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    Cheshire Cat  Avatar von Superluemmel
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    Stoßend ging sein Atem, synchron zum Flappen der gefiederten Schwingen des Falken entwichen weiße Wolken gefrorener Atemluft seinem tortz der Kälte glühendem Körper. Bäume flogen als verschwommene Schemen wie im Traum an ihm vorbei, tiefhängende Äste reckten sich plötzlich in seinen Weg und peitschtem nach seinem Gesicht. Splitternd wurde das Geäst zur Seite geschleudert, wenn Frosts Unterarme schützend nach oben gerissen wurden. Geduckt, die vom fast violetten Blut des Korakh besudelten Schwerter noch immer fest in den Händen, jagte er dem Falken seiner Geliebten hinterher, der mit sanftem Flügelschlag elegant zwischen den Baumwipfeln schwebte und dabei wie von einer unsichtbaren Hand geführt Ästen und Stämmen gleichzeitig auswich.
    Ein Geist...
    Frost hatte keine zwei Sekunden gebraucht, um zu wissen, was hier gespielt wurde. Esthera hatte die Präsenz eines anderen Wesens gespürt, das in den Körper des urzeitlichen Kolosses eingedrungen war, seinen Verstand ausgelöscht und es bis zur Raserei getrieben hatte. Als das Biest dann seine letzten Atemzüge tat, zog sich der fremde Einfluss zurück zu seinem ursprünglichen Körper. Eigentlich ein solider Plan, war diese Fremdkontrolle von einem Menschen in der Regel doch nicht zu bemerken. Allerdings schien da jemand Esthera unterschätzt zu haben.
    Und Frost kannte derzeit nur eine Person, die über die notwendigen Fähigkeiten verfügte, einem anderem Wesen seinen Willen aufzuzwängen.
    Dieser Jemand hatte nicht nur die Dreistigkeit besessen, einen Angriff auf Esthera und damit auf seine Familie zu wagen, sondern hatte auch noch die Ruhe seiner Eltern mit Füßen getreten. Der Angriff des Korakh hatte die Stille des Friedhofs zerstört und seine Hufe die gesegnete Erde entweiht. Was wohl der Orden der Sieben dazu sagen würde? Doch wie er aus eigener Erfahrung wusste, nahm es der Orden bei gewissen Angelegenheiten nicht allzu genau mit dem eigenem Codex...
    Der Wald vor ihm brach auf. Goldenes Licht funkelte im Staub des von den Baumwipfeln herabfallenden Schnees, ein schillernder Vorhang, der vom Wind davongetragen wurde. Eine Lichtung kam in Sicht, graue, nur einseitig von Schnee bedeckte Steinpfeiler schoben sich wie krumme Finger aus dem vereisten Boden. Selbst aus der Entfernung waren die matt glänzenden Runensymbole auf ihrer Oberfläche zu sehen. Schriftzeichen in einer fremden Sprache, geschliffen aus einem merkwürdigen, obsidianartigen Material und von Unbekannten vor langer Zeit in den Stein gemeißelt. Wahrscheinlich wussten die Steine allein, wer diese überall in Thjerenfeldts Umgebung aufzufindenden Stätten errichtet hatte. Frost wusste nur, dass Esthera sie ab und an besuchte, um eines ihrer Rituale durchzuführen. Offenbar halfen sie ihr, die magischen Kräfte zu kanalisieren.
    Ein halb vermoderter Baumstamm legte seinen schneebedeckten Körper in Frosts Weg, wurde jedoch mit einem weiten Sprung überbrückt. Schnee stob auf, als sich der Krieger mit einer Rolle über die Schulter abfing, mit blitzenden Schwertern erneut in die Höhe schnellte und - Lanzen der Pein bohrten sich durch seine Schläfen und ließen ihn haltlos nach vorne stürzen.
    Er spürte den kalten, grobkörnigen Schnee in sein Gesicht schlagen, hatte jedoch nicht die Kraft, sich abzufangen. Ebenso plötzlich wie er gekommen war, ebbte der Schmerz wieder ab. Benommen schüttelte der Krieger den Kopf, die Klingen gruben sich tief ins Erdreich, als er sich an ihnen auf die Knie hochzog.
    Dann traf ihn der nächste Angriff mit der Wucht eines Orkhammers. Die Flammenschneide kippte in den Schnee, die Finger seiner linken Hand krallten sich in sein Gesicht um den Schmerz aus seinem Kopf zu reißen. Die Pranke eines schwarzen Trolls schloss sich um sein Gehirn und drohte es wie einen überreifen Pfirsich zu zerquetschen. Seine Hand zuckte unkontrolliert und trieb seine Knochen an den Rand der Belastung, als sie sich mit aller Kraft um das Heft des Eisbrechers verkrampfte. Ein unsichtbarer Feind missbrauchte seinen Kopf als Sandsack und prügelte mit Stahlnieten an den Handschuhen auf sein Bewusstsein ein.
    Blut schoss wie ein Wasserfall aus seiner Nase und seinen Ohren. Rote Perlen zerschellten auf seiner weißen Robe und benetzten den Schnee mit seiner Gestalt gewordenen Lebenskraft. Metallartiger Geschmack drückte schwer auf seinen Gaumen, sein Gehirn schien auf die Größe einer Walnuss zu schrumpfen und ein ebenso sadistischer wie unbarmherziger Nussknacker versuchte mit aller Macht, sie in Krümel zu verwandeln.
    Brüllend vor Schmerz stemmte sich Frost auf die Beine. Der Eisbrecher lag wie ein blutverschmierter Eiszapfen in seiner Hand. Frisches Blut vermischte sich mit dem des Korakh und rann als dunkler Strom über die schimmernde Schneide. Jeden Augenblick mussten entweder seine Fingerknochen oder sein Gehirn nachgeben.
    Ruckhaft, wie die Hand einer Marionette, schloss sich seine Linke um den Schwertgriff. Frosts Augen waren geweitet wie die eines Süchtigen nach übermäßigen Genusses von Sumpfkraut. Seine Hände umklammerten den Eisbrecher ebenso verzweifelt wie sein Geist den letzten Rest seines Verstandes.
    In diesem Moment erblickten seine durch aufgeplatzte Adern rot gefärbten Augen seinen Gegner. Groß und blass stand er zwischen den schiefen Steinpfeilern, die starren, toten Augen direkt auf den Waffenmeister gerichtet. Die tätowierten Arme lagen vor der nackten Brust verschränkt, sein Gesicht war ebenso ausdruckslos wie an dem Abend, an dem sie sich kennengelernt hatten. Und doch hatte sich Shorun verändert. Sein Körper schien noch blasser als sonst und schien vor Frosts Augen zu verschwimmen als ob er durch einen dünnen Film aus stürzendem Wasser blicken würde.
    Taumelnd machte Frost einen Schritt nach vorne. Dort stand der Bastard, Lorkars Schoßhund, der auf dem Grab seiner Eltern herumgetrampelt war und Hand an Esthera legen wollte. Der Feind, der ihm sein hart erkämpftes Leben zu rauben drohte. Die Inkarnation seines eigenen Hasses.
    Ein erneuter Stich wie von einer glühenden Nadel zwang Frost auf ein Knie. Knurrend spuckte er Blut in den Schnee und erhob sich mit einem Ruck.
    "Verschwinde... aus meinem... Kopf!", schrie der Waffenmeister, senkte die Schulter und stürmte los.
    Er hörte seine Zähne knirschen, als ihm der Schmerz in seinem Kopf das Bewusstsein zu rauben drohte. Seine Beine knickten ein, die Steinpfeiler flogen an ihm vorbei, das Schwert hob sich in leichtem Bogen und senkte sich mit tödlicher Präzision auf Shorun.
    Der Geist hob den Arm und blockte den Schlag ab, als ob es sich bei der rasiermesserscharfen Klinge um nichts als Holz handeln würde. Shoruns Arm wies nicht einmal eine Schramme auf. In seinem starrem Gesicht rührte sich kein Muskel.
    Was war das für ein Mensch?!
    Der Druck auf Frosts Kopf ließ nach. Als Ausgleich rammte Shorun Frost seine Faust in die ungeschützte Magengrube. Der Waffenmeister klappte zusammen wie ein Mehlsack und schrie schmerzerfüllt auf, als der Stiefel seines Gegners unsanfte Bekanntschaft mit seinen Rippen machte. Keuchend rollte er sich auf die Seite, kam zwar geschmeidig aber dennoch schwankend auf die Beine und sprang einen halben Schritt zurück, um einem weiteren Schwinger Shoruns zu entgehen.
    Sein Stiefel stieß in den Schnee und rutschte auf dem vereisten Untergrund nach hinten weg, als der Krieger nach vorn sprang und zustach.
    Zumindest wollte er es. Bevor er die Bewegung zuende geführt hatte, traf ihn eine unsichtbare Macht im Gesicht. Der Schlag warf Frost im Flug herum, ließ ihn eine halbe Rolle in der Luft vollführen und dann hart in den Schnee krachen. Schon spürte er Shoruns Stiefel im Genick, fühlte, wie der Riese sein Gewicht zu verlagern begann, schloss die Augen und spannte noch einmal sämtliche Muskeln, um dem unausweichlichen Schicksal zu trotzen.
    Ein schriller Schrei hallte durch den Wald.
    Der Stiefeldruck nahm ab, ein schmaler Schatten huschte dicht neben Frost über den Schnee. Dann erneut der helle Schrei, vermischt mit dem kratzenden Geräusch scharfer Krallen auf nackter Haut.
    Frost nutzte die ihm gebotene Chance, stemmte die Hände in den Schnee und sprang mit einer plötzlichen Bewegung auf. Shorun taumelte rückwärts und schlug mit seinen Pranken nach einem huschenden Schemen, der mit seinen rasiermesserscharfen Klauen und gebogenem Schnabel nach seinem Gesicht hackte.
    Zeyron.
    Frost wusste, dass der Falke nicht lange durchhalten würde. Sobald der Geist einen Glückstreffer landen konnte, war es mit ihm vorbei. Doch er hatte auch nicht vor, lange zu warten.
    Noch einmal sprang Frost auf seinen Gegner zu, drehte sich halb herum und stieß den Eisbrecher an seiner Seite vorbei in Richtung Shoruns.
    Ein einzelner, durch die Baumwipfel stechender Lichtstrahl wanderte über die an Eis erinnernde Schneide der Ironiaklinge. Langsam kroch der blendend helle Fleck über den gehärteten Stahl, bis er knapp unterhalb der Parierstangen hängenblieb.
    Shorun erstarrte mit halb erhobenen Armen mitten in der Bewegung. Sein leerer Blick war schräg in den Himmel gerichtet, kein Laut kam über seine Lippen. Die schlanke Klinge des Eisbrechers hatte ihn wie einen Schmetterling aufgespießt. Einzelne Blutstropfen quollen aus der Wunde in seiner breiten Brust, liefen über die im Licht schillernde Klinge und stürzten sich über die Schneide gen Boden. Shorun starb ebenso leise, wie er gelebt hatte.
    Keuchend stemmte Frost ein Bein gegen den reglos wie eine Statue dastehenden Geist und zog das Schwert mit einem lauten Schmatzen aus dem toten Körper. Shorun kippte starr nach hinten in den Schnee.
    Den Eisbrecher noch immer in der Hand, drehte sich Frost um und schleppte sich in Richtung der fallengelassenen Flammenschneide. Erneut begann die Welt, einen wilden Tanz um ihn herum aufzuführen. Er sah Zeyron unweit auf einem Ast landen und sah eine zierliche, in Weiß gehüllte Gestalt auf ihn zulaufen. Ein schwaches Lächeln zeigte sich in seinem von Blut befleckten Gesicht.
    Dann brandete Dunkelheit über ihn herein und er kippte haltlos nach vorn.

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    "Dafür wird er bluten!"
    Tassen schepperten und Becher polterten, als Tarwulfs Faust den kleinen Holztisch erzittern ließ. Zitternd presste sich die mächtige Pranke auf das glattgeschliffene, rötliche Holz, deutlich waren die Knöchel unter der ledrigen Haut des Hünen zu sehen. Tarwulfs Lippen bebten vor mühsam unterdrückter Wut. Der Kampf in seinem Inneren übertrug sich auch auf seine Mimik - Selbst die zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen schienen seine Hand mit Mühe auf die Tischplatte pressen zu müssen, damit sie sich nicht erneut hob und das Holz vollends zersplittern ließ.
    "Ruhig Blut", war Elistins Stimme von einem der Bücherregale zu hören, "Erstens bringt es uns kein Stück weiter, wenn du Frosts Inneneinrichtung auseinandernimmst, zweitens profitieren wir ebenso wenig davon, übereilt loszuschlagen."
    Der karmesinrote Mantel mit den goldenen Beschlägen glitt lautlos über das Parkett. Gemächlich schlenderte Elistin an dem Regal entlang, ließ seine Finger sanft über die sorgfältig nebeneinander aufgereihten Buchrücken gleiten. Als er noch einen knappen Schritt von dem schmalen Gang entfernt war, der die einzelnen Bücherregale des Studierzimmers voneinander trennte, erstarrte er mitten in der Bewegung, drehte den Kopf leicht zur Seite, trat erneut einen Schritt zurück und ließ dann ein in schwarzes Leder gebundenes Buch in seine Hand kippen.
    "Lorkar hat einen fatalen Fehler gemacht und sich dadurch selbst ins Grab gestoßen. Doch wenn wir jetzt nicht aufpassen, stolpern wir selbst hinterher. Lorkar hat uns die Initiative zugespielt, jetzt sollten wir sicherstellen, dass wir sie auch behalten."
    Er wandte seinen Kopf dem Gastgeber zu, der der Diskussion seit Beginn schweigend in seinem Sessel sitzend beigewohnt hatte.
    "All die Jahre pass ich auf dein Haus auf und dennoch schafft es dieses Schmuckstück, sich meinem Zugriff zu entziehen." Er blickte kopfschüttelnd auf das Buch in seiner Hand. "Was dagegen, wenn ich’s mir ein paar Tage leih?"
    "Wie sieht jetzt unser weiteres Vorgehen aus?", mischte sich Corwen in die Planungen ein. Er saß auf einem Schemel direkt unter einem der beiden großen Fenster des Zimmers und spielte mit einem eisenbeschlagenen Stück Holz herum, welches von der Form her gut ein Dolchgriff hätte sein können. Allerdings fehlte die Klinge.
    "Wir warten erst auf Koris", gab Tarwulf knurrend zurück.
    "Das tun wir schon seit zwei Stunden."
    "Wir müssen warten. Zumindest, bis wir wissen, was Lorkar vorhat."
    Karaph lehnte an der Seite von Frosts schwerem Sessel. Seine Augen glänzten hell in dem dunklen Gesicht und fixierten stets den jeweiligen Sprecher. Dennoch beschränkte er sich wie gewohnt aufs bloße Beobachten, sein Mund schwieg die meiste Zeit still.
    "Wenn wir zu lange warten, ist Lorkar über alle Berge. Und kann sich neu formieren. Je länger wir warten, desto eher kommt er ungeschoren davon!"
    Sein Daumen zuckte, ein Mechanismus klackte und plötzlich schnellte eine scharf blitzende Klinge aus dem Ding in Corwens Hand und rastete klickend ein. Für einen Moment blitzten auch seine Augen voller Kampfeslust. Dann war das charakteristische Geräusch einer aus ihrer Halterung springenden Feder zu hören. Die Klinge löste sich aus dem Griff, bohrte sich knapp neben Corwens Fuß in den Boden und ließ den Hobbybastler in Schimpftiraden ausbrechen.
    Tjerik gab ein Seufzen von sich, stand von seinem Stuhl auf und bog den Kopf so weit zur Schulter herab, dass seine Halswirbel laut knackend an der Diskussion teilnahmen.
    "Je früher wir losschlagen, desto unwahrscheinlicher unser Erfolg. Wir wissen nicht einmal, wer alles zu Lorkar hält. Seinen blassen Freund sind wir wohl los, aber wieviele Männer konnte er noch auf seine Seite ziehen? Bisher wissen wir nur, dass er sehr plötzlich abgereist ist. Allerdings nicht, wohin."
    "Koris findet ihn", grummelte Tarwulf überzeugt, "Wenn sie es nicht schon hat."
    "Lässt sich aber ganz schön Zeit", murmelte Corwen und erntete dafür einen schmerzhaft bösen Blick von Seiten Tarwulfs.
    Schweigen. Tarwulf wellte die Stirn seines kantigen Gesichts und blickte unter gehobenen Brauen zu Frost. Elistin warf in Hoffnung auf eine Antwort einen kurzen Blick in die Richtung der ruhig in ihrem Sessel sitzenden Gestalt, blätterte dann jedoch mit vorgetäuschtem Interesse in dem Buch herum. Corwen versuchte mit mäßigem Erfolg, die Dolchklinge im Griff zu verankern und wartete gespannt auf ein die Diskussion abschließendes Wort. Tjerik atmete hörbar aus und lehnte sich an eines der Bücherregale. Borin, der sich während des Gespräches ebenfalls zurückgehalten hatte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zerzauste sich mit der Rechten den Bart.
    Einzig Karaph blieb ruhig stehen und ließ sich keinerlei Regung anmerken.
    Etwas klopfte an das Fenster. Frost blickte auf. Nein, kein Klopfen. Es war ein Picken. Ein aus einem zierlichen, schneeweißen Schädel vorspringender, grob hakenförmiger Schnabel stieß nach vorne und bat um Einlass. Zeyron. Endlich.
    Wortlos erhob sich Frost von seinem Platz, trat an seinen verwundert dreinblickenden Gefährten vorbei ans Fenster. Kalte Luft strömte in den Raum und ließ dünnes Papier knistern, als er den Falken hereinließ. Dieser machte einen weiten Hopser, landete geschickt auf dem Unteram des Waffenmeisters und hob die rechte Kralle. Dort baumelte, mit einer dünnen Kordel am zerbrechlich dünnen Bein befestigt, eine Schriftrolle. Als der Krieger sie behutsam von Zeyrons Bein löste, fiel sein Blick auf das rote Wachssiegel. Ein Kriegshammer vor einem Schild, eingerahmt vom Sonnenkreis Innos’. Das Wappen Hammerfoldts. Wobei der Sonnenkreis noch nicht allzu lange dazugehörte.
    Doch dieser Brief war, worauf er seit Stunden gewartet hatte. Mit dem Schriftstück, das er in der Hand hielt, würde entweder alles beginnen oder alles enden. Falls letzteres der Fall sein sollte, würde sich Koris ganz umsonst abgemüht haben. Anderenfalls... würde er erneut in den Kampf ziehen.
    Als er das Siegel brach und den Brief entrollte, hoffte ein Teil von ihm sogar, dass Lorkar davonkommen würde. Trotz des Vorfalls am Friedhof wollte er nicht gegen ihn kämpfen. Eigentlich wollte er gar nicht mehr kämpfen. Fast dreißig Jahre seines Lebens waren vom ständigen Tanz mit den Schwertern dominiert worden. Jetzt war er heimgekehrt, wiedervereint mit seiner Familie und alles was er finden sollte, waren weitere Schlachten?
    Nein, er wollte nicht mehr kämpfen. Vor allem nicht gegen einen Freund. Auch wenn er ihn verraten hatte. Früher hätte er vielleicht spontaner, entschlossener und hitzköpfiger gehandelt, wenn ihm etwas vergleichbares passiert wäre. Damals hätte er sich noch keine Gedanken über die Folgen gemacht.
    Damals hatte er noch keine Verantwortung zu tragen.
    "Was ist das für ein Brief?", fragte Corwen zwei Zeilen, bevor er das Schreiben zuende gelesen hatte.
    Frost hob nur die Hand und schloss dann die Augen, bevor er den Brief sorgfältig wieder zusammenrollte. Also war es entschieden...
    "Herzog Wildorn der Zweite lässt verkünden, dass Lorkar, seines Zeichens nach amtierender General der Sturmläufer, von Zeit dieses Schreibens an als vogelfrei gelte", rezitierte er grob den Inhalt des Briefes. Nach Sekunden der Stille öffnete der Waffenmeister erneut die Augen und drehte sich zu seinen Gefährten herum. Obwohl eine Stahlklammer seine Eingeweide zusammenzupressen drohte, war in seinem Gesicht Entschlossenheit zu lesen.
    Bei den Göttern, wie er sich dafür hasste...
    "Lorkar ist also seines Postens enthoben und der Herzog hat mich erneut als Rudelführer eingesetzt." Schnell schluckte er den bitteren Klang herunter, der sich bei diesen Worten in seine Stimme geschlichen hatte. "Der Herzog gab mir die Erlaubnis, Lorkars Verfolgung aufzunehmen."
    "Und... wie sieht jetzt unser weiteres Vorgehen aus?", fragte Borin.
    Schritte stampften in schneller Folge über das Holz des Ganges, näherten sich, stoppten. Dann öffnete sich die Tür und eine sichtlich erschöpfte Koris trat ein.
    "Melde... Feind befindet sich... auf dem Rückzug", schnaufte sie zwischen zwei Atemzügen und einem kurzen Salut in Richtung Frosts.
    "Lass die Formalitäten, Koris", winkte dieser ab und verzog das Gesicht. Er hatte es noch nie leiden können, wenn selbst seine engsten Freunde vor ihm Haltung annahmen. Auf dem Feld musste es sein, um die Ordnung aufrecht zu halten, aber in seinem eigenem Haus?
    Koris’ spöttisches Grinsen zeigte jedoch mehr als deutlich, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.
    "Atme erstmal ordentlich durch und erzähl uns dann, was du gesehen hast", forderte er die Späherin auf.
    Koris lächelte dankbar, ließ sich auf einen der Stühle fallen, blickte fragend zu Borin und kippte seinen Tee herunter, als dieser nickte.
    "Also", begann sie und stellte den Becher zurück auf den Tisch, "Lorkar zieht in Richtung Nordwesten. Mit ihm zusammen hab ich fünfzehn Leute gezählt. Keine Ahnung, wo er die so schnell aufgetrieben hat. Er befindet sich anderthalb Tagesmärsche von hier entfernt, kommt jedoch nur langsam voran, da er nur einen einzigen Schlitten für das Gepäck hat."
    "Dann sitzt er in der Falle", sagte Borin, "Ich bin mit zwei Schlitten und zwei Hurjoks hergekommen, um das Zeug für die Feier herzuschaffen. Wenn wir noch den Schlitten benutzen, den ich Frost gegeben habe, holen wir ihn locker ein."
    Zeyron zupfte zaghaft an Frosts Ohr, als ob er ihm sagen wollte, dass alle nur auf seinen Entschluss warteten. Der Waffenmeister kratzte sich nachdenklich den Bart, während er zum Ende des Tisches ging. Dort stützte er sich schwer mit beiden Armen auf der Tischplatte ab, hob nach einigen Sekunden den Kopf und suchte den Blickkontakt jedes einzelnen der Anwesenden.
    "Ihr seid euch sicher, dass ihr mir bei dieser Sache helfen wollt?"
    Corwen machte ein nachdenkliches Gesicht.
    "Wenn ich’s mir so recht überlege... natürllich bin ich dabei!"
    "Ich denke, damit sprichst du für alle", fügte Tarwulf hinzu.
    Frost nickte.
    "Nun gut..."
    Er blickte auf die Karte der Umgebung, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lag.
    "Wenn Lorkar nach Nordwesten zieht, vermute ich, dass er versuchen wird, mit unseren an der Grenze stationierten Einheiten Blizzard und Frostbringer zusammenzustoßen. Vermutlich rechnet er mit unserem Vorhaben und erhofft dort weitere Unterstützung von seinen Sympathisanten. Wenn er sie erreichen sollte, steht uns weitaus schlimmeres als ein kleines Geplänkel bevor. So weit darf es nicht kommen. Ich denke, das sollte jedem klar sein."
    Zustimmendes Nicken. Falls Lorkar die Einheiten an der Grenze erreichen sollte, würde es eine Katastrophe geben. Der folgende Kampf würde das gesamte Rudel spalten und vielleicht sogar vernichten. Das konnte und wollte Frost nicht zulassen.
    "Dank Borin können wir im Gegensatz zu Lorkar auf Mobilität setzen. Das gibt uns den Vorteil, dass wir uns den Ort des Kampfes aussuchen können. Deshalb schlage ich vor, dass wir ihn hier abfangen."
    Sein Finger stach vor und ließ sich auf einem Punkt der Karte nieder, der von dichtem Wald eingerahmt wurde. Zeyron gab einen leisen, an ein Pfeifen erinnernden Schrei von sich.
    "Mitten im Kristallwald?", fragte Elistin wenig überzeugt. "Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Was ist mit den Trollen?"
    Frost gestattete sich ein schmales Grinsen.
    "Genau deshalb halte ich es für einen guten Plan. Wenn Lorkar weiter nach Nordwesten will, muss er durch diesen Wald. Und wenn er nicht riskieren will, als Trollfutter zu enden, muss er die Straße benutzen. Das heißt, er hat keinerlei Ausweichmöglichkeiten. Da wir ihm den Weg abschneiden wollen, müssen wir zwar ebenfalls durch den Wald, aber ich verlass mich dabei auf Koris, dass sie uns einen sicheren Weg findet."
    Die Späherin hob zweifelnd die Augenbrauen.
    "Du traust mir aber eine ganze Menge zu..."
    "Genau wie jedem anderem", erwiderte Frost. "Lorkar ist uns zahlenmäßig überlegen. Wir haben dafür den Vorteil der Initiative. Selbst wenn wir ihn überraschen können, wird es mehr als nur ein harter Kampf. Dennoch ist es unsere einzige Chance, ihn zu erwischen."
    "Was, wenn uns Lorkar entwischt?", wollte Tjerik wissen.
    "Ich hoffe, dass dieser Fall nicht eintreten wird", antwortete Frost. "Falls doch, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Ich werde Zeyron mit einer Botschaft an beide Gruppen schicken. Dennoch weiß ich nicht, was passieren wird, falls Lorkar durchbrechen sollte. Da ich auf diese Erfahrung gerne verzichten kann, müssen wir es schaffen."
    Ein erneuter Blick in die Runde.
    "Noch Fragen?"
    "Wann brechen wir auf?", knurrte Tarwulf.
    "Noch heute abend. Nehmt so wenig wie möglich mit, damit die Hunde länger durchhalten. Wir treffen uns am Brunnen."
    "Dann ist ja alles geklärt", meinte Elistin, stieß sich vom Bücherregal ab und ließ das Buch in seiner Tasche verschwinden. "Das Rudel ist wieder auf der Jagd!"
    "Borin?", hielt Frost seinen Freund auf, als dieser sich zum Gehen umwenden wollte, "Ich würde noch gerne mit dir reden."
    Der Züchter legte zwar die Stirn in Falten, wartete jedoch, bis alle anderen den Raum verlassen hatten. Dann schloss er die Tür.

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    Langsam, beinahe schon ängstlich, wanderte das Bündel aus Lichtstrahlen über die perfekt schwarze Oberfläche, verharrte kurz und setzte dann seinen Weg umso schneller fort, als der dunkle Körper auf die Seite kippte. Wie ein finsterer See lag er da, ruhig, aber dennoch gefährlich, bereit, jederzeit alles zu verschlingen. Jedoch nicht in Form schwarzer Fluten, sondern in eine feste Form gepresst. Was ihn aber nicht minder trügerisch machte. Gleich den Wassern konnte er von einem Moment auf den anderen in eine Todesfalle umschlagen. Ein Augenblick der Unachtsamkeit war völlig ausreichend.
    Es war ein seltsamer Anblick. Obwohl er mitten im orangeroten Licht der untergehenden Sonne lag, schienen die warmen Strahlen die Panzerplatten nicht berühren zu können. Eine unsichtbare Barriere schien sie wenige Haarbreit vor dem pechschwarzen Hornpanzer aufzuhalten. Obwohl das Material glatt erschien, lag auf ihm keinerlei Glanz und es fühlte sich rauh an, bot jedoch kaum Widerstand, wenn er mit den Fingern darüber strich. Der Harnisch war ein Paradoxon, ein Widerspruch zu der Natur. Genau wie die Kreatur, aus deren Körper er die Panzerplatten gerissen hatte.
    Dämonen waren keine Wesen dieser Sphäre. Ihre bloße Existenz leugnete die Naturgesetze. Mehr noch, ihre Präsenz schien einen Teil dieser Welt zu verbiegen, zu einem Teil ihrer eigenen, für den menschlichen Geist unbegreiflichen, Heimat zu formen. Wahrscheinlich war diese Widernatur der dämonischen Kreaturen auch der Grund, warum sie niemals aus eigener Kraft in dieser Sphäre manifestieren konnten.
    Der Harnisch lag ungewöhnlich leicht in seinen Händen. Ungewöhnlich deshalb, die Platten zwar dünn waren, aber dennoch jedem Hieb standhielten. Und obwohl sie aus totem Horn bestanden, fühlten sie sich warm an. Als ob trotz allem noch immer Leben in ihnen stecken würde, auch wenn es sicherlich keines war, das von den Innospriestern die Bezeichnung "heilig" erhalten würde.
    Wie schon damals, als er auf der Klippe nahe der Festung Gorthars stand und eben diese Rüstung aus ihrem Grab befreite, hörte er ihren leisen Ruf. Ein Wispern in seinem Geist, das ihn beschwor, den nachtschwarzen Panzer anzulegen. Sie endlich wieder zu vereinen. Es war dasselbe Gefühl, das er auch beim Eisbrecher und der Flammenschneide spürte. Als ob dort kein lebloser Gegenstand, sondern ein Teil seines Körpers liegen würde. Waren die Zwillingsklingen seine Arme, so war der Dämonenpanzer seine Haut.
    Und die Rüstung wusste dies.
    Beinahe andächtig hob er den Panzer, striff ihn über, rückte Brust- und Rückenpanzer zurecht und zog die ledernen Riemen fest. Gehorsam schmiegte sich der Harnisch an seinen Körper, gab im Stillen sein Versprechen, jede Klinge und jeden Pfeil zuverlässig abzulenken. Frost glaubte ihr. Solange seine Knochen mitspielten, würde es auch die Rüstung tun.
    "Du wirst es also wieder tun."
    Die traurige Gewissheit in Estheras leiser Stimme war eine der wenigen Waffen, die den Krieger trotz der Rüstung widerstandslos verletzen konnten. Seine Lider senkten sich halb in einem schwachen Versuch, die eigene Trauer und Scham zu verbergen.
    "Ja..."
    Mit derselben Starrheit, mit der er das immer gleiche Ritual schon unzählige Male zuvor durchgeführt hatte, griff er nach dem Oberarmpanzer, zurrte zuerst links, dann rechts die Lederriemen fest und überprüfte mit kurzem Ruck, ob die Armschienen richtig saßen. Als er vor viel zu wenigen Monaten zurückgekehrt war, hatte er die Rüstung Esthera zuliebe abgelegt. Er wusste, dass ihr die bloße Nähe des dämonischen Panzers unangenehm war. So hing sie seitdem in der kleinen Rüstkammer auf ihrem hölzernen Gestell, dem unbefriedigenden Ersatz eines menschlichen Körpers. Dennoch wollte ihre düstere Präsenz nicht weichen. Jedes Mal, wenn Frost diesen Raum aufsuchte, schien sie ihren Schatten auf die Zukunft zu werfen. Ein dunkler Vorbote auf eine viel zu nah gerückte Zeit. Als ob sie gewusst hätte, dass der Zeitpunkt der Wiedervereinigung kommen würde.
    Jetzt, nach viel zu wenigen Monaten, legte er sie wieder an - Wieder Esthera und Sheyra zuliebe. Und wieder tat er es, um sie zu beschützen. Doch dieses Mal mit der gesamten Kraft, die sein Körper aufzubringen imstande war.
    "Du wusstest es schon länger, nicht wahr?", fragte Frost, während er die Schulterpanzer befestigte.
    Esthera antwortete nicht. Sie brauchte es auch nicht. Die Antwort schwebte längst im Raum, schon bevor Frost überhaupt gefragt hatte. Sie hatte es schon damals an der Quelle gewusst.
    "Esthera, ich will, dass du mit Sheyra nach Hammerfoldt gehst, solange ich fort bin. Borin wird euch begleiten."
    "Nach Hammerfoldt?", fragte Sheyra an Estheras Stelle, "Aber warum? Das macht doch keinen Sinn!"
    Die letzte Schnalle der Beinschienen rastete ein. Ein letzter, prüfender Ruck, dann stand der Waffenmeister auf und legte den Waffengurt an, bevor er zu seinem Mantel griff und ihn überwarf.
    "Ich weiß nicht, wie weit Lorkar gehen wird. Dass er mich bereits am Grab meiner Eltern angegriffen hat, beunruhigt mich. Ich will nicht, dass euch aufgrund einer persönlichen Fehde zwischen mir und ihm etwas zustößt. In Hammerfoldt seid ihr sicherer."
    "Wir fahren mit einem meiner Schlitten", fügte Borin hinzu, welcher bislang still neben der Tür gestanden hatte, "Morgen früh zieht eine Karawane nach Hammerfoldt los. Wir ziehen mit ihnen, wegen dem Gesindel auf den Straßen."
    "Aber das ist doch vollkommen unnötig!", protestierte Sheyra. "Lorkar würde es niemals wagen, uns anzugreifen!"
    "Das habe ich bis vor drei Tagen auch gedacht...", murmelte Frost.
    Esthera legte ihre Hand auf Sheyras Schulter.
    "Frost hat recht, Sheyra. Wenn es zum Kampf kommt, sind wir hier nicht sicher."
    Sheyra schüttelte ernergisch den Kopf.
    "Aber er kann nicht gegen ihn kämpfen!"
    "Ich hoffte selbst, dass es einen anderen Weg gäbe. Doch er lässt mir keine Wahl..."
    "Du verstehst das nicht!", fuhr ihn Sheyra unerwartet heftig an. Einen Moment lang blitzten ihre Augen voll hilfloser Wut. Dann senkte sie den Blick und ihre Stimme wurde leise. "Als... als ich dein Schwert berührte, da..."
    Alarmiert trat Frost näher. Er erinnerte sich an das Gespräch mit seiner Tochter, nachdem sie ohnmächtig geworden war. Sie hatte noch etwas sagen wollen, dann jedoch gemeint, dass sie es vergessen hätte...
    "Ja?", er fasste sie sanft an den Armen und sah sie eindringlich an, "Was hast du gesehen?"
    Sheyra wich seinem Blick aus, blickte zu Boden und striff seine Hände ab.
    "Nichts...", flüsterte sie.
    "Sheyra, wenn du etwas weißt, dann sag es bitte!"
    "Ich hab dir doch neulich schon alles erzählt!", blockte sie ihren Vater grob ab und wich einen Schritt zurück.
    Frost wollte etwas erwidern, sah dann jedoch Esthera leicht den Kopf schütteln.
    "Na gut", seufzte er. "Dann tu mir wenigstens den Gefallen und begleite deine Mutter nach Hammerfoldt. Nur für die paar Tage."
    Er konnte Sheyras Kiefermuskeln arbeiten sehen. Dennoch nickte sie schließlich.
    "Borin", wandte sich Frost an seinen alten Freund, "Ich übertrage dir hiermit die wichtigste Aufgabe von allen. Bring meine Familie sicher in die Stadt. Diese Aufgabe ist von größerer Wichtigkeit als unser eigentlicher Kampf."
    Borins Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln.
    "Ich werde dich nicht enttäuschen, Frost. Ich bring sie sicher rüber. Das schwör ich bei meinem Leben."
    "Ich weiß", antwortete Frost und drückte den stämmigen Züchter zum Abschied fest an sich. "Deshalb vertraue ich auch dir diese Aufgabe an."
    Schließlich wandte er sich noch einmal Esthera zu, schlug den Mantel vor der Rüstung zusammen, bevor er sie sanft umarmte. Der süße Duft ihrer Haare erfüllte seine Nase.
    "Passt auf euch auf. Wenn alles glatt läuft, ist übermorgen alles vorbei. Ich werde bald zurück sein."
    Er sah das feuchte Glitzern in Estheras Augen.
    "Das hast du schon einmal gesagt."
    "Diesmal wird es so sein", versicherte er ihr, "Versprochen."
    "Auch das."
    Der Waffenmeister presste die Kiefer zusammen.
    "Ich weiß. Aber dieses Mal werde ich mein Versprechen halten. Vertrau mir." Er lächelte sanft. "Schaut ihr mir bloß, dass ihr Borin heil nach Hammerfoldt bringt."
    "Sei vorsichtig", flüsterte Esthera.
    "Dir zuliebe jederzeit", meinte Frost und hauchte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange, bevor er sich zur Tür wandte.
    "Die anderen warten schon auf mich. Ich wünsche euch eine gute und vor allem sichere Reise."
    "Und euch einen guten Kampf", erwiderte Borin brummend.
    "Worauf du dich verlassen kannst", grinste Frost.
    Dann ließ er seine Familie hinter sich zurück und marschierte los, einer ungewissen Nacht und einem ebenso ungewissen Kampf entgegen...

