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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Das Geschenk




    Die bunt zusammengenähte Stoffplane löste sich mit einem letzten Ruck von den Widrigkeiten, die sie unten festhalten wollten, erhob sich leicht wie eine Feder in die Lüfte und wurde langsam mit dem Wind davongetragen. Sie hatte nur sich selbst, als sie Kurs auf die kalte, weite Welt nahm. Sie segelte ins Ungewisse und ließ sich einfach treiben, störte sich nicht daran, wie ein ums andere Mal weiße Flocken ihren Bauch streiften und dabei nicht selten auf ihr liegen blieben, um sich schließlich als nasser Fleck mit ihr zu vereinigen.
    Ohne den Wind, der sie antrieb, war sie allerdings nicht in der Lage, den Zwängen der Erde zu entfliehen. So kam es, dass sie, mitten in ihrem Aufbruch zur Freiheit, unglücklicherweise erst in der Luft stehen blieb und dann in blindem Schweben wieder gen Boden glitt. Schlaff und müde schien sie sich damit abgefunden zu haben und ließ sich in eine angenehme Ruhe fallen – als sie plötzlich gepackt und unsanft aus der Bahn gerissen wurde.

    „Ach Scheiße, Mann!“
    Er hatte so hart nach der dünnen Stoffplane gegriffen, dass sie fast zerrissen wäre. An den Rändern war sie schon ziemlich zerlumpt, aber solange sie noch ein bisschen was aushielt, war sie gut genug für ihre Bestimmung.
    „Wenn ich dich nicht jetzt gerade brauchen würde, hätte ich dich schon längst im Ofen verheizt, du Mistding!“
    Anders sprach oft mit Gegenständen. Vor allem bei der Arbeit. Dabei war es vollkommen ohne Bedeutung, ob er alleine war oder nicht. Jetzt war allerdings niemand anderes in der Nähe, und die einzige Reaktion auf sein einsames Geschimpfe war ein schwaches Flattern der Plane. Es sah fast so aus, als wollte sie um Gnade flehen.
    So vorsichtig, wie es ihm möglich war – Anders war in solchen Momenten eher der Mann fürs Grobe, auch wenn er durchaus Geschick beweisen konnte – befestigte er das Stück Stoff wieder an seinem angestammten Platz. Diesmal schlug er ein paar Nägel mehr durch die Plane ins Vordach ein und spannte die Stoffhaut straffer nach unten, bevor er sie an den Haken im Kopfsteinpflaster festmachte. Wenn es jetzt nicht hielt, dann wusste er auch nicht mehr weiter. Der Wind drehte wieder und blies kräftig in die nun ziemlich angespannte Plane.
    „Du hältst jetzt gefälligst!“
    Seufzend blickte Anders in den grauweißen Himmel. Eine kleine Schneeflocke setzte sich auf seine Nase und schmolz dahin. Kopfschüttelnd sah er auf die Holzstücke und losen Scharniere auf der Arbeitsplatte vor sich. Bei so einem Wetter draußen zu arbeiten war blanker Irrsinn. Es schneite schon seit Tagen, es war kalt, nass und windig, und unter den Bedingungen sollte er tatsächlich im Freien hölzerne Truhen, Tische, Schränke, Holzschwerter, Schaukelpferdchen und andere Spielsachen zusammenzimmern? Mehr schlecht als recht hatte er den Vorplatz des Tischlerhauses von einer Seite mit der Stoffplane vor der Witterung zu schützen versucht. Weniger weil es ihm persönlich etwas ausmachte, nass zu werden oder in der Kälte zu arbeiten – als gebürtiger Nordmann war er da abgehärtet – sondern vielmehr aus Sorge um das empfindliche Holz, was dazu neigte sich sehr leicht zu verziehen. Dann war eine Truhe nämlich nur noch als Brennholz zu gebrauchen. Genau das hätte Anders jetzt auch am liebsten gemacht: Die Brocken hingeschmissen und alles in den Ofen geworfen.
    „Du Scheißding!“
    Der Grund, warum Anders seine Arbeit nicht einfach in den Vorraum des Hauses verlagern konnte, war sein Chef. Thorben wollte seine Ruhe haben und nicht von irgendwelchem Gehämmer und Gekloppe gestört werden, jetzt so kurz vor Weihnachten.
    In der Tat waren es nur noch wenige Tage bis Heiligabend, Ende der Woche würde es soweit sein. Da blieb der alte Thorben lieber bei seiner Nichte und bei Freunden in seinem warmen Zuhause und ließ den Lehrling die Arbeit machen. Und besser du wirst mit allem bis Weihnachten fertig, hatte er gemahnt, sonst werden einige Leute ziemlich sauer auf mich sein. Und dann bin ich sauer auf dich. Und dann kannst du dir ja mal überlegen, wo du so schnell dein Geld, eine neue Arbeit und einen Platz zum Schlafen herbekommst, Freundchen.
    Damit hatte Thorben gar nicht mal so Unrecht. Und im Großen und Ganzen, so wusste Anders, konnte er seinem Chef ziemlich dankbar sein. Damals, als er vollkommen alleine von Nordmar aus losgezogen war und schlussendlich ohne Geld, ohne Freunde, und nur mit den Sachen die er an sich trug, auf Khorinis gestrandet war, war es Thorben, der dem Fremdling eine Stelle angeboten hatte. Inklusive Unterkunft und ab und zu etwas Verpflegung, wenn es vom Essen wieder einmal Reste gab, was nicht gerade selten vorkam. Thorben hatte sich richtiggehend um ihn gekümmert, hatte immer ein offenes Ohr für seine Sorgen und Probleme gehabt und sich nicht gescheut, ihm auch noch zum zehnten Mal die etwas eigenen Bräuche der Inselbewohner zu erklären.
    Das alles hatte sich aber schlagartig geändert, als Thorbens Frau gestorben war. Sie war schon lange krank gewesen und ihr Zustand hatte sich zusehends verschlechtert, und in einer besonders kalten Winternacht hatte sie das Fieber schließlich dahingerafft. Thorben hatte damals eine ganze Woche lang nicht mehr sein Haus verlassen und sich standhaft geweigert, mit irgendjemandem zu reden. Nicht einmal mit Anders hatte er ein Wort gesprochen, auch nicht, um ihm bloße Arbeitsanweisungen zu geben. Statt die neugewonnene freie Zeit zu genießen, hatte sich Anders pausenlos Sorgen um seinen Chef gemacht. Als dieser dann endlich sein Exil beendet hatte, war er ein vollkommen anderer Mensch geworden. Die ehemals weichen Züge in seinem Gesicht hatten sich verhärtet, und von dem so warmherzigen Mann, der oftmals mehr Freund als Chef gewesen war, war so gut wie nichts mehr übrig geblieben. An seine Stelle war ein verbitterter Griesgram getreten, in dessen Leben nicht viel mehr zählte als das Geldverdienen – und eben seine Nichte, da er und seine Frau kinderlos geblieben waren und Gritta die einzige Verwandtschaft war, die er noch hatte.
    Etwas mehr als zwei Jahre war der Tod von Thorbens Frau jetzt schon her, und Anders zweifelte mehr und mehr, ob er selbst überhaupt noch glücklich mit seinem Leben auf Khorinis war.
    Er war aus Nordmar abgehauen, weil er ein neues Leben beginnen wollte, in dem er nicht immer nur die zweite Geige spielte. Der Tropfen, der das Fass damals zum Überlaufen gebracht hatte, war ein Duell gewesen. Ein Duell unter Männern, um die zarte Hand eines ebenso zarten Mädchens. Sigrid - Eine Schönheit, wie es sie in ganz Nordmar wohl nur ein einziges Mal gab. Und sie schwankte zwischen Zweien, die um ihre Hand anhielten. Anders, für einen Nordmann ein recht hübsches Gesicht, noch dazu von stattlicher Figur – und Thorbjörn, kein hübsches Gesicht, dafür aber eine lange, rote Mähne und der wohl größte und kräftigste Mann weit und breit. Noch dazu stammte er aus einer alteingesessenen Familie von Schmieden und war an Esse, Amboss und Schleifstein unübertroffen. Das war sogar bei einem großen, clanweiten Schmiedewettbewerb offiziell festgestellt worden, bei dem Anders dem begabten Thorbjörn im Finale haarscharf unterlegen war.
    Mit dem Gedanken, dass Sigrid mit ihm viel besser dran war als mit diesem arroganten Thorbjörn, und in der Hoffnung, dass der Spruch „Pech im Spiel, Glück in der Liebe“ auch in Nordmar galt, hatte Anders ihn schließlich zum Duell in der Arena herausgefordert. Tage zuvor hatte es im ganzen Umkreis kein anderes Thema mehr gegeben, und als es endlich so weit gewesen war, waren fast einhundert Zuschauer in das kleine, beschauliche Clandorf gekommen, um den Kampf anzusehen.
    Das Duell hatte fast einen ganzen Tag lang von morgens bis abends gedauert, Anders und Thorbjörn hatten gekämpft, bis ihre Duellkeulen ganz verbogen gewesen und ihre Beine schon ganz weich geworden waren. Schlussendlich aber – es war schon stockdunkel geworden und die Schneearena hatte im Fackelschein geleuchtet – hatte Thorbjörn die Oberhand gewonnen und Anders zu Boden geschickt. Unter lautem Beifall und Gejohle war er dann zu Sigrid herüberstolziert, hatte sie an sich gezogen und ihr einen ziemlich festen, eher leidenschaftslosen Kuss auf die Lippen gedrückt. Dann hatte sie sich unter der Eskorte, bestehend aus nahezu sämtlichen Duellzuschauern, von Thorbjörn bereitwillig zu dessen Hütte entführen lassen.
    Anders hingegen war mehr oder minder reglos und alleine in der Mitte der Arena liegen geblieben und hatte damit vorlieb genommen, den kalten Schnee mit Blut aus seiner Nase rot zu färben. Wieder einmal nur der zweite Platz. Das war bei einem Duell besonders bitter.
    Vor lauter Schmach über diese Niederlage in aller Öffentlichkeit und aus lauter Wut auf diesen ewigen, zweiten Platz, hatte Anders noch in der selben Nacht seine Sachen gepackt und war am nächsten Morgen ins Ungewisse aufgebrochen. Hauptsache weg, ein neues Leben beginnen.
    Dieses neue, mittlerweile schon fast wieder alte Leben lebte er nun hier auf Khorinis, als einsamer Tischlerlehrling, wenige Tage vor Weihnachten, draußen vor der Tür seines Chefs bei einem Wetter, das auch gut zu Nordmar gepasst hätte. Zumindest zu Nordmar im Sommer.
    Etwas traurig sah Anders zur Schmiede herüber. Er war zwar ein guter Tischlerlehrling – so wie er sich kannte wahrscheinlich der zweitbeste auf Khorinis – aber im Schmieden lag seine eigentliche Bestimmung. Als er als blinder Passagier auf der berühmt-berüchtigten Kolonieinsel angekommen war, hatte er sich recht rasch nach einer Stelle in einer Schmiede umgesehen – wobei ihm die Auswahl nicht schwer gefallen war, da es nur in der Händlergasse eine ernsthafte Option gewesen war, als Schmied anzufangen. Aufgrund seines beachtlichen Könnens hatte sich Anders dabei recht große Chancen ausgerechnet. Allerdings hatte Harad bereits einem anderen Lehrling zugesagt und wollte weder einen zweiten Lehrling, noch eine Art Gehilfe oder gar Geschäftspartner aufnehmen. Schon gar keinen, der wie aus dem Nichts aus Nordmar fliehend im Hafen von Khorinis aufgetaucht war, ohne Geld, ohne Hab und Gut und vor allem ohne irgendwelche Fürsprecher. Unter solchen Umständen war das Können dann nur noch zweitrangig gewesen.
    Harads Lehrling – Brian hieß er – stand nun am Schmiedefeuer und trat energisch den Blasebalg. Er war recht dünn angezogen – die anstrengende Arbeit hielt warm – und präsentierte so seinen kräftigen, dunkel gebräunten Körper. Für einen Südländer war er beileibe kein schlechter Schmied, musste Anders anerkennen.
    Brian hörte jetzt auf zu treten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vermutlich würde er zusammen mit Harad gleich schon den Feierabend einläuten, während Anders noch ein ganzes Stück Arbeit vor sich hatte.
    Genau dieser Arbeit wollte er sich gerade wieder zuwenden, als eine ihm zumindest vom Sehen her ziemlich bekannte Person an der Schmiede vorbeiging. In diesen Wochen, in denen ganz Khorinis in Schnee getaucht war, schien sie zwischen dem ganzen Weiß richtig zu leuchten – trotz, oder vielleicht gerade wegen ihrer so hellen, reinen Haut, aber vor allem wegen ihrer wunderschönen, roten Haare. Eine hübschere Frau hatte Anders hier auf Khorinis noch nicht gesehen – und vermutlich auch in Nordmar nicht, wie er sich manchmal eingestehen musste. Und ganz sicher keine nettere…

