des Zimmers.
    "Ich dachte, ich würde ertrinken..."
    "Das dachte dein Körper auch", flüsterte Esthera und zog eine Hand unter der Decke hervor, um sie auf Frosts Stirn zu legen. Er schloss die Augen und fühlte, wie die Anspannung aus seinem Körper wich. Zeige- und Mittelfinger Estheras tasteten sich über seine Stirn, während der Daumen sacht über seine linke Schläfe strich.
    "Eine unbeglichene Schuld liegt auf dir", meinte sie schließlich. "Mehr kann ich nicht erkennen. Schlaf weiter. Die Zeichen werden mit der Zeit deutlicher werden oder ganz verschwinden. Kein Grund zur Sorge."
    Frost glaubte ihr. Esthera kannte sich in diesen Dingen sicherlich besser aus als er selbst. Und es war auch nicht das erste Mal, dass ihn Albträume heimgesucht hatten. Doch solange sie bei ihm war, würde er in Ruhe schlafen können...
    Während seine Gedanken sich in seiner eigenen Müdigkeit verloren, glitt seine Hand ohne sein Zutun zu dem Amulett, das ihm Sturm zum Abschied geschenkt hatte. Als seine Finger über das fein bearbeitete Metall fuhren, fühlte es sich nicht nur kalt, sondern auch feucht an. Und als Frost daraufhin mit einem der Finger seine Lippen berührte, schmeckte er Salz. Den charakteristischen, leichten Geschmack von Meerwasser.
    Doch bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, schwappte die Müdigkeit wie eine Welle über ihn hinweg und spülte sein Bewusstsein fort in einen traumlosen Schlaf...

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    Mit jedem weiteren Tag der verstrich, war deutlicher zu spüren, wie der Winter seinen eisigen Griff um das Land lockerte. Tag für Tag wurde die weiße Decke dünner, auch wenn man es zu Beginn kaum bemerkte und die Kälte weiterhin blieb. Nach wenigen Wochen waren jedoch die ersten Hügelkuppen erkennbar, die ihre durch das lange Begrabensein braun gewordenen Rücken durch die Schneedecke schoben. Schon bald würden sich die ersten, schwächlichen Halme mit eisernem Willen aus ihrem Schlaf recken und die Bauern sich darauf vorbereiten, dem Land in der kurzen Erntephase so viel Früchte wie möglich zu entreißen.
    Und mit dem weichenden Winter kehrte das Leben in Thjerenfeldts wenige Straßen zurück. Hatten sie sich zuvor noch in die Wärme der eigenen Stube gedrückt, so nutzten die Einwohner der Ortschaft nun die aus dem azurblauen Himmel herabstechenden Sonnenstrahlen aus, bis das Heulen der Rauhwölfe den Einbruch der Nacht verkündete. Bald würde auch wieder die Zeit der Ernte für die Quelle kommen...
    Die Menschen auf den Straßen begegneten Frost mit Achtung, sobald er an ihnen vorbeischritt. Wohin er blickte, wurden Köpfe anerkennend gesenkt oder ihm zugelächelt. Die Frostwölfe waren schon seit jeher eine Art beschützende Macht für Thjerenfeldts gewesen, doch nicht erst seit seinem Rücktritt fühlte er, dass er nicht mehr in diese Rolle passte. Schon bevor er den ersten Fuß zurück auf die heimatliche Erde setzte, hatte er gewusst, dass er einfach nicht mehr derselbe wie vor sechzehn Jahren war. Er hatte es selbst nicht ganz zugeben wollen, doch das Band zu der Heimat war durch das lange Exil dünn und ausgefranst geworden. Seine Familie war das Einzige, das die letzten Stränge zusammenhielt. Selbst die Gesellschaft seiner Freunde konnte ihm nicht das Gefühl der Heimat zurückgeben. Er hatte all die Zeit nichts mehr für die Menschen in dieser Gegend getan und sie waren ihm nichts schuldig. Warum respektierten sie ihn immer noch so sehr? Er war nie ein Held gewesen. In den Krieg gezogen war er, ja, hatte Männer und Frauen ebenso wie seine Feinde zur Schlachtbank geführt. Und wann immer die Frostwölfe siegreich aus der Schlacht zurückgekehrt waren, hatte er an ihrer Spitze gestanden und sich im Ruhm gesuhlt. Hatte er damals ein anderes Leben geführt? Oder war er wirklich zum Hoffnungsträger erhoben worden, ohne es selbst zu merken?
