In Khorinis konnte man im Winter nicht viel machen. Es war kalt, die Bürger der Stadt hatten Ausgangssperre, da es draußen zu gefährlich war und der Hafen war verlassen. Gedankenverloren saß Patricia am Kai und ließ ihre Beine herunterbaumeln. Sie sah in die Ferne. Erinnerte sich an das, was ihr geschehen war, als noch Sommer war. Es war ein wunderschönes Jahr gewesen, doch das Jahr war zu Ende gegangen. Im Frühling hatte alles begonnen.

Der Frühling dieses Jahres war ein besonderer Frühling gewesen. Es war Patricias fünfzehnter Frühling und sie genoss ihn ebenso, wie jeden anderen. Sie verließ oft mit ihrem Vater die Stadt, um Pflanzen zu sammeln. Ihr Vater war ein Alchimist, zwar manchmal etwas grimmig aber doch sehr freundlich. Sein Name war Constantino. Patricia rannte in der Gegend umher, pflückte wilde Blumen und sang und tanzte ausgelassen. Niemals war sie in Gefahr gewesen, niemals hatte sie um ihr Leben gebangt. Bis zu diesem Frühling.

Es war ein frischer Morgen, der Nebel hing noch in den Bergen und kaum ein Bürger war bisher aufgestanden. Patricia hatte mit ihrem Vater in der Frühe die schützenden Stadtmauern verlassen und sie waren tief in die Wälder eingedrungen. Ihr Vater hatte sie angewiesen, nicht die Wege zu verlassen, doch Patricia hörte selten auf ihren Vater. Sie tanzte ausgelassen durch den Wald, streichelte die Molerats und spielte mit den Scavengern. Ein seltsamer Zauber ging von ihr aus, der jedes Tier beruhigte und zu ihr hinzog. Selbst die Wölfe legten sich vor ihr nieder und ließen sich von ihr streicheln oder sie auf sich reiten. An diesem Tag hatte ein ganz besonders großer Wolf sie auf seinen Rücken gelassen und nun rannte er durch den Wald. Patricia rief mit glockenheller Stimme: "Lauf, mein Wölfchen, lauf! Geschwind wie der Wind! Lass uns auf den Winden reiten und die Vögel in ihrem Flug begleiten..." Patricia reimte gerne. Das war einer der Gründe, weshalb sie von allen Bewohnern von Khorinis gemocht wurde, sie war einfach immer fröhlich und freundlich. So saß sie also auf ihrem Wolf und der Wind fuhr ihr durch die Haare. Sie betrachtete die Bäume, die an ihr vorbeiflogen und die verduzt dreinblickenden Scavenger, die sich über den merkwürdigen Anblick zu wundern schienen. Es schien ihr, als würden sie mehrere Stunden, oder waren es Tage? dahinfliegen, eins mit dem Wind und ohne jegliche Bindung in vollkommener Freiheit. Doch plötzlich blieb der Wolf stehen. Er kauerte sich zusammen und Patricia stieg ab. "Was hast du mein Wölfchen?" Vor lauter Erstaunen vergaß sie sogar zu reimen. "Was ist mir los, was hast du denn bloß?" Der Wolf sah sie ängstlich an und verschwand sofort mit drei schnellen Sprüngen im Unterholz. Nun war Patricia alleine. Sie blickte sich um und erkannte, dass sie in der Nähe des Steinkreises angekommen war. Die Stimme ihres Vaters schoss