    „Hallo Julia!“, grüßte Brian und verbeugte sich in alberner Manier, was die junge Frau vor ihm zum Lachen brachte und sie zu einem kleinen Knicks bewegte.
    „Wieder mal an der Arbeit, Brian? Oder machst du das hier nur, um deinen Astralkörper zu präsentieren?“, kicherte sie.
    „Vermutlich beides!“, gab Brian grinsend zu und krempelte sich demonstrativ die kurzen Ärmel hoch, was Julia einen aufseufzenden Lacher entlockte.
    „Freust du dich schon auf Weihnachten?“, fragte er dann, „Du wirst ja sicher einiges an Geschenken bekommen… wahrscheinlich Hunderte! Nein, Tausende!“
    „Ach, du Charmeur“, kommentierte sie verschmitzt, „Aber ja, kann schon sein. Da wird es bestimmt nicht leicht, sich für einen zu entscheiden…“
    „Warte mal ab, vielleicht schenke ich dir ja auch was“, deutete Brian mit einem Zwinkern an.
    „Ich hoffe doch“, sagte Julia und zwinkerte zurück, „Von dir lasse ich mich gerne beschenken.“
    Brian strahlte nur so vor Stolz.
    „Aber jetzt mach dich mal lieber wieder an die Arbeit, sonst ist es nicht nur die Esse, die dir Feuern unterm Hintern macht, sondern auch Harad. Der kann böse werden, weißt du ja! Und da will ich nicht dran Schuld sein… ich muss sowieso nach Hause, bin ein bisschen in Eile. War echt nett mit dir zu plaudern.“
    „Na gut… man sieht sich!“, meinte Brian fröhlich.
    „Wär schade, wenn nicht!“, verabschiedete sich Julia schließlich und ging ihrer Wege.

    Ein lautes Geräusch ließ Anders zusammenschrecken, und als er sich umdrehte, sah er den langen Riss, welcher die wohl doch etwas zu sehr gespannt gewesene Stoffplane von oben nach unten in der Mitte durchfuhr.


    ________


    Anders hatte alle Mühe, diese Truhe endlich fertigzustellen. Er war unkonzentriert, er dachte zwischen jeden zwei Handgriffen an Julia und wie sie mit Brian geflirtet hatte. Anders kam nicht umhin, dieses Gefühl, was ihn von der Arbeit abhielt, als Eifersucht zu akzeptieren. Wie gerne hätte er mit Julia geredet. Bis jetzt hatte er immer nur ab und zu ein paar flüchtige Worte mit ihr gewechselt, man kannte sich nicht richtig, man wusste nur voneinander, dass es den jeweils anderen gab. Das war zu wenig, wenn er sie wirklich für sich gewinnen wollte. Vor allem, wenn jemand wie Brian – und der junge Schmied war bei weitem nicht der einzige Konkurrent, der Gefallen an Julia gefunden hatte – schon so einen riesigen Vorsprung hatte.
    Und dass Anders Julia tatsächlich haben wollte, das konnte er nicht mehr leugnen. Vor allem in den letzten Wochen war der Drang zu ihr immer stärker geworden. Nicht nur, dass er sie körperlich begehrte: Auch ganz alltägliche Situationen stellte er sich immer öfter wie mit ihr zusammen vor. Nicht zuletzt überkam ihn ständig der Tagtraum, wie es wohl wäre, Weihnachten mit ihr zusammen zu verbringen, statt alleine in seiner Hütte zu hocken.
    „Verdammtes Mistding!“
    Wieder einmal hatte Anders nicht aufgepasst, und dabei war ihm prompt der große Hammer aus der Hand gerutscht und nur wenige Zentimeter neben seinem Fuß gelandet. Er war viel zu unachtsam geworden und hatte mittlerweile mehr Mühe damit, Schaden von der werdenden Truhe abzuwenden als wirklich an ihr weiterzimmern zu können. So konnte das nicht weitergehen. Anders legte den Hammer zur Seite und deckte die halb- bis dreiviertelfertige Holztruhe mit den Überbleibseln der nun fast nutzlos gewordenen Plane ab. Dann marschierte er geradewegs unter dem schmalen Vordach weg auf die Straße.
    Er brauchte jetzt erst einmal eine Pause.