    Er wusste es nicht mehr.
    Falls er wirklich irgendwann einmal ein Held gewesen war, hatte er es jedenfalls verpasst. Eigentlich wollte er auch gar keiner sein. Helden hatten die Angewohnheit, frühzeitig zu sterben. Er wollte nur noch in Ruhe mit seiner Familie leben. Vielleicht dachte er auch einfach zu viel darüber nach.
    Doch da war noch etwas anderes. Seit dem Treffen mit Lorkar fühlte sich der Krieger verfolgt. Nicht, dass er fürchtete, jemand könnte in den Schatten der Gassenbiegung lauern und ihm den Dolch zwischen die Rippen rammen. Er war nicht paranoid, zumindest da war er sich recht sicher. Es war eher eine Ahnung, ein nicht weichendes Gefühl unter der Magengrube - Als ob sich dort ein winziger, aber langsam wachsender Eiskristall zu manifestieren begann. Irgendein nicht sterben wollender Geist der Vergangenheit, der Frosts Schatten lang und dunkel werden ließ.
    "Warum denn so bedrückt?"
    Frosts blickte auf und dann zur Seite in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Auf der Bank vor der Taverne saß ein Mann, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Beine locker überschlagen auf ein nahestehendes Fass gelegt. In seinem Schoß lagen mehrere Blätter Papier, ein Kohlestift wippte unruhig in seiner Hand.
    "Ich war etwas in Gedanken", meinte Frost mit einem schwachen Lächeln. "Verzeiht, kenne ich euch?"
    Er zweifelte daran, sein Gegenüber schon einmal gesehen zu haben. Wie zur Bestätigung schüttelte der Mann auch schon kurz darauf dünn lächelnd den Kopf.
    "Nein", sagte er, "Ich denke nicht. Ich habe euch zwar schon länger beobachtet, aber ich weiß nicht, ob ihr mich bemerkt habt."
    Kleine Falten zerfurchten Frosts Stirn, als er sein Gegenüber musterte. Dunkle Augen vom Blau des Eismeeres lagen im Schatten dichter Augenbrauen und wurden von den violettenen Ringansätzen des Schlafmangels nachgezeichnet. Das je nach Lichteinfall zwischen einem dunklen Blond und Braun liegende Haar fiel strähnig über das linke Auge und bis zu den Schultern. Ein dunkler Bart wuchs um den Mund herum bis zum Kinn, die Wangen waren jedoch mehr oder weniger sauber rasiert. Gekleidet war er in einen schwarzen Mantel, den er trotz der Kälte offen trug und gleichfarbige Hosen sowie einen Pullover mit hohem Kragen. Die Lederstiefel in passender Farbe und beachtlicher Größe ruhten auf dem Fass, wobei der obere leicht nickte. Seine Miene war entspannt und seltsam gefühllos, die Augen wirkten trotz ihres Glanzes kalt und das Lächeln war bei genauerem Hinsehen nach links hin dominant - Der andere Mundwinkel hatte sich nur leicht gekrümmt, jedoch nicht verlängert.
    "Ihr seid Frost, nicht wahr? Verzeiht, ich habe mich noch nicht vorgestellt." Der Kohlestift sprang in die freie Hand und er wischte sich die rechte kurz an der Hose ab, bevor er sie Frost hinstreckte, ohne dabei aufzustehen. "Win’Dar - Stets zu Diensten."
    Wieder dieses dünne Lächeln und ein feines Funkeln an Spott in seinen Augen.
    Der Waffenmeister trat unter das vorspringende Obergeschoss der Taverne und griff nach der ihm angebotenen Hand. Der Händedruck des Fremden war erstaunlich fest; obwohl seine Kleidung keine näheren Schlüsse zuließ, schien er eher dünn gebaut.