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    Die Nacht war frisch, doch harmlos im Vergleich zu der eisigen Hölle, die noch vor einen Monat diese Breiten beherrscht hatte. Langsam verlor der Winter den Kampf gegen die zurückkehrende Wärme. Den Plänen Frosts kam das nur gelegen. Je weniger Kälte, desto weniger Ballast für schützende Kleidung. Je weniger sie mit sich herumschleppen mussten, desto besser standen ihre Chancen, Lorkar rechtzeitig einzuholen.
    Als der Schwertmeister den Brunnen erreichte, warteten seine Gefährten schon auf ihn. Die Hunde der Schlitten waren bereits eingespannt und kratzten sich das Fell, beschnupperten ihren direkten Nachbarn oder lagen im Schnee und warteten auf das Signal zum Aufbruch. Unweit von ihnen standen die beiden von Borin versprochenen Hurjoks - Mächtige Tiere mit weichem, gräulichen Fell, die einem Mann gut bis zur Schulter reichten und durch ihre stets leicht geduckte Haltung etwas an überdimensionierte Raubkatzen erinnerten. Die großen Augen schimmerten matt wie Silber im Mondlicht, eine breite, hellrote Zunge schlang sich um die langen Fänge und verschwand kurz darauf wieder hinter den Lefzen, der lange Schweif spielte mit dem Schnee. Einer der Hurjoks hatte sich faul auf die Seite gerollt und streckte die muskulösen Läufe von sich. Der andere leckte sich eine der Vorderpfoten, bevor er mit den langen Krallen im Schnee scharrte. Das wirklich Ungewöhnliche an diesen Tieren waren jedoch die vier aus der Schulterpartie wachsenden Hörner. Dorngleich wuchsen sie aus dem leicht buckeligen Körper, die beiden oberen grob unterarmlang, die darunterliegenden ungefähr halb so lang. Vom Fell verborgen war der Ansatz zu einem dritten Paar, das jedoch fast vollständig zurückgebildet war. Sie wirkten fast wie die knochigen Überreste von Stummelflügeln, die ein übellauniger Gott in einem Anflug von Sadismus verstümmelt hatte. Vielleicht die Rudimente irgendwelcher urzeitlicher Vorfahren - Genau wusste das wohl niemand.
    Der Rest des Rudels hatte sich bereits eingefunden und auf das Gepäck auf den Schlitten verstaut. Als sie den Schnee unter Frosts Stiefeln knirschen hörten, wandten sich die meisten zu ihm um.
    "Alle bereit?", begrüßte der Waffenmeister seine Gefährten.
    "Sofern man das für ein solches Unterfangen sein kann, ja", gab Elistin als Antwort zurück.
    Tjerik wuchtete die schwere Repetierarmbrust auf seine Schulter und nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel.
    "Munition verstaut, Geißfuß geölt - Kann losgehen."
    "Bin müde", meinte Koris augenzwinkernd.
    "Und ich bin gespannt, ob Borins Köter wirklich meinen Hammer schleppen können."
    "Deinen Hammer wohl schon, aber bei dir kommen mir so meine Zweifel", grinste Corwen und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um Tarwulfs Pranke zu entgehen.
    "Du kennst die Antwort." Karaphs Stimme war gewohnt ausdruckslos.
    Frost nickte dankbar.
    "Gut, dann wollen wir Lorkar keinen weiteren Vorsprung gönnen. Koris, du nimmst einen der Hurjoks, ich den anderen. Der Rest auf die Schlitten. Beweist mir, dass ihr das Kämpfen nicht verlernt habt."
    Der Krieger warf Tjerik seine Tasche zu, welcher sie geschickt auffing und dann zusammen mit Corwen einen der wartenden Schlitten bestieg. Während sich Koris elegant auf den Rücken des Hurjoks schwang, näherte sich Frost dem noch immer im Schnee liegenden Tier. Als er sich näherte, zuckte eines des Ohren des Hurjoks und richtete sich aufmerksam auf. Dann hob sich träge der Kopf des raubkatzenähnlichen Tiers, blinzelte in Frosts Richtung und kniff dann die Augen zusammen, um ungeniert zu gähnen. Durch ein Kopfschütteln verlor der Schnee den Halt an seinem glatten Fell, die großen, fast tellerrunden Augen musterten den Waffenmeister mit unverhohlener Neugierde.
    Frost erwiderte den Blick mit einer Ruhe, die seinen Gedanken ungerecht wurde. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal auf einem Hurjok geritten war? Siebzehn Jahre? Oder sogar schon achtzehn? Jedenfalls viel zu lange. Irgendwer hatte mal behauptet, dass man so etwas nicht verlernte. Frost hatte zwar keine Ahnung mehr wer diese Behauptung aufgestellt hatte, aber er hoffte, dass er Recht behalten würde.
    Seine Hand näherte sich der Schnauze des Hurjoks. Die silberglänzenden Augen fixierten die behandschuhten Finger, als ob es sich bei ihnen um eine lästige Stechmücke handeln würde. In diesem Moment rollte ein Gedanke wie ein Tropfen siedendheißes Wasser durch Frosts Gedanken.
    Hurjoks waren Fleischfresser.
    Das mächtige Tier kniff erneut die Augen zusammen und legte die Ohren leicht an. Sein Maul klappte auf. Die rauhe Zunge schleckte über seine Handfläche, wand sich halb um seinen Daumen und fuhr dann zwischen seinen Fingern entlang.
    "Die beißen nicht", hörte er Koris' freudig helle Stimme, "Borin versteht sein Handwerk."
    "Meine Hand freut sich mit dir", gab der Waffenmeister zurück, strich dem Hurjok kurz durch das Fell und trat dann an seine Flanke.
    Der Hurjok richtete sich auf, reckte kurz den Kopf um sich zu strecken und knickte dann mit den Vorderläufen leicht ein, um Frost das Aufsteigen zu erleichtern. Wie um sein anfängliches Misstrauen zu verspotten...
    Um nicht noch länger zu trödeln, griff der Waffenmeister kurzerhand nach einem der kurzen Hörner und schwang sich als Ausgleich nicht minder elegant als Koris auf den Rücken des Tieres. Irgendwie musste man sein Ego ja wieder aufbauen...
    "Wir rücken aus", befahl Frost, nachdem er es sich auf dem Rücken bequem gemacht hatte. "Koris, du weist uns den Weg. Los!"
    Mehrere kurze Pfiffe ertönten. Hunde rappelten sich vom Boden auf, schleifend setzten sich Schlitten in Bewegung. Koris’ Hurjok sprengte mit schnellen Sätzen an die Spitze des Zuges, nach leichtem Druck in die Flanken des Tieres setzte ihr Frosts Tier nach.
    Beim ersten Hindernis lieg ich trotzdem im Schnee..., dachte er düster.
    Der Brunnenplatz blieb hinter ihnen zurück, mit steigender Geschwindigkeit zog die Gruppe über die Felder in Richtung der alten Mühle. Ebenso müde wie vor sechzehn Jahren wälzte sich das schwere Mühlrad in der leise vor sich hinplätschernden Khjer. Die Pfoten von Koris’ Hurjok pochten bereits auf dem Holz der Brücke, als sich etwas im Schatten des Mühlenvordachs bewegte.
    "So spät noch unterwegs?", vernahm Frost eine Stimme, kurz bevor sich die Gestalt eines Mannes aus dem Mondschatten schälte und an den Rand des Weges trat.
    Frost hob die Hand, um den Rest der Gruppe zum Anhalten zu bewegen und brachte sein Reittier zwei Schritt vor dem Mann zum Stehen. Der Fremde war vielleicht ein paar Finger kleiner als Frost selbst, trug einen langen schwarzen Mantel und einen länglichen, in dunkles Tuch gehüllten Gegenstand in seiner Rechten. Irgendwo hatte Frost ihn schon einmal gesehen...
    "Win’Dar, wenn ich mich recht erinnere", kam es ihm in den Sinn.
    Die Zähne des Fremden blitzten kurz im Mondlich, als er grinsend eine gespielte Verbeugung andeutete.
    "Wie immer stets zu Diensten."
    "Du kennst diesen Mann?", erkundigte sich Koris.
    "Flüchtig", antwortete Frost, bevor er sich an den Fremden wandte.
    "Nun, ich könnte eure Frage gleich zurückgeben: Was sucht ihr zu solch später Stunde an einem so abgelegenen Ort? Wäre ich paranoid, möchte ich fast meinen, ihr hättet hier auf uns gewartet."
    Win’Dars Grinsen verbreiterte sich einseitig.
    "Vielleicht seid ihr ja paranoid?", fragte er lauernd und beugte sich leicht vor. Dann warf er die Hände hoch, drehte sich einmal herum und zuckte mit den Schultern. "Sind wir nicht alle paranoid? Seien wir doch mal ehrlich: Wir sind es. Das zeigt sich allein schon in der typisch menschlichen Angst vor Dunkelheit."
    Er schnippte knallend mit den Fingern seiner freien Hand. Als er weitersprach, war nicht nur der spöttische Unterton aus seiner Stimme gewichen, auch das Lächeln war wie weggezaubert.
    "Ihr zieht also gegen Lorkar?"
    Frost warf einen fragenden Blick zu Elistin. Dieser runzelte die Stirn.
    "Wer sagt das?"
    Win’Dar hob unschuldig die Schultern.
    "Och, die Leute erzählen viel, je länger der Tag ist."
    "Schön", gab Frost kurzangebunden zurück, "Dann haltet uns besser nicht länger auf."
    "Nehmt mich mit", forderte Win’Dar plötzlich.
    "Bitte?", fragte Frost verwundert. In seinem Rücken verkniff sich Corwen ein Lachen.
    "Erlaubt mir, euch begleiten zu dürfen", wiederholte der Fremde. "Ich weiß, wie man mit einem Schwert umgeht und werde euch sicherlich nicht zur Last fallen."
    "Das weiß auch jeder meiner Leute. Allerdings weiß ich bei ihnen auch, dass ich mich auf sie verlassen kann."
    Er gab den Wink zum Weiterziehen.
    "Ich habe mit Lorkar gesprochen", meinte Win’Dar gerade in dem Moment, als Frost den Hurjok lostraben lassen wollte. Der Waffenmeister hob abermals die Hand.
    "Und?", fragte er noch immer halb zum Gehen gewandt.
    "Erwähnte irgendwas von einem Ritual", antwortete Win’Dar und kratzte sich am Hinterkopf, bevor er in gespielter Verlegenheit grinste: "Oh, mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das Jüngste. Vielleicht fällt es mir ja wieder ein?"
    Frosts Zähne knirschten. Elender Halsabschneider. Warum wollte er unbedingt mit?
    "Das ist kein gewöhnlicher Kampf", sprach Frost mit gesenkter Stimme, "Das ist ein Rachefeldzug."
    "Ich weiß", war Win’Dars Kommentar.
    "Warum wollt ihr mich dann unbedingt begleiten? Woher weiß ich, dass ich euch trauen kann und ihr nicht mit Lorkar unter einer Decke steckt?"
    "Also seid ihr doch paranoid", stellte Win’Dar trotzig fest und stemmte die Hände in die Hüften. "Im Ernst: Die Gewissheit kann ich euch freilich nicht geben. Ich bin ehrlich genug um euch zu sagen, dass Lorkar mir durchaus angeboten hat, auf seiner Seite zu kämpfen."
    Frosts Gesicht blieb unbewegt.
    "Und warum habt ihr abgelehnt?"
    "Nun, einerseits hasse ich es, nutzlos rumzusitzen. Diese ganze Feldarbeit hier - Irgendwie ist das nichts für mich." Win’Dar rümpfte die Nase. "Vielleicht kurzzeitig ganz nett, aber auf Dauer ziemlich öde. Aber selbst, wenn ich vor Langeweile fast eingehe, brauch ich nicht gleich Beliar höchstpersönlich die Hand schütteln."
    Der Krieger wandte den Kopf wieder vollends dem Fremden zu und blickte ihn ernst in die Augen.
    "Und wer sagt euch, dass ich besser bin?"
    "Niemand. Aber ich weiß, dass es euch nicht um die Rache geht."
    Auf Frosts fragenden Blick hin grinste er nur wieder sein einseitiges Grinsen und lachte:
    "Man erzählt sich so einiges."
    Seufzend schüttelte Frost den Kopf. Aus diesem Menschen konnte man wohl nicht schlau werden. Schließlich wandte er sich zu Tarwulf um.
    "Meinst du, die Hunde packen noch einen zweiten Mann auf deinem Schlitten?"
    "Dieses Fliegengewicht?" Tarwulf hob zweifelnd die Augenbrauen. "Von dem kriegen wir ja noch ein gutes Dutzend unter!"
    "Steigt auf", meinte Frost erneut zum Fremden und wies auf Tarwulfs Schlitten. "Und wenn du austreten musst, mach es nach der Fahrt. Wir haben genug Zeit vertrödelt."
    Ein düsteres Funkeln stahl sich in Win’Dars Augen.
    "Ihr werdet es nicht bereuen."
    Mit diesen Worten rannte er zu dem angewiesenen Schlitten, hielt sich kurzerhand an Tarwulfs ausladender Schulter fest und schwang sich hinter ihn auf das Gefährt, bevor der Hüne protestieren konnte. Wenige Sekunden später setzte sich der Zug erneut in Bewegung und hetzte als langer Schatten durch die Nacht.

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    Knisternd warf das Lagerfeuer einen Vorhang aus wabernden Flammen und erhitzter Luft gen Himmel. Die Sterne am nächtlichen Himmelszelt antworteten mit kaltem Funkeln, die umstehenden Bäume schienen im schwachen Feuerschein zu pulsieren. Verloren wirkten die acht Gestalten, die sich in die kleine, windgeschützte Senke kauerten. Verloren inmitten des stummen Säulengartens der nördlichen Tundra. Acht verlorene Seelen, die sich in den Kristallwald verirrt hatten.
    Eine Reise, die nur allzu schnell tödlich enden konnte.
    Der Wald nahm seinen Namen von den stets von einer dünnen Reifschicht überzogenen Ästen der Bäume. Sobald sich ein Lichtstrahl in das dichte Gewirr aus Nadeln und Geäst verirrte, brach er sich millionenfach in den winzigen Eiskristallen und verwandelte den gesamten Wald in ein einziges, funkelndes Juwel. Durch die Kronen der Bäume strich fast durchgehend ein schneidender Wind mit brutaler Kälte, der aus den nahen Bergen kam - Der eisige Hauch eines steinernen Riesen, der den Wald seit Jahrhunderten in seiner eisigen Gewalt hielt. Dennoch beschränkte sich der Wind einzig auf den oberen Bereiche des Geästs; in Bodennähe brachte nur ab und an ein kalter Finger des Hauches Mensch und Tier zum Frösteln.
    Die Schlittenhunde hatten sich etwas abseits der Gruppe zu einem Fellball aus eng aneinandergekuschelten Leibern vereinigt. Die Hurjoks lagen wenige Schritt daneben lang ausgestreckt im Schnee. Einer der beiden riss gerade mit schnalzenden Geräuschen Streifen aus dem Stück Fleisch, in das er seine Klauen vergraben hatte.
    Die Menschen hingegen hatten sich um das Lagerfeuer eingefunden - Eine seit Urzeiten bestehende Tradition, um der Dunkelheit und den Schatten der Nacht zumindest für einige Zeit zu entfliehen. Ja, Win’Dar hatte Recht: Der Mensch fürchtete sich selbst nach Jahrtausenden noch immer vor der Finsternis. Auch wenn das niemand eingestehen wollte.
    "Morgen haben wir ihn."
    Um die Befriedigung dieser Worte noch zu unterstützen, spülte sich Tarwulf das trockene Brot mit einem Schluck aus dem kreisenden Schlauch Hammerfoldter Feuer herunter. Tjerik nickte, während sich Tarwulf den Mund mit dem Unterarm abwischte.
    "Das wohl...", meinte er nachdenklich. Sein gesundes Auge war halb geschlossen, während das magische durch den Schneewall der Senke hindurch in die Ferne zu blicken schien. Er reichte den Weinschlauch mit einer apathischen Bewegung weiter, ohne davon zu trinken.
    "Was macht ihr eigentlich mit dem Verräter, sobald ihr ihn besiegt habt?", richtete Win’Dar seine Frage an Frost.
    "Am nächsten Baum aufknüpfen und dann die Wurfäxte auspacken", knurrte Tarwulf mit der Boshaftigkeit eines Bären, dem man den heißgeliebten Honig geklaut hatte.
    Win’Dar ließ sich durch den Hünen nicht beirren und hielt seinen Blick weiterhin auf den Waffenmeister gerichtet.
    "Ihr werdet ihn nicht töten, hab ich Recht?"
    Frost war sich nicht sicher, aber er glaubte für einen Moment, dass sich der linke Mundwinkel Win’Dars erneut zu seinem vieldeutigen Lächeln verzogen hatte. Der leichte Glanz überheblichen Triumphes in den Augen des Schwarzgewandeten sprach dafür, dass er sich nicht geirrt hatte. Frost erwiderte die drückende Frage seines Blicks mit der starren Ausdruckslosigkeit seiner Maske der Ausgeglichenheit und Ruhe, tauchte seinerseits hingegen in dem dunklen, jegliche Wärme verachtendem Blau von Win’Dars Augen nach den Antworten auf seine eigenen Fragen.
    Was trieb den Wanderer dazu, ihn auf seinem Konterfeldzug der Rache zu begleiten? Sie kannten sich aus zwei Gesprächen und keines von beiden war sonderlich aufschlussreich gewesen. Galt dieser Eindruck vielleicht nur für ihn selbst? Schaffte es Win’Dar mittels seiner teils einfach nur wirr erscheinenden Antworten und Fragen, tiefer in den Charakter seiner Gegenüber einzudringen?
    Oder war es einfach nur Teil seines Wesens, Verwirrung zu stiften?
    Die Augen Win’Dars blieben unbewegt. Nur der kalte Triumphglanz und der sich windende Leib des Lagerfeuers in ihnen blieben.
    Frost konnte sich nicht festlegen, woran er bei Win’Dar war. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, auf wessen Seite er stand. Mit einer gehörigen Portion Pech arbeitete er doch mit Lorkar zusammen und bastelte selbst in diesem Moment an seiner tödlichen Falle. Aber mit diesem Risiko würde er jetzt wohl leben müssen.
    Andererseits... vielleicht gab Win’Dar seine Antworten auch nur stets so ungenau, um selbst keinerlei wunde Punkte zu offenbaren und dadurch seine Überlegenheit zu verlieren. Die Art, wie er den Fragen auswich, würde dafür sprechen.
    "Nein, werde ich nicht", antwortete der Krieger nach langem Überlegen und mit einem müden Kopfschütteln auf die Frage des Fremden.
    Dieser nickte nur, senkte leicht den Kopf und entzog somit seine Augen Frosts Blick. Daumen und Zeigefinger strichen langsam durch den Bart an seinem Kinn.
    "Erstmal müssen wir durch den Wald", gab Elistin zu Bedenken und rutschte ein Stück vom Feuer weg, um sich mit dem Rücken an den auf der Seite liegenden Hurjok zu lehnen. Dieser gab ein tiefes Grummeln von sich, welches sich beim Ausklingen jedoch eher in einen Seufzer wandelte. Davon unbeeindruckt, zog Elistin das Buch aus Frosts Bibliothek aus der Tasche und gleichzeitig das linke Bein an, um es als Stütze zu benutzen. Dann begann er zu lesen.
    "Bisher haben wir Glück", meinte Koris, die Tarwulfs schon beinahe kastenförmige Brust als Kissen für ihren Kopf zweckentfremdete. "Keine einzige Spur von Trollen. Mir scheint, der Großteil von ihnen ist über die Straße hinweg nach Norden gezogen."
    Der Weinschlauch erreichte die Späherin und sie nahm einen guten Schluck, bevor sie ihn an Tarwulf weiterreichte.
    "Gut für uns - Jede gewonnene Minute ist eine Minute näher am Sieg."
    "Ach, den haben wir doch ohnehin schon in der Tasche, jetzt, da Frost wieder unter uns weilt."
    "Nehmt das nicht auf die leichte Schulter", zerstreute Frost die von Corwen gesäte Zuversichtlichkeit. "Denkt dran, wir kämpfen teilweise gegen unsere eigenen Leute. Unsere Gefährten. Auch wenn sie sich Lorkar aus welchem Grund auch immer angeschlossen haben, so sind sie dennoch unsere Leute. Wir haben mit ihnen Seite an Seite gekämpft, angestoßen und gelacht."
    Er ließ seinen Blick seelenruhig über die Gesichter der Versammelten wandern, blieb dabei bei Corwen allerdings zwei Sekunden länger hängen. Seine Augen waren stechend wie die eines Falken, wenn er in der Dämmerung nach Beute spähte.
    "Dies ist kein Kampf um Leben und Tod. Zumindest nicht für uns. Hier geht es um Sieg oder Niederlage. Wenn ihr eure früheren Freunde einfach ohne weiteres töten könnt - Bitte. Ich kann das jedenfalls nicht."
    Ein erneuter Blick in die Runde, die ihm völliges Schweigen entgegenwarf.
    "Ich will, dass das jeder verstanden hat. Und daran denkt, sobald es soweit ist."
    "Klarer als die Khjer nach’m Winter", antwortete Corwen nach kurzer Stille. "Mal im Ernst", fuhr er fort, "Wir wissen alle, worauf wir uns eingelassen haben. Bild dir bloß nicht ein, dass wir die Sache nicht ernst nehmen würden. Wir machen nur das, was wir bisher immer in solchen Situationen getan haben."
    "Ich weiß." Frosts Stimme war leise und wurde beinahe vom Prasseln und gelegentlichen Knacken des Feuers verschlungen. "Tut mir leid, wenn ich zu hart war."
    "Bist in Gedanken nicht ganz bei dir, hm?"
    Der Krieger blickte bei Koris’ Frage auf, schüttelte kurz den Kopf um dann doch zu nicken. Die Betonung hatte auf "dir" gelegen. Und wie verdammt Recht sie damit hatte. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, Esthera und Sheyra fortzuschicken. Eine kurze Gänsehaut huschte über seine Arme, dann wurde ihm schlagartig übel. Und das lag nicht am Dörrfleisch oder dem starken Branntwein, der noch immer die Runde machte.
    Mit Gewalt zwängte er seine Gedanken zurück auf andere Bahnen und seine Ohren dazu, wieder dem Gespräch zuzuhören.
    "Wie seid ihr eigentlich zu den Frostwölfen gestoßen?", schnitt Win’Dar ein neues Thema an, als erneute Stille auf die Stimmung zu drücken begann.
    "Frostwölfe?"
    Der auch an diesem Abend durch seine Verschwiegenheit glänzende Karaph schien etwas gewittert zu haben. Frost vermutete, dass er ähnliche Gedanken über Win’Dar hegte, wie er selbst. Wenn Karaph sich schon aus eigenem Antrieb an dem Gespräch beteiligte, hatte er mit Sicherheit etwas vor. Blieb lediglich abzuwarten, welches Spiel er spielen wollte.
    "Wir sind die Sturmläufer", sprach er bestimmt und spielte dabei die Rolle des versteckt auf der Lauer liegenden Raubtieres perfekt.
    "Aber erst, seitdem Lorkar das Kommando übernommen hat." In Win’Dars tiefblauen Augen blitzte es amüsiert. "Und keiner von euch benutzt diesen Namen wirklich."
    Seine Vermutung (oder war es eine Feststellung?) erntete gelegentliches Lächeln.
    "Ihr wisst recht viel für einen Wanderer", stellte Karaph tonlos fest.
    Win’Dar zuckte nur die Schultern, um der Beobachtung des dunkelhäutigen Kriegers an Bedeutung zu nehmen.
    "Auch nur das, was ich so mitbekomme", erwiderte er trocken und schien nicht weiter auf dieses Thema eingehen zu wollen.
    "Soll ich hier jetzt den Anfang machen?", fragte Tarwulf, als ihm Koris neckisch mit dem Ellenbogen in die Seite stieß. "Na gut. Eigentlich bin ich nur wegen der Kleinen dabei", grinste er und brachte mit seiner Pranke reichlich Unordnung in das schwarze Haar der Späherin. "Nein, eigentlich war es zuerst etwas anderes. Unser werter General war auch über die Grenzen Hammerfoldts hinaus als fähiger Duellant verschrien. Damals war ich jung und suchte nach Herausforderungen. Tja, das Ende vom Lied ist, dass dieser Mistkerl mich besiegt hat. Konnte ja auch nicht ahnen, wie glitschig er ist."
    Er zwinkerte Frost entschuldigend zu. Koris schmiegte sich enger an Tarwulf.
    "Ich bin zufällig ebenfalls in Jorbingen aufgewachsen und kenne Frost somit schon seit seiner späten Kindheit. Ich bewunderte ihn damals für den Ehrgeiz -"
    "Dickschädel", warf Frost dazwischen.
    "... mit dem er den Schwertkampf erlernte. Wahrscheinlich kam dazu, dass ich selbst nie sonderlich gut im Umgang mit dem Schwert war. Irgendwann zog er dann nach Hammerfoldt auf die Kriegerakademie und das war’s dann für die nächsten Jahre. Irgendwann kam er dann mit dem kümmerlichen Haufen, der den Anfang der Rauhwölfe bildete, erneut nach Jorbingen, weil sie auf der Jagd nach Orks waren. Ich bot mich als Spurenleserin an und da mir die Arbeit in der Stadt zu langweilig wurde, schloss ich mich ihm kurz darauf an."
    Tjerik streckte sich und rieb sich seine Hände vorm Feuer, bevor er begann.
    "Der Vollständigkeit halber müsste ich jetzt eigentlich bei meinem Großvater beginnen..."
    "Erspar’s uns!", rief Elistin aus dem Hintergrund.
    "Aber ich kann mich auch kurz fassen", grinste der Armbruster daraufhin. Er wartete den rechten Moment ab, um seine Zunge mit einem kräftigen Schluck Branntwein aufzuwärmen. "Früher war ich Scharfschütze bei Torwyns Adlerschützen. Als die im Krieg jedoch fast vollständig aufgerieben wurden und daraufhin vor der Auflösung standen, hat mir Frost ein durchaus lukratives Angebot gemacht. Kein Wunder, immerhin sorgt diese Armbrust schon seit..."
    "Ganz einfach", unterbrach Corwen den Scharfschützen, bevor der mit seinen Ausführungen für allgemeine Müdigkeit sorgen konnte, "Ich war jung und brauchte Geld!" Er lachte über seinen eigenen Witz. Dann wurde er schlagartig wieder ernst. "Aber ich geb zu: Hauptsächlich war’s Abenteuerlust. Zudem hatte die Einheit nen guten Ruf. Konnte also nicht schaden, sich sein Stück vom Kuchen zu verdienen. Mittlerweile können mich jedoch nicht einmal solche Arroganzbeutel wie Sifar aus dem Rudel ekeln. Sind einfach viel zu nette Leute hier!"
    Er schlug Tjerik mit kameradschaftlicher Härte auf den Rücken.
    "Was mich anbelangt", setzte Elistin an und legte das Buch aufgeschlagen auf seinen Schoß, "So kenn ich Frost seit der Akademie. Es war Teil meiner Ausbildung als Magier der Tarijan, eine beliebige Waffenkunst zu erlernen." Ein verschmitztes Grinsen zierte sein Gesicht, als er weitersprach. "Ich will nicht weiter ins Detail gehen, aber jedenfalls wurden wir meiner Meinung nach ziemlich enge Freunde. Nach meiner Magierweihe konnte ich mir spannenderes vorstellen, als tagaus, tagein irgendwelche Archive zu durchwühlen oder Sterne zu beobachten, bis sie vom Himmel fallen. Deshalb beschloss ich, nach meinem alten Freund Ausschau zu halten, um herauszufinden, was der alte Haudegen so trieb. Tja, und so bin ich nunmal hier - Ob’s euch passt oder nicht."
    "Und was ist mit euch?", fragte Win’Dar zu Karaph gewandt, als das einzige Geräusch durch Gluckern des Weinschlauches gebildet wurde. Doch es war nicht die naive Frage eines neugierigen Informationssammlers, sondern mehr eine Herausforderung zwischen Wölfen.
    Jedoch erntete er statt einer Antwort nur das brüllende Lachen Tarwulfs.
    "Guter Scherz, Kleiner!" Er musste sich zurückhalten, um Koris nicht zu zerquetschen, als er sich lachend den Bauch hielt. "Karaph nach seiner Motivation zu fragen! Da kannst auch gleich einen der Bäume löchern, warum er hier herumsteht!"
    "Manche Dinge sind unwichtig. Andere gehen nur die beiden Personen etwas an, die davon betroffen sind", sprach Karaph geheimnisvoll.
    Corwen hob anerkennend die Augenbrauen. Eine derart ausführliche Antwort hatte er wohl nicht erwartet. Win’Dars linker Mundwinkel verlängerte sich zu seinem Lächeln und er wollte gerade nach einem der Fleischspieße greifen, als Karaph unverhofft weitersprach.
    "Ihr kommt aus Brunntal, nicht wahr? Warum so weit im Süden? Lief das Kartenspiel nicht mehr gut?"
    Win’Dars Lächeln fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Doch er baute seine fallengelassene Selbstbeherrschung ebenso schnell wieder auf, wie man das erste Dreieck als Fundament eines neuen Hauses aneinanderlegen konnte.
    "Nein, es... ist schon etwas her, seitdem ich zuletzt in Brunntal war. Schon fast zwei Jahre." In seinen Augen lag ein ungewohnt verträumter Ausdruck. Seine Rechte strich über den Stoff des verhüllten Schwertes, dass er in die Armbeuge gestützt hatte, als ob er eine Laute halten würde.
    "Und was sucht ihr dann hier unten?", wollte nun auch Tjerik wissen.
    Win’Dar hob abwehrend die Hände.
    "Dasselbe, wie die meisten anderen. Arbeit, Geld und -"
    Er brach ab, als er plötzlich husten musste. Nicht nur einmal, dem ersten Husten folgte ein weiteres, das er nur knapp mit vorgehaltener Hand auffangen konnte, dann wurde sein Körper so stark vom Husten geschüttelt, dass er vornüber auf die Knie kippte. Und selbst dann wollte es kein Ende nehmen.
    Frost wusste nicht, ob er schauspielerte, um sich der Frage zu entziehen. Wenn ja, dann war er einer der talentiertesten Schauspieler, die er je gesehen hatte. Nein, der Hustenanfall wirkte echt. Win’Dars Kopf hatte mittlerweile nicht nur eine zur Schwelle zum Blau stehende Rotfärbung angenommen, auch sein Gesicht war schmerzverzerrt. Corwen wollte ihm auf den Rücken klopfen, doch Win’Dar stemmte sich kopfschüttelnd vom Boden hoch, schnappte mit pfeifender Lunge nach Luft.
    "Entschuldigt mich...", krächzte er gerade noch rechtzeitig, bevor ihn ein neuer Anfall beutelte und er taumelnd in die Dunkelheit davonstapfte.
    Koris tauschte einen Blick mit Tarwulf, dann stand sie auf und folgte dem Fremden.
    "Holla", kommentierte Corwen die Szene.
    Frost runzelte die Stirn. Der Husten hatte sich angehört, als hätte Win’Dar einen ganzen Mehlsack voll Staub inhaliert. Bloß was war der Auslöser gewesen?
    Während sich Tjerik die Pfeife zu stopfen begann, beugte sich Elistin nach vorne, um Karaph ins Gesicht sehen zu können.
    "Was weißt du über ihn?"
    "Wenig. Er stammt aus Brunntal und hat sich einen Ruf als Kartenspieler erarbeitet. Als Kartenspieler, der sein Glück weniger von den Göttern als aus dem Ärmel bezieht."
    "Ein Trickbetrüger also", schlussfolgerte Corwen.
    Allzu überrascht war Frost nicht. Wenn Win’Dar mit den Karten ebenso geschickt war, wie mit dem Stift, dann wunderte es ihn eher, wie er sich erwischen lassen konnte.
    "Und mit so einem geben wir uns ab?", fragte Tarwulf düster.
    "Ihn als Betrüger abzustempeln, hieße, ihn zu unterschätzen", warnte Karaph. "Ich weiß nicht viel über ihn. Allerdings weiß ich, dass er vor fast zwei Jahren spurlos verschwand."
    "Also wohl kurz nachdem er aus Brunntal abgehauen ist." Elistin nickte verstehend. "Wobei ich allerdings bezweifle, dass er nur abgehauen ist, um Gras über die Sache wachsen zu lassen. Käm mir etwas arg einfach vor."
    In diesem Moment war das knirschende Geräusch sich nähender Schritte zu hören, als Koris und Win’Dar zurückkehrten.
    "Hab ich etwas verpasst?", fragte er mit einem entschuldigenden Lächeln.
    "Nein!", antworteten Tjerik und Corwen zu synchron und nachdrücklich, um überzeugend zu klingen.
    "Ich zeig euch mal was", sagte Corwen seinerseits hastig, als ob er sich für etwas entschuldigen wollte. Dann griff er in seine Tasche und zog eine Kugel aus einem trüben, glasähnlichen Material hervor, in der eine teils farblose, teils dunkelrote, klare Flüssigkeit hin und her schwappte.
    "Ach du Sch..." Tarwulf schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
    "Und was ist das?", fragte Win’Dar zweifelnd.
    "Eine Überraschung von mir an unsere guten Freunde", antwortete Corwen vielversprechend. "Siehst du diese Trennwand?", fragte er Win’Dar und deutete auf eine hauchdünn wirkende, ebennfalls durchsichtige Barriere, die bei genauerem Hinsehen die Kugel und in zwei gleich große Hälften teilte. "Wenn die zerbricht, vermischen sich die beiden Lösungen. Und dann gibt’s einen netten Knalleffekt."
    "Wenn sie uns nicht wieder selbst um die Ohren fliegt!"
    "Dieses Mal funktioniert sie, glaub mir", versuchte Corwen Tarwulf zu beruhigen.
    "Wie soll bitte etwas funktionieren, das du zusammengepanscht hast?"
    Corwen war empört.
    "Ich habe nichts zusammengepanscht, sondern alles eindeutig berechnet. Du wirst schon sehen!"
    "Was war eigentlich los?", fragte Elistin an Win’Dar gewandt, bevor Tarwulf zu einer Antwort ansetzen konnte.
    Win’Dar verzog das Gesicht, als ob ihm der bloße Gedanke schon Schmerzen bereiten würde.
    "Ein altes Leiden. Kommt ab und zu mal vor. Die letzten Jahre zum Glück seltener."
    "Die letzten Jahre?" Tjerik paffte kurz an seiner Pfeife. "Darf man fragen, wie alt ihr eigentlich seid?"
    "Zu alt für diese Welt und zu jung zum Sterben", antwortete Win’Dar grinsend. "Müssten mittlerweile also neunzehn Lenze sein."
    "Neunzehn?"
    Tjerik hielt die Pfeife fest, damit sie ihm nicht aus dem Mund fiel. Auch dem Rest der Gruppe war die Verwunderung deutlich anzusehen. Selbst Karaph schien nicht damit gerechnet zu haben - Entweder, er hatte den Kopf gehoben, oder seine Augenbraue war tatsächlich ein paar Millimeter in die Höhe geklettert.
    Frost hätte ihn älter als seine Tochter geschätzt. Ein gutes Stück älter. Der Bart und auch die Art, wie er sich gab, ließen ihn deutlich älter wirken. Bei den Göttern, wenn der Kerl jetzt schon derartig die Leute hinters Licht führen konnte, was konnte er dann in ein paar Jahren?
    "Genau das", bestätigte Win’Dar. Er schien die Überraschung der Gruppe aus vollen Zügen zu genießen. "Überrascht?", fragte er überflüssigerweise und war sich dessen natürlich definitiv bewusst.
    "Nö", antwortete Tarwulf, "Nicht mehr, als ich damals mein Spiegelbild betrachtete und feststellte, dass ich eine Frau bin."
    "Das hast du mir nie erzählt!", rief Koris empört, woraufhin die Gefährten mit schallendem Lachen antworteten.
    "Solange du mich morgen nicht enttäuschst, soll es mir gleich sein, wer oder wie alt du wirklich bist."
    Win’Dar wandte den Kopf zu Frost und strich die Haarsträhnen vor seinem linken Auge zur Seite. Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, hörte er ihn wirklich lachen. Es war ein tiefes, dunkles Lachen - Das Lachen eines zutiefst verbitterten Menschen. Oder von einem, der entweder einen ausgereiften Galgenhumor entwickelt hatte, oder meist dann lachte, wenn andere leiden mussten.
    "Ich habe euch doch schon einmal gesagt, dass ich das nicht tun werde."
    Abermals bettete er sein Schwert in die Armbeuge und fuhr noch immer sanft lächelnd mit den Fingern über die Schneide.