    ________


    Anders mochte das rhythmische Knirschen des Schnees, das bei jedem Schritt mit seinen dicken Stiefeln ertönte. Er empfand es als zutiefst entspannend und beruhigend – genau das, was er jetzt brauchte. Es erinnerte ihn zwar an seine alte Heimat, aber die hatte ja auch einige schöne Seiten gehabt. All die weiten Landschaften und ihre Stille, das Schmieden, das Jagen, die vielen Feste und nicht zuletzt der über die Landesgrenzen hinaus bekannte Nordmarer Nebelgeist zählten zu den vielen Vorzügen der kalten Region. Vor allem diesen exzellent gebrannten Schnaps vermisste Anders ein wenig, wie er zugeben musste. Jetzt, in der „kalten“ Jahreszeit auf Khorinis, konnte er sich aber mit dem wirklich akzeptablen Glühwein darüber hinwegtrösten, der in allen Tavernen ausgeschenkt wurde. Er war so süß wie Met, aber gleichzeitig mit einer würzigen Note versehen, was Anders ziemlich gut gefiel. Neidlos musste er anerkennen, dass der Khoriner Glühwein dem Nordmarer Glühbier einiges voraus hatte und tatsächlich zu einer gewissen Besinnlichkeit beitrug. Im Gegensatz zu einer gewissen Besinnungslosigkeit, die so machen Nordmann bei rauschenden Winterfesten heimsuchte - Heißes Starkbier aus Krügen hatte Anders ohnehin nie für eine gute Idee gehalten.
    Während seine großen Füße ihn irgendwohin trugen, blickte Anders sich ein wenig in der Hafenstadt um. Die letzten Tage war er so in seine Arbeit – und in Gedanken an Julia – vertieft gewesen, dass er nur am Rande mitbekommen hatte, wie sich die sonst eher strengen und monotonen Fassaden der Häuser gewandelt hatten. Der graue Stein und das starre Holz waren vielerorts von allerlei immergrünen Pflanzen, Lichtern, Laternen, Schnitzereien, Figuren und sonstigem Schmuck bedeckt, welcher die Gassen geradezu schillern ließ. Selbst die Wachtürme waren mit blau-weißen Girlanden behangen worden, und an den Stadttoren bekam man nicht selten Schilder mit der blauen Aufschrift Frohe Weihnacht! zu sehen.
    Anders musste kurz Halt machen, um die drei Kinder, die eine erbitterte Schneeballschlacht führten, dicht an ihm vorbei und um ihn herum rennen zu lassen. Als ein ausgerissener Schneeball den Nordmann dabei an der Schulter traf, was die drei kleinen Jungen zu einer sofortigen Flucht unter ausgelassenem Gelächter veranlasste, konnte sich auch Anders ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Ja, die Inselbewohner mussten diese Jahreszeit wirklich lieben.
    Es war der dritte Winter, den Anders auf Khorinis miterlebte, und von allen dreien war es auch der kälteste. Einen Winter lang hatte es sogar gar keinen Schnee gegeben. Khorinis war bekannt dafür, eine sehr schneearme Insel zu sein, woran sich Anders erst einmal hatte gewöhnen müssen. Die Tatsache, dass Khorinis seinem Ruf der immergrünen Insel offenbar von Jahr zu Jahr weniger gerecht wurde, half ihm ein bisschen dabei. Dennoch war dieses Klima immer noch sehr ungewohnt für ihn. Zwar kannte er das Festland von Myrtana, doch selbst da hatte es ab und an mal kräftig geschneit. Hier hingegen genoss ein harter Winter noch Seltenheitswert – und wohl deshalb auch eine ganz besondere Beliebheit bei der Bevölkerung.
    Dem Weihnachtsfest auf Khorinis wohnte darum eine spezielle Bedeutung inne – umso mehr, wenn es eine sogenannte „Weiße Weihnacht“ gab. Weihnachten kannte man zwar ebenfalls im den Feierlichkeiten gegenüber sehr aufgeschlossenen Nordmar, auch wenn es nur von recht wenigen, jüngeren Familien und Clans begangen wurde. Aber der Begriff „Weiße Weihnacht“ war in den eisigen und stets verschneiten Landen praktisch bedeutungslos.
    Noch einmal schaute Anders während des Gehens hinauf in den Himmel. Es schneite mittlerweile so stark, dass er die Augen zusammenkneifen musste, um sie vor einem richtiggehenden Schwall kleiner, bauschiger Flocken zu schützen. Durch das fallende Weiß hindurch konnte er in der Ferne die Dächer und Turmspitzen der Kaserne erspähen – auch sie waren mit jeder Menge Tannenzweigen und Girlanden in dem charakteristischen Blau-Weiß geschmückt.
    Diese Farben, so hatte Anders es in seinem ersten Winter auf Khorinis noch von Thorbens Frau gelernt, waren eine khorinische Besonderheit, die auf die Figur des „Blauen Khoriner“ zurückgingen.
    Die Geschichte, die jedem Inselbewohner von klein auf erzählt wurde, war, dass zu weißen Weihnachten der „Blaue Khoriner“ zu den braven Kindern zu Besuch kam, um ihnen die tollsten Geschichten zu erzählen und kleine Geschenke zu machen. Dabei wurde der „Blaue Khoriner“ immer als blau gekleideter Mann mit schokoladenbrauner Haut dargestellt. Auf Khorinis war es daher Gang und Gäbe, dass nur zu weißen Weihnachten – Ausnahmen bestätigten die Regel – ein ausgewählter dunkelhäutiger Südländer in einen blauen oder auch blauweißen Anzug hineinschlüpfte und dazu blaue Schuhe mit aufgerollten Spitzen und eine flauschige Zipfelmütze trug. Dieser brachte dann in seiner Rolle als Blauer Khoriner den Kindern ihre Geschenke und erzählte ihnen Geschichten. Die verteilten Gaben und erzählten Sagen variierten dabei ebenso wie die Details des Kostüms mit dem jeweiligen Darsteller des Blauen Khoriners, sodass man jedes Mal aufs Neue gespannt sein durfte – vor allem die Kinder.
    Darum, den Blauen Khoriner zu spielen, wurde sich unter den Südländern auf Khorinis zwar nicht gerade gerissen – es war eine recht anspruchsvolle und auch anstrengende Aufgabe, die den ganzen heiligen Abend lang dauerte – aber letzten Endes hatte sich fast immer jemand gefunden, der die Rolle den Jüngsten zuliebe übernahm.
    „Hallo, Anders!“
    Ruckartig kehrte Anders ins Hier und Jetzt zurück. Er sah in das Gesicht einer älteren Frau, die am Rande des Hafenviertels, wo er sich gerade befand, freundlich blickend hinter ihrem Warenaufbau stand, der von einer Stoffbahn ähnlich wie seiner überdacht wurde.
    „Hallo, Fenia“, sagte Anders erfreut und nickte ihr zu. Er war nicht wirklich überrascht, hier gelandet zu sein, denn Fenia war eine der wenigen Khoriner, die statt nur einer höflichen auch eine herzliche Beziehung zu ihm pflegten. Vermutlich war sie mittlerweile sogar die einzige, bei der Anders sich wirklich gut aufgenommen fühlte.
    „Na, ausnahmsweise mal nicht bei der Arbeit?“, neckte sie.
    Anders macht einen zaghaften Schritt auf sie und ihren Stand zu.
    „Ich mache gerade Pause, muss auch mal sein“, erklärte er und lächelte die Händlerin etwas unbeholfen an.
    „Sei mir nicht böse“, raunte sie, „aber du siehst auch aus, als könntest du eine Pause gebrauchen, und das nicht nur wegen der vielen Arbeit. Ist was?“
    „Naja…“
    Anders steckte die Hände in die Hosentaschen und druckste ein wenig herum. Eigentlich kam er sich dabei ziemlich albern vor, aber er konnte sich nicht helfen – er hatte bis jetzt noch nie mit jemandem darüber gesprochen und war ja auch selbst gerade erst dabei, sich über seine Gefühle im Klaren zu werden.
    „Geht es um ein Mädchen?“, hakte Fenia nach.
    „Auch“, gestand Anders. Er fühlte sich ertappt, aber es war nicht wirklich unangenehm.
    „Und auch meint dabei hauptsächlich, nehme ich mal an?“, fragte sie grinsend.
    „Schon, ja. Also, ich würde sie aber eher eine Frau nennen als ein Mädchen.“
    Fenia stemmte ihre Hände in die Hüften und setzte einen amüsierten Gesichtsausdruck auf.
    „Hör mal, Julia ist noch nicht einmal halb so alt wie ich, für mich ist das noch ein Mädchen. In dem Alter sind das alles noch Mädchen. Genau wie du ein Junge bist. Wenn auch ein ziemlich großer Junge.“
    Sie zwinkerte ihm neckisch zu.
    „Woher weißt du…?“, begann Anders, musste die Frage aber dankbarerweise nicht für Fenia zu Ende führen.
    „Ach komm“, meinte sie, „das ist doch nicht zu übersehen. Letzte Woche auf dem Marktplatz hast du sie doch die ganze Zeit von weitem angestarrt und hast mich erst bemerkt, als ich dir zum zweiten Mal auf die Schulter geklopft habe. Meinst du, ich hätte nicht gesehen, warum du so am Träumen warst? Und außerdem ist es für einen jungen Mann in deinem Alter nun nicht gerade ungewöhnlich, etwas für Julia übrig zu haben.“
    Fenia sagte dies alles mit einer Gelassenheit und Selbstverständlichkeit, dass Anders sich umso blöder dabei vorkam, nicht schon früher mit der Sprache herausgerückt zu sein.
    „Gerade Letzteres ist da so das Problem…“, sagte er kleinlaut.
    „Ja, an Verehrern scheint es ihr wirklich nicht zu mangeln, gerade zu Weihnachten. Womöglich hast du aber gerade jetzt eine gute Chance. Ich glaube nämlich nicht, dass so ein junges Mädchen den heiligen Abend ganz alleine verbringen möchte. Die heilige Nacht schon gar nicht…“
    „Sehe ich auch so“, kommentierte Anders mürrisch, „Was ich aber nicht glaube, ist, dass sie das Fest auch mit mir verbringen möchte.“
    „Wieso nicht?“, fragte Fenia ernsthaft, „Sie muss dich halt nur mal richtig kennenlernen. Und eine bessere Gelegenheit, dich ihr mal richtig vorzustellen, gibt’s so schnell nicht wieder…“
    „Du meinst, ich sollte ihr ein Geschenk machen? Daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich weiß ja nicht…“
    „Was weißt du nicht?“, nahm Fenia den Faden sofort auf, „Ein Weihnachtsgeschenk, ja! Das ist ideal. Dafür haben wir doch diesen Brauch: Zu Weihnachten kann jeder Jüngling seiner Angebeteten seine Aufwartung in Form eines Geschenks machen. Ganz ohne Hemmungen. Und den, der ihr ein wirklich schönes Geschenk macht, wird sie sich aussuchen. Vermutlich auch ganz ohne Hemmungen.“
    Fenia zwinkerte ihm zu, woraufhin er trotz seiner betrübten Stimmung ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken konnte. Dann wurde er aber wieder nachdenklich.
    „Dann müsste mein Geschenk für Julia aber wirklich das allerschönste sein. So wie ich gehört habe, wird sie mit Geschenken wohl geradezu überhäuft werden.“
    „Davon kannst du ausgehen“, bestätigte Fenia, „Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber ich weiß nicht, was ihr gefallen könnte. Weiß keiner so genau – das macht es ja gerade so spannend.“
    Anders ließ ein widerwilliges Brummen ertönen.
    „Tut mir ja auch leid. Über die anderen Mädchen hier könnte ich dir eine ganze Menge erzählen, aber das willst du wohl gar nicht erst hören, was?“
    Der Nordmann schüttelte den Kopf.
    „Ich könnte dir natürlich ein paar von meinen Äpfeln verkaufen, die ihr dann zu romantischer Stunde gemeinsam verspeisen könntet“, kicherte Fenia, verstummte aber gleich wieder, als sie den starren Gesichtsausdruck Anders’ bemerkte.
    „Wird ja sowieso nichts…“, murmelte er.
    „Ach komm“, versuchte sie ihn zu trösten, „Warum solltest du Julia nicht gefallen? Du bist doch ein netter, gutaussehender Kerl! Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre und ich meinen Halvor nicht hätte, würde ich dich glatt vom Fleck weg heiraten, Großer!“
    Anders konnte darüber nur müde lächeln.