ihr durch den Kopf: "Halte dich vom Steinkreis fern, wenn du nicht sterben willst!" Neugierig wie sie war, näherte sie sich trotz der Warnung ihres Vaters dem Steinkreis. Auf dem Altar in der Mitte des Kreises saß eine Gestalt, die Patricia den Rücken kehrte. Als Patricia sich näherte, stand die Kreatur auf und blickte in ihre Richtung. Als sie das das kleine Mädchen erblickte, brach sie in gewaltiges, trauriges Gebrüll aus.
Patricia erschrak fürchterlich ob des ohrenbetäubenden Lautes, doch sie näherte sich nichtsdestotrotz weiter dem Ungetüm. Das Wesen, ein gewaltiger Humanoid, der vollständig aus Stein zu bestehen schien, beäugte das kleine Mädchen erstaunt. Mit steinerner aber dennoch trauriger Stimme, sprach es: "Hast du keine Angst vor mir?" Patricia schluckte den gewaltigen Kloß in ihrem Hals hinunter und log: "Nein, ich fürchte dich nicht. Wer bist du?" Das Gesicht des Steinernen veränderte sich, fast schien es, als würde er die Augenbrauen hochziehen. "Ich bin ein Steinwächter. Ich wurde von der Gottheit Adanos auserkoren, diesen Steinkreis vor Schändern zu schützen. Doch sag mir... wer bist du, dass du so klein bist und doch keine Angst vor mir hast?"
Und Patricia antwortete: "Ich bin Patricia, die Wolfsreiterin. Ich fliege mit dem Wind und ich spreche mit den Tieren. Ich bin gekommen, um dich von deinem Leid zu erlösen." Der Steinwächter dachte eine Weile nach. "Du bist ein Mensch, nicht wahr? Alle Menschen, die ich bisher getroffen habe, wollten mich töten. Du bist wohl der einzige, der je mit mir gesprochen hat." Patricia schüttelte den Kopf. "Ich werde dich nicht töten. Komm mit mir nach Hause, in die große Stadt Khorinis. Dort werden wir dich anständig kleiden und dir eine Arbeit verschaffen."
Zunächst wollte der Steinwächter Patricia nicht folgen, doch schlussendlich konnte sie ihn überreden. Er führte sie aus dem Wald heraus und sie führte ihn in zur Stadt. Am Stadttor wurden sie von den Stadtwachen aufgehalten. Eine von ihnen zog ihr Schwert: "Lass das arme Mädchen frei, grausame Kreatur! Ich werde dich vernichten!" Doch Patricia schob das Schwert mit einer Hand hinunter. "Nein, er ist mein Freund. Er wird hierbleiben und ein angesehener Bürger der Stadt werden." Die Stadtwache lachte verächtlich. "Wie soll ein Monster denn das Bürgerrecht erhalten? Er ist ein Nichts!" Der Steinwächter schien nicht darauf zu reagieren, doch Patricia spürte, dass sein steinernes Herz weinte. Sie nahm ihn mit in das Haus ihres Vaters und erklärte ihm alles. Ihr Vater begegnete dem Steinwächter freundlich, doch er schlug vor, ihn außerhalb der Stadt in einer kleinen Höhle einzuquartieren. Der Steinwächter willigte ein und zog in die Höhle. Er brauchte nicht viel zum Leben. Abends stellte er sich in eine Ecke und versteinerte völlig. Man hörte ihn nicht einmal mehr atmen, wenn er schlief.