    "Womit verdiene ich die Ehre?", fragte Frost eher aus Höflichkeit, denn aus Interesse.
    "Och, man hört so einiges", gab Win’Dar schulterzuckend zurück, ohne sein Lächeln zu verlieren.
    "So?" Was man sich genau über ihn erzählte, wollte Frost im Moment gar nicht wirklich wissen. Es war ihm egal, solange er seine Ruhe hatte. "Ihr stammt nicht aus Thjerenfeldt, wenn mich nicht alles täuscht. Was treibt euch an einen derart abgelegenen Ort?"
    "Neugierde. Abenteuerlust. Schicksal. Die Suche nach Arbeit. Sucht euch etwas aus", antwortete Win’Dar gleichgültig. "Ich streife mehr oder weniger ziellos durch das Land. Momentan helf ich dem Bauern Elgor aus. Des weiteren verstehe ich mich etwas auf den Schwertkampf", seine Hand machte einen schwachen Wink in Richtung eines in Tuch gehüllten Gegenstands, der neben der Bank an der Wand lehnte, "Und manche Irrgeister behaupten vehement, ich besäße schriftstellerisches Talent."
    Der Kohlestift hatte auf geisterhafte Weise seinen Weg zurück in Win’Dars rechte Hand gefunden und lief nun in schneller Rotation über seine Finger ohne dabei zu ermüden oder zu zerbrechen. Wenn sein Geschick mit der Klinge mit seiner Fingerfertigkeit gleichkam, musste Frost einen Kämpfer mit beachtlichem Talent vor sich haben.
    "Und über was schreibt ihr?", griff der Krieger das Gespräch auf.
    "Och, dies und jenes, eigentlich alles, was mir gerade so durch den Kopf schwirrt. Nichts bestimmtes und meist eher wirres Zeug. Deswegen wunder ich mich ja, dass es den Leuten offenbar gefällt."
    Schon wieder dieses Grinsen und Funkeln in den Augen, das irgendwo zwischen der Ironie eines Spöttlers und der berechnenden Gerissenheit eines Kredithais lag. Vielleicht war es auch beides zugleich. Wahrscheinlich wusste Win’Dar nicht einmal selbst, was er jetzt wirklich war. Sein Lächeln, seine Art die Lippen zu bewegen, hatte etwas wölfisches an sich - Wie die Lefzen einer Bestie, bevor sie ihre Fänge entblößte.
    "Was habt ihr gerade geschrieben?", fragte Frost mit einem Blick auf das mit einigen Zeilen beschriebene Papier im Schoß seines Gegenübers.
    "Ein kleines Gedicht", antwortete Win’Dar mit erneutem Schulterzucken. "Wollt ihr es hören? Ist aber etwas abstrakt."
    Frost nickte trotzdem. Er wusste ohnehin nicht, wie er den Fremden einschätzen sollte. Vielleicht konnte ihm dabei ein kleiner Ausflug in seine Gedankenwelt helfen. Kurz darauf sprach Win’Dar mit seiner leicht brummigen Stimme:

    "Sind deine Augen klar genug
    Zu sehen und zu erkennen?
    Ist dein Verstand auch scharf genug
    Erkanntes zu verstehen?
    Wenn du auf deine Hände blickst
    Sind sie bereit zu urteilen?
    Und wenn du glaubst, dies zu bejahen
    Kannst du die Folgen tragen?
    Die Antwort ist zu schnell gefällt
    Um Wahrheit mitzutragen."


    Frosts Augenbrauen rutschten erstaunt nach oben. Er war sich nicht sicher, ob er nach Win’Dars literarischem Erguss schlauer oder noch verwirrter als zuvor war.
    "Ihr habt recht, klingt wirklich ungewöhnlich. Und lässt eine Menge Freiraum für Eigeninterpretationen. Vielleicht habt ihr mehr Talent, als ihr euch zugestehen wollt."
    Win’Dar schürzte nur die Lippen und schüttelte den Kopf.
    "Das wag ich zu bezweifeln. Ist mir aber auch egal. Hauptsache, ich hab dabei meinen Spaß. Und den hab ich."