    ________


    „Da bist du ja! Wo hast du dich denn rumgetrieben, verdammt? Lässt hier alles stehen und liegen und sagst von nichts!“
    Thorbens Gesicht glühte, während er mit harten Worten und Gesten seinem Unmut Luft machte.
    „Und die Truhe ist immer noch nicht fertig! Morgen ist sie schon einen Tag überfällig! Was denkst du dir eigentlich dabei, hä? SO EIN KABEL HAB ICH AM HALS!“
    Der Tischlermeister deutete auf seine vor Wut angeschwollene Halsschlagader.
    „Ich habe Pause gemacht“, erklärte Anders wahrheitsgemäß und trat nah an seinen Chef heran, sodass dieser sich mit seinem hochroten Kopf in etwa auf Brusthöhe des Nordmanns befand. Das schien den Kleineren allerdings keineswegs einzuschüchtern.
    „Pause, was heißt hier Pause! Freundchen, wenn du dein Geld sehen willst, dann machst du die Truhe noch heute fertig, sonst kannst du das vergessen!“
    „Darüber wollte ich noch mit dir reden“, sagte Anders unbeeindruckt, „Kann ich einen kleinen Vorschuss für die Woche bekommen? Ich will etwas kaufen und -“
    „Vorschuss?“, fragte Thorben und riss entgeistert die Augen auf, „Vergiss es! Weihnachtsgeld gibt’s bei mir nicht!“
    Anders zuckte mit den Schultern. Etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet.
    „Dann arbeite ich jetzt mal weiter.“
    „Das will ich dir auch geraten haben“, bekräftigte Thorben mit erhobenen Zeigefinger seiner fleischigen rechten Hand und verschwand wieder ins Innere seines Hauses.
    Kopfschüttelnd begab sich Anders wieder an die Arbeit.
    Geändert von John Irenicus (13.09.2012 um 16:47 Uhr)

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    Obwohl Anders bis in den späten Abend hinein gearbeitet und so die Truhe gerade noch rechtzeitig fertiggestellt hatte, war er am nächsten Morgen schon wieder früh wach. Ihm war kalt, und in seinem viel zu kleinen Bett rutschte die dünne Decke ständig an irgendeiner Stelle von ihm herunter. Das hinderte ihn aber nicht daran, noch ein bisschen liegen zu bleiben, um seine Nachtträume Revue passieren zu lassen und gleichzeitig seinen Tagträumen zu frönen. In seiner Vorstellung lag er nicht alleine im Bett, sondern konnte sich in die seidige Haarpracht seiner Angebeteten wühlen…
    Ein Klopfen ließ alle diese Träume in einer unsichtbaren Wolke verpuffen.
    „Aufstehen!“, rief eine wohlbekannte Stimme von draußen, „Die Arbeit macht sich nicht von allein!“
    Missmutig quälte Anders sich aus dem Bett, wusch sich nachlässig mit dem Eimer kalten Wasser, zog sich seine klammen Sachen an und verzichtete auf ein Frühstück. Er hatte keinen Hunger.
    „Da bist du ja“, grantelte Thorben, als sein Lehrling aus der kleinen Hütte herausstapfte, „Ich hoffe mal, du trödelst heute nicht noch mehr herum. Oder willst du den Leuten ihr Fest vermiesen?“
    „Nein“, brummte Anders, und fügte nach einer kleinen Pause noch hinzu: „Sei nicht so unfreundlich, Thorben.“
    „Unfreundlich!“, wiederholte Thorben spottend, „Ich soll nicht unfreundlich sein! Da verpennt der Kerl mir fast den halben Tag, und ich soll nicht unfreundlich sein!“
    „Es ist früh morgens“, stellte Anders sachlich fest.
    „Weißt du was?“, meinte der Tischlermeister und hob wieder seine fleischige Hand, „Mach du lieber deine Arbeit und geh mir nicht den ganzen Tag auf den Sack.“
    Unter der ausdruckslosen Miene Anders’ verschwand dessen Chef wieder in sein Haus. Der Nordmann seufzte. Im Winter, der Zeit rund um den Todestag seiner Frau, war Thorben immer besonders unausstehlich.
    Immerhin schneite es heute nicht so stark wie am Vortag, sodass die Arbeit weniger beschwerlich sein würde. Ohnehin standen für Anders heute nur kleinere Dinge, wie Figuren und sonstige Weihnachtsschnitzereien auf dem Plan. Sorge bereitete ihm das allerdings trotzdem. Da seine Hände fast schon zu groß für derart feine Arbeiten waren, musste er sich dabei besonders konzentrieren. Und Konzentration war genau das, woran es ihm in letzter Zeit mangelte…