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    "Wie weit noch bis zur Straße?", rief Frost der weiter vorne auf ihrem Hurjok durch das Unterholz preschenden Koris zu.
    "Zwei Stunden, wenn ich mich nicht vertan hab", rief sie zurück. "Aber so alt bin ich noch nicht!"
    Obwohl die Späherin fast zwanzig Schritt von ihm entfernt war, reichte die Entfernung nicht aus, um ihr leises Kichern vollständig zu verschlucken. War das eine Anspielung? Koris sollte besser froh sein, dass sie voraus ritt. Wenn sie schon auf dem Alter von jemanden rumhacken musste, dann gefälligst auf Tjeriks. Der war der Methusalem des Rudels. Immer diese Jungspunde. Keinen Respekt mehr vor dem Alter. Fehlte nur noch, dass Win’Dar seinen Rappel kriegt und Amok läuft...
    Wär er wirklich schon so alt, hätte er bestimmt keinen Tag auf dem wild unter seinem Sitzfleisch umherhüpfenden Rücken des Hurjoks überlebt. Offensichtlich hatte der große, weise Unbekannte nämlich mit seiner Theorie Recht gehabt - Entgegen seiner Befürchtungen hatte er das Reiten wirklich nicht verlernt. Ganz im Gegenteil: Obwohl sein Magen zu Beginn noch im Takt der sprunghaften Laufbewegungen des Raubtieres fröhlich mitgewippt war, hatte er nach einer sehr langen halben Stunde aufgehört, seinen Besitzer vom Rücken des Tieres ekeln zu wollen.
    Mit einem Satz wich sein Reittier einem schneebedeckten Baumstamm aus und Frost duckte sich gerade noch rechtzeitig, um dem tiefhängenden Ast auszuweichen, der auf sein Gesicht zuraste. Während er noch aus den Augenwinkeln beobachtete, wie der Rest der Gruppe mit den Schlitten dem Hindernis auswich, reagierte er gerade noch rechtzeitig, um den Hurjok hinter der plötzlich zum Stehen gekommenen Koris abzubremsen. Fragend blickte er zu der Späherin, die mit der Aufmerksamkeit eines Falken die Umgebung musterte. Er selbst konnte nichts außergewöhnliches entdecken, doch war er lange genug mit Koris zusammen auf Jagd gegangen, um nicht weiter nachzufragen und stattdessen die Hand zu heben, um die nachfolgende Gruppe zu warnen.
    Koris deutete mit einer Hand direkt auf den schneebedeckten Wald vor ihnen und hob mit der anderen den Finger an die Lippen. Frost folgte ihrer Geste mit dem Blick. Der Kristallwald lag in derselben gespenstischen Stille vor ihnen, wie er es auch den gestrigen Tag getan hatte. Ab und zu löste sich Schnee aus dem glitzernden Dach aus Nadeln und Ästen, rieselte als staubige Wolke gen Boden und blitzte dutzendfach, wenn er dabei eine der schräg einfallenden Lichtlanzen berührte. Stellenweise waren Wurzeln oder Baumstümpfe zu sehen, die sich aus der weißen Masse schoben. In ein paar Schritt Entfernung hob sich der Boden leicht an und bildete einen vielleicht sechs Schritt messenden, kleinen Hügel auf dem keine Bäume wuchsen.
    Doch nirgends etwas zu sehen, dass ihn beunruhigen würde.
    Nun, etwas musste da sein, sonst hätte Koris nicht angehalten. So folgte Frost noch einmal der imaginären Linie von Koris’ Finger aus bis zu dem Punkt, an dem sie die Schneedecke berühren musste. Nichts. Zumindest nichts außergewöhnliches, außer man konnte einem Schneehügel besondere Faszination abgewinnen. Zweifelnd blickte der Waffenmeister erneut zu Koris, dann zu der leichten Erhebung in der sonst recht gleichmäßigen Oberfläche des kalten Weiß.
    Sie zeigte eindeutig auf den Schneehügel.
    Bloß dass es gar kein Hügel war. Und auch kein Schnee.
    Jetzt erkannte Frost, dass es sich in Wirklichkeit um dichtes, weißes Fell handelte. Bei der Bodenerhebung handelte es sich nicht um einen Hügel, sondern um den Rücken eines Trolls.
    In Gedanken verfluchte Frost ihr Glück. Der Troll musste in einer Senke liegen, oder er hatte sich selbst ein Loch gegraben. Fakt war jedenfalls, dass sein Körper bis auf die leichte Erhebung unsichtbar war. Dieses Biest war groß, gewaltig groß. Dennoch schaffte es, sich beinahe perfekt zu tarnen. Das Fell war dermaßen glichmäßig, dass es so gut wie keinen Unterschied zur restlichen Schneedecke bildete. Wäre Koris nicht gewesen, wär die Gruppe mit ihren Schlitten einfach über das Monstrum hinweggefegt. Was dem Troll sicherlich weniger gut gefallen hätte.
    "Eistroll", formte Frosts Mund lautlos, als er Elistins fragenden Blick auffing.
    Der Kampfmagier wandte sich sogleich um und benachrichtigte flüsternd die restliche Gruppe, während Koris und Frost abstiegen, um ihre Reittiere zu führen. Der Schnee unter ihren Füßen war pulvrig, weder Schritte noch die Kufen der Schlitten würden sonderlich viel Geräusche verursachen. Wenn die Götter ihnen gnädig gestimmt waren, würden sie den Troll umgehen können, ohne seine Aufmerksamkeit zu erwecken. Frost vermutete, dass das Biest schlief. Anderenfalls hätte er die Gruppe wahrscheinlich längst angegriffen. Trolle hatten die schlechte Angewohnheit, alles anzugreifen, was kleiner war als sie selbst. Genau da lag auch der Knackpunkt: Mit einer Körpergröße von gut sechs Schritt gab es bis auf vielleicht Drachen denkbar wenig, das nicht auf der Speisekarte der monströsen Kreaturen stand.
    Als der Rest der Gruppe endlich aufgeschlossen hatte, setzten Koris und Frost ihren Weg fort. Die Späherin versuchte, einen großen Bogen um den Troll zu schlagen und stapfte lautlos dicht gefolgt von ihrem Hurjok durch den Schnee. Stets den lebendigen Hügel im Blickfeld haltend, folgte ihr Frost. Die Schlittenhunde waren unruhig, schnüffelnd reckten sie ihre Schnauzen in die Höhe und stellten die Ohren auf, um die nahe Gefahr zu lokalisieren. Trotzdem folgten sie gehorsam den Befehlen ihrer Herren und zogen die Schlitten mit leisem Sirren durch den verschneiten Wald. Solange sich nicht plötzlich ein Ast dazu entschloss, laut knackend nachzugeben oder Win’Dar einen neuerlichen Hustenanfall erlitt, waren sie nahezu lautlos. Und definitiv leise genug, um für den ruhenden Koloss gar nicht zu existieren.
    Leider schien entweder ein schlecht gelaunter Gott, oder die Physik anders zu denken.
    Er wusste nicht, wie es geschehen war. Er hatte keine Ahnung, ob sie der Troll gehört, gerochen oder durch eine Erschütterung des Bodens gespürt hatte. Von der Gruppe hatte niemand einen Fehler gemacht.
    Dennoch bewegte sich der Troll.
    In der Schneedecke bildetete sich eine schnell wachsende Beule, als sich der Eistroll aus seiner liegenden Position aufrichtete. Ein Zittern lief durch das helle Fell, Schnee stürzte aus mehreren Schritt Höhe in Lawinen zu Boden und riss weitere Löcher in die zuvor makellose, weiße Samtdecke. Schwerfällig wie ein Boxer, der sich nach einem harten Schlag wieder in die Höhe stemmte, drückte sich der Troll mit seinen mehr als baumstammdicken Armen vom Boden hoch. Ein tiefes Grollen, das von erwachenden Berggott zu stammen schien, schüttelte weitere Schneelawinen aus den Bäumen und ließ die kleine Gruppe ehrfürchtig zusammenschrecken.
    Von seiner Größe und Masse her, erfüllte der Troll auch gut sämtliche Anforderungen, die man an einen solchen Gott stellen mochte. Schneeweiß war sein Fell, der Schädel mit dem gewaltigen Maul, in dem sich selbst Tarwulf leicht hineinlegen hätte können, funkelte die Gefährten mit vergleichsweise kleinen Augen aus einer Höhe von mehr als fünf Schritt hungrig an. Offensichtlich wägte er ab, ob er sich überhaupt die Mühe machen sollte, die Winzlinge vor ihm zu jagen.
    Allerdings dauerte seine Überlegung nicht lange, denn schon nach wenigen Sekunden richtete er sich vollends auf seine stämmigen Hinterbeine auf und ließ erneut sein markerschütterndes Brüllen ertönen. Dann wuchtete er seinen riesigen Körper wie ein zu groß geratener Menschenaffe auf die Gruppe zu.
    "Auseinander!", brüllte Frost mit aller Kraft, um das Stampfen des herandonnernden Muskelberges zu übertönen, "Lasst die Hunde laufen!"
    Augenblicklich stob die Gruppe auseinander. Er selbst drückte seinem Hurjok grob die Schenkel in die Flanken, woraufhin das Tier fauchend nach vorne sprang. Koris duckte sich tief über den Hals ihres Reittieres und löste den kurzen Kompositbogen von ihrer Schulter, während sie Abstand von dem wütenden Titanen zu gewinnen versuchte. Die Schlitten zischten in unterschiedliche Richtungen davon, hechelnd liefen die Hunde mit dem Tod um die Wette.
    Nicht schnell genug.
    Holz barst mit lautem Splittern, als der Troll einen der Nadelbäume wie einen Grashalm umknickte. Die mehr als mannsgroße Pranke hob sich, dann fuhr sie mit der Macht eines Donnerschlages auf Corwens und Karaphs Schlitten nieder. Frost hörte gerade noch einen lauten Fluch Corwens, dann verschwand das Gespann in einer Wolke aufstiebenden Schnees.
    Als der Troll seine Faust zurückzog, war sein Fell rot von Blut.
    "Tjerik, Elistin - Helft ihnen!"
    Noch während er das Kommando brüllte, rollte sich der Waffenmeister vom Rücken des Hurjoks, fing den Sturz mit der Schulter ab und kugelte zwei Schritt weit durch den Schnee, bevor er in einer Staubwolke wieder auf die Beine kam. Der Schlitten seiner beiden Freunde war auf die Seite gekippt, zwei der sechs Hunde zerrten wild jaulend in panischer Angst an ihrem Geschirr. Frost glaubte Corwen zu sehen, wie er von den Überresten seines Fahrzeugs davonzukriechen versuchte. Von Karaph fehlte jede Spur.
    Ein gutes Dutzend Schritt entfernt riss Tjerik den Geißfuß seiner schweren Repetierarmbrust zurück. Klickend rastete die Sehne ein, mit hölzernem Pochen fiel einer der Bolzen aus dem kastenförmigen Magazin in die Führungsrinne. Der zum Zuschnappen aufgerissene, die Mündung der Waffe bildende Rabenkopf schien dem Monstrum seine Kampfbereitschaft entgegenschreien zu wollen. Jeden Moment würde der schwingenförmige Spannbogen seine aufgestaute Kraft entladen und das todbringende Projektil auf seine kurze Reise schicken. Tjerik hatte sich auf ein Knie herabgelassen, mit ruhiger Hand und festem Griff richtete er den Raben auf den Troll. Selbst auf diese Entfernung glaubte Frost zu sehen, wie sich die beiden Ringe seines rechten Auges nacheinander zusammenzogen und ihr Ziel mit kaltherziger Gewissenslosigkeit fixierten.
    Der zitternde Knall von nachschwingendem Holz hallte durch den Wald.
    Kaum eine Sekunde später traf ein silbriger Schemen den Troll knapp oberhalb seines linken Auges, prallte jedoch ohne sonderliche Wirkung von einem der Hörner ab, die wie ein Halbkreis aus der Stirn des Ungetüms wuchsen. Fluchend lud der Scharfschütze nach und bereitete den nächsten Schuss vor. Der Trollkopf pendelte einfach zu stark hin und her.
    Immerhin schien der Schuss das Monster abgelenkt zu haben, denn der Troll ließ von dem Schlitten ab und spähte mit seinen bösartigen Äuglein nach dem Schützen.
    Fast im selben Moment vollführte Elistins Fuß eine kreisende Bewegung und hinterließ eine gekrümmte Scharte im Schnee. Gleichzeitig griff er mit beiden Händen in den kühlen Staub und blies daraufhin kräftig in seine geöffneten Handflächen. Schneekristalle tanzten in der von Sonnenstrahlen durchbrochenen Luft. Dann strich ein sanfter Luftzug durch Elistins rabenschwarzes Haar und wirbelte weitere Schneeflocken auf.
    Im nächsten Augenblick verwandelte sich der schwache Wind in eine ausgewachsene Sturmböe. Fauchend wurde der vor dem Halbkreis liegende Schnee in die Luft geschleudert und eine tosende Orkanböe walzte auf den Eistroll zu. Dieser brüllte vor Verwirrung und Wut, als ihm der schneidende Wind ins Gesicht schlug und das tobende Schneegestöber die Sicht nahm.
    Tarwulf tat seinerseits das, was er am besten konnte - Er rannte frontal auf das tobende Ungetüm zu und hielt dabei sein eigenes Monstrum fest in beiden Händen. Mit einer Schnelligkeit, die man einem Mann seiner Größe kaum zutraute, duckte er sich unter einer der ziellos umherpendelnden Pranken des Trolls hinweg. Als diese donnernd zu Boden krachte, schnellte er nach vorne und hob den mächtigen Streithammer. Außer Tarwulf kannte Frost keinen Menschen, der eine Waffe von derartiger Größe und Schwere mit sich führte, geschweige denn auch noch auf die Idee kommen würde, sie zu benutzen. Der Hammer bestand zu einem guten Teil aus purem Stahl und war mehr als halb so groß wie Tarwulf selbst.
    Dennoch lachte sich der Hüne über die Naturgesetze ins Fäustchen und schwang die gewaltige Waffe mit ähnlicher Leichtigkeit, mit der andere ein Schwert führten. Sobald die Faust des Trolls den Boden berührte, ließ Tarwulf den Hammer über seinem Kopf kreisen um Schwung zu holen, dann schlug er zu.
    Das Handgelenk des Trolls war dicker als jeder Baum, der in diesem Wald zu finden war. Dennoch knackte es wie ein Holzscheit, der lange Zeit im Feuer gelegen hatte, als der stachelbewehrte Kopf des Hammers mit gnadenloser Gewalt den Knochen zersplittern ließ.
    Das darauf folgende, schmerzerfüllte Brüllen dröhnte nachhallend in Frosts Ohren. Er hörte Tjerik irgendetwas rufen. Sekundenbruchteile später bohrten sich dicht hintereinander ein Bolzen und ein Pfeil in eines derAugen des Trolls.
    Dieses Mal stahl ihm das Klingeln in den Ohren für mehrere Sekunden das Gehör. Und der Troll raste vor Wut. Blind vor Zorn und durch sein geblendetes Auge schlug er wie ein Berserker um sich, wirbelte den Schnee auf, schlug einen nahestehenden Baum kurzerhand entzwei und verkrüppelte sein Handegelenk noch weiter. Frost konnte nur hoffen, dass sich seine Gefährten rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten, denn in seiner Raserei walzte der Eistroll durch den Wald wie eine Lawine.
    Außer in seinem Rücken.
    Trotz der Handschuhe lag die Flammenschneide warm wie ein erhitzter Eisenstab in seiner Hand, als er Karaph stumm zunickte. Auf das Kommando hin packte er die Blut witternde Klinge mit beiden Händen, sprang nach vorne und schlug zu. Sirrend bohrte sich das Schwert in die Ferse des Monstrums, mit zusammengebissenen Zähnen stemmte sich Frost mit dem ganzen Körpergewicht gegen die Waffe und trieb es weiter durch Fleisch, Muskeln und Sehnen.
    Beim anderem Trollbein vollführte der dunkelhäutige Krieger eine grazile Drehung und ließ beide Arme fahren. Die an den Unterarmschienen seiner leichten Lederrüstung befestigten Klingen zerschnitten Fell und Haut gleichermaßen und kappten ihrerseits die dicken Sehnenbündel, die den Troll aufrecht hielten.
    Als diese plötzlich das Gewicht des Trolls nicht mehr zu tragen vermochten, kippte die riesenhafte Kreatur haltlos nach vorne und halb auf die Seite. Brüllend versuchte sie sich wieder aufzurichten, doch da schnellte ein dunkler Schatten mit wehendem Mantel durch die zu Boden rieselnde Schneewolke.
    Mit einer geschmeidigen Bewegung riss Win’Dar das schwarze Tuch von seinem Schwert. Stahl blitzte silbern in der Sonne, das schmatzende Geräusch einer durch Fleisch schneidenden Klinge war zu hören und Win’Dars Waffe verschwand in derselben Bewegung, in der er sie gezogen hatte, wieder unter dem wallenden Stoff.
    Dann stürzte ein Wasserfall aus hellrotem Blut aus der klaffenden Wunde im Hals des Trolls und plätscherte in den Schnee.
    Der Eistroll hob seine zerschmetterte Rechte an den Hals, als ob er versuchen wollte, das Leben daran zu hindern, aus seinem Körper zu fliehen. Vergebens, mit einem röchelnden Seufzer stürzte er zu Boden und rührte sich nicht mehr.
    "Irgendjemand verletzt?", rief er in das darauffolgende Schweigen.
    "Nur eine Platzwunde", keuchte Corwen und trat hinter einem dicken Baumstamm hervor.
    Mit einer Hand presste er Schnee auf eine heftig blutende Wunde an der Stirn. Ansonsten schien er jedoch unversehrt. Frost atmete innerlich auf.
    "Sonst noch jemand?"
    "Nein", meinte Tarwulf, "Aber es war verdammt knapp."
    "Wir haben vier Hunde verloren", meldete Karaph emotionslos wie immer.
    "Bis zur Straße ist es nicht mehr weit."
    Koris kam auf ihrem Hurjok herangeritten, den Kompositbogen noch immer in der Hand.
    "Wir können zwei Hunde bei den anderen Schlitten abspannen und sie benutzen, um die Ausrüstung zu schleppen. Den Rest des Weges können wir auch laufen."
    "Gute Idee", stimmte ihr Elistin zu.
    "Was machen wir mit dem da?", fragte Win’Dar und deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf den Trollkadaver.
    Grübelnd strich sich Frost mit der Rechten durch den Bart. Dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln.
    "Ich glaube, ich habe da eine Idee..."

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    Zwielicht hüllte den Krieger ein. Kein Sonnenstrahl drang bis zu ihm vor. Nur ein blasser Schimmer, der die auf Frost drückende Decke durchbrach. Die Luft war stickig und schien sich zu weigern, in Frosts Lungen zu strömen. Zudem stank sie nach Blut. Sie stank wie ein ganzes Schlachtfeld, auf das tagelang die Sonne gebrannt und die Leichen ausgedörrt hatte. Wäre er ein Gerber gewesen, hätte er sich dem Gestank wahrscheinlich nicht gestört. Gerber lebten quasi in diesem Mief.
    Frost war aber kein Gerber. Er war nur der Metzger, der die Lämmer zur Schlachtbank führte. Sobald er rief, trotteten ihm die Schäflein treumütig hinterher ohne auf das Blut zu achten, das ihren Weg wie ein roter Teppich bedeckte. Der Blutgestank war ihm zwar wohlvertraut, doch beschränkte sich seine Arbeit lediglich darauf, den roten Lebenssaft zu vergießen, nicht in ihm zu waten.
    Machte ihn das in irgendeiner Weise besser?
    Ja, er war ein Schlächter - Für Freund wie Feind gleichermaßen. Genau wie jeder andere gottverdammte General, der jemals auf dieser Erde gewandelt war. Und genau wie all die unzähligen anderen hatte er sich irgendwann damit abgefunden.
    Was noch lange nicht hieß, dass er diesen Ruf mochte.
    Dennoch, egal was er tat, er wollte ihn nicht loslassen. Er klebte an ihm wie ein Blutfleck auf einer weißen Robe. Er mochte ihn vielleicht ausbleichen lassen indem er ein anderes Leben vorgab, doch völlig auswaschen konnte er ihn nicht. Der bevorstehende Kampf war der beste Beweis dafür: Abermals hatte er treue Männer und Frauen in eine Schlacht geführt, deren Ausgang mehr als ungewiss war. Dazu noch seine engsten Freunde!
    Natürlich kannte jeder von ihnen das Risiko. Aber standen sie ihm nicht eher aus Loyalität, als aus voller Überzeugung zur Seite? Hatten sie wirklich bedacht, dass sie hier ihr Leben lassen mochten? Oder verließen sie sich zu sehr auf den Glanz alter Zeiten, den Ruf der unbesiegbaren Frostwölfe? Doch selbst zu ihren Glanzzeiten hatte das Rudel jeden Sieg mit dem Blut ihrer Kameraden erkaufen müssen. Die damaligen Verluste waren schmerzhaft genug gewesen und das, obwohl Frost viele der Toten nicht einmal halb so gut gekannt hatte wie die Gruppe, die er jetzt um sich geschart hatte.
    Wer sollte diesmal den Preis zahlen?
    Tarwulf? Koris? Oder doch eher Corwen?
    "Wie wäre es mit Win’Dar?", wisperte eine bösartige Stimme in seinen Gedanken, "Seinen Tod würdest du am besten wegstecken."
    Frost hasste sich allein schon für den Gedanken. Es war einfach abartig. Dennoch, wenn er ganz ehrlich war und egal wie sehr er sich dafür hasste, musste er gestehen, dass er hoffte, das Los würde eher auf Win’Dar als auf einen seiner Freunde fallen. Win’Dar zu opfern, damit seine Freunde überleben konnten...
    Jetzt war er nicht mehr nur der Metzger, jetzt setzte er seinen Gefolgsleuten auch schon selbst das Messer an die Kehle. Doch ging es nicht genau darum in jedem Krieg und in jedem Kampf? Wen oder was sollte man opfern, um einen anderen zu retten? Zumindest in der Theorie traf es immer die Soldaten. In der Praxis verschlang der Krieg einfach denjenigen, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.
    Frost weigerte sich daran zu denken, wen es bei diesem Kampf erwischen mochte.
    Schritte näherten sich. Ein leises Tappen in rascher Folge - Weiche Pfoten, die in rasendem Lauf den Schnee zerfurchten. Und sie kamen schnell näher.
    "Fünfzehn Mann, wie angekündigt", hörte er Koris’ gedämpfte Stimme, "Maximal zehn Minuten bis sie hier sind. Wir sehen uns dann und viel Glück!"
    Ebenso schnell wie sie gekommen waren, entfernten sich die Schritte wieder und ließen Frost wieder alleine. Alleine mit seinen Gedanken. Zehn Minuten waren eine Menge Zeit zum Nachdenken.
    Der Plan war eigentlich denkbar einfach. Die Idee dazu hatte ihm der Eistroll geliefert. Denn wenn sich selbst ein solch gigantisches Monster wie der Troll im Schnee unsichtbar machen konnte, dann konnten sie das auch. Dazu hatten sie hastig Teile des Trollfells abgezogen und soweit wie möglich vom Blut befreit. Danach hoben sie an der Straße mehrere Löcher aus, nutzten kleinere Fellstücke zum Auspolstern und die größeren als Tarnung. Koris hatte die Tarnung dann noch einmal überprüft und war dann ausgeritten, um nach dem Feind zu spähen. Sobald Lorkar mit seinen Gefolgsleuten nah genug heran war, würden die Frostwölfe aus ihren Verstecken springen und unverzüglich zum Angriff übergehen.
    Soweit die Theorie.
    Wie es dann in der Realität aussehen würde, war wieder eine ganz andere Frage. Frost hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sein Zusammentreffen mit Lorkar ausgehen würde. Würde sich Lorkar sofort wie ein tollwütiger Hund auf ihn stürzen? Oder lieber gleich zum Rückzug antreten?
    Was, wenn der Plan gar nicht aufging?
    Dann würde sich das Rudel einer gewaltigen Übermacht gegenübersehen. Frosts Wissen nach begleiteten Lorkar keine oder kaum Leute der Frostwölfe. Wahrscheinlich hatte er ein paar Söldner angeheuert. Immerhin ein paar Gegner, bei denen das Gewissen nicht gleich Amok laufen würde. Was die Sache jedoch nicht sehr viel besser machte.
    Verdammt, irgendwie drehten sich seine Gedanken im Kreis. War er früher auch so nervös gewesen, wenn er auf die Zeit der Schlacht wartete? Unwahrscheinlich. Vielleicht doch das Alter...
    Um sich abzulenken, überprüfte Frost noch einmal seine Position sowie seine Waffen. Obwohl das Trollfell recht schwer auf seinen Rücken drückte, glaubte er es schnell von sich werfen und aufspringen zu können. Außer, er verpasste seinen Einsatz und irgendjemand trat auf ihn drauf. Bei seinem Glück wäre er wahrscheinlich nicht einmal überrascht.
    Der Eisbrecher lag blank in seiner Hand und badete schillernd im gedämmten Licht. Seltsam... irgendwie musste Frost an die Tage seiner Jugend in der Kriegerakademie zurückdenken, in denen er morgens nach einer langen Nacht einfach nur die Decke über den Kopf gezogen hatte, um wenigstens noch ein paar Minuten Schlaf zu gewinnen. Der Anblick der durch das Fell leuchtenden Sonnenstrahlen erinnerte ihn daran. Im Prinzip war dieser Hinterhalt auch nichts anderes als ein Versteckspiel. Bloß, dass hier mehr als eine Tracht Prügel oder einem Rüffel drohte, falls es fehlschlagen sollte.
    Er drängte die Gedanken zurück. Wie sollte er in ein paar Minuten kämpfen, wenn er im Geiste irgendwo in der Vergangenheit schwebte?
    "Vielleicht, weil die Vergangenheit im Moment weniger schmerzhaft wäre?"
    Ohne den Gedanken weiter zu verfolgen, legte sich seine Linke um den Knauf der Flammenschneide. Er wagte es nicht, die Waffe bereits jetzt zu ziehen. Der Blutgestank lag schwer wie bleierner Rauch in seiner Nase. Und das Schwert spürte das Blut. Sobald er sie aus ihrem ledernen Gefängnis befreite, lief er Gefahr, die Kontrolle über sie zu verlieren - Und damit die Kontrolle über sich selbst. Der Blutrausch würde ihn überwältigen und jeglichen Widerstand davonspülen. Falls er die Klinge einsetzen wollte, musste er abwarten.
    Hatte er soeben eine Erschütterung gespürt? Augenblicklich erstarrte der Krieger zur Salzsäule und schloss die Augen, um zu lauschen. Zuerst hörte er nur das dumpfe Pochen seines Herzens. Ein kleiner, wilder Dämon, der mit wilden Schlägen an die Innenseite seines Brustkastens klopfte. Sobald jedoch der Kampf losging, würde er in die Raserei verfallen und aus dem Klopfen würde ein rasantes Hämmern werden, das mit jedem Schlag Flutwellen heißen Adrenalins durch seinen Körper jagte.
    Ein Knirschen, leise, mehr als ein Dutzend Schritt entfernt.
    Frost hielt den Atem an. Zu dem Knirschen gesellte sich das Knatschen schwerer Stiefel auf Schnee, der von der Sonne erwärmt worden war. Die Geräusche vermehrten sich rasch zu einem ganzen Orchester stampfender Schritte, die gleichmäßig durch den weichen Schnee marschierten. Gut, solange sie gleichmäßig gingen, ahnten sie nichts von der Falle. Frosts Schätzungen zufolge, müsste die Sonne mittlerweile ihren höchsten Punkt überschritten und sich somit wieder leicht gesenkt haben. Je stärker der Schnee reflektierte, desto unwahrscheinlicher wurde eine Entdeckung. Jetzt musste er nur noch hoffen, dass er sich nicht irrte...
    Die Schritte kamen näher. Frost zählte ein, zwei, vier unterschiedliche Rythmen, die schnell näherkamen. Vermutlich gingen diese Männer ein Stück vor den anderen. Er würde warten, bis sie seine Position fast erreicht hatten. Noch länger zu warten, wäre zu risikoreich.
    Das Knirschen und Knatschen wurde lauter. Frost schätzte sie noch auf vielleicht vier Schritt entfernt. Sofern ihn sein wummernder Herzschlag nicht verriet, würde es gleich soweit sein.
    Drei Schritte. Zwei Schritte.
    Frosts Gedanken glitten zu Esthera. Wenn alles glatt gelaufen war, müssten sie, Sheyra und Borin Hammerfoldt bereits erreicht haben. Er betete zu den Göttern, dass dem so war. In wenigen Augenblicken begann der alles entscheidende Kampf. Würde er sie je wiedersehen?
    Er musste gewinnen. Und am Leben bleiben. Für Esthera.
    "Vergib mir..."
    Mit einem gellenden Schrei auf den Lippen sprang er auf.