    Dieses Mal war sein Grinsen eindeutig und zweiseitig spöttisch.
    "Nun, dann macht mal so weiter", meinte Frost aufmunternd, "Doch entschuldigt mich bitte, ich muss weiter, sonst wundert sich meine Frau noch, wo ich bleibe."
    "Och, lasst euch von mir nicht aufhalten. Ich bin mir sicher, dass wir uns noch öfters treffen werden."
    "Mag sein."
    Frost hob zum Abschied die Hand und setzte dann seinen Weg in Richtung seines Hauses fort. Er hatte keine Ahnung, was Win’Dar letztendlich von ihm gewollt oder ob das Gespräch einen tieferen Sinn gehabt hatte. Manchmal war es besser, sich über bestimmte Dinge nicht allzu viele Gedanken zu machen. Entweder, sie erklärten sich zu späterer Zeit von selbst oder sie wurden vergessen.
    Als er das letzte Haus vor dem längeren Weg bis zu seiner eigenen Türe passierte, weitete sich die Dunkelheit des Hausschattens unerwartet aus und formte sich zur drahtigen Gestalt Karaphs. Mit wenigen Schritten hatte der dunkelhäutige Krieger zum Waffenmeister aufgeschlossen und grüßte ihn mit knappen Kopfnicken.
    "Lorkar hat getobt", sagte er wie immer kurz angebunden.
    Einerseits entlockte diese Neuigkeit Frost ein schmales Lächeln, andererseits beunruhigte sie ihn. Wenn Lorkar wütend war, wurde er unberechenbar. Gleichzeitig bedeutete es, dass sein Hass auf Frost immer noch nicht erloschen war. Ein leiser Seufzer entrang sich seiner Kehle.
    "Erzähl mir mehr", forderte er seinen alten Freund auf.

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    Die Luft in der kleinen Kapelle war stickig und trocken durch den Staub der Jahrzehnte und als Frost nach langen Minuten wieder an die frische Waldluft hinaustrat, schwindelte ihm für einen Moment. Lange war er nicht mehr hier gewesen und daran war ausnahmsweise nicht nur seine lange Odyssee schuld. Auch schon zuvor hatte er nicht oft die letzte Ruhestätte seiner Eltern besucht. Nicht, weil er sie nicht achtete.
    Vielmehr mied er den kleinen Friedhof allein schon wegen seiner Atmosphäre. Hier war der Tod noch allgegenwärtiger als im sonstigen Leben. Zudem gedachte er seiner Eltern lieber durch die Erinnerung an sie. So, wie sie damals gelebt hatten. Nicht durch diese ausdruckslosen Sarkophage aus Stein. Und jedesmal, wenn er hierher kam, hatte er das Gefühl, dass diese Erinnerungen blasser und zunehmend vom steinernen Antlitz der beiden Ruhestätten verdrängt wurden. Deshalb hasste er den Friedhof.
    Zeyron hatte es sich auf Estheras Unterarm bequem gemacht, als Frost ins Zwielicht des Waldes heraustrat. Als er sich dem ungleichen Paar näherte, spürte er die Blicke von gleich vier Augen auf sich liegen. Für einen Moment schien ihm eine kalte Hand über den Rücken zu streichen. Das war einer dieser Momente, in dem ihm Esthera unheimlich erschien. Die stechend gelben Augen des Greifvogels und ihre eigenen, saphirblauen Augen wandten sich ihm im selben Moment zu, als ob es sich in Wirklichkeit um ein einziges Wesen handelte, das aus einer Laune der Götter heraus auf zwei verschiedene Körper verteilt worden war. Und in den wenigen Augenblicken, in denen sie sich zu dem Waffenmeister herumdrehte, lag in Estheras Augen ein ungewohnt kalter Glanz. Ein zweites Gesicht, ein Wesen, das irgendwo unter der harmlos wirkenden, zierlichen Gestalt der Druidin versteckt lag. Die Wildheit und animalische Natur, die sonst nur bei lauernden Raubtieren zu finden war.