    ________


    Es begann schon wieder dunkel zu werden, als Anders sein letztes Stück für diesen Tag fertigstellte – ein großes, einfach geschnitztes Herz aus Holz. Wie er es in seinen Händen drehte um es noch einmal abschließend auf Unebenheiten zu untersuchen, schweiften seine Gedanken zum Unausweichlichen ab. Wenn er das Herz noch ein wenig verzieren und vielleicht blau-weiß anmalen würde, dann…
    Er wagte einen kurzen Blick herüber zur Schmiede. Brian hatte die Arbeit schon vor zwei Stunden eingestellt. Nichtsdestotrotz weckte der Anblick seiner Arbeitsstelle in Anders wieder deprimierende Gedanken. Das konnte er vergessen – mit einem hölzernen Herzen konnte er ganz bestimmt nicht gegen das Geschenk des angehenden Schmieds ankommen, was immer es auch am Ende für ein Geschenk sein würde. Jedenfalls kein schlechtes, dafür war der junge Südländer zu sehr auf Zack. Ob er dieses Jahr vielleicht sogar den Blauen Khoriner mimte, um so die Gunst Julias zu erwerben? Kinder mochte sie ja sicherlich auch.
    Ein wenig unachtsam legte Anders die Auftragsarbeit zu den anderen geschnitzten Sachen – darunter die obligatorischen Holzschwerter und ein wirklich gelungener kleiner Flitzebogen ohne Sehne – und klopfte zweimal laut an die Tür zu Thorbens Haus.
    Es dauerte ein wenig, bis sein Chef sie öffnete.
    „Was ist?“, blaffte er ihn an.
    Anders wies auf den Stapel von Schnitzereien zu seiner Linken.
    „Ich hab die Sachen für heute fertig. Und auch einen Teil von denen für morgen.“
    „Soso“, meinte Thorben und beugte sich ein wenig herunter, um einen flüchtigen Blick auf die Stücke zu werfen, „Sieht ja gar nicht mal so schlecht aus. Und vorgearbeitet hast du auch noch?“
    Anders nickte.
    „Gut“, befand Thorben, „Dann kann ich das den Leuten ja gleich noch alles vorbeibringen.“
    Anders nickte noch einmal, und ein längeres Schweigen entstand. Thorben wollte sich gerade abwenden, als ihn sein Lehrling aufhielt.
    „Thorben?“
    „Was denn noch?“
    „Ich habe eine Bitte an dich.“
    Thorben verschränkte die dicken Arme und sah dem Nordmann skeptisch in die Augen.
    „Über das Weihnachtsgeld hatten wir doch schon gesprochen, ich -“
    „Ich will kein Weihnachtsgeld“, unterbrach Anders ihn, „Ich will genau genommen auch keinen Vorschuss. Ich hätte mein Geld nur gerne anteilig für diesen Tag ausbezahlt. Mehr nicht. Die Arbeit habe ich schon getan. Da muss ich doch nicht erst bis zum Ende der Woche warten.“
    „Ganz schön forsch, der Herr“, merkte Thorben an und sagte dann erst einmal nichts. Anders bemühte sich, vor Anspannung nicht von einem Bein aufs andere zu treten oder sich die Unruhe sonstwie anmerken zu lassen. Diesen Anblick wollte er Thorben nicht gönnen.
    „Was brauchst du das denn jetzt auf einmal so dringend?“, fragte der Tischler, „Verprasst hast du dein Erspartes doch ganz bestimmt nicht, das sollte doch noch reichen. Und das Khoriner Bier schmeckt dir doch sowieso nicht so gut, hast du gesagt. Wofür also?“
    Anders überlegte kurz, ob er nicht lieber gar nichts dazu sagen sollte. Allerdings war es er, der etwas von seinem Chef wollte – und nicht etwa umgekehrt.
    „Für ein Geschenk“, erklärte er.
    Thorben machte große Augen, wirkte aber trotzdem nicht besonders überrascht.
    „Ein Geschenk“, murmelte er, „Soso…“
    Eine weitere Pause entstand, in der Anders seine Nervosität nun nicht mehr verbergen konnte.
    „Na gut“, sagte Thorben nach einer gefühlten Ewigkeit, „du sollst dein Geld kriegen. Gibst ja doch keine Ruhe. Warte einen Augenblick.“
    Eine weitere gefühlte Ewigkeit verging, bis Thorben mit dem Geld aus seinem Haus wieder zurückkam.
    „Hier“, sagte er knapp und schüttete Anders einen kleinen Haufen goldener Münzen in die Hände, „Und beschwer dich nicht, dass es zu wenig ist, sonst nehme ich es dir gleich wieder weg. War’s das jetzt?“
    Anders nickte und ließ seinen Chef gehen. Als dieser weg war und die Tür kräftig hinter sich zugezogen hatte, zählte er das Geld rasch durch. Es waren zwanzig Münzen – mehr, als er gedacht hatte. Er verstaute sie in dem leeren Lederbeutel an seinem Gürtel und schnaufte dann einmal tief durch. Ein Blick in den Himmel verriet, dass der Schneefall wieder stärker geworden war.
    Dann machte sich Anders auf den Weg.