An den nächsten Tagen arbeitet der Steinwächter für die Stadt. Er erfüllte jede ihm gegebene Aufgabe zur höchsten Zufriedenheit und half den Bürger wo immer er konnte. Nach drei Tagen kaufte er bei der Schneiderin Isabell einen Anzug, den er von da an Tag und Nacht trug. Patricia half ihm, wo sie konnte. Sie suchte einen passenden Anzug für ihn aus, brachte ihm immer wieder Essen, auch wenn er es nicht brauchte und unterstützte ihn bei körperlichen Arbeiten durch freundliche Gespräche. Alle Bürger sprachen zwar freundlich aber dennoch kühl mit dem Steinwächter. Die einzigen, die ihn wirklich als lebendes Wesen respektierten, waren Patricia und ihr Vater. Nach drei Wochen hatte der Steinwächter sich als wichtiges Mitglied der Stadt verdient gemacht und war in die Lehre beim Schmied eingetreten. Er produzierte pro Tag mehr Schwerter, als ein Mensch in einer Woche herstellen konnte und transportierte diese ohne sich zu beschweren überall hin. Trotz seiner schweren Arbeiten hasste der Schmied ihn und so war er es auch, der den Komplott begann.

Eines Abends, der Steinwächter war nun schon fünf Monde in der Stadt, es war August, und hatte ein Haus im Oberen Viertel gekauft, versammelte sich eine große Gruppe an Bürgern in Coragons Taverne. Harad, der Schmied, stellte sich auf einen Tisch und verschaffte sich Gehör: "Ihr kennt sicher alle diese grausame Kreatur... diesen Steinwächter! Er stiehlt uns allen unsere Arbeit, er raubt unsere Kinder und frisst sie nachts. Er tut alles, was er nur kann, um unser Leben zu zerstören. Er ist eine Kreatur Beliars!" Mit solchen Lügen stachelte er zusammen mit seinen Mitverschwörern die ganze Stadt auf. Mehrere Wochen lang schenkten die Verschwörer dem Steinwächter nichts als Verachtung. Er verlor seine Arbeit beim Schmied, weil diesem die Schwerter angeblich nicht sauber genug waren. In Wirklichkeit war jedes seiner Schwerter perfekter als das beste Schwert, das der Schmied je hergestellt hatte. Aus seinem Haus wurde er herausgeschmissen, weil er zuviel Dreck machte und die Kinder Angst vor ihm hatten. In Wirklichkeit benutzte er sein Haus nur zum Schlafen und alle Kinder liebten ihn und er spielte jeden Tag nach der Arbeit mit ihnen. Die Bürger taten also alles, um sein Leben zur Hölle zu machen. Er zog wieder aus der Stadt heraus und hielt sich von den Bürgern fern. Selbst Constantino riet seiner Tochter nun ab, den Steinwächter zu besuchen, doch Patricia war das egal. Sie war nun den ganzen Tag bei dem einsamen Steinwächter und schlief sogar bei ihm. Wenn sie neben ihm lag, dann hörte man ihn sogar im Schlaf ganz leise atmen.


Doch der Sommer ging vorbei und der Herbst begann. Die Bürger hatten wenig zu Essen und beschuldigten wie immer den Steinwächter. In einer kalten und verregneten Herbstnacht kamen sie. Sie kamen zu hunderten mit Fackeln und Heugabeln bewaffnet und stürmten in die Höhle des Steinwächters. Er schlief nun im Liegen, immer neben Patricia und das war sein Verhängnis. Denn bevor er aufstehen konnte, hatten sie schon seine Beine gefesselt, was fast jede Wehr unmöglich machte. Es gelang ihm zwar einige Bürger zurückzuwerfen, doch es wurden immer mehr. Sie stürzten sich auf ihn und fesselten ihn. Sie nahmen ihn auf ihre Schultern und verließen mit ihm die düstere Höhle. Nur Constantino blieb zurück und nahm seine geliebte Tochter auf den Arm. Er trug sie zurück in ihr Bett und deckte sie gut zu. Dann setzte er sich neben das Bett und vergoss viele hundert Tränen. Als Patricia am Morgen aufwachte, sah sie ihre Vater neben sich weinen. "Vater, was ist mit euch? Warum weint ihr?", fragte sie ihn erstaunt. Constantino sag sie mit rot geweinten Augen an. "Sie haben ihn getötet. Er ist tot." Und auch Patricia begann zu weinen. Von diesem Tag an, verschloss die kleine Familie sich den anderen Bürgern gegenüber. Man begann auch über Constantino zu munkeln, dass er ein Totenbeschwörer sei und mit Beliar unter einer Decke stecke. Vor dem kleinen Mädchen hatte man inzwischen sowieso Angst. Ging sie auf den Markt, so wurde sie nicht mehr freundlich von allen begrüßt, sondern abfällig angestarrt. Selten sprach jemand mit ihr. Es war Herbst.


Nun war Winter. Das Meer vor Khorinis fror nicht zu. Doch ein Mensch konnte einfrieren. Das war mit Patricia geschehen. Erst im Nachhinein war ihr klar geworden, dass sie den Steinwächter geliebt hatte. Das war der Grund, wegen dem sie sprang. Um mit ihrem Geliebten im Tode vereint zu sein.

Sie wusste nicht, dass sie das Leben von zwei Wesen auslöschte. Und den einzigen Beweis der Menschlickeit ihres Geliebten.