    Doch als Frost neben sie in die offenstehende Gittertür trat, lächelte sie ihr melancholisches Lächeln.
    "Warum kommst du her, wenn du dir dabei nur selbst wehtust?"
    Frost hob nur die Schultern.
    "Ich war es schon lange nicht mehr. Du weißt ja, ich bin nicht gerne hier. Aber irgendwie bilde ich mir dennoch ein, es ihnen schuldig zu sein. Irgendwie seltsam, findest du nicht?"
    Einen Moment lang musste er über seinen eigenen Aberglauben grinsen.
    "Lorkar scheint über meine Rückkehr alles andere als erfreut zu sein", wechselte er schnell das Thema. "Karaph hat ein paar Gespräche zwischen ihm und Sifar "aufgeschnappt". Offenbar schmerzt ihm die Tatsache, mich zurück in der Rimmersmark zu sehen, mehr als ein Magengeschwür."
    Estheras Blick wanderte zu seiner Hüfte, während sie den Kopf des Falken streichelte.
    "Trägst du deshalb wieder deine Schwerter?"
    Ein Hauch von Trauer machte den sanften Klang ihrer Stimme schwer. Als er ihr vor jener verhängnisvollen Schiffsfahrt versprach, bald zurückzukehren, war es genauso gewesen. Er war sich mittlerweile sicher, dass sie schon damals wusste, wieviel Wahrheit in seinen Worten lag. Vielleicht hatte sie schon damals den schwarzen Schatten gesehen, der wie ein unheilvolles Schwert über seiner Reise gehangen hatte.
    Und er hatte Angst, dass es dieses Mal genauso sein könnte.
    "Vielleicht", gab er ertappt zurück. "In den vergangenen Jahren hab ich sie nur selten abgelegt. Mittlerweile fühle ich mich leer und nutzlos, wenn ich sie nicht an meiner Seite weiß. Es scheint mir fast, als ob sie nach mir rufen würden."
    Zeyron flog mit flappenden Schwingen auf das Dach der Kapelle, als sich Esthera das glatt schimmernde Haar zurückstrich.
    "Sie sind schon zu sehr ein Teil von dir geworden, als dass du dich noch von ihnen trennen könntest."
    Estheras Augen sprachen voll Sorge, obwohl ihre Stimme nur wenig von ihren Gefühlen verriet.
    "Doch das war auch schon der Fall, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Ich wusste, dass dein Weg unzertrennlich mit dem der Waffen verbunden sein würde. Dennoch schwor ich dir die Treue, weil ich spürte, dass du mit der Verantwortung, die dir durch deine Schwertkünste zuteilgeworden war, umgehen konntest. Und seit du zurückgekommen bist, sogar noch besser als zuvor."
    Frost lehnte sich neben sie an den Steinpfeiler des Friedhofzauns und ließ seinen Arm um ihre Hüfte gleiten.
    "Wenn dem so ist, dann hab ich das allein dir zu verdanken."
    Doch die Besorgnis wollte Esthera nicht loslassen.
    "Deshalb mache ich mir ja Sorgen", flüsterte sie. "Du ziehst viel Kraft aus dem Drang heraus, mich und Sheyra beschützen zu wollen. Doch was, wenn mir etwas zustoßen sollte? Dann wirst du dem Ruf der Flammenschneide erliegen und aus dem Beschützer wird ein Dämon werden."
    "Das wird niemals geschehen. Die Seele des Dämons in mir ist tot."
    Esthera schüttelte schwach den Kopf.
    "Nein. Das ist er nicht. Frost, dein Geschick im Kampf verleiht dir viel Macht, ebenso wie mir die Quelle als Hüterin einen Teil ihrer Macht gewährt. Wie du diese Macht einsetzt, bleibt dir überlassen. Mit ihr kannst du gleichermaßen zerstören wie auch beschützen. Im Moment stehst du zu letzterem, doch das kann sich jederzeit ändern. Lebe nicht im Irrglauben, dass du den Dämon in dir besiegt hast. Du kannst ihn nicht vollständig vertreiben. Als der Dämonenlord mit dir verschmolz, hätte er noch lange nicht die Kontrolle über dich erlangen können. Es gelang ihm nur, weil er diejenigen Gefühle verstärkt hat, die du jahrelang zurückgedrängt hast. Der eigentliche Dämon bist du selbst. Um dich vollständig von ihm zu befreien, müsstest du dich selbst töten. Deshalb fürchte ich, dass du zu deiner anderen Selbst zurückfinden könntest..."