    ________


    Nicht einmal das für khorinische Verhältnisse ungemütliche Wetter konnte den hörbar erkälteten Vatras daran hindern, vor dem bunt geschmückten Adanosschrein seine Predigt zu halten. Auch sein Publikum zeigte sich gegenüber dem Schneetreiben durchaus hartnäckig und standfest. Nur vereinzelt verließen ein paar Bürger den Platz – was genauso gut daran liegen konnte, dass es mittlerweile schon Abend war.
    Auch auf dem Marktplatz herrschte noch ein recht reges Treiben. Anders verschaffte sich kurz einen Überblick, nicht ohne nach einem roten Haarschopf Ausschau zu halten, begutachtete dann nach erfolgloser Suche aber lieber die einzelnen Stände.
    Alle waren sie weihnachtlich gestaltet, bei Zuris gab es Tränke in blau-weißen Flaschen und wahlweise auch mit blauen Mützchen drauf, Baltram verkaufte warme Lebkuchen, deren Duft über dem ganzen Platz hing, Jora hatte eine Extra-Kiste voll Zuckergebäck neben sich stehen, und selbst Hakon hatte es sich nicht nehmen lassen, einigen Waffengriffen einen blau-weißen Anstrich zu verpassen. Manchmal war der Eifer, mit dem die Inselbewohner dieses Fest begingen, fast schon ein wenig unheimlich. Anders bewegte sich auf den Stand zu, der mit ein paar weihnachtlichen Kerzen am spärlichsten dekoriert war. Es war der Stand von Canthar.
    „Hallo“, grüßte Anders kurz und musterte dann gespannt die Auslage. Im Gegensatz zu den anderen Händlern, die sich eher damit begnügten, ganz alltägliche Dinge in bloßer Weihnachtsoptik zu verkaufen, hatte Canthar einige speziellere Stücke anzubieten. Schnell fiel ihm ein wundervoller, sehr eleganter Seidenschal in der üblichen Farbkombination ins Auge, auf den er sich schon fast versteifen wollte. Dann aber blieb er noch an einem ebenso schicken Damenhut hängen, der sich in seiner Vorstellung hervorragend auf Julias hübschem Haupt gemacht hätte. Zwischen diesen beiden möglichen Geschenken schwankte Anders eine ganze Zeit lang, bis er plötzlich die kleine, geöffnete Schatulle direkt vor Canthar sah.
    In ihr befand sich ein kleiner, zierlicher Ring mit einem blau-weiß schimmernden Edelstein in der Fassung. Das sah einfach fantastisch aus.
    „Was ist das?“, fragte Anders den Händler und wies auf den Ring. Canthar quittierte dies mit einem zufriedenen Lächeln.
    „Hübsch, nicht wahr? Es ist eine ganz spezielle Art von Saphir. Wenn du mich fragst, vom Blauen Khoriner höchstpersönlich geschliffen!“, lachte er.
    „Wie viel soll er denn kosten?“
    „Für einhundert Goldmünzen gehört er dir“, sagte Canthar, „Oder für wen auch immer er gedacht ist. Würde sich an einer zarten Frauenhand sicherlich besser machen als an deinen Pranken.“
    Anders überschlug kurz ein paar Summen im Kopf. Selbst, wenn er ein paar Tage lang so gut wie nichts aß – und das würde er ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf nehmen – kam er zusammen mit dem Tageslohn von heute und seinem restlichen Ersparten zu Hause auf knapp achtzig Goldmünzen.
    „Kann ich dir einen Teil jetzt geben und den Rest später bezahlen?“, fragte Anders vorsichtig.
    „Nein“, machte Canthar mit der Bitte des Nordmanns kurzen Prozess, „Das geht nicht. Nachher haust du noch mit dem Ding ab, zurück nach Nordmar oder so, und dann sehe ich dich nie wieder. Kann ich nicht riskieren.“
    „Ich würde aber doch ganz bestimmt nicht -“
    „Keine Diskussion“, schnitt ihm der nun ziemlich unleidliche Händler das Wort ab, „Entweder du hast das Geld jetzt und kaufst den Ring, oder du lässt es eben bleiben. Weihnachten hin oder her, so viel Sentimentalität, dass ich dich das Teil einfach so mitnehmen lasse, kann ich mir wirklich nicht erlauben.“
    Anders wagte noch einen letzten Versuch.
    „Könntest du denn wenigstens -“
    „Kaufen, oder nicht kaufen. Was anderes gibt’s bei mir nicht.“
    Das war genug, mit Canthar war nicht zu reden. Nach einem letzten Blick auf den Ring trottete Anders missmutig davon.
    Der Saphir war perfekt, fand Anders, er würde so wundervoll an Julias Hand aussehen…
    „Vorsicht!“, riss ihn eine Frauenstimme aus den Gedanken. Er senkte den Kopf und sah, wen er da fast umgerannt hatte. Ihm stockte der Atem.
    „Da habe ich ja noch einmal Glück gehabt“, lachte Julia.
    „Anders war der Name, oder? Hallo.“
    „Ja, hallo…“, antwortete Anders wie fremdgesteuert und wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Glücklicherweise übernahm Julia das Reden.
    „Freust du dich auch schon auf Weihnachten? Übermorgen ist ja schon Heiligabend.“
    Innerlich musste Anders lächeln. Wenn sie gewusst hätte, wovon es abhing, dass es auch für ihn eine frohe Weihnacht wurde…
    „Ja, schon“, meinte er und versuchte, sein inneres Lächeln so gut wie möglich nach außen zu tragen.
    „Du auch?“, fügte er dann noch rasch hinzu.
    „Oh, ja!“, bekundete Julia strahlend, „Auch, wenn es manchmal ein bisschen anstrengend ist.“
    Anders nickte wie verzaubert. Er rang ein wenig mit sich selbst und drohte ganz nebenbei in Julias wunderschönen blauen Augen zu versinken, bis er sich endlich ein Herz fasste.
    „Ich… würde dir zu Heiligabend auch gerne ein Geschenk machen.“
    „Wirklich?“, fragte Julia und lächelte ihn an, „Das fände ich echt lieb von dir. Hast du denn schon eins?“
    „Noch nicht ganz… fast“, sagte Anders daher, „So schnell geht das nicht – soll ja was Besonderes sein.“
    „Na da bin ich ja mal gespannt“, freute sich Julia.
    „Ja…“
    Anders wusste nun wirklich nicht mehr, was er noch sagen sollte. Julias Gegenwart machte ihn nervös, er musste sich mit viel Zwang davon abhalten, sie nicht anzustarren.
    Endlich brach Julia das Schweigen.
    „Oh… da hinten ist ja Griselda! Ich geh dann mal… wir sehen uns dann spätestens Heiligabend, ja? Ich freu mich schon!“
    „Okay, bis dann“, murmelte Anders, und schaute Julia fasziniert hinterher, wie sie mit einer ihrer Freundinnen um die Ecke bog. Mit welcher Anmut sie sich bewegte! Und wie wundervoll ihre Augen doch waren! Für Anders stand es fest: Dieser Ring, und nur dieser Ring war das perfekte Geschenk für Julia. Er musste ihn haben, komme, was da wolle.
    Eine Schneeflocke traf ihn am Ohr, woraufhin er einen Blick nach oben warf. Es war nun schon ziemlich dunkel.
    Anders wusste, was er jetzt zu tun hatte.
    Geändert von John Irenicus (07.09.2012 um 21:03 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Das Licht an diesem frühen Morgen war golden. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, es schneite an diesem Tag nicht. Die Strahlen, welche die Sonne schickte, wärmten zwar nicht sonderlich, aber es sah einfach schön aus, wie sie die Schneeberge und damit ganz Khorinis zum Leuchten brachten.
    Auch Anders beflügelte die aufgehende Sonne nun. Er war mit seiner Arbeit außerordentlich schnell vorangekommen und saß gerade an einem riesigen Schaukelpferd, dem er zwar müde, aber gut gelaunt die symbolträchtigen letzten Nägel einhämmerte.
    „Was zum Teufel ist hier eigentlich los… Anders?“
    Der Nordmann sah auf und entdeckte seinen Chef in der Tür. Thorben sah aus wie vor wenigen Augenblicken aus dem Bett gerollt und war mehr schlecht als recht bekleidet.
    „Hast du etwa die ganze Nacht lang durchgearbeitet?“, fragte Thorben entgeistert.
    „Ja“, bestätigte Anders mit ein wenig Stolz in der Stimme.
    „Habe ich also doch richtig gehört“, murmelte Thorben, hin und hergerissen zwischen Anerkennung und Verärgerung.
    „Aber du kannst doch nicht so früh morgens einfach alle aus dem Bett hämmern!“, herrschte er ihn an.
    „Sind ja auch nicht alle aus dem Bett. Und jetzt bin ich sowieso fertig.“
    Anders schliff noch ein letztes Mal die zwei gebogenen Kufen des Schaukelpferds ab, drehte es dann um und stellte es auf die hölzernen Beine. Freundlich lächelnd wippte es vor und zurück.
    „Nicht schlecht, muss man sagen“, meinte Thorben erstaunt, „Aber es wäre gut, wenn du den heutigen Rest ein kleines bisschen leiser arbeiten würdest, damit ich vielleicht noch etwas -“
    „Das Zeug für heute habe ich alles schon fertig“, ging Anders dazwischen.
    Thorben zog eine Augenbraue hoch.
    „So? Na dann machst du eben das, was für morgen noch angefallen wäre.“
    „Geht nicht“, sagte Anders knapp, „Auch schon alles fertig.“
    Er wies mit seiner linken Hand auf den Stapel voller kleiner Schnitzereien, die sich neben ein paar Truhen, einer Kommode und sogar einem großen Schrank auftürmten. Anders musste bei dem Gedanken grinsen, dass jemand möglicherweise einen Schrank zu Weihnachten verschenkte. Ob unter den Sachen, die er hier zusammengezimmert hatte, möglicherweise auch ein für Julia bestimmtes Geschenk war?
    „Gibt’s ja gar nicht“, brachte Thorben heraus, um danach gleich wieder seinen skeptischen Blick aufzusetzen.
    „Willst du etwa schon wieder Geld?“, fragte er.
    „Für umsonst arbeite ich nicht“, erwiderte Anders.
    Thorben nahm wieder seine Haltung mit den verschränkten Armen ein. Er dachte nach.
    „Hm…“, meinte er, „Tja, die Arbeit von heute und von morgen hast du getan. Dabei war der Zeitplan sowieso schon recht straff gesetzt. Aber jetzt muss ich nicht einmal in letzter Minute noch irgendwelchen Kram ausliefern. Kann ich nichts gegen sagen, das hast du gut gemacht. Aber erwarte ja keinen Bonus von mir dafür! Eigentlich sollte ich dir noch etwas dafür abziehen, dass du mich wach gemacht hast.“
    Anders zuckte mit den Schultern.
    „Krieg ich jetzt mein Geld?“
    Thorben nickte.
    „Warte hier.“
    Es dauerte noch ein wenig länger als beim letzten Mal, aber schließlich kam Thorben mit einem kleinen Lederbeutel zurück.
    „Hier“, brummelte er, „scheint dir ja wirklich wichtig zu sein. Nimm es.“
    Anders nahm den Beutel entgegen und wog ihn kurz in der Hand. Getreu der guten Auftragslage zu Weihnachten konnte sich auch sein Lohn sehen lassen. Thorben mochte zwar hart mit ihm sein, aber wenn es ums Geld ging, war er auch fair.
    „Aber Anders…“, begann Thorben dann noch einmal. Der Nordmann sah ihn fragend an.
    „Das heißt nicht, dass du jetzt frei hast. Es ist zwar momentan nichts zu tun, aber sollte doch noch kurzfristig was reinkommen…“
    „Verstanden“, bekundete Anders knapp.
    Er wartete einen Moment, dann fügte er noch grinsend hinzu: „Kannst dich jetzt wieder schlafen legen.“