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    Im selben Moment, in dem er das Trollfell von sich warf und in einer Schneeexplosion auf die Beine kam, wusste Frost, was er zumindest bei seinen persönlichen Vorbereitungen vergessen hatte: Er hatte nicht daran gedacht, wie gut die Sonne ihre Verstecke durch die Lichtreflexion verstecken würde. Seine Augen waren noch zu sehr an das Zwielicht gewohnt und die Sonne verwandelte die zugeschneite Straße in ein gleißendes Kristallmeer. Augenblicklich kniff er die Augen zusammen. Dennoch begannen sie leicht zu tränen und helle Lichtpunkte tanzten durch sein Sichtfeld, verwandelten beim Blinzeln ihre Farbe zu einem schmutzigen Rot und verschwammen dann schließlich zu dunklen Flecken.
    Während irgendjemand vor ihm laut "Hinterhalt!" schrie, reagierte Frost instinktiv. Einen knappen Schritt rechts von ihm vollzog ein verschwommener Schatten eine ihm wohlbekannte Bewegung. Seine Hand senkte sich auf die linke Seite seiner Hüfte und schloss sich um das obere Ende eines länglichen, schwarzen Schemens, welcher sich plötzlich zu verlängern schien, als der Schatten seine Hand ruckartig vom Körper wegzog. Und obwohl Frost in diesem Moment kaum mehr sah als ein buntes Farbenspiel, war seine Reaktion ebenso schnell wie präzise.
    Der Eisbrecher blockte den Schlag seines Gegners noch fast in der Ausholbewegung. Gleichzeitig wirbelte Frost an der Seite des Feindes vorbei und zog die Flammenschneide in derselben Bewegung aus der Scheide sowie den ungepanzerten Oberschenkel des Widersachers. Der Schrei seines umkippenden Gegners hallte noch frisch in seinen Ohren, als der Waffenmeister auf dem Absatz herumfuhr und nach einem neuen Ziel Ausschau hielt.
    Endlich hatte sich sein Sichtfeld weit genug geklärt, dass er sich einen kurzen Überblick über die Lage verschaffen konnte. Auch der Rest seiner Gefährten war zum Angriff übergegangen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rammte Tarwulf gerade einem Angreifer sein Knie in die Magengrube, woraufhin dieser wie ein Sack Kartoffeln zusammenklappte. Der Schwertmeister hatte sich nicht geirrt: Es handelte sich wirklich um Söldner. Wahrscheinlich hatte sie Lorkar von einer Karawane abgeworben, nachdem sie Thjerenfeldt erreicht hatte.
    Etwas weiter zur Straßenmitte hin fing Corwen einen Schlag seines Gegners mit seinem Schild ab und trat ihm kurz darauf das Schienbein weg. Doch bevor er nachsetzen konnte, stürmte bereits ein weiterer Feind von der Seite heran.
    Win’Dar hatte seinen ersten Gegner ebenfalls bereits überwältigt und rannte mit flatterndem Mantel auf die Nachzügler zu. Frost fiel auf, dass er sein Schwert schon wieder mit dem Tuch verhüllt hatte. Irgendwann würde er herausfinden, was es damit auf sich hatte.
    Hinter den vier Frontkämpfern hatte sich Tjerik aus seinem Versteck befreit und gleichzeitig den großen Schild vor sich hochgeklappt. Halb von dem schweren Metallkörper verborgen, hatte er seine Armbrust auf der Schildkante abgelegt. Knallend entlud sich die Sehne und schleuderte einen Bolzen exakt in die Ritze zwischen Harnisch und Schulterpanzerung eines Söldners. Noch während der Mann vor Schmerz schreiend nach dem kurzgefiederten Schaft griff, traf ihn ein zweiter Bolzen ins Bein und schleuderte ihn zu Boden. Flink wie ein Murmeltier zog sich der Scharfschütze gleich nach dem Schuss wieder in die Deckung des Schildes zurück.
    Hinter der Säulenmauer der Bäume war ein Schemen zu sehen, der sich mit beachtlicher Geschwindigkeit der Flanke der feindlichen Kolonne näherte. Plötzlich spritzten Fichtennadeln auseinander, ein sirrender Schemen huschte über die Straße und schlug dicht neben einem der Söldner in den Schnee. Nur wenige Sekunden darauf sang die Bogensehne erneut. Allerdings verfehlte auch dieser Schuss sein Ziel, da die Angegriffenen allmählich aus ihrer Starre erwachten.
    Eine Bewegung in Frosts Augenwinkel lenkte ihn zurück zu seinen eigenen Problemen. Instinktiv drehte er den Kopf zur Seite, knickte mit dem linken Bein ein und drückte sich nach vorne weg. Ein Bolzen zischte heiß an seinem Ohr vorbei. Die Tatsache, dass der Schuss nah genug vorbeiging, dass er den Luftzug hatte spüren können, gab ihm zu denken.
    Von links näherte sich ihm ein weiterer Gegner. Allerdings trug er nicht wie die meisten der Söldner eine Mischung aus Leder- und Plattenpanzerung, sondern einen vollen Harnisch samt Helm. Letzterer schob sein Visier wie ein zu Stahl erstarrter Falkenschnabel vor das Gesicht des Kriegers, stilisierte Schwingen waren an der Seite des Stahlgesichtes angebracht. In seiner Hand pendelte die Stachelkugel eines Morgensterns an ihrer Kette hin und her. Das stellenweise unter dem Helm hervorschauende, feuerrote Haar gab Frost Gewissheit.
    Tolren.
    Ebenfalls eines der alten Mitglieder des Befehlstrupps.
    Auch sein Gegenüber schien den Waffenmeister erkannt zu haben, denn er zögerte mit dem Angriff.
    "Bei den Göttern... Frost!"
    Tolrens Stimme klang durch den Helm seltsam dumpf und blechern.
    "Tut mir leid, aber du stehst auf der falschen Seite, Tolren", sagte Frost und trat mit kampfbereit erhobenen Klingen näher. Je näher er am Feind stand, desto unwahrscheinlicher wurde ein Treffer durch einen Bolzen oder Pfeil.
    "Da... davon hab ich nichts gewusst! Lorkar hat nichts dergleichen erwähnt!" Er senkte seinen Morgenstern.
    "Dafür ist jetzt keine Zeit", antwortete Frost, "Entweder, du trittst zur Seite, oder ich muss leider gegen dich kämpfen."
    Frost glaubte, hinter den Sehschlitzen des starren Falkenhelms etwas aufblitzen zu sehen.
    "Dann kämpfe ich mit dir!", rief Tolren entschlossen. "Ich übernehme die rechte Flanke!"
    Während Tolren sich bereits umdrehte und wie angekündigt nach rechts loslief, zögerte Frost für einen Moment. Konnte er sich auf Tolren wirklich verlassen? Wenige Sekunden zuvor hatte er noch auf Lorkars Seite gestanden. Die Entschlossenheit, mit der er gesprochen hatte, klang ehrlich. Hatte er wirklich nichts davon gewusst? Für den Moment blieb dem Waffenmeister wohl nichts anderes übrig, als Tolren zu glauben.
    Abermals warf er einen kurzen Blick zu Corwen. Sein zuvor gestürzter Gegner hatte sich bereits wieder aufgerichtet und bedrängte den Bastler nun gemeinsam mit dem zweiten Söldner. Der Schnee zu ihren Füßen hatte eine beunruhigende, rote Färbung angenommen. Corwen war hauptsächlich damit beschäftigt, die Angriffe des einen Gegners mit dem Schild und die des anderen mit dem Schwert abzuwehren. Eine Taktik, die nicht lang gutgehen konnte.
    Da klaffte auf einmal der Schnee auf und spie einen schwarzen Schatten aus. Mit blitzenden Unterarmklingen stürzte Karaph zu Corwens Unterstützung. Tanzend wich er den Schlägen eines Söldners aus, ließ seine Klingen unter der Verteidigung seines Feindes hindurchgleiten und streckte ihn nieder.
    "So trifft man sich also wieder, Frost!", hörte er Lorkars Stimme rufen.
    Der Kopf des Kriegers ruckte herum. Lorkar stand zusammen mit Sifar und zwei Armbrustschützen direkt in der Mitte der Straße. Sein Plattenharnisch blitzte silbern in der Sonne und ließ seine Gestalt wie den strahlenden Auserwählten der Götter erscheinen. Knapp sechs Schritt vor ihm rang Win’Dar mit einem seiner Söldner, ohne dass es ihn sonderlich zu stören schien. Der Fremde brauchte Hilfe. Doch noch während Frost lossprintete, sah er einen der Armbruster auf Win’Dar anlegen. Die Hand des Schützen legte sich um den Abzug, auf diese Entfernung konnte er kaum daneben schießen.
    Dann zuckte der Armbrustschütze zusammen, als er im selben Moment von einem Pfeil sowie einem Bolzen getroffen wurde. Frost erlaubte sich ein Aufatmen. Gut zu wissen, dass Koris und Tjerik aufpassten.
    "Es ist vorbei, Lorkar!", rief er zu seinem Widersacher. "Der Herzog hat dich als vogelfrei erklären lassen! Blizzard und Frostbringer wissen bereits Bescheid! Deine Flucht endet hier und jetzt!"
    "So?" Lorkar gab sich ob seiner Worte nur wenig beeindruckt. Dennoch bemerkte Frost, wie sich zwei der Söldner fragende Blicke zuwarfen und daraufhin die Waffen sinken ließen. Offensichtlich stand es mit ihrer Loyalität Lorkar gegenüber nicht halb so gut, wie er es sich erhoffte. "Sifar, zeig diesem Narren, wie sehr uns der Herzog interessiert!"
    Ein bösartiges Grinsen breitete sich auf den Zügen Sifars aus. Noch während sein langes, blondes Haar von einer plötzlichen Windböe erfasst wurde und sich seine Hände von einem inneren Licht erfüllt einander näherten, stob der Schnee unter Frosts Stiefeln auf, als sich der Krieger spontan nach rechts warf.
    Dann formte sich eine grell schillernde Kugel in Sifars Händen und stieg mit lautem Summen in den Himmel auf, bevor sie heulend wie ein Meteor dem Boden entgegenstürzte.
    Das magische Geschoss verfehlte Frost um gut zwei Schritt. Dennoch war die Macht, mit der es sich in den Schnee bohrte und explodierte, groß genug um ihn im Sprung zu packen und wie einen Spielball davonzuschleudern. Ein dumpfer, trockener Schlag ließ die Erde erbeben, dann brach ein dampfender Geysir aus dem Krater hervor, die Explosion warf Schnee und Erdbrocken meterweit in die Luft.
    Frost schaffte es, den Sturz mit einer Rolle zu dämpfen und rutschte knieend meterweit durch den Schnee. Taubheit erfüllte seine Ohren, benommen schüttelte er den Kopf. Irgendetwas knackte, aber sein Gehör kehrte zurück.
    "Sifar", vernahm er nun Elistins Stimme, "Sowas nennst du Magie? Nimm das!"
    Mit diesen Worten rammte Elistin seine rechte Hand in den Boden. Eine Wolke aus flimmender Luft raste auf Sifar zu, dann explodierte der Schnee um ihn herum in Flammen und schwarzem Rauch. Doch als sich der Qualm lichtete, stand Sifar noch immer, obwohl er leicht zu schwanken schien.
    "Das ist alles, was du zu bieten hast?", höhnte er, "Dann musst du wohl noch viel lernen!"
    Frost fluchte leise. Elistin und Sifar waren seit jeher ein Problem gewesen, sobald sie gezwungen wurden, miteinander zu arbeiten. Das war nun einmal das Gefährliche daran, wenn zwei Magier aneinandergerieten, die völlig andere Ansichten vertraten. Doch überhaupt fähige Magier zu finden, die darüber hinaus auch noch bereit waren, sich ihm anzuschließen, war eine schwierige Sache. Irgendwie hatte es Frost dennoch stets geschafft, die beiden davon abzuhalten, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.
    Jetzt war dieser Puffer jedoch nicht mehr vorhanden.
    Und schon drohte der Konflikt zwischen den Magiern zu eskalieren.
    Verzweifelt suchte Frosts Blick nach jemandem, der Sifar stoppen könnte. Jedoch waren alle anderen Frostwölfe selbst zu beschäftigt. Tjerik lieferte sich ein erbittertes Fernkampfduell mit einem feindlichen Armbruster, der sich hinter dem Frachtschlitten Lorkars verschanzt hatte und Koris war mittlerweile abgestiegen und feuerte aus der Deckung eines Baumes heraus auf einen Söldner, der sich ebenfalls auf Win’Dar stürzen wollte.
    Gerade als er sich entschied, selbst einzuschreiten, sah er Win’Dar taumeln. Der junge Wanderer schaffte es gerade noch, einen Schwertstreich zu parieren, dann stolperte er haltlos nach hinten, hustete keuchend, fing sich wieder und wurde von einem neuen Hustenanfall geschüttelt. Nach Luft schnappend fiel er auf die Knie, die Hände noch immer fest um den Schwertgriff verkrampft.
    Frost war nah genug um die Überraschung in Win’Dars Augen zu erkennen. Die dunkelblauen Augen waren vor Schrecken geweitet, während sich sein Körper aus Sauerstoffmangel krümmte und trotzdem nicht aufhörte zu husten. Sein einziges Glück war, dass sein Gegner selbst zu überrascht war, um seinem Leiden ein schnelles Ende zu setzen. Unschlüssig stand der Söldner da, die Waffe halb erhoben und wusste scheinbar nicht, ob er schuld an der Pein seines Kontrahenten war.
    "Du hättest mein Angebot nicht ablehnen sollen", hörte er Lorkar sagen, "Jetzt zahlst du den Preis für deine Dummheit."
    Ein neuer Ausdruck mischte sich in Win’Dars Augen. Die Überraschung wich aus seinem Blick, wurde von plötzlich aufwallender Entschlossenheit wie von einem Schwamm aufgesogen. Seine Hände krümmten sich zu Klauen, deutlich traten das feine Netz aus Adern sowie die wie Stahlsaiten gespannten Sehnen aus seinen Handrücken hervor. Sein ganzer Körper zitterte wie im Fieber und wurde dabei noch immer von Hustenkrämpfen gepeinigt, Schweißtropfen perlten über seine Stirn.
    Hass flutete seinen Blick.
    Frost glaubte beinahe sehen zu können, wie hinter Win’Dars Stirn ein Schalter klickend umfiel. Seine dunkelblauen Augen ertranken in Dunkelheit, als sich seine Augen zu Schlitzen verformten. Nur ein eisiger, gefühlskalter Glanz blieb zurück.
    Brüllend sprang Win’Dar in die Höhe, seine Lunge saugte mit einem grauenvollen Pfeifen Sauerstoff in seinen Körper. Das Schwert beschrieb eine knappe Sichelform und prellte die Waffe aus der Hand seines Gegners. Eine blitzschnelle Drehung und eine lange, schmale Dolchklinge rotierte mit derselben Leichtigkeit, mit der es zuvor ein Kohlestift getan hatte, zwischen seinen Fingern. Nur dass sich der Kohlestift nicht zwischen die Rippen eines überraschten Gegners gebohrt hatte.
    Einer der verbleibenden Söldner hatte sich nun doch noch entschlossen, sich Frost entgegenzustellen. Hart klirrten die Klingen aufeinander, Funken sprangen über die Schneiden.
    "Hab was für euch!", rief Corwen an anderer Stelle und schleuderte seine seltsame Kugel zwischen zwei Söldner. Mit einem leisen "Plopp" landete sie im Schnee und blieb liegen.
    "Scheiße!", fluchte Corwen.
    Als wäre sein Fluch der Auslöser gewesen, implodierte die Kugel. Ein Pilz aus Flammen wuchs fauchend in die Höhe, die Söldner flogen wie Puppen durch die Luft. Irgendwann würde sie Corwen mit seinen verrückten Experimenten noch alle umbringen...
    Abermals prallte der Eisbrecher auf die Söldnerklinge. Scharrend rutschte das Schwert des Söldners an Frosts eigener Klinge entlang, bis es von der Flammenschneide gestoppt wurde. Ein beherzter Tritt in die Magengegend ließ seinen Feind zurücktaumeln.
    Währenddessen stand Elistin ruhig inmitten eines Gewitters aus Blitzen, die ihm Sifar entgegensandte. Seine Augen waren halb geschlossen, die rechte Hand wie unter immenser Anstrengung zur Klaue verkrampft. Als der von Sifar entfesselte Sturm schließlich verstummte, waren noch immer Blitze erkennbar, die sich gierig um Elistins Arm wanden.
    Die Mundwinkel des Kampfmagiers verzogen sich zu einem triumphalen Lächeln. Langsam hob er das Schwert in seiner Linken und gleichzeitig die noch immer verkrampfte Rechte. Während sich die Schwertspitze anklagend auf Sifar richtete, lösten sich aus dem Schnee Dutzende kleiner, scharfer Eiszapfen und formierten sich vor Elistin zu einer dichten Barriere funkelnder Dolchklingen.
    Als der Magier daraufhin schlagartig die rechte Hand öffnete, verwandelten sich die Eiszapfen in winzige Geschosse, die wie starker Eisregen auf Sifar zuschossen. Sifar drückte daraufhin beide Hände nach vorne - Die scharfen Kristallsplitter zerplatzten wie Wassertropfen an einem unsichtbaren Hitzeschild.
    Jedoch nicht alle.
    Offensichtlich schaffte es Sifars magische Barriere nicht ganz, alle Geschosse abzuwehren. Einige der Kristalle stachen durch den Schutzschild und fanden mit tödlicher Präzision ihr Ziel. Blutstropfen schimmerten in der Luft und sprenkelten den Schnee rot. Sifar stürzte getroffen nach hinten und blieb zitternd liegen.
    Ein undeutlicher Schemen verfehlte Frosts Schulter, schrammte kurz über harten Hornpanzer und hinterließ dann eine Spur flüssigen Feuers in seinem linken Arm. Scharf die Luft ausstoßend, biss Frost die Zähne zusammen. Er hatte sich für einen Moment ablenken lassen und als Strafe hatte das Schwert seines Gegners eine tiefe Wunde in seinen Arm gerissen. Plötzlich fehlte seiner linken Hand die Kraft, die Flammenschneide zu heben. Warmes Blut lief in seinen Handschuh.
    Knurrend warf er sich nach vorne - Direkt dem Söldner entgegen. Das Schwert seines Gegners kratzte über seinen Brustpanzer und glitt ab. Gleichzeitig krachte Frost mit der Schulter gegen den Harnisch des Söldners, hakte sein Bein zwischen die seines Feindes und trat ihm den Boden unter den Füßen weg. Beinahe zärtlich strich der Eisbrecher über die Schläfe des Stürzenden und raubte ihm auch noch das Bewusstsein.
    Vom Rand seines Sichtfeldes aus sah er Sifar wieder auf die Beine kommen. Sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt. Trotzdem versteckte sich hinter seinen blutverschmierten Mundwinkeln ein Grinsen. Keuchend ließ er sich nach vorne auf die Knie fallen, packte mit der Linken seinen rechten Unterarm und stützte die Hand in den Schnee. Ein bläuliches Leuchten durchströmte seine Finger, dann hob er die Hand langsam wieder und zog dabei einen langen, schillernden Speer aus Eis aus dem Boden.
    "Dafür werdet ihr bezahlen!"
    "Sifar, nicht!", versuchte ihn Lorkar aufzuhalten, doch es war zu spät.
    Mit einem Schrei schleuderte Sifar den Eisspeer.
    Doch nicht auf Elistin.
    Frost konnte sehen, wie der Speer zischend in kerzengerader Bahn durch die Luft schnitt - Direkt auf Koris zu, die sich gerade aus ihrer Deckung gelöst hatte, um auf Sifar anzulegen. Das Geschoss traf die Späherin genau in die Brust, riss sie von den Beinen und nagelte sie an einem Baum fest.
    Der Kompositbogen klatschte in den Schnee. Ein stummer Schrei lag auf Koris’ Lippen, als sie mit den Händen nach dem eisigen Speer griff, jedoch nicht die Kraft hatte, ihn herauszuziehen. Ihr Kopf wandte sich noch einmal zu Tarwulf, ein flehender Ausdruck in ihren Augen. Dann erschlaffte sie. Leblos hing sie da, wie eine dieser kleinen Stoffpuppen, die man manchmal in Kinderzimmern über den Betten hängen sah.
    Es war also passiert. Die düstere Version, die ihn vor dem Kampf geplagt hatte, war Wirklichkeit geworden. Mit gierig aufgerissenem Schlund verschlang die Todesfee des Krieges ein weiteres Opfer. Ausgerechnet Koris, diejenige, die altersmäßig nicht nur eines der jüngsten Mitglieder des Urkerns der Frostwölfe darstellte, sondern auch noch die Frau, die er seit seiner Jugend gekannt hatte. Ihre gesamte Zukunft, ausgelöscht durch den Wahnsinn eines vom Hass zerfressenen Magiers. Die Liebe zu Tarwulf - Zerschlagen und vernichtet im Bruchteil eines Augenblicks.
    Und in diesem Moment spürte Frost einen Teil desselben, irrsinnigen Wahns, der Sifar verzehrte, auch in sich selbst auflodern. Die Schmerzen in seinem Arm wurden dumpf wie das Pochen an einer weit entfernten Tür, die Flammenschneide schien sich ohne sein Zutun von alleine zu heben. Gleich einer zitternden Kompassnadel richtete sie sich auf den pulsierenden Pol des Lebens des Söldners vor ihm aus. Dem nicht genug: Genau wie ein Kompass wurde sie geradezu magnetisch von seinem Herzen angezogen.
    Mit vor Schrecken ungläubig geweiteten Augen starrte der Söldner auf die wie in freudiger Erregung vibrierende Schwertklinge. Für einen Moment zuckte die Flammenschneide nach vorne. Doch Frost warf sich zeitgleich nach hinten, drückte mit der flachen Seite des Eisbrechers seinen eigenwillig gewordenen Arm nach unten.
    Ein Teil von ihm wollte den Mann vor ihm töten, die Klinge durch sein Leben treiben und selbiges blutig beenden, den elenden Bastard für Koris’ Schicksal mit jedem einzelnem Blutstropfen seines Körpers bezahlen lassen. Zudem war dieser Drang verflucht stark. Er rüttelte wie eine angekettete Bestie an seinem Verstand, überschwemmte seinen Kreislauf mit Adrenalin bis ihm der eigene Puls in den Schläfen pochte. Dennoch schaffte er es irgendwie, die Kontrolle festzuhalten und den aufkeimenden Blutrausch niederzukämpfen.
    Tarwulf empfing ihn dafür mit offenen Armen.
    Brüllend wie der tödlich verletzte Troll stürmte er durch den Schnee. Ein Söldner wollte zur Seite springen, reagierte jedoch zu spät und wurde mit voller Wucht von dem riesigen Hammer getroffen. Das Geräusch von berstenden Knochen und die Tatsache, dass der Mann weder schrie noch sich nach dem Stürzen regte, gab Frost die Gewissheit, dass mehr als ein paar Rippen gebrochen waren. Ein weiterer Gegner streckte dem Rasenden seine Lanze entgegen. Tarwulf packte sie kurzerhand mit einer Hand und brach sie wie einen dünnen Ast entzwei, bevor er dem Söldner den Schädel einschlug.
    Eine Armbrust klackte und trieb dem Hünen einen Bolzen in die Schulter, ohne ihn auch nur im Geringsten zu bremsen. Ein weiterer Bolzen bohrte sich in seine Brust und ließ Tarwulf kurz zusammenzucken.
    Der nächste Schlag des Hammers warf den Armbrustschützen meterweit durch die Luft, bevor er mit dem Kopf voran zu Boden stürzte und seine Wirbelsäule einen hässlichen Knacklaut von sich gab. Eine Schwertklinge fügte dem Berserker eine klaffende Wunde in der Seite zu. Tarwulfs Reaktion zerschmetterte nicht nur den Schild des Angreifers, sondern brach ihm auch noch den kompletten Arm.
    "Tarwulf, beruhig dich!"
    Frost glaubte nicht, dass Tarwulf seine Worte überhaupt gehört geschweige denn verstanden hatte. Ein Schlag mit dem Stiel des Streithammers schickte den Söldner zu Boden. Der Waffenmeister hörte Zähne splittern und den Unglücklichen schreien, bevor sich der Hammer abermals hob und seinem Leiden ein grausiges Ende bereitete.
    Sekundenlang stand Tarwulf schwer atmend über seinem toten Feind. Dann drehte sich sein Kopf langsam wie der eines Raubtieres, das Blut gewittert hatte, herum und fixierte Sifar.
    Die Mordlust in seinen Augen war so intensiv, dass Frost sich schon beinahe angesteckt fühlte. Der Söldner vor ihm starrte Tarwulf kurz panisch an, dann ließ er sein Schwert fallen und rannte davon. Frost konnte es ihm nicht verübeln. Allerdings konnte er auch nichts tun, um Tarwulf aufzuhalten. Wahrscheinlich würde er solange weiterwüten, bis Sifar und alles andere in seiner Nähe tot war. Wenn er sich ihm jetzt in den Weg stellte, lief er Gefahr, ebenfalls einen Schlag abzubekommen. In seiner Raserei machte Tarwulf keinerlei Unterschied zwischen Freund und Feind.
    Trotzdem sprintete er los, um ihn aufzuhalten. Sifar kniete noch immer erschöpft von seinem Magieduell mit Elistin am Boden und starrte dem ihm entgegenschreitenden Tod in Person an. Dann erwachte Lorkar endlich aus seiner Starre.
    "Sifar, tau endlich auf und tu etwas!"
    Der Magier blickte kurz zu Lorkar, dann wieder zu dem näherkommenden Tarwulf. Blut lief aus seinem Mundwinkel, als er sich stöhnend aufrichtete, den Kopf auf die Brust sinken ließ und die Arme vor der Brust verschränkte.
    Eine Hitzewelle fegte über die Straße. Schnee verwandelte sich in feuchtwarmen Nebel, der wie ein nasser Vorhang die Sicht verschluckte. Frost rannte augenblicklich in die Richtung, in der Lorkar gestanden hatte und suchte nach einem Schatten inmitten der wogenden Schwaden. Vergeblich.
    "Feiger Bastard!", hörte er Elistin fluchen.
    Ebenso schnell, wie der Nebel gekommen war, verschwand er wieder. Zurück blieben die niedergestreckten Söldner und eine blutbesprenkelte Straße. Weit und breit keine Spur von Lorkar und seinem Lakaien.
    "Den lass ich nicht so einfach davonkommen!", rief Corwen und rannte in die Richtung, in der sie die Schlitten versteckt hatten.
    "Lass sie laufen", hielt ihn Frost zurück. "Weit werden sie ohnehin nicht kommen. Zudem bist du verletzt."
    "Scheiß auf den Kratzer!", brüllte ihn Corwen an. "Willst du diese Schweine einfach so entkommen lassen?!"
    "Nur für den Moment", erwiderte Frost müde und von einer seltsamen Ruhe erfüllt. "Kümmer dich um deine Wunde, bevor sie sich entzündet."
    "Scheiß auf dich!" Wütend schmiss Corwen seinen Schild und das Schwert in den Schnee. "Scheiß auf Lorkar und erst recht auf diesen gottverdammten Sifar!"
    Frost beachtete ihn nicht weiter. Er würde sich wieder abregen. Im Moment machte er sich mehr Sorgen um Tarwulf. Der Hüne schleppte sich wie ein Schlafwandler und den Hammer noch immer in der Hand der reglosen Späherin entgegen. Frost steckte seine Waffen weg und folgte ihm mit schnellen Schritten, um ihn an der Schulter zurückzuhalten.
    Ein harter Stoß ließ ihn rückwärts taumeln und in den Schnee stürzen. Fluchend kämpfte er sich auf die Beine. Bevor er Tarwulf jedoch erneut erreichen konnte, hatte der Hüne bereits seinen Hammer fallen lassen und den noch immer in Koris’ Brust steckenden Speer aus glitzerndem Eis mit beiden Händen gepackt.
    Ein Stich, als ob der Speer sein eigenes Herz durchbohrt hätte, ließ Frost zusammenzucken, als der unförmige Stachel aus purem Eis mit einem schmatzenden Ruck freikam und Koris leblos in Tarwulfs Arme fiel. Schluchzend stand sein Freund da, auf den Knien sitzend und sein tränenüberlaufenes Gesicht an Koris’ Brust gedrückt. Unwillkürlich musste Frost an Esthera denken. Ein Schauer ließ ihn erschaudern.
    "Warum...", flüsterte Tarwulf mit ersterbender Stimme, "Warum bei den Göttern ausgerechnet sie? Warum Koris?"
    "Tarwulf...", begann Frost, brach jedoch ab als ihn Elistin an der Schulter berührte.
    Der Kampfmagier näherte sich vorsichtig Tarwulf, kniete neben dem schluchzenden Krieger nieder und tastete nach Koris’ Handgelenk. Eine ganze Minute verging, bevor er plötzlich aufschaute.
    "Sie lebt noch!", rief er verwundert über die eigene Diagnose. Tarwulf hob den Kopf. "Ein winziger Teil von ihr klammert sich noch immer ans Leben. Aber lang hält sie sicher nicht durch."
    "Die Quelle", meinte Frost plötzlich und ein winziger Funke der Hoffnung keimte in ihm auf. "Ihre Macht könnte sie retten."
    "Ich könnte sie in Starre versetzen", überlegte Elistin, "Allerdings bin ich selbst fast am Ende meiner Kräfte."
    "Worauf wartest du dann noch?!", schrie ihn Tarwulf an.
    "Meinst du, wir finden den Weg?", fragte Elistin und rieb seine Hände aneinander.
    "Ich kann es nur hoffen...", antwortete Frost leise.
    Elistin nickte und griff in den Schnee. Vorsichtig streute er die winzigen Eiskristalle auf Koris’ Körper. Die Augen waren geschlossen, gemurmelte Worte drangen über seine Lippen. Augenblicklich begann der Schnee zu zerfließen und von Koris aufgesogen zu werden. Die ohnehin schon blasse Haut der Späherin verlor noch weiter an Farbe, das winzige Glitzern von Reifkristallen machte sich bemerkbar.
    "Schnappt euch zwei der Schlitten. Corwen, Tjerik, ihr begleitet die beiden."
    "Und was ist mit Lorkar?", fragte Tjerik.
    "Unwichtig", antwortete Frost. "Notfalls werd ich auch allein mit ihm fertig. Haltet ihr mir nur Koris am Leben."
    Er trat neben Tarwulf und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    "Passt gut auf sie auf."
    Die Entschlossenheit in Tarwulfs Blick war von derselben Intensität wie seine Mordlust während des Blutrauschs.
    "Ich werde sie nicht aufgeben. Niemals."
    Frost nickte seinem Freund zu und blickte ihm nach, wie er seine Geliebte in Richtung der Schlitten trug. Ja, Sifar würde dafür bezahlen. Das war er Tarwulf und Koris schuldig.
    Geändert von Superluemmel (14.08.2004 um 04:54 Uhr)