    "Das werde ich nicht zulassen. Selbst Lorkar würde niemals so weit gehen, dass er seine Hand gegen dich oder Sheyra erheben würde. Sein Hass gilt lediglich mir. Zudem sind ihm die Hände gebunden - Sobald er einen Fehler macht, wird er selbst zum Ausgestoßenen."
    Was nicht zuletzt mit der Grund für Lorkars Ausraster gewesen war. Nein, solange Frost ihm nicht in die Hände spielte, würde er sich damit abfinden müssen, dass er ihn nicht mehr loswurde. Frost konnte damit leben. Lorkar würde es wohl auch müssen.
    Plötzlich stieß Zeyron einen hellen, schrillen Schrei aus und erhob sich anfangs noch schleppend, doch dann bald schneller werdend, in die Luft. Kurz darauf explodierte das Unterholz in einer Wolke aus aufstiebendem Schnee und abgebrochenen Ästen, als ein zum Leben erwachter Berg aus zotteligem Fell und Muskelmasse zwischen den Bäumen hervorbrach.
    "Ein Korakh!", stieß Esthera hervor, "Was ist..."
    Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken.
    "Irgendetwas hat ihn zur Raserei getrieben... Ich kann seinen Zorn spüren..."
    Schatten des Zorns wanderten über Frosts Gesicht, als er das urzeitliche Biest musterte, das auf die Hinterläufe aufgerichtet seine Wut in die Welt hinausbrüllte.
    "Bleib zurück, ich bring ihn schon wieder zur Ruhe", knurrte er und sprintete in Richtung der rasenden Bestie.
    Der Boden erzitterte unter den Hufen des Korakh, als dieser seinen mächtigen, von schwarzem Fell behaarten Körper zurück in den Schnee fallen ließ. Das Tier war fast einen halben Schritt größer als der Waffenmeister und der massige Leib vielfach kräftiger als ein ausgewachsener Stier. Die Beine der Kreatur wirkten aufgrund des langen Fells ungewöhnlich kurz, doch wusste Frost aus Erfahrung, dass sie das Biest weit genug beschleunigen konnten, damit es selbst einem Stadttor gefährlich werden konnte. Der Kopf des Korakh hing nur knapp einen Schritt über dem Boden, was dem Tier einen seltsam wirkenden Buckel verlieh. Neben der platten Stirn wuchsen vier lange und gebogene Hörner aus dem Schädel, die Lefzen hatten die scharfen Fänge des vorspringenden Unterkiefers freigelegt.
    Und der starre, gehetzt wirkende Blick der kupferbraunen Augen folgte dem Krieger mit loderndem Zorn, als Frost in einem weiten Bogen durch den Schnee rannte. Er hatte keine Ahnung, was ein Korakh so nah an einer Siedlung, geschweige denn so tief im Süden zu suchen hatte. Diese urzeitlichen Kreaturen mieden gewöhnlich die Nähe von Menschen, weshalb sie mit der zunehmenden Ausbreitung der Nordmänner immer weiter in das Gebiet der Eisriesen im Norden zurückgewichen waren.
    Leider schien sich der Gestalt gewordene Zorn der Natur von dieser Theorie nur wenig beeindrucken zu lassen. Stattdessen hinterließ sein Huf tiefe Scharten in Schnee und Erde, während erhitzte Luft aus den Nüstern fuhr und in Dampfwolken in die Kälte hinausstieg. Doch beließ es nicht lange dabei. Mit einer Schnelligkeit, die man einem solchen Ungetüm nicht zutrauen wollte, wuchtete er seinen schweren Körper nach vorne und preschte in einer Wolke aus aufspritzenden Schneekörnern auf den Waffenmeister zu.