    ________


    Es war schon früher Mittag, bis Anders pflichtbewusst den Platz vor Thorbens Haus aufgeräumt hatte, dann aber war die Arbeit endgültig getan. Müde und zufrieden spazierte er zu seiner Hütte, als ihm ein angsteinflößender Gedanke kam. War die Truhe, in der er sein Geld aufbewahrte, eigentlich abgeschlossen? Wann hatte er sie das letzte Mal geöffnet? Er konnte sich nicht daran erinnern. Zwar schloss er sie immer sehr sorgfältig ab, doch was wenn…
    Nun hellwach lief er in seine Hütte und kniete sich ohne Umschweife vor die Truhe. Er rüttelte an ihr. Sie war zu.
    Erleichtert atmete Anders eine halbe Windböe aus. Jetzt, auf den letzten Metern vor dem Ziel, schien er wohl doch noch die große Flatter zu kriegen.
    Er konnte sich allerdings schnell wieder beruhigen. Nachdem er alles Geld was er hatte zusammengeschüttet und schließlich zusammengezählt hatte, kam er mit dem heutigen Lohn auf insgesamt einhundertvierzig Goldmünzen. Das reichte locker, das hieß, er musste nicht einmal hungern. Und konnte Julia vielleicht sogar noch zu einer oder gleich mehreren Tassen Glühwein einladen.

    Er war zwar aufgeregt, als er den Marktplatz betrat, aber so langsam schlug sich die Müdigkeit wirklich in ihm nieder. Fast wäre er vollkommen unachtsam direkt vor Vatras her gestolpert und hätte für einen unfreiwilligen auflockernden Moment in seiner Predigt gesorgt.
    Anders zwang sich noch einmal zur Beherrschung. Nicht, dass ihm der Ring, den er gleich kaufen würde, direkt nach ein paar Schritten aus seiner Hand in die Kanalisation verabschiedete.
    An Canthars Stand angekommen grinste ihn der Händler direkt an.
    „Der Nordmann mal wieder“, kommentierte er.
    Anders überhörte die Bemerkung einfach und besah sich den Ring, der immer noch direkt vor Canthar aufgebaut war. Im Sonnenlicht funkelte er besonders eindrucksvoll.
    Anders riss sich vom Anblick los und griff sich an den Gürtel.
    „Ich habe das Geld für den Ring. Einhundert Goldmünzen, in diesem Beutel. Kannst ruhig nachzählen.“
    Canthars Grinsen wurde nochmals breiter.
    „Das reicht nicht.“
    Anders glaubte sich verhört zu haben. Vielleicht spielten ihm seine Ohren vor Müdigkeit schon einen Streich.
    „Du hast gestern gesagt, er kostet hundert Münzen. Hier sind sie.“
    Er wedelte mit dem Lederbeutel vor der Nase des Händlers her.
    Mittlerweile zog sich dessen Grinsen über sein gesamtes Gesicht.
    „Jaaa“, knödelte er, „Das habe ich gestern gesagt. Aber die Nacht habe ich Zuris noch einmal über das Steinchen drübergucken lassen. Und der hat gemeint, den Ring könnte ich glatt für das Doppelte verkaufen. Den Rat nehme ich natürlich dankend an.“
    „Zweihundert Goldmünzen?!“, rief Anders entgeistert.
    „Du hast es erfasst.“
    Anders konnte gar nicht begreifen, was er da hörte.
    „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, sagte er wütend, „Das kann sich doch kein Mensch leisten!“
    Canthar schüttelte den Kopf.
    „Oh, du kannst dir sicher sein, einige der reichen Händler aus dem oberen Viertel würden sich freuen, diesen Ring ihrer heimlichen Geliebten über den Finger streifen zu können. Das Geld sitzt bei sowas immer sehr locker, da musst du dir gar keine Sorgen machen.“
    Jetzt war es Anders, der den Kopf schüttelte. Dieser Ring gehörte nicht an die gierigen Griffel irgendeiner Konkubine, sondern an die zarte Hand Julias.
    Aber was half es? Mit Canthar war nicht zu diskutieren. Und die fehlenden sechzig Goldmünzen würde Anders in dieser kurzen Zeit niemals auftreiben können. Seinen Chef brauchte er gar nicht fragen, der hatte sich für seine Verhältnisse schon großzügig genug gezeigt. Die Gedanken wanderten auch zu Fenia, aber einerseits wollte Anders sie nicht mit solch einer Bitte belasten, und andererseits vermutete er, dass sie auch nicht mal eben so sechzig Goldmünzen entbehren konnte. Zu Lehmar, dem Verleiher, brauchte er gar nicht erst zu gehen. Er erinnerte sich noch zu gut daran, wie er vor Jahren bei seiner Ankunft etwas Startkapital bei ihm hatte ausleihen wollen. Der dicke, alte Mann hatte nur gelacht und ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er dafür eine Sicherheit oder einen Bürgen sehen wollte – und dass er abgesehen davon Fremdländern aus Prinzip sowieso nichts lieh.
    Ihm wurde übel. Sollte es das etwa gewesen sein? Hektisch blickte er über den Rest von Canthars Stand.
    „Wo sind der Hut und der Schal?“, fragte er verzweifelt.
    „Schon verkauft“, gab Canthar bereitwillig, aber unverschämt gefühllos Auskunft.
    Das wiederum war der letzte Nagel, den Anders für heute in sich einschlugen ließ. Völlig apathisch und mit einer quälenden Leere im Kopf verließ er den Marktplatz wieder. Diesmal war es ihm egal, ob er irgendwo stolperte, und er nahm gar nicht mehr richtig war, wo er überhaupt herging. Nach einiger Zeit war er an seiner Hütte angekommen. Vielleicht würde der Schlaf ihm Trost bringen. Und vielleicht war ja alles nur ein böser, böser Traum.
    Geändert von John Irenicus (13.09.2012 um 16:48 Uhr)