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    Die nächtliche Kälte brannte in Frosts Gesicht, achtlos fallengelassen klatschte der leere Wasserschlauch in den Schnee, als sich Frost mit einem Tuch das Gesicht abzutrocknen begann. Schweiß, Blut, Dreck - Die gesamte Anspannung des Kampfes tropfte in wässrigen Perlen von seinem Kinn und zerschellte auf dem Boden. Die einzigen Überbleibsel waren rotbraune Löcher in der Schneedecke.
    Es war gerade zu ironisch, wie leicht sich die Spuren eines Gemetzels äußerlich abwaschen ließen. Eine ausreichende Menge an Wasser vorausgesetzt, konnte man die Kampfspuren wie eine zweite Haut abstreifen. Wasser reinigte alles. Bis auf die Seele. Egal wie oft man sich wusch und die Kleidung wechselte - Unter den eigentlichen Narben blieben weitaus tiefere und schmerzvollere Wunden zurück. Wunden, die bestenfalls von der Zeit geheilt wurden. Wobei man sich nicht einmal darauf verlassen konnte. Frost war sich nicht sicher, ob solche Schnitte in der Seele jemals verheilten. Wahrscheinlich stumpfte man der Erinnerung gegenüber eher mehr und mehr emotional ab. Im Prinzip erging es dem Menschen wie einer Schwertklinge: Mit jedem Kampf nutzte er sich mehr und mehr ab und bekam neue Scharten. Egal, wie oft man die Klinge erneuerte oder die Scharten herausschliff - Die alte Qualität war nicht wiederherzustellen.
    Und irgendwann würde sie unter der Last der Narben zerbrechen.
    Koris’ Verletzung war seine Schuld. Wenn sie starb, würde er allein ihren Tod verantworten müssen. Sifar mochte zwar derjenige gewesen sein, der den tödlichen Speer geschleudert hatte, aber die letztendliche Schuld lag dennoch bei Frost. Er hätte schon eingreifen sollen, als sich Elistin und Sifar immer weiter gegenseitig angestachelt hatten. Indem er nicht eingeschritten war, hätte er Koris auch gleich selbst den Speer in die Brust stoßen können.
    Tarwulf musste ihn wirklich hassen.
    Schaudernd dachte der Waffenmeister an den Blutrausch des Hünen zurück. Tarwulf hatten seine eigenen Verletzungen nicht im geringsten gestört, geschweige denn gebremst. Die Bolzen würden ihn nicht umbringen. Früher hatte es Kämpfe gegeben, in denen er mehr als die doppelte Anzahl an Treffern eingesteckt hatte. Nach dem Kampf hatte er die Geschosse einfach aus seinem Fleisch gerissen und achtlos weggeworfen. Wunden, die jeden anderen dreimal umgebracht hätten, waren bei ihm innerhalb weniger Tage vollständig verheilt. Niemand wusste genau, worauf sich diese unglaubliche Regenerationsfähigkeit begründete. Elistin hatte einmal heimlich eine Probe von Tarwulfs Blut untersucht und verglichen. Im Vertrauen hatte er Frost mitgeteilt, dass Tarwulfs Blut deutliche Ähnlichkeiten zu dem der Eisriesen aufwies. Tarwulf selbst sprach nicht über seine Herkunft. Wenn er wirklich mit den Riesen des Nordens verwandt sein sollte, war das nur allzu verständlich. Bisher hatte jede Frost bekannte Auseinandersetzung mit den Riesen in einem Blutbad geendet. Elistins Theorie wäre jedenfalls eine plausible Erklärung für Tarwulfs Anfälligkeit für Bluträusche.
    Koris’ beinahiger Tod hatte in dem riesenhaften Krieger jegliche Hemmschwellen zusammenbrechen lassen. Insgesamt hatten sieben der zwölf Söldner den Tod gefunden. Vier gingen allein auf Tarwulfs Konto. Zwei der anderen waren aufgrund ihrer Wunden qualvoll und langsam verblutet, der letzte hatte Win’Dars Dolch zwischen die Rippen bekommen. Nach dem Kampf hatte Frost die überlebenden Söldner ziehen lassen. Mal davon abgesehen, dass sie ohnehin nicht weiterkämpfen wollten, war kaum einer von ihnen ohne Verletzungen davongekommen. Zudem war der Verlust ihrer Kameraden hart genug für sie gewesen. Es gab keinen Grund die wenigen Überlebenden zu bestrafen, nur weil sie für ihren Sold gekämpft hatten. Frost glaubte ihnen wenn sie ihm sagten, dass sie nichts von Lorkars Absichten wussten. Sie waren lediglich als Eskorte angeheuert worden.
    Letztendlich war das gesamte Gefecht eine einzige Katastrophe gewesen. Koris tödlich verletzt, die verbleibenden Frostwölfe mit leichten bis mittelschweren Verletzungen überlebt, sieben Söldner sinnlos tot und Lorkar mit Sifar entkommen. Das einzig gute Ereignis war Tolrens Weigerung gewesen, den Waffenmeister anzugreifen. Frost verkniff sich ein bitteres Lachen. Andere Generäle wären mehr als stolz, wenn sie in ihren Kriegen eine solche Bilanz aufweisen könnten. Früher, ganz früher, wäre Frost das vielleicht sogar auch gewesen.
    Jetzt war es für ihn das Ergebnis eines Trauerspiels.
    Dies war kein Krieg. Hier ging es um Rache. Tragischerweise nicht einmal um seine eigene. Er wusste immer noch nicht, warum Lorkar den Moloch des Krieges erneut angelockt hatte. Wie Frost bereits angenommen hatte, ging es Lorkar nicht um seine Position als Anführer der Frostwölfe. Der Verräter war sich durchaus im Klaren gewesen, dass er alles verlieren würde, sobald er Frost öffentlich angriff.
    Doch es schien ihm völlig gleich zu sein.
    Lorkars Verhalten erinnerte Frost erneut an Tarwulfs Blutrausch. Auch bei Lorkar war durch Frosts Heimkehr irgendein Schalter umgelegt worden, der sein Blickfeld zu einem Tunnel verengte und ihn nur noch Frosts Verderben sehen ließ. Ihm war es völlig gleichgültig, ob er dabei sein eigenes Leben und alles, wofür er jemals gekämpft hatte, mit ins Verderben riss. Verdammt, Lorkar hatte doch selbst einen Sohn! Was war mit Terjan? Was war geschehen, dass Lorkar selbst auf seine eigene Familie keine Rücksicht mehr nahm?
    Das war mehr als bloßer Hass.
    Was Lorkar trieb, war aus der Verzweiflung und Verbitterung geborener Wahnsinn.
    Wobei das allerdings nicht erklärte, was der Auslöser für dieses Verhalten war. Noch einmal, wenn auch widerwillig, ließ Frost die Bilder des Kampfes an sich vorbeiziehen. Sifars Angriff auf Koris...
    Lorkar hatte versucht, den Magier von seinem Vorhaben abzuhalten. Frost warf das Handtuch über die Schulter, hob den Wasserschlauch auf und ging zu der Lichtung zurück, auf der die verbleibende Gruppe ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Der Gedanke an Lorkar wollte ihn nicht mehr loslassen. Wahrscheinlich hatte Lorkar durchaus damit gerechnet, dass Tarwulf durchdrehen würde, sobald Koris etwas zustieß. Aber sein Verhalten war nicht aus einer strategischen Überlegung resultiert. Er hatte einfach nicht gewollt, dass Koris sterben könnte. Das hieß, dass sein Hass einzig und allein auf Frost selbst zielte. Und der Grund wollte sich ihm einfach nicht offenbaren. Er konnte sich jedes Haar einzeln ausraufen und dennoch nicht dahinterkommen. Es war zum Verzweifeln...
    "Alles klar bei dir?", hörte er Tolrens Stimme fragen, als er zwischen den Zelten hindurchschritt.
    Mit einer etwas verspäteten Reaktion drehte sich Frost zu dem Krieger um und nickte. Tolren hatte seinen Helm längst abgenommen und das wilde, rote Haar fiel nass in sein Gesicht. Durch das späte Seitenwechseln war er neben Karaph der Einzige, der nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte.
    "Wie geht’s deinem Arm?", erkundigte sich Tolren.
    Frost hob den verletzten Arm und winkte ab.
    "Halb so wild. Mein Gegner war wohl ebenfalls nur mit halbem Herzen bei der Sache. Die Wunde ist nicht sonderlich tief, nur ein kleiner Schnitt der mit viel Blut auf sich aufmerksam machen wollte. Jedenfalls kein Grund zur Sorge."
    Das war sogar die Wahrheit. Die Wunde war sogar harmloser, als er selbst im ersten Moment gedacht hatte. Sobald Tarwulf und seine Begleiter abgezogen waren, hatte er sie desinfiziert und einen straffen Verband angelegt. Dieser hatte zwar schon nach kurzer Zeit ein hässliches rotes Fleckenmuster aufgewiesen, dafür hielten sich die Schmerzen jedoch zurück. Zwar schien sein Arm wie wild zu pulsieren, doch das war nebensächlich. Vor allem wenn er an Koris dachte...
    "Tut mir wirklich leid, wegen dem Kampf..." Tolren verlagerte das Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen, sein Blick wich Frost aus. Es war deutlich zu sehen, dass es ihm Schwierigkeiten bereitete, über dieses Thema zu sprechen. "Ich hatte keinerlei Ahnung, was Lorkar vorhatte. Hätte ich auch nur irgendwie erahnen können, dass er gegen dich kämpft, hätte ich ihm sein Verrätermaul ausgeschlagen. Ich wusste bis vorhin nicht einmal, dass er einen Anschlag auf dich verübt hat."
    Frost schüttelte nur den Kopf, trat auf Tolren zu und hob mit der Hand seinen Kopf, damit er ihn ansah.
    "Tolren, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich glaube dir. Genau wie den Söldnern. Aber sag mir bitte eines: Hat Lorkar irgendetwas gesagt, wohin er ziehen wollte?"
    "Nur, dass er zu den restlichen Einheiten stoßen wollte", meinte Tolren und legte die Stirn in Falten. "Tut mir leid, mehr weiß ich nicht."
    "Verdammt", fluchte Frost. "Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er wirklich durchzubrechen versucht. Er ist mit Sifar auf sich alleine gestellt. Und zu Fuß entkommt er uns niemals. Lorkar ist nicht dumm. Er hat irgendetwas vor, ich hab nur leider keine Ahnung, was." Eine Erinnerung huschte durch seinen Geist. "Hast du Win’Dar gesehen?"
    "Den seltsamen Kauz mit dem schwarzen Mantel? Saß eben noch dort hinten", antwortete Tolren und deutete auf die andere Seite des Lagers.
    Frost verabschiedete sich knapp und lief in die angegebene Richtung los. Er brauchte keine Minute, um den Fremden zu finden. Win’Dar stand in der Nähe der Schlittenhunde unter einem der Bäume. Sein Mantel lag säuberlich zusammengelegt auf einer vom Schnee befreiten Baumwurzel, das Hemd oben drauf. Angespannte Kiefermuskeln verwandelten die Wangen des jungen Kämpfers zu starren Maskenteilen, die Augen waren zusammengekniffen. Das Knirschen seiner Zähne schien selbst durch die Haut hindurch hörbar zu sein. Als sich Frost näherte, fiel ein blutgetränktes Tuch in den Schnee. Der stechend scharfe Geruch von starkem Alkohol brannte in Frosts Nase. Er konnte hören, wie Win’Dar die Luft zwischen den Zähnen hindurch einsog.
    "Das sieht nicht gut aus", kommentierte Frost die tiefe und heftig blutende Stichwunde knapp unter Win’Dars Schlüsselbein. Ihre Breite und grob ovale Form ließ auf einen Schwertstich schließen.
    "Ihr seht auch nicht gut aus", antwortete Win’Dar ungewohnt gereizt, "Zudem seid ihr nicht meine Mutter. Und bevor ihr fragt: Ja, es tut weh."
    Er bückte sich nach einem zuvor bereitgelegten Verband, hielt ihn mit der Linken an der Brust fest und schlang ihn mit der anderen Hand mehrfach über Schulter und Brust. Zum ersten Mal bemerkte Frost, wie dünn Win’Dar wirklich war. Blasse Haut spannte sich über deutlich erkennbare Rippen, dicke Muskelstränge arbeiteten unter seinen trotz allem recht breiten Schultern. Immerhin konnte er sich nicht über Übergewicht beschweren.
    "Braucht ihr Hilfe?", bot Frost seine helfende Hand an.
    "Danke, aber das schaff ich grad noch alleine", erwiderte Win’Dar und schlang abermals die Verbandsrolle um die Wunde. Frost musste gestehen, dass er sich ziemlich geschickt anstellte.
    "Aber ihr seid sicher nicht hier, um euch nach meinem Wohlergehen zu erkundigen. Nicht wahr?"
    "Wir müssen reden", sagte Frost.
    Win’Dars Schultern senkten sich wie ein Blasebalg, als er seufzte.
    "Ich dachte mir, dass ich nicht ewig drumrum kommen würde." Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf seinen Zügen, zusammen mit einem Hauch von Wehmut in seinen Augen. "Allerdings hatte ich gehofft, dass es noch etwas auf sich warten lassen würde."
    Er zog den Verband fest, streifte dann sein Hemd über und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
    "Also, fangt an."
    "Einfach so?", wunderte sich Frost.
    "Einfach so", nickte Win’Dar, griff nach seinem Mantel und klopfte etwas Rinde aus dem Stoff.
    "Nun gut", begann der Waffenmeister, "Erzählt mir von euch, eurer Krankheit und der Beziehung zu eurem Schwert."
    "Eine Geschichte, die ich nicht gerne erzähle", meinte Win’Dar leise und mit traurig glänzenden Augen. "Eigentlich hab ich sie noch nie erzählt. Ihr seid der Erste."
    "Tut es trotzdem", forderte Frost kalt.
    Win’Dar rückte seinen Mantel zurecht, bevor er erstarrte und Frost schräg unter den dichten Augenbrauen hervor anschaute.
    "Die Kartengeschichte wird euch nicht reichen, oder?"
    "Ich fürchte nicht."
    Wieder das schwache Lächeln auf Win’Dars Zügen.
    "Dacht ich mir. Schade eigentlich." Eine zögerliche Geste in Richtung des Waldes. "Können wir... etwas Abstand vom Lager nehmen?"
    Auf ein Nicken Frosts hin entfernten sie sich von der kleinen Lichtung und schritten tiefer in den Wald hinein. Als das Licht der Lagerfeuer nur noch blass an den Baumstämmen flackerte, begann Win’Dar zu erzählen.
    "Karaph hat ja bereits erwähnt, dass ich aus Brunntal stamme. Die ganze Geschichte mit dem... ich nenne es mal Glücksspiel, denn etwas anderes ist es ja nicht - Entweder ich habe Glück und werde nicht erwischt, oder eben Pech und jemand durchschaut meine Tricks - Jedenfalls ist das Ganze nichts weiter als... sagen wir mal: Eine kleine Leidenschaft von mir gewesen. Wirklich gebraucht hab ich das Geld nur anfangs. Später hat es mir einfach nur Freude bereitet, diese mit aller Gewalt adrett auftretenden Damen und reichen Schnösel um etwas Geld zu erleichtern. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was es für eine Befriedigung mit sich bringt, den Gesichtsausdruck dieser Leute zu sehen, wenn sie erkennen, dass nicht alles so laufen kann, wie sie es gerne hätten."
    Er grinste sein Wolfsgrinsen so breit, dass sogar der rechte Mundwinkel aus seiner Starre erwachte. Für die Dauer von Sekunden erinnerte der Glanz seiner Augen an das entfernte Funkeln von Sternen. Dann kehrte die Bitterkeit zurück und das dunkle Blau von Win’Dars Augen vermischte sich wieder mit der nächtlichen Finsternis. Einzig der ferne Feuerschein spiegelte sich gleich einsamen Irrlichtern in den Schatten unter seinen Brauen.
    "Aber was red ich. Das Geschwätz eines verlorenen Idealisten interessiert ohnehin niemanden. Die Geschichte, warum ich letztendlich aus Brunntal verschwand, ist jedoch ungleich bitterer."
    Erneut konnte Frost Win’Dar tief durchatmen hören. Mit langsamen Schritten entfernte sich der junge Krieger ein Stück von ihm und blieb mit dem Rücken zu ihm neben einem der Bäume stehen. Seine rechte Hand hob sich und legte sich sanft auf die rauhe, aufgesprungen wirkende Rinde.
    "Wisst ihr, was es für ein Gefühl ist, sein Leben lang in Einsamkeit zu leben?" Ein kurzes, humorloses Lachen, wenige Augenblicke bevor Frost selbst loslachen konnte. "Achja, ich vergaß - Tut mir leid. Jahrelang sitzt man da, blickt im Frühling aus der Stille seines selbstgewählten Gefängnisses hinaus zu den frisch Verliebten und alles was man selbst hat, ist etwas Pergament und seine Feder. Der Sommer stimmt depressiv, weil man statt der wärmenden Sonnenstrahlen nur die Kälte seines eigenen Herzens spürt und im Herbst herrscht statt trauter Zweisamkeit die allzu vertraute Einsamkeit. Dann, im Winter, sitzt man abends vorm heimischen Kaminfeuer, schmeißt seine grauenvoll schlechten Entwürfe in die Flammen und spielt mit dem Gedanken, selbst hinterher zu springen, damit man wenigstens einmal im Leben etwas Wärme verspürt."
    Rinde splitterte, als sich der Druck von Win’Dars Fingern verstärkte.
    "Irgendwann ist man durch seine eigene Verbitterung so blind, dass man mit dem Kopf voran durch geschlossene Türen läuft und beim Händeschütteln vor lauter Gefühlslosigkeit die Hände seines Gegenübers bricht ohne es zu merken. Und dann werden plötzlich die eigenen Gefühle erwidert und man schmilzt wie ein Schneemann in der Sonne. Die Zeit beginnt sich zu überschlagen und mit einem Mal hat man wieder etwas, wo man hingehört. Die langen Jahre des Alleinseins wandeln sich zu etwas weit entferntem, einem schlechten Traum, der bereits zu verblassen beginnt."
    Während er sprach, begannen sich Win’Dars Finger wieder zu entspannen. Dann kratzten sie erneut über die Rinde und ein ganzes Stück löste sich aus der Borke.
    "Später registriert man, dass die Glückseligkeit einerseits selbst viel zu kurz gewährt hat und andererseits nichts als ein weiterer Traum ist. Und alles nur, weil so einem verdammten Alchemisten deine Nase nicht gefällt und er deshalb seine Gehilfin nicht ziehen lassen will. Man beginnt also mit dem Glücksspiel, damit man ihm einen Ausgleich für die verlorenen, helfenden Hände bieten kann. Anfangs natürlich nur wenig, ein-, zweimal die Woche, damit man einen kleinen Grundsatz hat. Dann ist man nach zwei Monaten soweit und der alte Bastard meint, der letzte geeignete Kandidat wär bereits nach Hammerfoldt abgehauen und bis er wieder einen findet, vergeht sicherlich noch ein Jahr. Da sitzt man nun mit dem verfluchten Geld und zwischen die Gegenwart und den eigenen Traum schiebt sich ein weiterer Winter. Also spielt man weiter, öfter und mittlerweile auch nicht mehr gerecht."
    Ein dumpfer Aufschlag, als Win’Dars Faust gegen die Borke hämmerte.
    "Halb ertrunken in der persönlichen Gefühlswelt gibt man sich der Illusion der Freiheit hin und merkt dabei nicht, dass der alte Giftmischer nie vorhatte, den Quell des Leides und des Glücks jemals freizugeben. Als man dann eines Tages doch auftaucht, beginnt das Spiel wieder von vorne. Allerdings längst nicht mehr, um das Lösegeld für die heimliche Geisel zu bezahlen. Jetzt ist die alte Verzweiflung erwacht, der Hass geschürt und blanker Stahl verspricht Erlösung. Das hämische Grinsen des Greises verspricht erneute Einsamkeit, die Angst vor ihr macht verrückt und löst sämtliche Hemmungen."
    Frost sah, wie sich Win’Dars Kopf senkte und seine Schultern mehrmals zuckten. Er wartete ein paar Minuten, bevor er selbst Win’Dars Geschichte beendete.
    "Ihr habt ihn also umgebracht."
    Doch Win’Dar schüttelte den Kopf.
    "Ich habe es versucht. Letzten Endes war es die Klinge derjenigen, die er jahrelang gequält hatte, die sein Schicksal besiegeln sollte. Doch der Bastard wollte sie selbst im Tod nicht gehen lassen. Bevor er starb, hustete er eine schwarze Wolke der unheiligsten aller seiner Tinkturen mitten in das Antlitz meiner Angebeteten. Als sie das Gift einatmete, begann sie selbst qualvoll zu husten."
    Frost brauchte nicht Win’Dars Gesicht zu sehen, um einen Teil jenes Grauens zu sehen, dass er damals erlebt hatte. Seine Stimme verriet alles.
    "So lag sie in meinen Armen, blass, nach Luft ringend und gegen ein Schicksal ankämpfend, dass sie einfach nicht verdient hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. All das, was meinem Leben wieder einen Sinn gegeben hatte, starb hustend in meinen hilflosen Armen. Ich dachte mir, dass ich das Gift vielleicht auf demselben Wege aus ihrem Körper holen konnte, wie es hineingelangt war. So presste ich meine Lippen auf die ihrigen, ein letzter, verzweifelter Kuss. Es half nichts. Ich atmete zwar selbst einen Teil des Giftes ein, doch war es bereits zu spät. Mit ihren letzten Worten drückte sie mir ihr Schwert, an dem noch immer das Blut des Bastards klebte, in die Hand und versprach mir, durch diese Klinge immer bei mir zu sein."
    Ein von Bitterkeit schweres Lachen drang aus Win’Dars Kehle. Ein Lachen, dessen Klang weniger in den Ohren als vielmehr in der Seele schmerzte.
    "Ich weiß, ich bin ein hoffnungsloser Romantiker", sprach der Fremde weiter, "Es hatte einfach nicht sein sollen. Meine Krankheit ist die Strafe dafür, dass ich unfähig war meine Geliebte zu retten. Ich habe es nicht besser verdient."
    Frost schwieg lange Minuten, die zusammen mit der Stille schwer wie Blei auf die Stimmung drückten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ob er tröstende Worte sprechen und versuchen sollte, Win’Dars Erfahrung für ihn erträglicher zu machen. Doch obwohl er nach den richtigen Worten suchte, konnte er sie nicht finden.
    "Und warum kämpft ihr gegen Lorkar?"
    Es dauerte erneut lange Zeit, bis Win’Dar seinerseits antwortete.
    "Einerseits gefallen mir seine Ziele nicht. Auf der anderen Seite ist er im Besitz eines Amuletts, das magische Fähigkeiten verstärken soll. Vielleicht schaffe ich es mit der Hilfe des Amuletts, diesen verdammten Husten zu heilen. Zudem...", er zögerte, bevor er stockend weitersprach, "... erinnert mich euer Kampf etwas an meinen eigenen. Vielleicht versuche ich auch einfach, dieses Mal zu einem besseren Ende zu helfen."
    Der Waffenmeister nickte verstehend. Er musste zugeben, dass er Win’Dar nicht derart viel Lebenserfahrung zugesprochen hätte. Der Kerl hatte wirklich mehr durchgemacht, als man erwartete. Vielleicht wirkte er deshalb älter, als er es in Wirklichkeit war.
    Die Information über das Amulett war für Frost jedenfalls neu. Und überaus interessant. Frost wusste, dass Lorkar über schwache, magische Fähigkeiten verfügte. Allerdings waren diese alles andere als ausgeprägt. Wofür benötigte er einen Magieverstärker?
    Bevor er den Gedanken weiter verfolgen konnte, lenkte ein Geräusch in seinem Rücken seine Aufmerksamkeit auf sich. Das leise, wenn auch seltsam unregelmäßige Tappen von Pfoten auf Schnee...
    "Was macht denn der Wolf hier?", fragte Win’Dar verwundert.
    Frost folgte seinem Blick und erkannte einen Wolf mit prächtigem, silbernem Fell, der sich leicht hinkend durch den Wald auf das Lager zuschleppte. Die Zeit schien zu erstarren. Silberwölfe waren so gut wie ausgestorben. Solche Tiere fand man bestenfalls noch tief im Gebiet der Eisriesen. Schlagartig wurde ihm klar, was das zu bedeuten hatte.
    "Was ist los?", hörte Frost Win’Dar alarmiert rufen, als er in Richtung des verletzten Tieres losstürzte.
    Sein Herz schien im Takt seiner Schritte durch seine Brust stechen zu wollen, eine böse Vorahnung ließ das Blut in seinen Adern zu Eis erstarren und brachte jede Faser seines Körpers zum Stehen. Hart fiel er vor dem Wolf in den Schnee und streckte die Hand nach dem Tier aus.
    Als er Frost sah, hob der Silberwolf den Kopf und blickte den Krieger aus seinen klaren, eisblauen Augen schmerzerfüllt an. Dann strauchelte er und blieb mit leisem Winseln auf Frosts Knien liegen. Das Fell nahe der Brust hatte eine rötliche Färbung angenommen. Vorsichtig schob Frost seine Arme unter den Körper des Wolfes und hob ihn behutsam hoch.
    "Karaph, ich brauche heißes Wasser und Verbandszeug!"
    Als er sich den Zelten näherte, erntete er einen verwirrten Blick von Seiten Tolrens.
    "Frost, was ist denn..."
    Weiter kam er nicht. Eine Veränderung ging durch den Wolf in Frosts Armen. Zuerst erschauderte sein Körper, dann schien ein kurzer Windhauch wie eine Welle durch sein Fell zu laufen. Erneut schüttelte sich das Tier unter einem inneren Krampf. Das Silber des Fells verblasste und färbte sich am Kopf dunkler, bis es das helle Braun frischer Kastanien angenommen hatte. Während sich das Fell am gesamten Körper zurückzubildete, begann der Wolfskörper zu wachsen. Die längliche Schnauze verkürzte sich zunehmend, die grob dreieckigen Ohren wurden runder, Krallen wurden zu Fingernägeln und Pfoten zu Händen und Füßen.
    Langsam verschwanden die letzten Überbleibsel des Wolfsgesichtes und verwandelten sich in die zarten Züge von Estheras Antlitz. Das Einzige, das noch an den Silberwolf erinnerte, war der Fellkragen ihrer Robe.
    Und die Schnittwunde, die einen hässlichen roten Fleck in dem sonst makellosen weißen Stoff hinterlassen hatte.
    "Karaph, Tolren, ich brauch eure Hilfe!", schrie Frost abermals.
    Halb rennend trug er Esthera auf eines der Zelte zu, während er mit den Fingern nach ihrer kraftlos herabhängenden Hand tastete.
    "Halt durch, gleich bist du in Sicherheit", murmelte er mit schwacher Stimme, "Halt durch..."
    Wider seines Erwartens flatterten Estheras Lider. Ihre Hand schloss sich schwach um seine eigene, zögernd schlug sie die Augen auf.
    "Frost...", flüsterte sie am Ende ihrer Kraft und Tränen sammelten sich zu kristallklaren Seen in ihren Augenwinkeln, "Er... er hat Sheyra..."

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    An die folgenden Minuten konnte sich Frost im Nachhinein nur verschwommen erinnern. Hinter seiner Stirn regneten Gedanken gleich Pfeilregen durch seinen Kopf. Während er Esthera behutsam auf die Decke in seinem Zelt bettete, bellte er mit ungewohnter Härte Befehle zu Karaph und Telron.
    Jemand reichte ihm heißes Wasser, mit dem er schon bald Tücher zu tränken begann und sich dabei die Finger verbrühte, ohne es zu registrieren. Kräuter stürzten aus einer Taschem als seine Hände wild suchend den Inhalt auskippte und als körnige Masse über den Zeltboden verteilten. Blut floss als warmer, klebriger Strom über seine Hände, ließ seine Finger glitschig werden und eine stechend nach Alkohol riechende Flasche aus seiner Hand rutschen. Schon nach wenigen Minuten saß er inmitten eines heillosen Chaos aus blutgetränkten Tüchern, haltlos umherkullernden Fläschchen und einer langsam größer werdenden Pfütze aus warmen Wasser und Alkohol.
    Irgendwann griff er mit zitternden und rötlich glänzenden Fingern nach Nadel und Faden.
    Die Realität verwandelte sich vor seinen Augen in ein Zerrbild seiner eigenen Gedankenfetzen. Er sah sich selbst vor der Quelle stehen, ein nachtschwarzer Dämon in Menschengestalt, der die Hände auf die beiden Schwertgriffe an seiner Seite stützte. Um ihn herum im Gras und Wasser lagen oder trieben die Leichen seiner Gefährten. Der sprudelnde Quell des Lebens hatte sich in eine stinkende Lache aus Blut und toten Körpern verwandelt. Elistin, Borin, Karaph, Koris, Tarwulf, Corwen und Tjerik, Lorkar, Win’Dar sowie Esthera und Sheyra lagen zu seinen Füßen und starrten mit toten Augen auf seine blutig roten Hände.
    Dann sah er erneut Tarwulf. Knieend saß er im Schnee, die tote Koris wie eine heilige Reliquie in seinen bebenden Händen haltend und das Gesicht von Tränen verschleiert. Doch dann bemerkte Frost, dass es nicht Tarwulf, sondern er selbst war, der dort im Schnee kauerte und seine blutüberströmte Geliebte ein letztes Mal in den Armen hielt. Und in Estheras Brust steckte keine Lanze aus Eis, sondern die schwarze Klinge seiner eigenen Flammenschneide.
    Als ihn die Realität zurück in sein Zelt riss, saß er noch immer neben Esthera. Er hatte seine Finger um ihre Hand gefaltet, spürte das Blut in regelmäßigen Schüben unter ihrer Haut pulsieren. Einsam saß er da, allein mit sich selbst, seinen Gedanken und seiner Angst. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Was allerdings nicht sonderlich viel war. Es würde reichen, um die Blutung zu stoppen und Wundbrand zu verhindern, mehr jedoch auch nicht. Doch was, wenn die Klinge, die Esthera verletzt hatte, vergiftet gewesen war? Esthera wusste, wie Vergiftungen zu behandeln waren, doch Esthera lag auch ohne Bewusstsein direkt vor ihm und kämpfte vermutlich um ihr Leben.
    Was, wenn Esthera starb?
    Hatte sein Leben dann noch einen Sinn? Was sollte er ohne sie tun? Lorkar hatte Sheyra in seiner Gewalt. Würde er auch noch seine Tochter verlieren? Würde er ohne Esthera überhaupt noch die Kraft haben, um Lorkar daran zu hindern, Sheyra etwas anzutun? Was, wenn Sheyra schon längst tot war?
    Die durch diese Fragen aufgeworfene Ungewissheit raubte Frost mehr Kraft, als es ein Stich ins Herz hätte tun können. Trotz Koris’ Verletzung war Lorkars Lage nach dem Ende des Kampfes aussichtslos gewesen. Auf sich allein gestellt, waren er und Sifar kaum noch eine Gefahr gewesen.
    Jetzt hatten die Karten auf einen Schlag den Besitzer gewechselt. War Lorkar eben noch im sicheren Schach gestanden, so hatte er Frost von einer Sekunde auf die andere Schachmatt gesetzt. Kein Wunder, dass sich Lorkar kaum um den Ausgang des Kampfes gekümmert hatte. Er musste die ganze Zeit über ein Ass im Ärmel gehabt haben. Doch wie? Esthera war noch vor Frosts Aufbruch im Schutz einer ganzen Karawane losgezogen. War Lorkar wahnsinnig genug gewesen, eine ganze Karawane anzugreifen?
    Was war mit Borin?
    Frost hasste dieser Unsicherheit. Wenige Stunden zuvor war alles noch berechenbar und in zumindest halbwegs einsehbaren Bahnen gelaufen. Jetzt war er auf einmal seiner eigenen Hilflosigkeit ausgeliefert. Und Lorkar war wieder im Besitz der Initiative. Wenn er es nicht schon die ganze Zeit über gewesen war. Er hatte in aller Ruhe sein Spiel gespielt, aus dem Hintergrund die Fäden gezogen und dem Waffenmeister vorgegaukelt, dass er ihn in die Enge gedrängt hatte.
    Jetzt war alles umsonst. Koris’ Opfer, Borins an Sicherheit grenzender Tod, die dahingemetzelten Söldner. Alle Bauern in einem makaberen Spiel. Solange Lorkar Sheyra in seiner Gewalt hatte, waren Frost die Hände gebunden.
    Etwas bewegte sich zwischen seinen Fingern, als Esthera schwach den Druck seiner Hände erwiderte.
    "Esthera...", flüsterte Frost und beugte sich über seine Geliebte, um ihre Lippen mit einem Kuss zu liebkosen.
    Als Estheras zitternde Lider zwei erschöpfte, blaue Seen freigaben, wollte Frost sie nie wieder loslassen. Tränen brannten heiß in seinen eigenen Augen.
    "Lorkar... er hat... Es tut mir leid..."
    Stockend kletterten die Worte über Estheras Lippen.
    "Nein." Frost schüttelte traurig den Kopf. "Es war meine Schuld. Ich hätte es besser wissen müssen. Nach all dem hätte ich es besser wissen müssen."
    Aus Estheras Augen sprach eine solche Furcht, wie sie Frost noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein angsterfülltes Wispern, ihre Hand schmiegte sich schutzsuchend in Frosts.
    "Es war der Geist", hauchte sie, "Der Geist vom Friedhof..."
    "Der Geist?", wiederholte Frost mechanisch, bis er verstand. "Shorun!", entfuhr es ihm, "Aber er ist tot! Ich habe ihn eigenhändig erschlagen."
    "Er lebt", widersprach Esthera flüsternd. "Er hat die Karawane angegriffen." Ihr Kopf rollte leicht auf die Seite und ihr Blick verlor sich in der Weite ihrer Erinnerung. "Zusammen mit einer Frau. Hell war ihr Haar, von demselben silbernen Grau wie dein eigenes. Umso schwärzer war ihre Kleidung und...", Sie schien den Gedanken vergeblich herunterschlucken zu wollen, "... und ihre Seele..."
    Ein Frösteln ließ Esthera zusammenzucken.
    "Sie waren nur hinter uns her", fuhr sie mit leiser Stimme fort, "Der Geleitschutz... sie kämpften, doch ihre Magie... sie waren zu stark..." Erneut fanden ihre vor Angst wässrigen Augen Frosts Blick. "Ich glaube... ich glaube, sie ist eine Paktiererin..."
    Mit sanfter Hand strich Frost über Estheras Wange.
    "Du bist in Sicherheit", versuchte er sie zu beruhigen, "Sie wird dich hier nicht finden. Niemand wird dir etwas antun."
    "Ich hatte Angst..." Der Druck ihrer Hand verstärkte sich zunehmend, "Zum ersten Mal seit deiner Rückkehr hatte ich wirklich Angst..."
    "Es war meine Schuld", meinte Frost abermals und strich das Haar aus Estheras Stirn, "Du konntest nichts tun."
    "Sheyra..." Estheras Stimme stockte und ihr Schluchzen hinterließ einen tiefen Stich in Frosts Herz. "Ich wollte sie schützen..." Jedes einzelne Wort schien ihr Schmerzen zu bereiten. "Borin hat gekämpft. Ich... ich konnte es nicht..."
    Frosts Stimmbänder schienen sich in Dornenranken zu verwandeln. Auf einmal schien das schwere Trollfell wieder auf seine Brust zu drücken und machte das Atmen schwer.
    "Was ist mit Borin", drang es schwach aus seiner Kehle, "Lebt er noch?"
    Esthera schüttelte schwach den Kopf.
    "Ich weiß es nicht... Er kämpfte, um mir die Flucht zu ermöglichen."
    Der Ball aus Dornen in Frosts Hals wollte sich nicht herunterschlucken lassen.
    "Ich muss zu ihm", meinte er plötzlich, "Ich muss wissen, ob er noch lebt."
    Estheras Hand schloss sich fester um seine eigene.
    "Geh nicht", flehte sie, "Bitte geh nicht fort!"
    Die Finger des Waffenmeisters falteten sich sanft um ihre Hand.
    "Ich bin es ihm schuldig. Er riskierte für mich sein Leben. Vielleicht hat er irgendwie überlebt!"
    "Bitte", wiederholte Eshthera und frische Tränen schimmerten in ihren Augen, "Vielleicht warten sie auf dich!"
    Doch Frost wies ihre Bitte mit einem Kopfschütteln zurück.
    "Wenn Borin noch am Leben ist, muss ich ihm helfen. Er opferte sich meinetwegen. Zu viele Freunde opfern sich wegen mir."
    Er blickte Esthera noch einmal traurig an, bevor er sie küsste und flüsterte: "Es tut mir leid..."
    Langsam, als ob noch immer der Kampf an seinen Kräften zehren würde, stand er auf und ging zum Ausgang, hob die Hand um die Plane beiseite zu schieben, zögerte jedoch. Seine Hand ballte sich zur Faust, der Kopf wollte sich erneut zu seiner Geliebten umdrehen. Und er wusste, wenn er sich jetzt herumdrehte, die Trauer in Estheras Augen sah, würde er nicht mehr die Kraft haben, um davonzureiten.
    Ein letztes Durchatmen, dann warf er die Plane zurück und trat ins Freie.
    "Karaph, Tolren!" Seine Stimme hatte erneut die alte Kraft und Befehlsgewohnheit angenommen. "Ihr bleibt hier und verteidigt das Lager. Sollte sich trotz Warnung jemand Esthera nähern, tötet ihr ihn."
    Ohne auf eine Reaktion zu warten, lief der Waffenmeister in Richtung der beiden Hurjoks. Noch während er sich auf den Rücken eines der Tiere schwang, rief er nach Win’Dar.
    "Ihr kommt mit mir", befahl er dem Wanderer. "Ich hoffe ihr wisst, wie man reitet."
    Statt zu antworten, kletterte Win’Dar geschickt auf den Rücken des zweiten Hurjok.
    "Ihr wollt euren Freund retten?"
    Frost machte sich gar nicht erst Gedanken, woher Win’Dar diese Information hatte.
    "Ich will gar nichts", antwortete er böse, "Ich werde es tun."