    Frost überschlug in Gedanken seine Möglichkeiten. Wenn er einfach zur Seite auswich, bestand noch immer die Gefahr, dass ihn das Biest einfach niedertrampelte oder den Kopf schnell genug zur Seite warf, um ihn entweder aufzuspießen oder auf einen Schlag sämtliche Rippen zu brechen. Ähnliches stand ihm bevor, wenn er versuchte, einfach unter dem rasenden Urvieh hindurchzurutschen. Und sich dem Monstrum mit blankgezogenen Klingen entgegenzuwerfen kam ohnehin einem Sprung ins offene Grab gleich.
    Keine dieser Aussichten gefiel ihm sonderlich.
    Wie so oft, wenn er mit einer Situation kurzzeitig überfordert war, griff er also nach einer derjenigen Möglichkeiten, von denen ein Mensch mit Verstand normalerweise weiten Abstand nehmen würde - Er lief direkt auf die Bäume zu, zwischen denen der Korakh kurz zuvor hervorgeprescht war.
    Als das unheilverkündende Stampfen in seinem Rücken unheilvoll laut in seinen Ohren hallte, beschleunigte er noch einmal. Seine Stiefel aus der Bauchhaut eines Klippenwurms gruben sich in den Schnee und in das darunterliegende Eis, weigerten sich jedoch glücklicherweise mit unnachgiebiger Sturheit, wegzurutschen. Er konnte hören, wie das Eis unter den Hufen des Ungetüms splitterte und der gefrorene Boden zu Schlamm zerstampft wurde, während der rettende Baum nur widerwillig auf ihn zukommen wollte.
    Die letzten zwei Schritt überbrückte der Waffenmeister mit einem beherzten Sprung, zog gleichzeitig das linke Bein an und fing den Schwung mit dem anderem ab. Dicke Borke spritzte unter seinem Stiefel weg, als er sich kräftig nach oben wegdrückte und gleich darauf mit kleinen, schnellen Schritten ein Stück an der Fichte hinauflief. Er spürte den Zug der Schwerkraft seinem kurzen Aufstieg entgegenwirken, dankte im Stillen noch einmal dem alten Gorthaner, dem er sein Schuhwerk zu verdanken hatte.
    Dann stieß er sich mit aller Kraft ab.
    Die Welt vollführte einen abstrakt langsamen Überschlag vor seinen Augen, bevor eine Welle aus nass stinkendem, schwarzen Fell über den Punkt hereinbrandete, an dem er vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte. Holz splitterte und Schnee stürzte in Lawinen aus dem Baumwipfel herab, brüllend vor Schmerz und Wut setzte sich der Korakh kurz auf das Hinterteil.
    Das war, kurz bevor Frosts Schwerter ihren Weg in seine Hände und kurz darauf in das Rückenmark der Urzeitbestie fanden.
    Hart prallte der Krieger auf den Rücken des Ungetüms, stürzte nach vorne und vollführte dabei eine halbe Rolle über die Schulter, bevor sich die Klingen in einer Spur aus warmen Blut aus dem Rücken des Korakhs lösten und er ungebremst in den Schnee stürzte. Während sich hinter ihm das Ungeheuer noch einmal schnaubend aufbäumte, lief bereits Esthera auf ihn zu.
    "Ist dir was passiert?", fragte sie bestürzt, als sie neben ihm auf die Knie sank.
    "Sicher keine bleibenden Schäden", grinste der Krieger und schüttelte sich den Schnee aus Haar und Gesicht.
    Plötzlich stand Esthera auf, trat neben das sterbende Untier und legte ihm die Hand auf den stämmigen Nacken.
    "Ein Geist...", flüsterte sie mit geschlossenen Augen, "Er löst sich von ihm... und flieht!"
    Blitzschnell war Frost wieder auf den Füßen, die Schwerter blitzten in der kalten Sonne des Nordens.
    "Wohin?", presste er hastig hervor und wischte sich das Blut von der Lippe.
    "Zeyron, weis Frost den Weg!", antwortete Esthera.
    Und der Falke stieß einen kurzen Schrei aus und stürzte sich im Tiefflug zwischen die Baumwipfel.

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