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    Kopfschmerzen waren es, die Anders schließlich aufweckten. Er hatte nicht gerade ruhig geschlafen, aber trotzdem lange, das spürte er.
    Es dauerte eine Zeit, bis die jüngsten Ereignisse wieder in sein Bewusstsein traten, dann aber trafen sie ihn mit Wucht.
    Hier lag er nun, starrte an die Holzdecke seiner Hütte und war allein. Und es würde sich nicht ändern, er würde allein bleiben. Weil er kein Geschenk für Julia hatte. Weil er die große Chance ungenutzt verstreichen lassen musste.
    Es verging bestimmt noch eine ganze Stunde, bis er sich endlich aus dem Bett quälte, sich wusch und anzog. Hunger hatte er immer noch nicht.
    Die Hüttentür knarrte laut, als Anders aus seiner kargen Behausung heraus ins Freie trat. Es schneite nicht.
    „Du lebst ja auch noch“, rief Thorben ihm zu, der wohl gerade von seiner letzten Lieferung zurückkam.
    „Hatte schon überlegt, einfach mal bei dir anzuklopfen, aber dann dachte ich mir, du bist ja alt genug um selber zurechtzukommen… hab mich da wohl getäuscht, hä? Das grenzt ja schon an Blasphemie, an Heiligabend so spät aufzustehen. Wenn ich mich so ein Verhalten damals bei meinem Meister gewagt hätte, dann -“
    Anders war geradewegs an Thorben vorbeigegangen, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Was er jetzt als letztes gebrauchen konnte, war ein grundlos meckernder Chef. Dieser war daraufhin so überrascht, dass er sich nur kopfschüttelnd in sein Haus verzog.
    Dem Nordmann brannte das Herz. Was sollte er jetzt tun? In seiner Hütte fiel ihm das Dach auf den Kopf, hier draußen bohrten sich die Weihnachtsgefühle der anderen schmerzhaft in seine Seele. Und was sollte er Julia sagen, wenn er ohne Geschenk vor ihr stand?
    Anders bedachte seinen Arbeitsplatz im Freien mit einem kurzen Blick, wandte sich aber schnell wieder von ihm ab. Jetzt noch eine Kleinigkeit aus Holz schnitzen zu wollen, war einfach nur lächerlich.
    Er beschloss, einfach noch einmal auf den Marktplatz zu gehen. Er glaubte zwar kein bisschen daran, aber vielleicht fand er doch noch ein akzeptables Geschenk für Julia.
    Vor dem Adanosschrein war nichts los, die große Predigt fand traditionell erst am Abend statt. So konnte Anders fast unbehelligt auf den Marktplatz treten, auf dem sich das Treiben auch in Grenzen hielt. Kurz vor knapp kauften nur noch einige wenige Leute etwas für ihre Liebsten ein.
    Auch wenn es ihm ein wenig wehtat, stapfte Anders wieder bis vor Canthars Stand. Das Grinsen hätte er dem Händler am liebsten aus dem Gesicht gewischt.
    „Wenn du wegen dem Ring gekommen bist“, sagte er gehässig, „Den habe ich mittlerweile verkauft.“
    „Hätte sowieso nicht genug Geld gehabt“, bügelte Anders ihn ab. Er besah sich die paar restlichen Verkaufsgegenstände im Angebot des Händlers, die wohl aus gutem Grund zurückgeblieben waren: Eine Teekanne mit blauer Mütze, zwei schiefe Bilderrahmen und ein kaputter Spiegel bildeten dabei noch die absolute Spitze, alles was danach kam war wirklich nur noch undefinierbarer Schrott.
    „Na sieh mal einer an, der Blaue Khoriner“, meinte Canthar.
    „Frohe Weihnacht!“, rief er dann.
    Kaum war sein Ruf verhallt, löste sich aus dem kahlen Baum über dem Mann in dem blauen Kostüm eine kleine Schneelawine, die ihn fast gänzlich unter sich begrub.
    Davon bekam Anders aber kaum noch etwas mit. Er hatte sich längst vom nun lachenden Händler und dessen Stand abgewandt. Er hatte genug. Er war müde. Dann würde er eben den heiligen Abend verschlafen, ob das nun Blasphemie war oder nicht.
    Mühsam schlurfte er voran, an Coragons reich bevölkerter Kneipe vorbei durch die kleine Gasse ins Händlerviertel, als ihn direkt vor Harads Schmiede jemand abfing. Anders schluckte.
    „Hallo Anders!“, rief Julia.
    Sie trug ein blaues Kleid und dazu den eleganten, blau-weißen Schal den er bei Canthar gesehen hatte, und von ihrem Hals baumelte unaufdringlich ein schickes Amulett herab. Was Anders aber an ihrer Hand erblickte, haute ihn endgültig um.
    „Schön, nicht?“, meinte Julia, die den Blick des Nordmanns auffing, „Hat mir Brian geschenkt.“
    „Ja“, stimmte Anders mechanisch zu, „Der sieht wirklich toll an dir aus.“
    Das sah er wirklich. Sogar noch besser, als er es sich tagelang vorgestellt hatte. Der Saphir glitzerte im Sonnenlicht und passte hervorragend zu Julias tiefblauen Augen, in die Anders schon wieder zu versinken drohte. Aber diesmal war es nicht so angenehm. Anders wusste, was los war. Sie hatte sich vermutlich schon längst für den jungen, hübschen, dynamischen Schmied entschieden.
    „Wolltest du mir nicht auch etwas schenken?“, fragte Julia und strahlte ihn an.
    Jetzt war es also soweit. Was sollte er sagen? Er wusste es nicht. Er wusste es erst, als er den Mund öffnete und einfach drauflos redete.
    „Ich… ich hab dich wirklich gern, Julia“, sagte er etwas dümmlich.
    „Ich mag dich auch“, erwiderte sie. Es machte Anders ein bisschen Mut.
    „Deshalb… also… ich schenke dir mein Herz“, platzte es aus ihm heraus, „Ich schenke dir mich.“
    In Julias funkelnden Augen spiegelte sich nun die Überraschung.
    „Das… oh…“, begann sie etwas zaghaft, „Das ist echt süß von dir, weißt du? Ich… also damit hätte ich nicht gerechnet. Du bist sehr nett, aber…“
    „Du musst nicht -“, unterbrach Anders sie, wurde aber sogleich seinerseits von einem lauten Rufen unterbrochen.
    „Hey, Julia! Kommst du jetzt?“
    Brian stand vor seiner Behausung und winkte die junge Frau zu sich herüber. In den Händen hielt er zwei Tassen dampfenden Glühwein.
    „Gleich!“, rief Julia über ihre Schulter hinweg zurück und wandte sich wieder Anders zu.
    „Du wolltest gerade noch was sagen“, sagte sie. Ihr Lächeln schien ein wenig mitleidig oder enttäuscht zu sein, aber Anders wusste in dieser Situation ohnehin nicht mehr, was er noch denken sollte.
    „Ähm, schon gut“, winkte er ab, „Geh nur. Man sieht sich.“
    „Oh… okay“, sagte sie, „Dann wünsche ich dir noch ein schönes Weihnachtsfest, Anders. Bis dann!“
    Sie hatte sich gerade umgedreht um mit Brian zurück ins Haus zu gehen, da musste Anders noch etwas loswerden.
    „Ach, äh, Julia?“
    „Ja?“, fragte sie und machte noch einmal auf der Türschwelle kehrt. Brian war schon längst im Haus verschwunden. Anders atmete tief durch.
    „Du siehst echt toll aus. Nicht nur heute.“
    Julia lächelte ihn erfreut an.
    „Danke“, erwiderte sie, „Du auch!“
    Dann war auch sie nicht mehr zu sehen, und Anders war sich nicht sicher, ob ihm ihre Worte mehr geholfen oder mehr geschadet hatten.


    ________


    „…und dann ist sie mit ihm ins Haus gegangen. Sie hatte sich schon längst für ihn entschieden.“
    „Oh nein, du Armer!“
    Fenia schien ihn aufrichtig zu bemitleiden. Ein wenig schämte Anders sich ja schon, sich ausgerechnet an Heiligabend seinen Kummer bei der netten Händlerin von der Seele zu reden, doch alleine sein wollte er auch nicht mehr. Und Fenia war die einzige Person auf Khorinis, zu der er wirklich Vertrauen hatte.
    „Aber das war wirklich süß, wie du ihr das gesagt hast.“
    Anders brummte.
    „Fand sie auch, aber es hat eben einfach nicht gereicht. Zumindest nicht für den ersten Platz.“
    Fenia streckte sich, um ihren Arm um den großen Nordmann zu legen.
    „Dann war sie vielleicht einfach nicht die Richtige für dich“, meinte sie.
    „Ja, vielleicht“, murmelte Anders, „Aber wenn doch?“
    „Hm.“
    Anders sah in den weißen Himmel hinauf. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Irgendwie war ihm kalt.
    Vielleicht war es mal wieder Zeit für eine kleine Reise. Einen Umzug. Die südlichen Inseln sollten ja schließlich auch ganz schön sein…
    Geändert von John Irenicus (08.09.2012 um 18:33 Uhr)

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