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    Cheshire Cat  Avatar von Superluemmel
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    Es dauerte nicht lange, bis sich die grüne Wand zu Seiten der Straße öffnete und die beiden Reiter in vollem Galopp hinaus in die Ebenen preschten. Die Felder flogen unter den Pfoten der Hurjoks dahin, während der zunehmende Halbmond seine unsichtbare Stiege zum Zenit emporkletterte und das Land in blasses, kaltes Licht tauchte. Der Anblick erinnerte Frost an ein Leichentuch, durch dessen zerrupften Stoff totes Fleisch bräunlich hervorschaute. Der Gedanke verwandelte seine Wirbelsäule in einen Eisstab.
    Kein gutes Omen.
    Wind und Kälte zerrten an Frosts Körper, die kalte Haut brannte durch den Wind als hätte sie jemand mit Feuer übergossen. Trotz der fortschreitenden Monate waren die Lande durch die nächtliche Kälte entvölkert und hier auf den Ebenen schien der Wind bis zu den Knochen schneiden zu können. Vermutlich würde Frost nach seiner Rückkehr ins Lager die nächsten zwei Tage krank im Bett liegen.
    Wenn er zurückkehrte.
    Was ihm in diesem Moment jedoch recht egal war. Borin hatte noch gekämpft, als Esthera geflohen war. Esthera hatte das Lager in ihrer Wolfsform erreicht. Ihrer Erschöpfung nach zu urteilen war sie trotz ihrer Verwundung den größten Teil des Weges gelaufen. Das hieß, sie war ungefähr genauso schnell gewesen wie die Hurjoks. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kampf noch immer tobte, war praktisch nicht existent. Estheras Schilderungen zufolge war das Gefecht eine Sache von Minuten gewesen.
    Verzweiflung nagte an Frost. Wie wahrscheinlich war es, dass Borin noch immer am Leben war? Wie groß die Chance, dass er im Falle einer schweren Verwundung noch nicht verblutet war? Während des vorigen Kampfes hatte Lorkar versucht, Sifar davon abzuhalten, den tödlichen Speer zu schleudern. Trotz allem schien er nicht gewollt zu haben, dass Koris stirbt. Vielleicht hatte er seinen Lakaien Befehl gegeben, Borin zu verschonen.
    Im Moment war es Frosts einzige Hoffnung. Esthera hatte von Shorun und einer Paktiererin gesprochen. Als er selbst gegen Shorun gekämpft hatte, schien der Geist nicht gewillt, ihn am Leben zu lassen. Und eine Paktiererin ließ nichts gutes erhoffen. Mit Lorkars Prinzipientreue schien es nicht sonderlich weit her zu sein. Wer sich mit den Vertretern der schwärzesten Zunft abgab, der hatte nichts mehr zu verlieren. Schwarzmagier waren an und für sich schon schlimm genug. Paktierer gingen noch einen Schritt weiter. Auch unter den Schwarzmagiern gab es Wagemutige, die sich an die Beschwörung von Dämonen herantrauten. Doch diese Bündnisse waren in der Regel nur von kurzer Dauer.
    Paktierer waren da anders. Diese Menschen banden sich fest an die beschworenen Kreaturen. Und mit jedem Pakt opferten sie einen weiteren Teil ihrer Selbst. Irgendwann war von ihrem Körper nichts weiter als eine verkümmerte Hülle übrig, die vom Wesen ihrer dämonischen Bündnispartner besselt war. Wer einem Paktierer vertraute, der konnte genauso gut einem Dämonen die Hand schütteln.
    Und nun hatte eine Paktiererin Sheyra entführt. Bei dem Gedanken zog sich Frosts Magen für einen Moment so fest zusammen, dass er beinahe von seinem Reittier gestürzt wäre. Bei den Göttern, hoffentlich ging es Sheyra gut...
    "Dort vorne ist etwas!", rief Win’Dar und deutete nach vorne.
    Mehrere schattenhafte Umrisse von unterschiedlicher Größe hoben sich gegen den weiß-braunen Untergrund der Straße ab. Frosts Eingeweide schnürten sich zu einem festen Ball zusammen. Obwohl er auf diese Entfernung nichts erkennen konnte, gefiel ihm irgendetwas an dem Bild nicht. Vielleicht lag es daran, dass ihm sein Verstand zuflüsterte, dass mitten in der Nacht keine Schatten auf der Straße zu sehen sein sollten. Vielleicht auch einfach an der dunklen Vorahnung, die ihn seit dem Verlassen des Lagers plagte.
    Dennoch traf ihn der Anblick nicht weniger hart, als er erkannte, um was es sich bei den Umrissen handelte.
    Es war ein Schlachtfeld.
    Mit dem einzigen Unterschied, dass man auf einem Schlachtfeld in der Regel die Kämpfer von mindestens zwei Parteien fand. Hier lagen jedoch ausschließlich die Leichen des Begleitschutzes. Doch die Art und Weise wie sie gestorben waren, ließ eher auf eine Schlacht als auf einen Kampf schließen. Auf die Schnelle zählte Frost acht Leichen, die auf der Straße oder den umliegenden Feldern lagen. Die Menge an Blut, die jede einzelne von ihnen in Form unterschiedlich großer Flecken umgab, war beängstigend. Teilweise führten die im Mondlicht schwarzen Spuren meterweit von den reglosen Körpern fort. Bei einigen fehlten Stücke einzelner Extremitäten. Bei einer der Leichen hatte sich der Kopf in einen gigantischen See aus Blut verwandelt. Die Räder mehrerer Karren hatten tiefe Scharten im festgetretenen Schnee hinterlassen. Offensichtlich hatten die Händler so schnell sie konnten die Flucht ergriffen.
    "Bei den Göttern...", flüsterte Win’Dar gebannt vor Schrecken.
    Der Hurjok reckte witternd die Schnauze nach oben, als Frost ihn widerwillig in die Nähe einer der Leichen lenkte. Und als er den Toten genauer betrachtete, schien eher sein Inneres als seine Haut zu erfrieren. Bei dem Toten handelte es sich um einen jungen Mann von vielleicht knapp zwanzig Jahren - Ein Alter, in dem sich in der Rimmersmark viele Burschen dazu entschlossen, sich als Söldner zu verdingen um ihren Geldbeutel zu füllen. Das Leben dieses Jungen hatte offensichtlich kein sonderlich sanftes Ende genommen.
    Das blonde Haar war blutverklebt, die weit aufstehenden Augen hinterließen den Eindruck, als ob ihn der Schrecken, den er vor seinem Tod gespürt hatte, selbst im Jenseits noch verfolgte. Seine Haut war blass, jegliches Leben in seinen Adern längst zum Erliegen gekommen und zu Eis erstarrt. Zwei Finger sowie ein gutes Stück seines Mittelhandknochens der rechten Hand fehlten und gewährten Frost einen Einblick in sein Innenleben, auf den der Waffenmeister gerne hätte verzichten können.
    In seinem Leben hatte Frost schon unzählige vergleichbare Wunden gesehen. Die Wunde an sich war auch nicht das, was ihn berunruhigte, auch wenn sie noch immer Übelkeit in ihm weckte. Was ihn erschreckte, war die Art, wie die Wunde entstanden war. Die Finger waren nicht einfach abgehackt worden. Nirgendwo in der näheren Umgebung waren Stücke der Hand zu sehen und das neben dem Jungen liegende Schwert ließ darauf schließen, dass er es bis zum Moment seines Todes noch in der Hand gehalten hatte.
    Der Krieger vermutete stark, dass die Finger abgebissen worden waren.
    Auch am restlichen Körper fanden sich Spuren, die seine These stützten. In immer gleichen Abständen klafften jeweils zwei kreisrunde Löcher, die mit einer dünnen roten Linie verbunden waren, im Fleisch des Jungen. Unwillkürlich musste Frost an Schlangenbisse denken. Aber Schlangen bissen keine Gliedmaßen ab und hier im Norden gab es keine derartigen Reptilien.
    Als sich Frost nach weiteren Spuren umblickte, bemerkte er mehrere wellenförmige, schwarze Spuren im Schnee, die sich über das halbe Schlachtfeld zogen. Sheron und seine unheilige Begleiterin waren nicht allein gewesen.
    Hier stank es nach Dämonen.
    "Borin ist nicht dabei", teilte Frost Win’Dar mit, nachdem er die einzelnen Leichen kurz untersucht hatte.
    "Hier nicht", antwortete Win’Dar leise.
    Win’Dars Gesichtsausdruck war starr und seine Stimme ließ Frosts Herzschlag für einen Sekundenbruchteil stoppen. Der Blick des Wanderers war reglos in die Dunkelheit gerichtet.
    Ein Teil von Frost wollte nicht wissen, was Win’Dar gefunden hatte. Dennoch, drehte er langsam den Kopf in Win’Dars Blickrichtung. Dort auf einem Hügel, nahezu unsichtbar gegen die Schwärze des Nachthimmels, stand ein Kreuz. Der reglose Umriss einer menschlichen Gestalt schien die sonst kantige Kreuzform mit seinem Körper nachahmen zu wollen.
    Wortlos stieg Frost vom Rücken seines Hurjok und stapfte mit steifen Schritten den Hügel hinauf. Er wollte es nicht sehen. Schon von mehr als fünfzig Schritt Entfernung erkannte er die Gestalt.
    Mit jedem Schritt schien die sein Herz umschließende Eiskruste dicker zu werden. Mit jedem Schritt zogen ihn die unsichtbaren Bleiketten tiefer zu Boden. Als er schließlich die Hügelkuppe erreichte, fiel er kraftlos vor dem Kreuz auf die Knie.
    "Nein..."
    Sein Blick wanderte über Borins leblos am Kreuz hängenden Körper.
    "Das darf nicht sein..."
    Eiskristalle glitzerten an den Stricken, die sich um die aus den Gelenken gedrehten Arme des Hundezüchters schlangen. Der Mund war halb geöffnet, auf ewig erstarrt blickten die hellbraunen Augen über Frost hinweg in die Leere.
    "Borin...", die Hände des Waffenmeisters griffen nach vorne, packten das Kreuz und krallten sich in das Holz. "Verdammt, nein... Ihr Götter... das darf nicht sein..."
    Wunden zogen sich gleich roten Narben über Borins Arme, sein Gesicht und seine Kleidung. Schnittwunden, nicht die grauenvollen Löcher wie in dem toten Jungen. Die einzige Ausnahme bildete seine Brust. Glitzernd wie ein vereister Wasserfall hatte sich das Blut seinen Weg über Borins Brustpanzer gebahnt und bildete eine unregelmäßige, dunkelrote Spur auf dem zerfurchten Leder. Ihren Ursprung bildete ein klaffendes Loch an der Stelle, an der sich einst Borins Herz befunden haben musste. Es sah aus, als hätte sich etwas durch den Lederharnisch und seinen Brustkorb und eine blutige Höhle dort hinterlassen, wo Borins Lebensquelle pulsiert hatte.
    Frosts Herz zerplatzte in einen Schauer aus Eisscherben.
    "Sagt mir, dass das nicht wahr ist!"
    Er rüttelte und zerrte an dem Holzkreuz bis seine Fingernägel brachen und Blut über seine Hände strömte, schrie bis seine Stimme in einem heiseren Krächzen erstarb. Tränen rollten über seine Wangen, erstarrten in der kalten Polarnacht auf halbem Wege zu kristallenen Abbildern seiner Trauer. Weder der Schmerz in seinen Fingern noch die Kälte des Schnees unter seinen Knien erreichten sein Bewusstsein.
    Borin war tot. Einer der Mitgründer der Frostwölfe war in die ewigen Hallen des Ruhms eingekehrt. Falls es solche Hallen überhaupt gab. Ein weiterer Grabstein, der Frosts zweifelhaften Weg zum Sieg säumte.
    Er war zu spät gekommen.
    "Tot, tot, tot..."
    Immer wieder hallte das Wort in Frosts Gedanken wider. Lorkars Hohngelächter, mit dem er Frosts verzweifelten Versuch verspottete, ihn in einem schnellen Kampf zu besiegen. Nein, es war nicht Lorkars Stimme. Dies war das Lachen eines Wahnsinnigen, eines Mensch gewordenen Dämons, dem nur noch der Durst nach Rache und Blut zueigen war. Dies war nicht mehr der Mensch, an dessen Seite er durch den Tod geschritten war. Lorkar hatte seinem eigenem Freund das Schwert in die Brust gerammt. Auch wenn Borins Blut ebenso an Frosts eigenen Händen klebte.
    "Ich bring dich um...", flüsterte Frost und das Heft der Flammenschneide schien glühend heiß, als er sie aus ihrer Scheide zog.
    "Elender Bastard, dafür bringe ich dich um!"
    Frosts Kehle war rauh und brannte durch das Schreien, als er das Schwert hob und die starrgefrorenen Stricke durchtrennte, die Borins Leichnam am Kreuz hielten. Schwer und kalt fiel er dem Waffenmeister in die Arme, bis er ihn sanft zu Boden gleiten ließ.
    "Möge dir der Tod die Ruhe geben, nach der du dich gesehnt hast", murmelte Frost und versuchte die Augen seines Freundes zu schließen. Vergeblich, die Kälte hatte Borins Augenlider starr werden lassen. Etwas in Frosts Magengrube krampfte sich zusammen.
    Schnee knirschte neben ihm.
    Ohne Vorwarnung sprang Frost auf und packte Win’Dar am Kragen.
    "Ihr wusstet, dass Lorkar noch mehr Leute hatte! Ihr habt es gewusst!"
    Win’Dar packte Frosts Hand und versuchte sich loszureißen, scheiterte jedoch an Frosts stählernem Griff.
    "Beruhigt euch erstmal und lasst mich los", keuchte der Wanderer.
    Frost dachte gar nicht daran.
    "Ihr habt es gewusst...", zischte er mit vor Zorn glühenden Augen, "Warum habt ihr nichts gesagt?!"
    "Ich habe es selbst vergessen!", schrie Win’Dar nun seinerseits ungehalten, "Und ihr habt ja selbst nicht mehr nachgefragt, verdammt nochmal! Lorkar hat nur am Rande erwähnt, dass er etwas vorhat!"
    Geradezu angewidert stieß Frost den Fremden von sich.
    "Erzählt mir, was ihr wisst. Und wagt es nicht, mich anzulügen."
    "Er nannte sie... Noruja", antwortete Win’Dar während er nach Atem rang. "Glaub ich zumindest. Müsste es aber schon gewesen sein. Wollte sich später mit ihr treffen, wegen einem Ritual."
    "Was für ein Ritual?", schnappte Frost.
    "Ich weiß es nicht", antwortete Win’Dar verzweifelt. "Glaubt ihr, die Söldner hätten ihn begleitet, wenn er genaueres erzählt hätte? Von mir aus könnt ihr mir sämtliche Finger abschneiden - Ich weiß es wirklich nicht!"
    Schnaubend wandte sich Frost ab und rammte seine Klinge zurück in die Scheide. Einen Augenblick lang verspürte er sogar wirklich das Verlangen, Win’Dars Aufforderung Folge zu leisten. Verdammt, er musste sich zusammenreißen. Solange es nichts weiteres war - Er hatte ja nur einen seiner engsten Freunde verloren...
    "Und jetzt?", fragte Win’Dar vorsichtig, als Frost sich nicht weiter rührte.
    "Wir werden die Leichen begraben, wenn wir schon nichts anderes mehr für sie tun können. Sucht mir Borins Äxte. Sie müssen hier irgendwo liegen. Zwei davon sind Wurfäxte. Ich will ihm wenigstens ein Begräbnis geben, dass ihm würdig ist."
    Win’Dar regte sich nicht.
    "Werdet ihr ihn töten?", fragte er nach einiger Zeit.
    "Lorkar?" Frost hob die Schultern in einer Gleichgültigkeit, die seinen Gefühlszustand höhnte. "Vielleicht." Er schloss für die Augen in dem vergeblichen Versuch, Borins starres Totengesicht aus seinem Kopf zu verbannen. "Das überlege ich mir, sobald er zu meinen Füßen liegt. Zuerst kehren wir in das Lager zurück. Und jetzt packt mit an - Die Nacht ist nicht mehr lang."

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    Zuerst war es nur eine einzelne, grelle Lichtlanze, die sich hinter dem Horizont hervorschob und als heller Blitz den Himmel zerschnitt. Im nächsten Moment konnte Frost beobachten, wie sich das Zwielicht der Morgendämmerung zurückzuziehen begann. War es noch vor wenigen Minuten stockfinster gewesen, so verwandelte sich der in der Dämmerung graue Himmel jetzt in ein strahlendes Blau, während sich hinter den Hügelkuppen ein gleißender Lichtball auf seine tägliche Rundreise erhob. Aus einem Lichtstrahl wurden Dutzende, dann Tausende, Millionen. Und wo das Licht das weiß gepuderte Land berührte, entstanden glitzernde Kristalle aus dem Nichts und brachten mit ihren abertausenden Reflexionen die Augen zum Tränen.
    Der Morgen war warm und die Sonne kitzelte auf Frosts unterkühlter Haut. Wahrscheinlich würde es der bisher wärmste Tag in diesem Jahr werden. Dennoch wollte die Kälte aus Frosts Innerem nicht weichen. Sie hatte sich mit eisigen Fingern in seinen Eingeweiden festgekrallt, ließ sein Gesicht starr und leblos wirken und seine Gedanken träge werden. Er wusste, einige Meilen weiter im Südosten blickten nun neun frisch ausgehobene Gräber der aufgehenden Sonne gegenüber. Auf dem Grab ganz oben auf der Hügelkuppe lagen zwei Wurfäxte und eine Kriegsaxt mit zersplittertem Blatt. Dort standen auf einer kleinen Holztafel die Worte: Hier ruht Borin, Sohn Lengdars aus Hammerfoldt, Mitbegründer der Frostwölfe und treuer Freund. Er opferte sich, um seinen Freunden das Weiterleben zu ermöglichen. Möge er in Frieden ruhen.
    Die Erinnerung schnürte Frosts Kehle wie ein stählerner Draht zusammen. Borin. Ein weiterer Name auf Frosts bis ins Unendliche reichender Opferliste. Und wieder drängte sich ihm der Gedanke auf, wer wohl der Nächste sein würde. Er wollte es nicht wissen. Die letzten Tage war zuviel schief gelaufen. Wenn es so weiterging, würde er daran zerbrechen. Jeder Mensch verfügte nur über eine bestimmte Belastbarkeit. Frost stand nun kurz davor, diese Grenze zu überschreiten.
    Es war lange her, dass der Waffenmeister eine derartige Angst in sich gespürt hatte. Sie presste ihm die Eingeweide zusammen, saugte die Luft aus seiner Lunge und drängte seinen Verstand in eine entfernte Ecke seines Bewusstseins. Er reagierte unkontrolliert, wurde zu einer hilflosen Marionette seiner Gefühle. Die Flammenschneide wusste davon. Gierig hing sie an seiner Seite, wartend auf den Augenblick, in dem sie Frosts Geist unter einer Welle der Aggression zusammenbrechen lassen und die Kontrolle über seinen Körper erlangen konnte. An Borins Grab hatte Win’Dar einen Teil dieser Wut zu spüren bekommen. Frost wusste, dass er in seinem jetzigen Zustand niemals Lorkar gegenübertreten durfte. Sollte er es tun, würde er von demselben Hass konsumiert werden, der seinen ehemaligen Freund zerfressen hatte.
    Als Win’Dar und Frost das Lager erreichten, kam ihnen Tolren bereits entgegengelaufen.
    "Frost, habt ihr - Oh nein..." Schlagartig fiel jegliche Hoffnung aus Tolrens Gesicht und ließ eine Maske der Trauer zurück.
    "Wir kamen zu spät", sagte Frost leise.
    Tolrens Kopf war gesenkt, seine Augen schienen ein Loch in den Schnee brennen zu wollen. Frost sah seine Hände zittern.
    "Das ist meine Schuld...", murmelte der rothaarige Krieger. Seine Stimme bebte. "Verdammt, das ist alles meine Schuld! Lorkar... dieser Bastard... Und ich habe ihm auch noch geholfen!"
    Von plötzlicher Entschlossenheit beseelt, trat Frost nach vorne und packte Tolren an den Schultern.
    "Du hast nur getan, was du für richtig gehalten hast. Wenn du nicht im richtigen Moment die Seiten gewechselt hättest, wären vielleicht noch mehr unserer Freunde gestorben!" Er löste sich von Tolren und starrte abwesend in die braunweißen Hallen des Waldes. "Ich habe Borin losgeschickt. Es war allein meine Entscheidung. Ebenso, wie es meine Entscheidung war, Lorkar nachzusetzen. Wenn jemand an Borins Tod schuld ist, dann bin ich es."
    Nach einigen Sekunden hob Tolren den Kopf. Es war ihm anzusehen, dass er die Trauer zurückzukämpfen versuchte, doch sein starres Gesicht trotzte seinen Anstrengungen.
    "Gibt es Neuigkeiten von Elistin oder Tarwulf?", fragte Frost schließlich, um ein anderes Thema anzuschneiden.
    "Weder noch", kam anstelle von Tolren Karaphs Antwort. Der dunkelhäutige Krieger hatte sich zwischen zwei Zelten genähert, ohne von jemandem bemerkt zu werden.
    "Du hast dich etwas umgesehen?", fragte Frost als er den Kopf zu der schattenhaften Gestalt wandte. Karaph trug sowohl den geschwärzten Lederharnisch wie auch seine beiden dünnen, aber rasiermesserscharfen und leicht geschwungenen Unterarmklingen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er in Frosts Abwesenheit das Lager verlassen hatte. Der Gedanke gefiel Frost nicht. Karaph hatte zusammen mit Tolren das Lager und vor allem Esthera beschützen sollen. Er musste einen guten Grund gehabt haben. Trotz seiner Eigenwilligkeit hatte Karaph bisher stets Frosts Befehle befolgt.
    "Jemand hat uns beobachtet", antwortete Karaph wie immer direkt und ohne den leisesten Unterton in der Stimme. "Als ich nachsah, war niemand mehr da. Lorkars Spuren enden ebenfalls im Nichts."
    Frost seufzte. Wie lange war es her, seitdem er das letzte Mal gute Nachrichten gehört hatte? Nicht einmal eine Botschaft bezüglich Koris’ Zustand. Verdammt, er wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben war! Lorkar war ebenfalls verschwunden - zusammen mit Sheyra. Bei den Göttern, wenn es so weiterging, würde die nächste Nachricht den Weltuntergang einleiten...
    "Wie geht es Esthera?", erkundigte sich Frost müde.
    "Sie schläft", entgegnete Tolren. "Als ich vorhin nach ihr gesehen habe, sah ihre Wunde schon deutlich besser aus und sie hat friedlich geschlummert. Ich denke, sie hat die Wunde noch einmal selbst behandelt."
    Frost nickte. Vielleicht würde der Weltuntergang doch noch etwas warten müssen. Wenn Esthera genug Kraft hatte, um sich selbst zu heilen, bestand für sie keinerlei Gefahr mehr. Der Knoten in Frosts Eingeweiden lockerte sich etwas.
    "Ich schaue mal eben selbst, wie es ihr geht. Win’Dar, ich wäre euch verbunden, wenn ihr euch um die Tiere kümmern könntet."
    Der dunkle Wanderer gab nur ein knappes Nicken zurück. Seit dem Vorfall an Borins Grab hatte er kein Wort mehr gesprochen. Hoffentlich würde er keine Probleme bereiten...
    Als Frost sein Zelt betrat, lag Esthera fest in ihre Decke gekuschelt auf seiner Schlafrolle. Sie hatte sich auf die Seite gerollt, die Beine leicht angezogen und den Kopf auf ihre Hände gebettet. Tolren hatte recht gehabt: Estheras Antlitz strahlte einen solchen Frieden aus, dass Frost spürte, wie die eisige Kralle ihren Griff um sein Herz lockerte. Zum ersten Mal seit dem Kampf gegen Lorkar erhellte ein Lächeln die Züge des Waffenmeisters.
    Lautlos trat er neben seine Geliebte, sank auf die Knie und streckte sich neben ihr aus. Schnallen klickten leise, als er die Armschienen löste und ein Stück von Esthera entfernt auf den Boden legte. Mit derselben Vorsicht, mit der ein Kunstschmied die feine Verzierung in seinen teuersten Ring ätzte, schob Frost seine flache Hand unter Estheras Kopf, hob ihn leicht an und ließ ihn auf seinen Arm rollen. Den anderen Arm legte er sanft um ihre Schulter. Die Finger seiner Linken streckten sich, um den Handschuh seiner anderen Hand zu erreichen. Das schwarze Leder zwischen Zeige- und Mittelfinger einklemmend, zupfte er an dem schweren Kampfhandschuh, lockerte ihn, zog ihn schließlich gänzlich von der Hand. Flappend glitt das schützende Leder zu Boden.
    Esthera räkelte sich etwas und rückte den Kopf zurecht, schlief jedoch ungestört weiter.
    "Ruh dich aus, meine Liebe", flüsterte Frost mit sanfter Stimme. "Für das, was uns bevorsteht, werden wir all unsere Kraft benötigen..."
    Ruhig blieb er liegen. Beobachtete Estheras Brustkorb, wie er sich in gleichmäßigen Schüben hob und senkte. Blickte in ihr Antlitz, das so friedlich wie die reinen Wasser der Quelle wenige Millimeter vor seinem Gesicht lag. Atmete den leichten, süßlichen Duft ihrer Haare, als er ihr behutsam durch das Haar strich. Er spürte die Wärme ihres ruhenden Körpers. Sie durchströmte seine Hand, hinterließ ein sanftes Prickeln in seinen Fingerspitzen und erfüllte seinen durch den langen Ritt durchgefrorenen Körper mit neuer Kraft.
    Ja, er wusste, warum er diese Frau liebte. Ihre Nähe gab ihm den Frieden, für den er früher stets gekämpft und sein Leben riskiert hatte. Sie gab ihm den nötigen Rückhalt, wenn er die Last der Schuld auf seinen Schultern nicht mehr tragen konnte. Wenn er bei Esthera war, fühlte er sich zuhause. Zu ihr konnte sich sein ruheloser Geist zurückziehen, um wieder zu Kräften zu kommen. Und er wusste, warum er Esthera beschützen musste. Ihre Hände waren nicht dazu geschaffen, Leid hervorzubringen. Waren es Frosts Hände, die den Tod gaben, so versprachen Estheras das Leben. Sie war zu rein, zu unschuldig um jemanden zu verletzen.
    Dennoch war sie nur ein Mensch. Und es lag in der Natur des Menschen, seine Mitmenschen zu verletzen, sobald er sich bedroht fühlte. Im Prinzip unterschied den Menschen nichts vom Tier. Der einzige Unterschied war, dass sich der Mensch sein Anderssein selbst eingeredet hatte. Er versteckte seine Instinkte unter einem schützenden Fell aus Regeln, Gesetzen und Gesellschaft. Die wahre Natur zeigte er im Kampf. Dort wurde er wieder zu einer räuberischen und tödlichen Bestie, der es einzig um den eigenen Vorteil und das Überleben ging. Und diese Bestie war bereit, dafür auch zu töten.
    Obwohl Estheras Wunde tatsächlich schon wieder fast verheilt schien, hatte Frost Angst um seine Frau. Er hatte Angst, sie vor sich selbst beschützen zu müssen. Eine Wolfsmutter, deren Welpen bedroht wurden, griff ohne Rücksicht auf das eigene Leben an. Lorkar bedrohte nun Sheyras Leben. Es musste ausreichen, wenn Frost selbst zum Wolf wurde...
    Während eines langen und tiefen Atemzugs schloss Frost die Augen. Er wollte nur noch vergessen. Vergessen, dass er irgendwo am Rande des Kristallwaldes in seinem Zelt lag. Zumindest für einige Minuten das Wissen verdrängen, dass sein Erzfeind seine Tochter in seiner Gewalt hatte. Für einige Minuten die Schuld ablegen, die er auf sich geladen hatte, als er Borin und Koris nicht beschützt hatte. Die Zukunft war ihm egal - Zumindest für den Augenblick. Dies war einer der Zeitpunkte, an denen sich der Waffenmeister wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können. Noch einmal alles von vorne zu beginnen. Die Fehler wiedergutzumachen, die sein Leben mit tiefen Narben gezeichnet hatten.
    Doch wie immer blieb die Zeit steif und unbewegt, egal wie stark er sich gegen sie stemmte. Wenn er es darauf anlegte, würde sie ihn sogar rückwärts weiter schieben. Voran in eine Zukunft, in der wie auch schon zuvor der Tod sein Weggefährte sein würde. Frost wusste, irgendwo dort draußen wartete der Hauch des Vergessens auf ihn. Und sobald er wieder voranschritt, würde sich der Gestank der Ewigkeit an seine Fersen heften und seinen Pfad mit Verderben nachzeichnen.
    Gab es so etwas wie Schicksal? Wenn ja, so schien Frosts daraus zu bestehen, anderen Menschen den Tod zu bringen. Bevorzugt denjenigen, die er liebte.
    Dennoch, trotz allem war jenes Schicksal gnädig genug, um ihn für fast eine Stunde vergessen zu lassen.
    Dann hörte er die Schritte. Jemand ging mit schweren Schritten an der Seite des Zeltes vorbei. Vorsichtig richtete sich Frost halb auf, zog langsam seinen Arm frei und bettete Estheras Kopf zurück auf ihre Hände. Steif stemmte er sich auf die Füße und trat geduckt in Richtung des Zelteingangs. Die Sonne malte den Schatten des Besuchers auf die Plane. Zielstrebig bewegte sich die Person ebenfalls auf die Vorderseite des Zelts zu.
    Irgendetwas gefiel Frost nicht an der Art, mit der sich der Schatten bewegte. Sie war für ein normales Gehen fiel zu... steif. Als ob jemand mit klammgefrorenen Gliedern durch Tiefschnee stapfte.
    Doch bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, wurde die Plane zurückgezogen und Tolren stand im Zelt. Er stand direkt vor Frost und starrte ihn aus geweiteten Pupillen an, als ob er ein Gespenst sei. Weitaus verwirrender war jedoch die unheilverkündend an ihrer Kette pendelnde Kugel seines Morgensterns.
    "Tolren, was zum-"
    Weiter kam er nicht. Der Morgenstern vollführte eine plötzliche Kreisbewegung. Frosts Reaktion kam zu spät. Bevor er sich wegducken konnte, traf ihn die schwere Eisenkugel dicht unterm linken Auge. Ein helles Klingeln erfüllte seine Ohren, als die kurzen Stacheln seine Haut aufrissen und er durch die Wucht des Schlages zu Boden geschleudert wurde. Schwärze explodierte in seinem Sichtfeld. Im nächsten Moment spürte er den Zeltboden unter seinen Fingern. Sein Kopf hatte sich in den Amboss eines Schmiedes verwandelt, den ein Eistroll als Trampolin missbrauchte. Seine linke Gesichtshälfte war völlig taub. Dennoch besaß sie noch genug Gefühl, um im Rhythmus seines Herzschlages dumpfe Schmerzen zu entfalten. Eisenartiger Blutgeschmack füllte seinen Mundraum aus, eine warme Flüssigkeit tropfte über seine Lippen. Er spürte schon jetzt, wie sein Auge zuschwoll.
    "Verrat!", schoss es ihm durch den Kopf.
    Tolren hatte ihn verraten. Aber warum? Hatte er Frost die ganze Zeit über nur etwas vorgespielt? Seine Verzweiflung, die Trauer - Alles nur eine Täuschung? War er beim Betreten des Zelts nur erschrocken weil er gehofft hatte, Frost im Schlaf überraschen zu können?
    "Esthera..."
    Keuchend versuchte Frost, sich in die Höhe zu stemmen. Erneut schwappte schwarzer Nebel in sein Sichtfeld. Stechender Schmerz fuhr wie eine heiße Dolchklinge durch seinen Kopf. Mit einem Aufschrei fiel er erneut hin. Einen halben Schritt vor ihm ragte Tolren über Esthera auf und hob den schweren Morgenstern.
    Er musste handeln. Der Schmerz lähmte seinen Körper. Arme und Hände verweigerten ihren Dienst. Die Morgensternkette rasselte, dann begann die Kugel zu schwingen.
    "Warum, Tolren?"
    Jeden Moment würde der Morgenstern auf seine noch immer schlafende Frau niederfahren. Frosts Wange pulsierte in immer neuen Wogen des Schmerzes. Die Stachelkugel kreiste pfeifend in der Luft. Das Gesicht zu einer Maske der Pein verzerrt, stemmte sich Frost auf ein Knie hoch und zog den Eisbrecher.
    Zu langsam, er wusste, dass er zu langsam sein würde.
    Das schneidende Geräusch von zerreißendem Stoff. Auf einmal klaffte die Zeltwand auf und ein schwarzer Schatten flog ins Zelt. Gerade in dem Moment, in dem die Morgensternkugel herabstieß, sprang Karaph über Esthera und blockte den Schlag mit dem Unterarm ab.
    Etwas knackte wie ein zerbrechender Ast, zischend entwich die Luft zwischen Karaphs Zähnen. Irgendwie schaffte er es trotzdem, sich mit dem unverletzten Arm abzufangen, bevor er Esthera unter sich begrub.
    Esthera selbst schreckte aus ihrem Schlaf hoch, bemerkte, dass etwas nicht stimmen konnte und rollte sich zur Seite aus der Gefahrenzone. Trotz seines dröhnenden Schädels hatte sich Frost mittlerweile erhoben, packte Tolrens Schulter und riss ihn herum. Unbeholfen wie ein Betrunkener machte Tolren einen halben Schritt zur Seite und schwang abermals den Morgenstern.
    Klirrend prallte die Kette gegen die schlanke Klinge des Eisbrechers, wickelte sich mehrfach um die Schneide und verhakte sich. Blitzschnell fasste Frost sein Schwert mit beiden Händen und riss es brutal zur Seite. Der unerwartete Ruck entwaffnete Tolren und brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
    Mit einem schnellen Sprung wollte Frost vor Tolren zurückweichen, doch bevor er reagieren konnte, hatte sein Gegner seine Hände gepackt.
    Überrascht starrte Frost Tolren an.
    Tolren starrte ebenso verblüfft zurück.
    Doch er machte keinerlei Anstalten, einen Angriff zu starten. Er hielt Frosts Hände fest umklammert. Und er brachte eine Kraft auf, die der Tarwulfs gleichzukommen schien. Was ging hier vor?
    Tolrens Lippen begannen sich zu bewegen. Steif, als ob er sich erst erinnern musste, wie er sie bewegen konnte. Seine Stimme klang seltsam mechanisch, klanglos und fehlbetont wie die eines Papageien, dem man mit viel Mühe ein paar Wörter beigebracht hatte.
    "Komm morgen zum alten Wachturm. Und lass deine Freunde raus."
    Ungläubig beobachtete Frost, wie Tolren seine Hände mit eisernem Griff nach unten drückte, bis die Spitze des Eisbrechers direkt auf Tolrens Brust deutete. Der Schrecken ließ Frost erstarren.
    Tolrens Augen waren noch immer in Unglauben geweitet, sein Gesicht starr und steif wie das eines Toten. Die Erkenntnis traf Frost ebenso hart, wie zuvor schon der Morgenstern. Das war nicht Tolren, der dort vor ihm stand.
    Das unbewegte Totengesicht gehörte Shorun.
    Und dennoch war es Tolrens vor Entsetzen flackernder Blick, der Frost hilfesuchend ansah. Ein Gefangener in seinem eigenem Körper.
    Von plötzlicher Panik beseelt, versuchte Frost seine Hände freizubekommen. Er hätte genauso gut versuchen können, eine Eisenkette zu zerreißen. Tolrens Griff lockerte sich um keinen Millimeter. Der Waffenmeister stemmte sich mit aller Macht gegen Tolren, ohne etwas auszurichten.
    "Frost!", hörte er Esthera entsetzt rufen.
    "Shorun du feiger Bastard, lass Tolren frei!", knurrte Frost und versetzte Tolren einen Tritt, der ihn nicht im Geringsten zu stören schien.
    "Denk an deine Tochter", sprach Shoruns tote und gefühlskalte Stimme durch Tolrens Mund.
    Dann rammte er sich das Schwert durch die Brust.

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    Cheshire Cat  Avatar von Superluemmel
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    Mit jedem Zentimeter, um den die Baumschatten wuchsen und jeder Sekunde, in der das goldene Sonnenlicht an Stärke verlor, sanken die Temperaturen tiefer. Die Kälte kroch versteckt in den länger werdenden Schatten heran und fraß sich langsam, aber unaufhaltsam in die Glieder eines jeden, den sie berührte. Die ersten Sterne begannen den mittlerweile schwarzblauen Himmel mit ihrem Leuchten zu durchstechen. Bei irgendwem hatte Frost einmal aufgeschnappt, die funkelnden Punkte am Nachthimmel seien die Verstorbenen, die die Sterblichen vom Himmelreich aus beobachteten.
    Eine schöne Vorstellung. Irgendwo dort droben waren Borin und Tolren und winkten ihm von ihren Sternenfenstern aus zu. Der Gedanke, sie an einem besseren Ort zu wissen, spendete Trost.
    Zumindest sollte er es.
    Vielleicht war Frost mittlerweile zu alt, vielleicht auch in einer der vielen Schlachten zu sehr Realist geworden, um sich an solche Vorstellungen des Nachlebens zu klammern. In dieser Welt, der Realität, gab es nur zwei Dinge, die wirklich von Bedeutung waren: Leben und Tod. Obwohl ihr eigentlicher Sinn verborgen blieb, drehte sich die Existenz prinzipiell allein um das eigene Überleben. Sobald man das eigene Leben verlor, verblasste alles weitere zur Unwichtigkeit. Was nutzte es, sich selbst zu opfern, wenn man sich niemals am Ergebnis erfreuen kann? War es der Gedanke, das Ideal, das zählte?
    Wenn sich Frost jetzt selbst vor die Wahl stellte, sich selbst zu opfern, um Esthera oder Sheyra zu retten, würde er es tun? Folgte er seinem vorigen Gedankengang, so wäre es unsinnig. Also lieber andere opfern, um die eigene Existenz zu wahren? Aus menschlicher Sicht verwerflich, doch aufgrund des Überlebensdranges gerechtfertigt. Oder etwa doch nicht?
    Nein, bei einem war er sich sicher: Würde jemand die Hand gegen seine Familie erheben, so würde sich Frost dazwischenwerfen, auch wenn es ihn das Leben kosten sollte. Er wusste nicht warum, aber er würde es tun.
    Hatten Borin und Tolren genauso gedacht?
    Doch auf das "Warum?" konnte Frost nach wie vor keine Antwort finden. Warum sich selbst opfern, wenn es keine Garantie auf ein Leben nach dem Tod gab?
    Warum hatte er selbst erneut zum Schwert gegriffen?
    Um seine Familie zu beschützen. Ja, das war es. Er hatte Esthera und Sheyra beschützen wollen. Langsam begannen sich seine Gedanken wieder zu klären. Um die Sicherheit seiner Geliebten zu garantieren, war er fest dazu entschlossen gewesen, das Blut seiner Gegner sowie im Notfall auch sein eigenes zu vergießen. Doch er hatte versagt. Statt ihm selbst hatten zwei gute Freunde mit dem Leben bezahlt, um sein Versagen auszugleichen. Durch seine Schwäche hatte er alleine den Tod von Borin und Tolren zu verantworten.
    Wenn sie ihn wirklich vom Himmel aus beobachten konnten, sollte er wohl besser in Demut den Kopf senken.
    "Frost?", hörte er plötzlich Estheras sanfte Stimme fragen, "Geht es dir gut?"
    Der Schwertmeister antwortete nicht. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie sich ihm Esthera genähert hatte. Allein diese Tatsache sagte ihm deutlich, dass es ihm nicht gut ging. Er konnte seine eigenen Gedanken nicht mehr kontrollieren, vergaß seine Ideale und Prinzipien. Die einzige Stimme, die er deutlich verstehen konnte, war die seiner Verzweiflung. Laut rief sie ihm zu, fragte ihn, wofür er überhaupt noch kämpfte, wenn ohnehin alles was er berührte, zum Sterben verdammt war.
    "Ich schaffe es nicht mehr", flüsterte er und schüttelte hilfos den Kopf. Halb im Schnee knieend, haftete sein Blick starr auf der Klinge des Eisbrechers, dessen Spitze sich einen halben Schritt vor dem Waffenmeister in den Boden gegraben hatte. Eine schlanke, matt schillernde Nadel aus Eis - Gleich der Eislanze, die Koris’ Brust durchbohrt hatte. Auch wenn das Blut mittlerweile an der Schneide abgetropft war, so war die Waffe durch Tolrens Blut besudelt. Das Schwert, welches aus dem Drang des Beschützens heraus geboren worden war, hatte sich unfreiwillig gegen seine Bestimmung gewendet.
    Frost spürte Estheras Hand auf seiner Schulter, als sie sich neben ihm in die Hocke sinken ließ.
    "Wir können jetzt nicht aufgeben. Denk an Sheyra."
    "Eben darum geht es ja", erwiderte Frost schwach, "Sieh dir an, was dieser Kampf bisher gebracht hat. Koris, Tolren, Borin - Alles Opfer eines Rachefeldzuges, der nicht der Ihrige ist."
    "Ich bin mir sicher, dass Koris es schafft."
    "Wenn sie die Quelle finden", gab Frost trocken zu bedenken.
    "Werden sie", beharrte Esthera, "Die Quelle verweigert sich niemanden, der sie benötigt."
    Obwohl ihn Estheras Worte beruhigen sollten, wollte die Verzweiflung Frost nicht loslassen.
    "Alles läuft außer Kontrolle", murmelte Frost, "Wohin ich auch blicke, sehe ich nur den Tod. Manchmal glaube ich fast, es ist nicht meine, sondern seine knöcherne Hand, die meine Klinge führt. Anstatt diejenigen die ich liebe zu beschützen, bringe ich ihnen nur den Tod."
    Er sah sein eigenes Gesicht sich auf der Schwertklinge spiegeln. Müde blickten ihm zwei eisblaue Augen aus dunklen Höhlen entgegen. Durch die leichte Verzerrung der Spiegelung wirkte seine Haut eingefallen, trocken und alt.
    War dies das Antlitz des Todes?
    "Ich habe Angst", sprach er weiter. "Ich fürchte mich davor, dass Sheyra dasselbe Schicksal wie Borin oder Tolren ereilen könnte. Ich weiß, dass jemand sterben wird, wenn ich mich Lorkar stelle."
    Sanft zog Esthera Frost an sich heran und schloss ihn in ihre Arme. Die Berührung hatte etwas beruhigendes.
    "Deshalb werde ich dich begleiten", flüsterte sie in sein Ohr.
    "Das kann ich nicht zulassen", antwortete Frost, doch in Estheras Armen wurde sein Widerspruch schwach und halbherzig. Vielleicht war er auch einfach zu müde...
    "Es geht um unsere Tochter", erwiderte Esthera ebenso ruhig wie unbeirrt.
    "Es ist zu gefährlich...", widersprach Frost wie betäubt. Kraftlos hob er die Hände und löste sich leicht aus Estheras Umarmung. "Lorkar wird nicht zögern, dich zu töten."
    "Das wird er bei dir ebenso wenig", gab Esthera als Antwort zurück. Ihr Zeigefinger berührte Frosts Lippen, als er erneut widersprechen wollte. "Ich halte es nicht mehr aus, alleine zu warten während du dort draußen kämpfst. Nie weiß ich, ob du überhaupt noch am Leben bist! Diese Ungewissheit macht mich noch verrückt..."
    Als er die Hand hob, um zärtlich über Estheras Wange zu streichen, wusste Frost, dass er verloren hatte. Er hatte ihr noch nie gut widersprechen gekonnt.
    "Ich will nur nicht, dass dir etwas passiert..."
    "Ich werde nicht kämpfen", versprach Esthera, "Aber solange Lorkar Sheyra in seiner Gewalt hat, kannst du nichts tun."
    Frost wusste, dass Esthera recht hatte. Seit Borins Tod plagte ihn derselbe Gedanke...
    "Lorkar ist nicht alleine", erinnerte er Esthera.
    "Ich weiß. Aber wenn alle Aufmerksamkeit auf dich gerichtet ist, öffnet sich vielleicht ein Weg."
    "Ich kann dich ohnehin nicht davon abbringen...", seufzte Frost.
    Estheras Finger suchten nach seiner Hand.
    "Lass uns nicht weiter darüber nachdenken. Dazu ist morgen auch noch Zeit."
    Sie ließ sich in Frosts Arme zurücksinken und blickte zu den Sternen auf.
    "Ungewöhnlich viele Sterne heute", meinte sie nach Sekunden der Stille.
    Frost legte den Kopf in den Nacken und folgte ihrem Blick. Hoch über ihnen blitzte ihnen die Unendlichkeit in Form hunderter und tausender Lichtfünkchen entgegen. Erneut musste Frost an die alte Geschichte denken. Stand jeder einzelne der Sterne für einen verstorbenen Helden? Wenn dem so war, wieviele neue Sterne würden dann morgen Abend aufgehen?
    "Esthera?", fragte er nach unzähligen Minuten des gemeinsamen Schweigens.
    Esthera gab ein leises "mhm?" von sich.
    "Weißt du, was Sheyra gesehen hat, als sie die Flammenschneide berührte? Ich habe schon öfter darüber nachgedacht und hatte stets das Gefühl, dass sie mir etwas verschwiegen hat."
    Seine Frau antwortete nicht gleich.
    "Willst du es wirklich wissen?", fragte sie leise, und die Art ihrer Frage ließ Frost daran zweifeln, ob er es tatsächlich wollte.
    "Ja", antwortete er dennoch nach einiger Zeit.
    Esthera richtete sich halb auf und blickte ihm in die Augen. Das Sternenlicht gewährte Frost einen Blick auf eine solch tiefe Sorge, wie er sie bei Esthera noch nie zuvor gesehen hatte. Und ihre Antwort schien das zu bestätigen, was er schon die ganze Zeit über insgeheim befürchtet hatte.
    "Sie sah dich sterben, Frost. Sie sah dich im Kampf mit Lorkar sterben."

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    Mondtränen

    Der folgende Tag verging nur langsam. Die Zeit dehnte sich wie zähflüssiger Sirup, während sich Frost in Kleinigkeiten verfing, ohne wirklich voranzukommen. Er hatte versucht, die Löcher in seiner Kleidung zusammenzunähen, dann aber entnervt aufgegeben, nachdem er sich zum dritten Mal in den Finger gestochen hatte. In der Früh hatten sie gemeinsam Tolrens Leichnam aufgebahrt. Sie wollten ihn in Hammerfoldt bestatten, nahe des Ostwalls, in der Gruft seiner Familie. Tolren war der Letzte seiner Sippe gewesen. Mit seinem Tod fand eine Blutlinie ihr Ende. Wer, außer dem Rudel, würde um ihn trauern? Irgendwann würde er vollends in Vergessenheit geraten. Niemand würde mehr wissen, dass ein rothaariger Krieger namens Tolren jemals existiert hatte.
    Wahre Unsterblichkeit gab es nur in Heldengeschichten.
    Nachdem Frost Tolren seinen Dienst erwiesen hatte, lag der Rest des Tages plötzlich wie eine endlose Wüste nutzloser Stunden vor ihm. Er irrte kopflos wie ein Huhn durch das Lager, wich aber dennoch seinen wenigen Gefährten aus, überprüfte zum dutzendsten Mal, ob die Tiere gut versorgt waren. Er setzte sich hin, legte seine Klinge auf den Schoß, fischte den uralten Schleifstein aus seiner Manteltasche und ließ ihn über die Schneide gleiten. Es war eine sinnlose Tätigkeit, allein schon weil der Eisbrecher in all den Jahren weder schartig noch stumpf geworden war. Er tat es nur um überhaupt irgendetwas zu tun, sich selbst vorzulügen, dass er etwas zu erledigen hätte und seinem Leben irgendeinen - und sei er noch so nutzlos - Sinn zu geben.
    Das Schlimmste an diesem Tag war das Warten. Zu warten, bis die entscheidende Stunde, in der er Lorkar erneut gegenüberstehen würde, endlich kam. Das Warten ließ die Minuten lang und zu Stunden werden, in denen Frost mit seinen Gedanken allein war. Schon bald kannte er sich in seinem eigenem Kopf nicht mehr aus.
    Ein Teil von ihm war immer noch bei Tolren und Borin und zermarterte sich selbst mit der Frage, was er hätte besser machen können. Ein anderer, der vorsichtige Teil seines Verstandes schrie ihm warnend zu, dass er sich doch noch unbedingt besser auf den entscheidenden Moment vorbereiten musste. Die Vorsicht wurde jedoch gleichzeitig von seiner Sorge um Sheyra gelähmt, die ihm bewusst machte, dass auch nur der kleinste Fehler für seine Tochter den Tod bedeuten konnte. Wieder ein anderer beschäftigte sich mit der Frage, was Sheyras Vision zu bedeuten hatte.
    Dieser Teil seines Denkens beschäftigte ihn im Moment am meisten.
    "Sie sah dich sterben", hatte Esthera gesagt.
    Eine Wolke warmer Luft entwich seinem Mund, als Frost in plötzlicher Wut das Schwert packte und vor sich auf den Boden warf. Mit zitternder Klinge blieb der Eisbrecher stecken. Gedankenverloren auf die Klinge starrend, stützte Frost den Kopf in die Hand und strich mit den Fingern unruhig durch das Haar. In seiner Rechten hüpfte vergessen der Schleifstein zwischen seinen Fingern umher.
    Langsam war er mit den Nerven am Ende.
    Und nicht nur seine Nerven, dieser gesamte Kreuzzug des Wahnsinns näherte sich seinem Ende. Der Punkt der Umkehr war längst überschritten. Der Kampf mit Lorkar unausweichlich. Lange hatte Frost diesen Zeitpunkt vor sich hergeschoben. Gehofft und vergeblich darum gebetet, doch noch einen anderen Weg zu finden. Durch die Entführung seiner Tochter hatte ihm Lorkar nun jedoch sämtliche Ausweichmöglichkeiten genommen.
    Nun gab es kein Zurück mehr.
    Er war einst einer seiner engsten Freunde gewesen und nun war er sein ärgster Feind.
    "Warum tust du mir das an, Lorkar?"
    Wie oft hatte er sich in den letzten Wochen diese Frage wohl gestellt. Die Suche nach den Antworten drohte ihm den Verstand zu rauben. Wahrscheinlich war die Lösung völlig offensichtlich. War er wirklich so blind, sie jahrelang zu übersehen?
    Mit Lorkar die Klingen zu kreuzen, kam einem Sprung in einen Abgrund gleich, ohne dabei zu wissen, was einen am Boden erwartete. Wieviel Wahrheit steckte in Sheyras Vision? War es überhaupt eine echte Vision gewesen? Würde sie in jedem Fall eintreten?
    Wenn es so etwas wie Schicksal gab, dann war es wohl Frosts Schicksal, im Kampf gegen Lorkar zu sterben. Er erinnerte sich an die Frage, die er sich gestern abend beim Gedanken an Borins und Tolrens Tod gestellt hatte. Machte es Sinn, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um jemanden zu retten?
    Er wusste immer noch nicht, ob es Sinn machte. Es war auch unwichtig. Jeder Mensch hatte Angst vor dem Tod, auch wenn er viele gesehen hatte, die hochmütig anderes von sich behauptet hatten. In der Regel reichten zwei ernste Gedanken an das eigene Ableben, um die Furcht zurückkehren zu lassen. Spätestens im Moment des Sterbens erkannte das jeder.
    In diesem Fall hatte Frost jedoch keine Angst vor dem Tod. Natürlich wollte er nicht sterben, aber die Vorstellung, in einer Welt weiterzuleben, in der Esthera oder Sheyra nicht mehr lebten, machte ihm Angst. Genug Angst, sein eigenes Leben zu riskieren, um die seiner Geliebten zu retten.
    Aber so weit würde es nicht kommen. Es gab immer eine dritte Möglichkeit. Jedenfalls hatte Frost bisher immer eine gefunden. Er würde es auch diesmal tun, so einfach war es. Zumindest hoffte er das.
    Seine Finger glitten über die feingliedrige Kette bis hin zu dem Amulett seines Vaters. Es war das stilisierte Abbild zweier Seeschlangen, die sich eng umschlungen um die schlanke Klinge eines Schwertes wanden. Eine der beiden hatte das Maul im Versuch, den Schwertknauf zu verschlingen, weit aufgerissen. Der Kopf der anderen war auf die Schwertspitze gebettet, ihre Augen geschlossen. Eine stille Drohung schien von der hungrigen Schlange auszugehen - Die leeren Augenhöhlen folgten dem Betrachter mit berechnender Gelassenheit. Die Kiefer warteten geradezu darauf, nach demjenigen zu schnappen der es wagte, die Klinge unter ihrem Körper zu berühren.
    Das silbrige Schuppenkleid der Schlangen glitt unter Frosts Fingerkuppen hindurch, leise klingelnd pendelte das Amulett in der kalten Nachmittagssonne. Es war das alte Symbol der Waffenmeister, ein Erbstück seines Vaters. Erhalten hatte es Frost erst Jahre nach dem Tod seines alten Herren. Es war einer seiner ältesten Freunde gewesen, der es dem Krieger überreicht hatte. Dieser greise Haudegen, war Frosts Mentor gewesen, als er im Exil durch all die Verzweiflung seinen Lebenswillen zu verlieren drohte. Sturm hatte ihn gelehrt, seinem eigenem Weg treu zu bleiben, ganz gleich wie groß die Steine auf selbigem sein mochten. Und sein Unterricht war alles andere als schmerzfrei gewesen...
    Plötzlich wurde das Kleinod fest von Frosts Hand umschlossen. Ja, er würde seinen Weg finden und auch beschreiten. Für seine Familie.
    Für all die Jahre, die er ihnen noch schuldete.
    Die Kette klirrte, als Frost das Medaillon unter der Brustplatte seiner Rüstung verschwinden ließ. Gestärkt durch neue Entschlossenheit sprang er auf und marschierte in Richtung der Hurjoks. Als er die Tiere erreichte, wartete Esthera bereits auf ihn. Eines der katzenähnlichen Geschöpfe hatte den Kopf gesenkt und kaute auf einem Fleischstück, während Estheras Hand durch sein Nackenfell strich.
    "Oh, du bist ja schon da", meinte Frost und versuchte trotz der bevorstehenden Aufgabe zu lächeln.
    Der Krieger konnte seine eigenen Gefühle in Estheras von leichter Trauer erfüllter Stimme wiedererkennen, als sie antwortete.
    "Der Tag ist sinnlos und verbraucht. Obwohl die Zeit für andere Dinge da wäre, warte ich nur auf sein Ende." Für Sekunden hingen die Worte schwerelos in der Luft. "Gleichzeitig habe ich genau davor Angst."
    Frost nickte nur. Mit knirschenden Schritten näherte er sich dem Hurjok und sah ihm eine Weile beim Fressen zu. Die kräftigen Kiefer der Schneekatze hatten keinerlei Mühe, das rohe Fleisch von den Knochen zu reißen. Der Anblick beunruhigte den Schwertmeister. Wie würde es ihm selbst ergehen, wenn er Lorkar mit blanker Klinge entgegentrat? Würde er überhaupt in der Lage sein, gegen seinen ehemaligen Freund zu kämpfen?
    Auf einmal kam die Angst zurück. Angst, im Kampf genauso zu werden, wie das Tier. Seinem Feind mit demselben Bluthunger das Leben aus dem Körper zu schlagen.
    Hastig wandte er den Blick ab.
    "Egal wie das Ende auch aussehen mag, wir werden es überstehen", sagte Frost mit zurückkehrendem Selbstvertrauen, "Wir und Sheyra."
    Esthera antwortete nicht, nickte dafür aber zögerlich. Nach kurzem Schweigen blickte sie in den Himmel.
    "Wir sollten bald aufbrechen. Bald wird die Nacht zurückkehren und wir wissen nicht, ob Lorkar eine Falle gestellt hat."
    Die Sonne hatte ihre tägliche Runde schon beinahe beendet, die Schatten der Bäume wurden wieder länger und die Kälte kehrte zurück. Esthera hatte vollkommen Recht.
    "Ich sage nur noch eben Karaph und Win’Dar Bescheid. Obwohl sie es wahrscheinlich eh schon wissen."
    "Richtig", hörte er die vertraute, ruhige Stimme Karaphs in seinem Rücken.
    "Spart euch den Weg", kam Win’Dar zufälligerweise genau jetzt vom Holzsammeln zurück.
    Auf einmal musste Frost lachen. Es brach einfach aus ihm heraus, obwohl die Situation denkbar unpassend war. Doch es befreite. Es befreite ungemein. Die ganze, verdammte Anspannung der letzten Tage lockerte sich und für ein paar Momente glaubte er wieder freier atmen zu können.
    "Wisst ihr", begann Frost, nachdem er sich wieder gefangen hatte, "Nach all dem, was in den letzten Tagen schiefgelaufen ist, tut es verdammt gut, zu sehen, dass ihr euch kein Stück verändert habt."
    "Manche Dinge lässt man besser unverändert...", murmelte Win’Dar und schien durch die Waldbarriere hindurch in die Ferne zu blicken. Frost war sich nicht sicher, ob er die Reaktion des Wanderers richtig deutete, doch er glaubte ihn zu verstehen.
    Karaph blickte Frost ausdruckslos an.
    "Du brauchst nichts weiter zu sagen. Geh einfach und tu, was du tun musst."
    Esthera trat vor und blickte zuerst Karaph, dann Win’Dar lange an.
    "Danke Karaph, dass du uns bis zu diesem Punkt begleitet hast. Du warst immer bei uns, wenn wir Hilfe benötigt haben. Und wir können es dir nicht einmal ausreichend danken."
    Die dunkelhäutige Gestalt winkte mit dem unverletzten Arm ab.
    "Dank auch dir, Win’Dar", wandte sich Esthera dem düsteren Wanderer zu. "Du hast uns geholfen, obwohl du uns kaum kennst. Danke."
    Frost bemerkte, dass Esthera Win’Dar geduzt hatte. Doch für den Moment machte er sich keine weiteren Gedanken. Als er auf den Hurjok zutrat, schüttelte sich das Tier und knickte dann mit den Vorderläufen ein.
    "Es ist soweit", schloss Frost und sein Herz drückte schwer wie ein Stein auf seine Eingeweide, "Hier trennen sich unsere Wege. Bitte unternehmt nicht den Versuch, uns zu folgen. Ich will kein Risiko eingehen. Lebt wohl, Freunde. Bleibt nur zu hoffen, dass sich unsere Pfade noch einmal kreuzen können."
    Als Esthera ebenfalls auf den Rücken des mächtigen Tieres geklettert war, ließ Frost den Hurjok lostraben.
    "Frost!", bewegte ihn Win’Dar noch einmal zum Anhalten.
    "Ihr wisst ja - Lorkars Amulett..."
    Frosts Blick war unbewegt, doch mit Entschlossenheit gefüllt.
    "Ich kann nichts versprechen."
    Im nächsten Moment trug der Hurjok seine beiden Reiter auch schon in die Dämmerung davon.

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    Und wieder trug der Hurjok Frost durch die nächtliche Dunkelheit der nördlichen Wälder. Kalter Wind schlug ihm ins Gesicht, eine gezackte Kralle aus Eis, deren scharfe Nägel sich in seine Wangen bohrten, während seine Nasenspitze zu einem Eiszapfen gefror. Es war der frostige Gruß des schlafenden Riesens im Westen, ein Hauch des Eiswindes, der hoch über ihm die Baumwipfel streichelte und sie in einen prächtigen Garten unterschiedlichster Eiskristalle verwandelte.
    Hinter dem Krieger drückte sich Esthera in den Schutz seines als Windmauer dienenden Körpers. Ihre Arme fest um Frosts Brust geschlungen, schmiegte sie sich eng an den dicken Fellumhang, der ihren Mann vor dem eisigen Biss der Kälte schützen sollte. Frost genoss das Gefühl der Wärme, das Estheras Berührung in seiner Schulter aufblühen ließ. Es war nicht nur die in Estheras Nähe dahinschmelzende Kälte, die ihn beruhigte. Ihre Anwesenheit, das warme, pulsierende Leben in ihrem Körper, versprach Frost Sicherheit.
    Gewissheit, dass noch nicht alles verloren war.
    Der Blick seiner zu Schlitzen verengten Augen stocherte in die Finsternis vor ihm. Griff im schwarzen Tunnel der ihm entgegenspringenden Waldstraße nach möglichen Veränderungen, ohne dabei wirklich an etwas hängenzubleiben. Irgendwo dort vorne, versteckt hinter dem Vorhang der Nacht, wartete Lorkar auf ihn. Und seine Tochter.
    Wenn sie noch lebte.
    Falscher Gedanke. Sheyra musste noch leben. Wenn sie es nicht tat, war alles vorbei. Und nichts würde Frost noch davon abhalten, Lorkar und seine Lakaien stückchenweise in alle Himmelsrichtungen zu verteilen.
    Nein, soweit würde es nicht kommen.
    "Weißt du", drehte er den Kopf leicht schräg, damit seine Worte nicht vom Wind von seinen Lippen gerissen werden konnten, "Irgendwie erinnert mich dieser Ritt an früher."
    "Ja", hörte er Esthera sagen, "Damals sind wir auch viel ausgeritten..."
    "Mit dem kleinen, aber nicht unwichtigen Unterschied, dass wir damals nicht in die Schlacht geritten sind...", fügte Frost in Gedanken hinzu. Laut sagte er: "Erinnerst du dich an unseren Ritt zu den Dimeriafällen?"
    Er wollte die Nostalgie des Augenblicks nicht zerstören. Estheras Kopf drückte sich gegen seine Schulter, als sie nickte.
    "Wir waren tagelang dort..."
    Ein leises Lachen flatterte im Wind, als Frost die Erinnerung auf sich wirken ließ.
    "Und Elistin ist halb wahnsinnig geworden, weil ich nirgends aufzufinden war. Er war kurz davor, einen Suchtrupp zusammenzustellen." Frost konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Offensichtlich bot ihm keines seiner Bücher Antwort auf die Frage, was zu tun sei, wenn der Rudelführer plötzlich fehlen sollte."
    "Ich sehe noch immer alles deutlich vor mir", flüsterte Esthera. "Die goldenen Felsen, die weiß schäumenden Wasserfälle und die Reflexion des Vollmondes auf der Oberfläche des Sees..."
    Es folgte eine Pause, in der sich Frost auf den Bildern ihrer Worte treiben ließ. Manchmal konnte Melancholie unglaublich befreiend sein.
    Plötzlich verstärkte Esthera ihre Umarmung und drückte Frost an sich wie ein kleines Mädchen seine Stoffpuppe.
    "He, was ist denn jetzt?", fragte Frost überrascht und renkte sich fast den Hals aus, um einen Blick auf Esthera zu erhaschen. Beinahe hätte er die Schulterhörner des Hurjoks losgelassen.
    "Ich erinnere mich noch an mehr", sagte Esthera neckisch.
    "An was denn?", ging Frost der Fährte nach, die sie durch ihr Schweigen gelegt hatte.
    "Rat doch mal."
    Ihre Stimme war die eines Kindes, das eine aufregende Entdeckung gemacht hatte und seine Spielkameraden auf die Folter spannen wollte. Frost lächelte. Es beruhigte ihn, dass Esthera trotz der misslichen Lage nicht vollends verzweifelte.
    Ganz im Gegensatz zu ihm selbst.
    "Du beziehst dich immer noch auf die Dimeriafälle?"
    "Ja."
    Eigentlich brauchte Frost nicht lange zu überlegen. Die Erinnerung, bei der er sich sicher war, dass Esthera auf sie anspielte, war eine derjenigen, die niemals verblassen würde. Genau wie eine Muschel ihre Perle am sichersten Ort aufbewahrte, den sie bieten konnte, trug Frost diese Erinnerung, diesen sternenklaren Abend an einer Stelle seines Herzens, die von keiner Waffe dieser Welt erreicht werden konnte.
    Dennoch entschied er sich, etwas länger mitzuspielen.
    "Du meinst nicht die Silberglanzblüten auf dem See."
    "Nein."
    "Und auch nicht die Sternschnuppen, die uns in den Nächten ihr Licht schenkten."
    "Stell dich nicht so!", rief Esthera empört und schüttelte Frost leicht.
    "Mein Versprechen", gab Frost das Versteckspiel schließlich auf.
    "Ich werde diese Nacht niemals vergessen...", flüsterte Esthera.
    "Wenn ich könnte, würde ich dir tausend solche Nächte schenken", erwiderte Frost ebenso leise.
    Auch er würde diese Zeit an den Wasserfällen des verborgenen Dimeriatals sein Leben lang nicht vergessen. Eine ganze Woche lang waren sie dort gewesen, hatten die Ruhe des abgeschiedenen Ortes sowie die unberührte Natur genossen und die Welt um sich herum einfach vergessen. Natürlich war es streng genommen unverantwortlich gegenüber Elistin sowie dem Rest der Frostwölfe gewesen, doch das hatte Frost damals wenig gekümmert. Bereut hatte er es auch nicht. In den Nächten waren sie nebeneinander gelegen und hatten in die Unendlichkeit des Sternenmeeres gestarrt um die Sternschnuppen zu zählen, während die krötenähnlichen Eisspringer im See ihr nächtliches Konzert anstimmten. Dann, in jener Nacht, in der der Mond am größten und vollsten auf sie herableuchtete, hatte Frost Esthera die ganze Tiefe seiner Gefühle offenbart.
    "Obwohl", erinnerte er sich und musste auf einmal grinsen, "Wenn ich daran denke, wie sehr ich damals vor der Entscheidung gezittert habe, überlege ich es mir vielleicht nochmal."
    "Du warst den ganzen Tag über ungewöhnlich abweisend. Ich hatte bereits Angst, ich hätte etwas falsches getan. Und ich fürchtete, die Pflicht würde dich erneut in die Ferne führen."
    Frost lachte leise in den Wind hinein.
    "Dabei hatte ich nur Angst, du könntest mich zurückweisen. Jegliche Gedanken an meine Pflichten waren meilenweit entfernt. Du weißt ja gar nicht, was für Todesängste ich durchgestanden habe."
    "Jeder hatte seine ganz eigenen Ängste..."
    Mit weiten Sätzen ließ der Hurjok den Kristallwald hinter sich und sprengte auf die Hochebenen des Vorgebirges hinaus. Im Westen bildete das schneebedeckte Felsmassiv einen in der Nacht pechschwarzen, schier unüberwindbaren Wall, der seine Ausläufer wie eine Krallenhand in die Ebene streckte. Als sie den Wald verließen, stand der Mond noch tief und leuchtete ihnen als großer, kränklich gelber Teller vom Horizont entgegen. Direkt unter der Mondscheibe badete sich die Ruine des alten Wachturmes in seinem fahlen Licht. Es war ein gespenstischer Anblick: Der gezackte Umriss des Turmes deutete wie der klagende Finger eines Richters auf den von Wolkenschleiern umhüllten Mond. Langsam zogen die schlierigen Fetzen an ihm vorbei und erzeugten dunkle Narben auf seinem kraterübersäten Gesicht. Es war die Wirklichkeit gewordene Manifestation eines düsteren Schauermärchens, das unheilvoll auf seinem kleinen Berg thronte.
    Frost brachte den Hurjok zum Stehen und blickte schaudernd dem Schauplatz der finalen Konfrontation entgegen.
    "Ja, jeder hat seine eigenen Ängste..."
    Ein plötzlicher Ruck an seiner Brust ließ ihn zusammenzucken. Augenblicklich zuckte sein Blick zu Esthera. Ihr Griff lockerte sich, schwankend neigte sie sich nach hinten und rutschte gleichzeitig zur Seite ab. Seiner Überraschung trotzend, ergriff Frost ihren Arm um sie vor einem Sturz zu bewahren und ließ sich hastig vom Rücken seines Reittieres gleiten. Haltlos folgte Esthera seinem Abstieg und fiel kraftlos wie eine Puppe in seine Arme. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie sinken.
    "Esthera, was-"
    "Der Mond...", hauchte Esthera und starrte mit den glasigen Augen einer Fieberkranken in die Richtung, in der die Überreste des Turmes anklagend gen Mond ragten, "Er weint..."
    Frost hatte keine Ahnung wovon sie sprach, aber er folgte ohne zu Zögern ihrem Blick.
    Das Schauergemälde hatte sich verändert. War die Ruine zuvor nur als schwarzer Schatten gegen das Mondlicht zu erkennen gewesen, so wurde sie nun von einem blutigen Glühen illuminiert. Ein schwacher, flackernder Lichtschein durchdrang das alte Mauerwerk mit derselben Leichtigkeit, mit der eine Kerze durch dünnes Pergament leuchtete.
    Die Wolken vor dem Mond hatten aufgehört, langsam an dem Erdtrabanten vorbeizutreiben. Stattdessen verschmolzen sie zu einer dichten, nebligen Masse, die sich um den Mond herum sammelte und ihn zu verschlingen versuchte. Jetzt konnte Frost auch erkennen, was Esthera meinte.
    Das von Wolkenfetzen eingerahmte Gesicht des Mondes schien zu verschwimmen. Der Anblick erinnerte an eine Wasseroberfläche, auf der ein einzelner Tropfen seine Wellen geschlagen hatte. Bloß fiel hier der Tropfen aus dem Mond heraus. Frost konnte sehen, wie sich das wabernde Zentrum des Wolkenkranzes auszudehnen schien und sich eine Blutsträne formte, die sich langsam dehnte und kurz davor war, auf den Turm zu stürzen.
    Esthera bäumte sich in seinen Armen auf.
    "Das ist sie...", stammelte sie abwesend. Dann schrie sie plötzlich: "Das ist die Paktiererin!"
    Frost versuchte, seine Geliebte festzuhalten, doch sie riss sich mit einem Ruck los und machte einige taumelnde Schritte in Richtung der Ruine. Die Träne hing mittlerweile nur noch an einem hauchdünnen Strang, der sich bis zum Zerreißen dehnte. Das Flackern des Lichtes wurde unruhiger, glich einem Gewitter, das hinter den Mauersteinen tobte.
    Dann riss der Faden, der den blutroten Tropfen am Mond festhielt. Für die Dauer eines Augenblickes schien die seltsame Träne am Himmel zu schweben, bevor sie zuerst langsam, dann schneller werdend gen Turmruine stürzte.
    "Noruja!", rief mit einer Gewalt, die man der zierlichen Frau nicht zutrauen wollte, "Die Sphären bleiben getrennt!"
    Ruckartig riss sie die Hände nach oben, formte über ihrem Kopf eine Schale. Es sah so aus, als ob sie die fallende Träne auffangen wollte.
    Ein plötzlicher Wind peitschte die Baumwipfel und brachte die reifüberzogenen Kronen des Kristallwaldes zum Klirren. Der Ring aus Wolken waberte, lockerte sich, brach vollends auseinander. Das Licht in der Ruine pulsierte wie ein einzelner, heftiger Herzschlag.
    Die Mondträne zersprang. Platzte wie ein prallgefüllter Wasserschlauch auseinander und sandte kleine, zuckende Fünkchen durch die Luft. Wie Glühwürmchen schossen sie über den Himmel, flogen in wirrem Zickzackkurs davon und vergingen in blutigen Nebel.
    Esthera wankte kurz, dann fiel sie nach vorn und fing sich knapp mit den Händen auf. Sofort war Frost neben ihr.
    "Was war das?", fragte er alarmiert, "Ist dir was passiert?"
    "Die Paktiererin", murmelte Esthera und schluckte schwer. "Sie hat versucht, die Trennung zwischen den Sphären zu überbrücken."
    Obwohl er nicht allzu viel von dem mystischen Gefüge zwischen den Welten verstand, wusste Frost, was passiert war.
    "Sie will einen Dämonen rufen", folgerte er düster.
    Mit einiger Mühe und Frosts Hilfe stemmte sich Esthera in die Höhe.
    "Wir müssen uns beeilen. Ich weiß nicht, ob sie das Ritual zu wiederholen versucht, doch ihre Macht ist groß. Uns bleibt nicht viel Zeit..."
    Dornige Ranken schienen Frost die Luft abzuschnüren.
    "Glaubst du, sie haben Sheyra etwas angetan?"
    Jetzt bemerkte er Verzweiflung in Estheras Zügen. Und noch etwas anderes - der furchtgenährte Zorn einer Wölfin, die um ihre Jungen bangt. Raubtierhafte Kälte loderte in ihren müden Augen.
    "Reit alleine weiter", wich sie seiner Frage aus, "Alleine bist du schneller."
    Frost rührte sich nicht vom Fleck.
    "Esthera, ich will nicht, dass-"
    "Geh endlich!", knurrte Esthera mit ungewohnter Härte.
    Sekunden vergingen, in denen Frost seiner Frau mit einer Mischung aus Trauer und der Entschlossenheit, sie nicht alleine gehen zu lassen, direkt in die Augen sah. Schließlich senkte er resigniert die Schultern, schwang sich auf den Rücken des Hurjoks, blickte dann jedoch erneut zu seiner Geliebten.
    "Versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr begibst."
    "Kannst du mir dasselbe versprechen?"
    "Versprich es mir", bat, nein, flehte er schon fast.
    "Ich werde mich zurückhaltend", versprach Esthera widerwillig, "Nun geh, bevor alles zu spät ist!"
    Als er auf dem Rücken des Hurjok in Richtung des Turmes davonjagte, drückte das Gefühl, schon wieder einen schweren Fehler gemacht zu haben, schwer auf Frosts Hoffnungen.

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    Zerschlagen und nutzlos klammerten sich die Überreste des Wachturms an die Spitze der ringsum steil abfallenden Bergkuppe. Ein Bollwerk aus Zeiten, an die sich niemand mehr erinnern konnte, gegen einen Feind, der längst geschlagen war. Trotzig stand er dort, wie eine Krähe, die längst das Fliegen verlernt hatte, sich aber immer noch stur weigerte, in Vergessenheit zu geraten.
    Einst war der Turm wohl als Spähposten benutzt worden, denn die schwache Befestigung und abgeschiedene Lage erschien für alle anderen Verwendungszwecke ungeeignet. Der traditionell viereckig gebaute Turm hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich - von der Plattform an seiner Spitze existierte nur noch ein Teil der Eckbefestigung. Der Rest erweckte den Eindruck, als sei er zwischen einen ausgehungerten Drachen und einen gemästeten Troll gekommen. Was auch immer den Turm getroffen hatte, sei es die Macht eines wütenden Angreifers oder einfach nur der alles zermürbende Zahn der Zeit, hatte ihn gut drei Viertel seiner Spitze gekostet. Nun erinnerte der Wachturm an einen langen, einseitig gezackten Dorn, der zum Himmel aufragte.
    Die Basis des Turms schloss an einen fünf Schritt hohen Mauerkranz an, in den ein kleines Tor mit einem schweren Fallgatter eingelassen war. Die Mauer war mittlerweile an mehreren Stellen eingebrochen und von hartnäckigen, der Kälte trotzenden Ranken überwuchert. Das Eisengitter hing verbogen und schief an der letzten, verbleibenden Kette. Wenn einer der tödlichen Schneestürme über das Land donnerte, ächzte und quietschte das Gatter wie ein sterbendes Tier, weigerte sich aber genau wie der Rest des Turmes, vollends auseinanderzufallen.
    Der einzige Weg zum Turm zwängte sich an hohen Felsen vorbei, um in engen Schlangenlinien die Klippe hinaufzuführen. Der Wind schabte mit unsichtbaren Messern die Felsklippen ab und verdarb mit Eiseskälte jedem Wanderer die Freude am steilen Aufstieg. Mit seinen Klauen hatte der Hurjok kaum Probleme, seinen Reiter trotz des gefährlichen Untergrundes aus körnigem Schnee und gefrorenem Schneematsch den steilen Weg emporzutragen. Doch auf halber Strecke zögerte er, hob kurz die Nase, nahm Witterung auf und senkte erneut den Kopf, um einen schwarzen Fleck auf dem Boden zu beschnuppern. Ein wütendes Schnauben fuhr durch den Schnee, eine der Krallen zerkratzte das Eis.
    Als sich das Tier weigerte, einen weiteren Schritt zu machen, stieg Frost ab und untersuchte die Stelle, die der Hurjok beschnuppert hatte. Das Mondlicht war hell genug, um einen gut armdicken, gewellten Streifen zu enthüllen. Er erinnerte Frost an eine Schneise verbrannter Erde. Der Waffenmeister brauchte nicht lange überlegen - es war dieselbe Art von Spur, die er auf dem Schlachtfeld, in dessen Nähe nun Borin ruhte, gefunden hatte.
    Lorkars Dämonenfreundin war hier.
    Und sie hatte ihre Haustiere gleich mitgebracht.
    Der Blick des Kriegers wanderte an der Klippe nach oben zur Ruine. Als schwarzer Schatten hing sie über ihm, die gezackten Umrisse einer Festung der Finsternis. Er wusste nicht, was ihn dort oben erwartete. Wahrscheinlich hatte ihm Lorkar eine Falle gestellt oder würde versuchen, ihn mit der unfreiwilligen Hilfe seiner Tochter unter Druck zu setzen. Töten wollte er Frost jedoch offenbar nicht. Noch nicht. Sonst hätte er sich einfach nur auf die Reste des Wehrgangs stellen und einen der losen Mauersteine in die Tiefe schubsen müssen.
    Nein, Lorkar wollte mehr. Mit Sicherheit gab es einen ganz bestimmten Grund, warum er ausgerechnet den alten Wachturm als Treffpunkt gewählt hatte. Frost ließ den Hurjok hinter sich zurück und setzte seinen Weg fort. Sicheren Schrittes trugen ihn seine Füße näher an sein Ziel heran, während seine Gedanken versuchten, den Weg Lorkars zurückzuverfolgen. Der Treffpunkt war nicht zufällig gewählt worden, ebenso wenig wie diese Nacht als Zeitpunkt. Letzteres mochte mit der Mondkonstellation zusammenhängen, doch bei dem Ort war sich Frost nicht sicher.
    Nicht zum ersten Mal an diesem Tag drifteten Frosts Gedanken zurück in die nebelhaften Bilder seiner Erinnerungen. Vor unzähligen Jahren, wenige Tage vor jenem schicksalshaften Kampf auf dem Glitzerkamm, hatte der alte Turm den Frostwölfen als Zuflucht für die Nacht gedient. Es war die letzte, längere Rast vor dem Aufbruch ins Gebirge gewesen. Der letzte Abend, an dem der harte Kern des Trupps noch vollständig gewesen war...
    "Was willst du mir sagen, Lorkar?", fragte Frost lautlos die schweigende Nacht, während das Eis unter seiner Füßen leise knirschte.
    Sollte jener, mittlerweile unerreichbar weit zurückliegende Abend den Punkt kennzeichnen, an denen sich ihre Wege endgültig voneinander getrennt hatten? Bildete dieser Tag den Beginn des Scheidewegs? Wollte Lorkar Rache für die toten Freunde, die unter Frosts Kommando gefallen waren?
    Diese Lösung erschien Frost zu einfach. Er legte sie als möglichen Teil des Gesamtbildes beiseite, doch rechnete er nicht damit, dass sie mehr als ein Stück des Rahmens bilden würde. Er selbst hatte unter dem Tod seiner Gefährten genauso gelitten. Der wahre Grund musste schwerer wiegen. Er musste schwer genug gewesen sein, um bis in Lorkars Herz hinabzusinken und es von dort aus mitsamt seines Verstandes von innen heraus zu zerreißen.
    Die einzige Antwort auf die Frage, was diese Explosion ausgelöst haben könnte, lag knapp zwanzig Schritt von Frost entfernt. Er hatte die zersprungenen Mauern des Turmes fast erreicht - vor ihm führte der Weg geradewegs unter den eisernen Zähnen des Fallgatters hindurch. Leicht pendelnd hing das Stahlgebiss des Tores an seiner Kette und wartete mit leisem, gelangweilten Quietschen darauf, endlich einem ahnungslosen Wanderer auf den Kopf fallen zu dürfen. Hinter dem Torbogen warteten Lorkar, eine Falle, Sheyra, der Tod oder vielleicht auch alles zusammen auf Frost.
    Wenn er ehrlich zu sich war, wollte er gar nicht wissen, was der Grund für Lorkars Verhalten war. Er wünschte sich, diesen Abend, den gesamten, bevorstehenden Konflikt einfach überspringen zu können. Mit Esthera und Sheyra wieder vereint zu sein, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, dass das Blut auf seiner Klinge die letzte Erinnerung an einen alten und guten Freund war. Er wollte nicht wissen, was ihn hinter diesem Tor erwartete, wie sein Treffen mit Lorkar letzten Endes ausgehen würde und welchen Preis er zahlen musste.
    Es war ihm egal.
    Frost war noch zwei Schritt vom Tor entfernt, als er noch einmal stehenblieb. Einen Moment lang suchten seine Augen die unregelmäßigen Mauerzinnen ab. Ausdruckslos gafften die aufgeplatzten Schießscharten zurück. Keine Bedrohung, kein versteckter Schütze, dessen Armbrust auf sein Gesicht gerichtet war. Lautlos in die Nacht seufzend, blickte Frost ein letztes Mal in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. In der Nacht war der Kristallwald fast unsichtbar. Nur ein riesiger schwarzer Fleck, der sich etwas vom Umland abhob, zeugte von dem Irrgarten aus gefrorenen Baumkronen.
    Irgendwo dort draußen, verborgen hinter Nacht und Horizont, warteten Frosts Gefährten auf seine Rückkehr. Wahrscheinlich kniete gerade in diesem Moment Tarwulf neben dem Bett seiner Geliebten und betete für ihr Überleben. Koris, Tarwulf, Elistin, Corwen, Karaph und Win’Dar sowie Borin und Tolren - alle hatten sie Frost in diesem Kampf beigestanden ohne auch nur ein einziges Mal nach dem Warum zu fragen. Ohne einen Lohn zu bekommen, hatten sie ihr Leben riskiert und teilweise auch gelassen. Dabei war es nicht einmal ihr Kampf.
    War er es ihnen nicht schuldig, diesen Kampf, für den sie mit ihrem Blut bezahlt hatten, zu gewinnen? Es gab kein Zurück. Kein weiteres Davonlaufen mehr. Die Entscheidung würde hier und jetzt fallen.
    Mit einem letzten Blick zum blass leuchtenden Vollmond schritt Frost durch das Tor. Die Schwerter hingen griffbereit an seiner Seite, warteten geduldig auf den ersten Takt des alles entscheidenden Tanzes. Der schwarze Mantel war leicht zurückgeschlagen, der Griff des Eisbrechers schimmerte silbern im Mondlicht. Den Blick von einer Seite zur anderen wandern lassend, trat Frost mit angehaltenem Atem aus dem Schatten des Torbogens hinaus in den kleinen Hof.
    Von der Mauer abgebröckelte Trümmerstücke lagen auf dem Hof verstreut, an den Wällen häuften sich kegelförmige Berge aus abgerutschtem Schutt. In der gegenüberliegenden Mauer klaffte ein meterbreiter Riss, der den Wehrgang wie ein gezackter Blitz spaltete. In der windgeschützten Ecke des Hofes waren die schwarzverrußten Überreste eines Lagerfeuers zu sehen, einige Scheite glühten sogar noch in sanftem Orange. Schnee und Matsch verwandelten den Innenhof in einen bunten Fleckenteppich. Schwarze Linien, ähnlich denen, die Frost auf dem Schlachtfeld und dem Pfad gefunden hatte, zogen sich in komplizierten Mustern über den Platz. Doch hier schienen sie einer bestimmten Ordnung zu unterliegen, auch wenn sich der Sinn dieses unnatürlichen Reliefs Frost verschloss. Die Spuren wirkten verbrannt, als ob jemand Linien aus Reisig gelegt und dann angezündet hätte. Vielleicht ein magisches Symbol, dass der Paktiererin ihr unheiliges Ritual erleichtern sollte. Andererseits konnte es genauso gut Teil einer Falle sein, die Lorkar für Frost vorbereitet hatte. Er hatte ohnehin keine andere Wahl, als es herauszufinden.
    Dass hier Magie gewirkt hatte, war nicht zu übersehen. Die Luft stank geradezu nach Veränderung. Der Waffenmeister konnte mit jeder einzelnen Faser seines Körpers spüren, wie die außer Kraft gesetzten Naturgesetze darum kämpften, ihre alleinige Gültigkeit wiederherzustellen. Etwas hatte ein Loch in die Ordnung dieser Sphäre geschlagen, einen Keil hineingetrieben und mit roher Gewalt versucht, die Öffnung weit genug auszuweiten, um den widernatürlichen Bewohnern einer Zwischenwelt das Überwechseln zu ermöglichen.
    Beinahe wäre es auch geglückt.
    "Bist du also wirklich gekommen..."
    Frosts Augenlider verkleinerten sein Sichtfeld um mehrere Millimeter, um den gesamten, kalten Hass seines Blickes auf seinen Erfeind zu fokussieren. Lorkar war aus dem Eingang des Turmes herausgetreten und näherte sich Frost mit einer Ruhe, als ob er einen Spaziergang machen würde. Er machte keinen Hehl daraus, dass er in der stärkeren Position war. Allein dafür hätte ihm Frost mit Vergnügen seine Klingen in den Leib gerammt, doch Lorkar wusste, dass dem Waffenmeister die Hände gebunden waren, solange er seine Tochter in der Gewalt hatte.
    Die metallenen Schnallen von Lorkars Stiefeln klirrten, als er gut fünf Schritt von Frost entfernt stehenblieb. Der Mond spiegelte sich als verkrümmter Fleck auf den Eisenplatten seiner Rüstung, der Löwenkopf des Schwertgriffes starrte Frost offen von seiner Position knapp unterhalb des Waffengurtes an. Lorkars Finger spielten mit dem stählernen Haar des Tieres.
    "Anders als du lasse ich diejenigen, die ich liebe, nicht im Stich", antwortete Frost beherrscht.
    Lorkars jadegrüne Augen schienen die Kälte des Eises unter seinen Füßen in sich aufzunehmen.
    "Schön zu hören, dass du dir das noch immer einredest. Ich kenne Männer und Frauen, die Gegenteiliges behaupten würden. Werden sie jedoch nicht. Weil sie tot sind. Das ist nämlich der Lohn dafür, wenn man dir vertraut."
    Die kalte Luft brannte in Frosts Lungen wie heißes Öl. Auch seine Hände hatten ihren Weg zu den Schwertgriffen gefunden. Tief in ihm loderte ein Inferno, entfacht von dem jahrelang angestauten Hass auf den Verräter. Lange Jahre war sie nur ein schwaches Glimmen gewesen, einzig genährt vom Schmerz seiner Einsamkeit und gerade stark genug, um seinem Wunsch zur Heimkehr die Unsterblichkeit zu verleihen. Jetzt brannten die Flammen heißer als je zuvor und leckten bereits nach Frosts Verstand. Lorkars Worte waren Gallonen von Öl, die die Flammen höher und höher schlagen ließen.
    "Ich habe dir vertraut", sprach Frost leise, um das Zittern in seiner Stimme zu verbergen. "Dass ein Verräterschwein wie du auch nur daran denkt, von etwas derart heiligem wie Vertrauen zu sprechen, ist bitterste Ironie."
    Jedes weitere Wort lag schwerer auf seiner Zunge, der Griff seiner Hände verhärtete sich.
    "Du hast mir sechzehn Jahre meines Lebens gestohlen. Sechzehn Jahre, in denen ich dich wie keinen anderen Menschen auf der Welt hassen gelernt habe. Selbst dein Tod könnte diesen Verlust nicht wieder ausgleichen."
    "Nein. Nein Frost, du bist derjenige, der mir mein Leben gestohlen hat!"
    Hinter den schwarzen Haarsträhnen vor Lorkars rechtem Auge blitzte es hasserfüllt auf.
    "Du hättest in Khorinis bleiben sollen", sprach er mit ruhigerer, mühsam kontrollierter Stimme weiter. "Damals habe ich es vielleicht nicht fertiggebracht, dich zu töten, aber jetzt sehe ich keinen anderen Ausweg mehr. Dein Schicksal ist besiegelt, deins und das deiner Familie!"
    "Ach ja?!"
    Eine fließende Bewegung schenkte Frosts Klingen die Freiheit. Sirrend und heulend schnitten sie durch die Luft, bis sie sich exakt in der Mitte zwischen den beiden Feinden in das Erdreich bohrten.
    "Dann komm her und beende es!"

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    Lorkars Hand zuckte. Frosts Schwerter zitterten sacht. Ein leiser, gespannter Sirrton hatte sich im Hof verfangen.
    Sekundenlang standen sie sich regungslos gegenüber. Zwei ehemalige Freunde, getrennt durch die beiden Klingen, vereint einzig in ihrem Hass. Hatten sie einst gemeinsam gegen ihre Feinde gekämpft, so waren sie nun durch die Zeit zu zwei entgegengesetzten Polen geschmiedet worden. Die Gegensätzlichkeit ihrer Ziele machte eine Koexistent unmöglich. Einer von ihnen musste untergehen, um dem anderem das Weiterleben zu ermöglichen.
    Ihr Zusammentreffen glich dem von Tag und Nacht. Frosts silbergraues Haar und zutiefst schwarzer Dämonenpanzer bildeten den perfekten Kontrast zu Lorkars schwarzen Haarsträhnen und seine im Mondlicht fast weiß schimmernde Rüstung. Das stechende Blau von Frosts Augen traf auf das nicht minder eisige Jadegrün Lorkars. Keiner von ihnen blinzelte oder bewegte auch nur die Augen. Dennoch konnte Frost spüren, wie Lorkar jeden Muskel, jede Faser seines Körpers aufs genaueste beobachtete. Er war sich sicher, dass Lorkar dasselbe Gefühl teilte.
    Während sie sich wie zwei sprungbereite Raubtiere gegenüberstanden, drängte sich Frost ein unangenehmer Gedanke auf. Egal ob in Mythen oder Heldenepos, die Farbe Weiß wurde allgemein stets mit dem Begriff des Guten assoziiert, während Schwarz für das Böse stand. Diesem Gedanken folgend, vereinten sowohl Lorkar, wie auch er selbst jede dieser Eigenschaften in sich. Doch das Mengenverhältnis stand eindeutig auf Lorkars Seite. Sollte dies ein böses Omen bezüglich der Richtigkeit seiner eigenen Motive sein?
    Als der leise Gesang der vibrierenden Schwertklingen letztendlich verstummte, krümmten sich Lorkars Lippen zu einem Lächeln voll überlegener Bosheit.
    "Kannst du es gar nicht mehr erwarten, zu sterben? Vergisst du in deinem grenzenlosen Egoismus nicht etwas wichtiges?"
    Frost wünschte sich, er hätte die Klingen nicht in den Boden, sondern durch Lorkars Grinsen getrieben.
    "Was hast du ihr angetan?"
    Seine Stimme war nicht mehr als ein angsterfülltes Flüstern, sein ausdrucksloses, starres Gesicht das krasse Gegenteil von seinen Gefühlen. Die bloße Vorstellung, Lorkar könnte Sheyra etwas angetan haben, ließ jeden Herzschlag ein Erdbeben erzeugen, das sein Herz zu zersprengen drohte.
    Was sollte er tun, wenn er bereits zu spät kam?
    Auf einen Schlag wurde Lorkars Miene wieder ernst.
    "Ich weiß nicht, was du von mir denkst. Ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Solange ich noch selbst meine Prinzipien kenne, ist alles in Ordnung. Ich töte keine wehrlosen Frauen. Wir haben sie lediglich etwas ruhig gestellt. Das Biest hätte uns sonst wahrscheinlich die Augen ausgekratzt..." Er drehte den Kopf zur Seite und rief mit harter Stimme: "Sifar!"
    Als ob er auf das Zeichen gewartet hätte, erschien der verhasste Magier im Turmeingang. Sein hämisches Grinsen veranschaulichte, wie sehr er sich darüber freute, Frost in dieser Situation zu sehen. Mit einem groben Stoß ließ er Sheyra in den Hof taumeln. Frosts Herz machte einen einzelnen, schweren Schlag, der noch lange in seiner Brust nachzuschwingen schien. Die Hände seiner Tochter waren auf den Rücken gefesselt und sie schwankte mehr, als dass sie stand. Trotz des warmen Pelzmantels zitterte sie. Äußerlich schien sie jedoch unverletzt.
    "Vater...", murmelte sie leise. Ihre Augen waren trüb und glanzlos wie die einer Schlafwandelnden.
    Sifar schlang eine Hand unter Sheyras Kinn und bog ihren Kopf nach hinten. Eine schmale Dolchklinge ruhte in seiner Linken und schwebte Haarbreiten über Sheyras verwundbar bloßliegender Kehle. Sie schien zu schwach, um sich wehren zu können.
    "Na Frost, wie fühlt man sich, wenn man auf einmal den Launen eines anderen ausgeliefert ist?" Die Dolchklinge pendelte leicht, Sheyra versteifte sich in Sifars Griff. "Was ist es für ein Gefühl, wenn man weiß, dass jeder Fehler -" Die Klinge zuckte nach unten. Sheyra keuchte erschrocken. Frosts Hände ballten sich zur Faust. "Das Ende bedeuten könnte?"
    Tränen aus rotem Blut rannen aus einem millimetertiefen Schnitt in Sheyras Hals.
    "Du weißt, dass du der erste Tote in dieser Nacht sein wirst."
    Frosts Stimme glich dem Eishauch, der durch die Wipfel des Kristallwaldes strich. Der Vulkan in seinem Herzen brodelte stärker.
    "Nein Frost, das glaube ich nun wirklich nicht."
    Sifar gab ein amüsiertes Lachen von sich. Die Selbstsicherheit und sein belustigter Tonfall ließen Frost schaudern.
    "Jahrelang bist du am längeren Hebel gesessen und mich daran gehindert, endlich aufzusteigen." Das bösartige Grinsen kehrte auf Sifars Züge zurück. "Wie gut, dass sich Zeiten ändern können."
    Der Waffenmeister konnte nur traurig den Kopf schütteln.
    "Du führst mir nur zu genau den Grund vor Augen, warum du niemals einen höheren Rang erhalten hast." Als Frost erneut zu Sifar aufschaute, hatten sich seine Augen zu dunklen Schlitzen verformt. "Verantwortung ist in deinen Händen nichts als ein Risikofaktor."
    Sifars überhebliches Grinsen wurde zu einer Grimasse des Hasses. Lorkar warf einen Seitenblick in Lorkars Richtung - kurz, aber gerade noch unberuhigt genug, um von Frost bemerkt zu werden. Der Dolch in der Hand des Magiers zitterte. Frost biss die Zähne zusammen. War er ein Stück zu weit gegangen?
    "Bist du nicht etwas zu überheblich für deine Lage?", fragte Sifar lauernd und streichelte mit der flachen Dolchseite Sheyras Hals. "Ich glaube, deiner Tochter würde etwas Frischluft -"
    "Sifar!", bellte Lorkar.
    Frost wusste den kleinen Triumph zu schätzen. Vielleicht hatte Lorkar ihm gerade eben eine Möglichkeit zugespielt, das Blatt noch einmal zu wenden...
    "Meine Tochter hat mit unserem Streit nichts zu tun", meinte er schließlich laut, "Lass sie frei."
    "Oh, so leicht ist das nicht." Lorkar verschränkte die Hände hinter dem Rücken, schlenderte in aller Seelenruhe zu Sheyra und bedachte sie mit einem langen Blick. "Sie hat mehr damit zu tun, als du vielleicht glaubst. Sie wird ihren Zweck schon noch erfüllen."
    "Dann sag endlich, was du willst!"
    Langsam hielt er es nicht mehr aus. Lorkars Überheblichkeit, die Klinge dieses Wahnsinnigen an der Kehle seiner Tochter, das wogende Inferno aus Hass in seinem Inneren. Irgendwann würde der Punkt erreicht sein, an dem er versuchen würde, Lorkar mit bloßen Händen den Kopf abzureißen. Lorkar spielte mit ihm mit demselben Sadismus, mit dem eine Katze ihre hilflose Beute quälte.
    "Ich will dich töten", gestand Lorkar ernst.
    "Dann tu es endlich. Aber beende endlich diese lächerliche Scharade."
    "Nein Frost, der Tod alleine wäre eine viel zu gnädige Strafe für dich. Ich will sehen, wie du zugrunde gehst. Es wird kein Ausgleich für meinen Verlust sein, aber vielleicht werden die Schmerzen dadurch etwas gelindert."
    "Warum hast du es dann nicht längst getan? Warum musstest du erst meine Familie hineinziehen?"
    "Was hätte ich denn bitte tun sollen?!" Verbitterung schwang in Lorkars Stimme mit. "Was hätte ich tun können, gegen einen unantastbaren General, einen gottverdammten Helden? Ich wäre tot gewesen, bevor ich auch nur in deine Nähe gekommen wäre!" Das schwarze Haar fiel über einen Teil seines Gesichts, als er den Kopf schüttelte. "Nein. Du hast mir keine andere Wahl gelassen."
    So sehr ihm der Gedanke auch widerstrebte, musste Frost gestehen, dass Lorkar auf seine Sichtweise recht hatte.Das Gefühl der Hilfslosigkeit gegenüber einer höhergestellten Schicht war Frost nicht unbekannt. Ihm selbst war es mit dem Orden der Sieben nicht anders ergangen. Mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass er seine eigene Stellung nicht halb so gut befestigt hatte, wie es der Orden getan hatte.
    "Wenn du mich tötest, wirst du dann meine Tochter gehen lassen?"
    Es war ein schwacher Versuch, aber immerhin war es einer. Auch wenn die Hoffnung so gering war, dass sie die Bezeichnung kaum verdiente.
    "Nein."
    Lorkar lächelte humorlos.
    "Aber ich werde dir eine Chance geben, das Leben deiner Sheyra freizukaufen."
    Sheyra wand sich im unnachgiebigen Griff ihres Entführers.
    "Nein... tu’s... nicht...", murmelte sie abwesend.
    Ein erstickter Schrei drang über ihre Lippen, als Sifar sie an den Haaren zurückriss. Im Bruchteil einer Sekunde war Frost wieder bei seinen Schwertern, erstarrte jedoch, als der Magier erneut den Dolch an Sheyras Kehle drückte. Die Rachsucht brannte in Sifars Augen wie das Holz in einem Kamin.
    "Wenn du mich im Kampf bezwingst, ist deine Tochter frei", fuhr Lorkar fort. "Verliere, und ihr Schicksal ist besiegelt."
    Frosts Hände senkten sich auf die Schwertgriffe. Die Klingen schienen trotz der Kälte zu glühen, er konnte ihre beruhigende Wärme deutlich durch das Leder seiner Handschuhe spüren. Lorkars Vorschlag stank gewaltig. Er hatte keinen Grund, Sheyra gehen zu lassen. Zudem klang sein Angebot nicht sonderlich logisch. Warum sollte Lorkar Frost auch noch dafür belohnen, ihn zu töten? Und selbst wenn Lorkar sein Wort halten sollte, gab es immer noch das Problem Sifar.
    Dennoch, was hatte er schon für eine Wahl?
    Mantel und Umhang lösten sich von Frosts Schultern und glitten lautlos zu Boden. Anstatt einer Antwort, griff er zu seinen Schwertern.
    "Verrate mir nur eines", sagte er, während er die Klingen aus dem Eis befreite. "Warum hasst du mich so?"
    Geschlagene drei Sekunden haftete Lorkars Blick auf Frosts Gesicht. Dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte. Lachte ein Lachen, das jeglichen Humors entbehrte und so bitter wie Galle war.
    "Du weißt es also immer noch nicht...", sprach er leise, als er sich erneut dem Waffenmeister zuwandte.

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    "Woher denn auch?!", wollte Frost brüllen, doch kein Laut drang über seine Lippen. Die Bitterkeit in Lorkars Stimme lähmte seine Stimmbänder, die ehrliche Trauer für einen Moment sogar seinen Zorn.
    Lorkars Schultern zitterten sacht. Obwohl der Hass seine jadefarbenenen Augen dominierte, war sein Gesicht zu einer Maske geworden, die so sehr von Verzweiflung, Not und Elend durchtränkt war, dass Frost den Schmerz spüren konnte. Als er Lorkar in die Augen blickte, sah er das ausgebrannte Wrack eines Mannes, der alles verloren hatte. All sein Stolz, Selbstbewusstsein und Ehrgeiz bröckelte von ihm ab wie der Putz von der Fassade eines zerfallenden Hauses. Was darunter lag, hatte mit dem hochmütigen und von seinem Hass geblendeten Krieger nur noch wenig zu tun. Frost sah Lorkar, so wie er ihn gekannt hatte, bevor er durch den Verrat zur Personifikation seines ganz individuellen Erzfeindes geworden war.
    Vor ihm stand ein Mensch, dessen Verzweiflung zur einzigen Kraft geworden war, die ihn noch aufrecht halten konnte. Sie mochte ihn unberechenbar gemacht und gebrochen haben, doch gab sie ihm im Ausgleich die nötige Entschlossenheit, um nach jedem Sturz wieder aufzustehen. Ganz gleich, wie schlimm die Verletzungen sein mochten.
    Er sah ein Spiegelbild seiner Selbst, als er in der Isolation der südlichen Inseln nach dem Willen gesucht hatte, der ihn zum Leben verdammte. Es waren Augen, die bereits all ihre Tränen vergossen hatten. Als Lorkar schließlich weitersprach, schien alle Kraft aus Frosts Beinen weichen zu wollen.
    "Du hast meine Familie getötet."
    Im Geiste hatte sich Frost hunderte von möglichen Gründen für Lorkars feindseliges Verhalten ausgemalt. Dieser gehörte nicht dazu.
    "Es war deine verdammte Entscheidung, uns vom Glitzerkamm zurückzuziehen." Das Torgitter in Frosts Rücken quietschte lang und qualvoll. "Es war dein Entschluss, den verfluchten Ordensrittern zu Hilfe zu kommen."
    Frost starrte zu Boden. Er schaffte es nicht, Lorkars Blick noch länger standzuhalten.
    "Meine Befehle waren, den Pass zu halten", antwortete er schleppend, wohlwissend, dass er nichts weiter als eine Ausrede suchte. "Ohne unsere Hilfe wären die Ritter überrannt worden. Hätten wir nicht eingegriffen, wären die Orks vollends durchgebrochen..."
    "Erzähl das den Bewohnern von Norgafirn!" Lorkars Stimme zitterte wie eine Kerzenflamme im Herbstwind. "Als wir fort waren, nutzte eine Orkhorde die Lücke aus und plünderte die nahegelegenen Dörfer. Einige Bewohner konnten fliehen, andere starben unter den Klingen der Bastarde. Deine Entscheidung hat Dutzenden von Menschen das Leben gekostet. Darunter auch... meiner Frau..." Er brach ab. Seine rechte Hand verkrampfte sich mit solcher Gewalt um den Schwertgriff, dass sie jeden Augenblick brechen musste. Die Augen waren schmal, der Blick leer und in weite Ferne gerichtet.
    "Sie... sie war schwanger..."
    Die Nachricht traf Frost unvorbereitet, knickte etwas in ihm um, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Auf einmal konnte er Lorkar nicht mehr hassen. Auf einmal konnte er ihn verstehen. Damals, nach dem Kampf am Pass hatte er ein erhabenes Gefühl des Triumphes verspürt. Triumph darüber, dass er einem der mächtigsten Krieger des Ordens der Sieben das Leben gerettet hatte, weil sich dieser mit einem Feind anlegte, dem er nicht gewachsen war. Jetzt, im Hof des alten Wachturms und Lorkar direkt gegenüberstehend, hätte er sich für den damaligen Entschluss am liebsten selbst die Klinge in den Leib gerammt. Wenn er Lorkar wenigstens noch hassen könnte. Doch selbst diese Erleichterung lag nun in weiter Ferne.
    Sprachlos und niedergeschlagen stand er da, wie ein Schüler, der vor der gesamten klasse bloßgestellt worden war. Ihm fehlten die Worte zur Verteidigung. Weil er sich gegen diese Schuld nicht verteidigen konnte.
    "Du hast mir nie davon erzählt", sagte er schließlich leise.
    "Weil du mir schon damals nicht zugehört hast!" Lorkars Schultern bebten, hin- und hergerissen zwischen Wut und einem Weinkrampf, bei dem keine Tränen flossen. "Du hattest nur den Sieg vor Augen, deinen gottverdammten Sieg! Der Frost, den ich kannte, mit dem ich zusammen die Akademie besucht habe, war schon Monate zuvor irgendwo von seinem Stolz umgebracht worden." Die Anspannung in Lorkars Hand lockte ein leises Klappern von Metall aus der Scheide. "Dir ist es doch scheißegal, wieviele Leute durch dich sterben müssen!"
    Erneut hatte blanker Hass die Trauer verdrängt. Der kalte, unbarmherzige Erzfeind war zurückgekehrt.
    "Was hätte ich denn tun sollen...", flüsterte Frost. Die plötzliche Hilfslosigkeit brachte ihn fast um. Wären die Frostwölfe damals den Rittern des Ordens der Sieben nicht zur Hilfe gekommen, hätten die Orks höchstwahrscheinlich den Pass überrannt. Die Grenzposten im Gebirge wären einer nach dem anderem gefallen und die Grünpelze hätten problemlos die Ebenen überfluten können. Vielleicht hätten sie sogar Thjerenfeldt angegriffen. Egal, wie er sich entschied, eine richtige Entscheidung hätte es nicht gegeben.
    Doch rechtfertigte das seinen Entschluss? Wessen Leben zählte mehr? Und wie entschuldigte er es, seinen Freund verraten zu haben? Die Situation war nicht gerecht gewesen. Leider kümmerte sich das Leben reichlich wenig um Gerechtigkeit.
    "Die Männer haben dir vertraut und du hast sie enttäuscht", fuhr Lorkars Urteil wie das Beil eines Henkers auf Frosts Selbstbewusstsein hernieder. "Du bist ein Schlächter, der selbst vor seinen Freunden nicht Halt macht."
    Die Spitzen von Frosts Schwertern berührten den Boden. Ihm fehlte die Kraft, sie weiterhin oben zu halten. Er schluckte schwer, um wieder atmen zu können.
    "Und was ist mit Koris?" Frosts Blick hob sich, um sich erneut mit der Härte eines Eiszapfens in Lorkars zu bohren. "Was mit Tolren und Borin? Waren sie nicht deine Freunde? Vielleicht gibt es keine Entschuldigung für meine Fehler, doch wie willst du ihren Tod verantworten?!"
    Lorkars Miene blieb unnachgiebig.
    "Du hättest sie nicht mit reinziehen dürfen. Du wusstest, dass sie für dich kämpfen würden und hast ihre Loyalität gnadenlos ausgenutzt. Ihnen wäre nichts geschehen, wenn du sie nicht reingezogen hättest!"
    "Es war ihre freie Entscheidung." Die Spitze des Eisbrechers erhob sich langsam vom Boden, stieg zitternd wie eine Kompassnadel in die Höhe, um dann wie der Stahl gewordene Finger eines Richters auf Lorkars Brust zu deuten. "Dein Hass auf mich hat dich blind gemacht. In deinem Zorn bestrafst du die ganze Welt!"
    "Nein Frost, nur einen ganz winzigen Teil von ihr."
    Hinter Lorkar trat eine schlanke Frau aus den Schatten, deren in sanften Wellen über die Schultern fallendes Haar im Mondlicht glänzte, als sei es von Silber überzogen. Die wallende, mit unzähligen Falten ihre Gestalt verschleiernde, schwarze Robe ließ den Eindruck entstehen, sie würde beim Gehen über den Boden schweben. Die Frau wäre wahrscheinlich hübsch gewesen, wären da nicht die beiden wurmartigen Kreaturen gewesen, die sich wie schwarze, schleimige Tentakel um ihren linken Unterarm wanden. Ekel drückte einen bitteren Klumpen in Frosts Kehle hinauf - Als sich die beiden ineinander verschlungenen Würmer für einen Moment voneinander lösten, konnte Frost erkennen, dass der komplette Unterarm fehlte. Stattdessen ragte knapp oberhalb des Ellenbogens der blanke Knochen hervor, an dem die zweifellos als Dämonen einzustufenden Kreaturen wie übergroße, schleimige Blutegel hingen. Ab und zu glaubte Frost ein leises, saugendes Geräusch zu hören. Während die Frau neben Lorkar Aufstellung bezog, troff eine zähe, dunkle Masse aus dem Hinterleib eines der Würmer. Durch ein kurzes Schütteln tropfte das Sekret zu Boden, ließ zwischend Schnee verdampfen und erzeugte hässliche, schwarze Flecken.
    "Noruja Vashire - wenn du gestattest", stellte Lorkar seine Begleiterin mit einem dünnen, eindeutig sadistischen Lächeln vor.
    Die Paktiererin unterlegte die Vorstellung mit einer langsamen, leichten Verbeugung, bei der das Saugen der Würmer an ihrem Arm kurzzeitig zu einem genussvollen Schlürfen anschwoll.
    "Sie wird als Schiedsrichterin unseren Kampf überwachen."
    "Das glaubst du doch wohl selbst nicht", dachte Frost düster. Als ob es Lorkar auf einen gerechten Kampf auslegen würde. In diesem Spiel gab es keine Gerechtigkeit. Hier ging es um das reine Überleben. Der Waffenmeister war sich sicher, dass ihm Lorkar eine Falle gestellt hatte. Die Paktiererin war vermutlich der Schlüssel dazu.
    "Es ist alles vorbereitet", sagte Noruja mit einer unerwartet hellen und lebendigen Stimme. In ihren grauen, mit roten Sprenkeln durchsetzten Augen lag keinerlei Schmerz, obwohl die Würmer unablässig an ihrem amputierten Arm saugten. Ihre Haut war blass, schon beinahe durchsichtig, sodass ein feines Netz an dunklen Adern sichtbar wurde. Dennoch wirkte die Paktiererin nicht schwächlich und verwundbar. Eine unsichtbare Aura der Macht umgab und schützte sie wie eine dicke Hornhaut. Frost wollte nicht wissen, welchen Preis sie neben ihrem Arm für das dämonische Geschenk gezahlt hatte.
    "Nun Frost", wandte sich Lorkar erneut seinem Erzfeind zu, "Es wird Zeit, diese Sache ein für allemal zu beenden."
    Frost blickte zuerst zu Lorkar, dann zu Noruja und schließlich zu Sheyra.
    "Was ist, wenn ich nicht gegen dich kämpfen kann?", fragte er mit ernsten Bedenken. Wie sollte er kämpfen, wenn er schon im Vornherein wusste, dass sein Kampf falsch war?
    "Dann wird Sifar sicherlich bald ungeduldig werden", erwiderte Lorkar mit Eiseskälte.
    Abermals fand Frosts Blick die trüben Augen seiner Tochter. Er musste an Estheras Prophezeiung denken. Würde er sterben, falls er mit Lorkar die Klingen kreuzte? Verdammt, er hatte doch keine Wahl...
    Zögernd, aber doch entschlossen hob er den Eisbrecher.
    "Nein... Vater...", stöhnte Sheyra.
    "Halt endlich den Mund, du -", schrie Sifar und hob die Hand um Sheyra ins Gesicht zu schlagen.
    "Sifar!", brüllte Frost plötzlich und mit solcher Wut, dass der Magier mitten in der Bewegung erstarrte.
    "Reiz das Schicksal nicht weiter", knurrte Frost. Er sprach leise, mit geradezu geisterhafter Stimme, doch reichte allein sein Ton aus, um Sifar wie einen geprügelten Hund zusammenzucken zu lassen.
    "Reiß dich zusammen", wurde er auch noch von Lorkar ermahnt. "Versau meinen Plan und du wirst die Folgen tragen müssen."
    Sifar schien noch weiter zu schrumpfen. Doch in seinem Blick lag etwas, das Frost erneut Hoffnung schöpfen ließ: Hass. Und dieser war nicht allein gegen ihn gerichtet. Man konnte einen Hund schlagen, doch wenn man es mit der Bestrafung übertrieb, biss er seinen eigenen Herrn.
    Sirrend glitt Lorkars Schwert aus der Scheide und formte zusammen mit dem Eisbrecher ein ungleichmäßiges Kreuz. Das Licht des Vollmonds tanzte über die Schneiden, als beide Kämpfer ihren Stand festigten. Im Gegensatz zu Frosts Klinge glich Lorkars weniger dem traditionellen Langschwert, als vielmehr einem Säbel. Das Blatt war einseitig leicht gekrümmt, aber dennoch fast genauso lang wie der Eisbrecher. Sekundenlang verharrten die beiden Krieger in ihrer Pose.
    "Nun ist es also soweit. Wir stehen uns wirklich mit blanken Klingen gegenüber."
    Das Bedauern war fast vollständig aus Frosts Stimme geschwunden und hatte nüchterner Resignation Platz gemacht.
    "Jetzt, wo es endlich soweit ist, stelle ich fest, dass ich seit über sechzehn Jahren auf diesen Augenblick gewartet habe."
    Die nahe an der Ekstase schwebende Stimme Lorkars jagte Frost einen eisigen Schauer über den Rücken.
    "Lass es uns beenden."
    Das helle Klirren von Klingen vibrierte in der Luft, als sich die Schwertspitzen sacht anstupsten - der erste Auftakt zum alles entscheidenden Tanz.

    Frost und Lorkar lösten sich im selben Augenblick voneinander und sprangen einen Schritt zurück. Bei einem anderem Gegner hätte sich Frost vielleicht zunächst auf die Defensive beschränkt, doch dieser Kampf war mit keinem seiner bisherigen zu vergleichen. Seine Angst um Sheyra trieb ihn voran, noch in der Rückwärtsbewegung knickte sein Bein ein, stemmte sich auf der Suche nach Widerstand durch Schnee und Matsch und entlud die aufgebaute Spannung in einem weiten Satz. Obwohl Lorkar durch den plötzlichen Angriff überrascht schien, parierte er den Eisbrecher und duckte sich geschmeidig unter der Flammenschneide hinweg, die mit dem Heulen von Sturmwind auf sein Gesicht zujagte. Seine eigene Klinge stocherte an Frosts Seite vorbei, kippte dann jedoch blitzschnell zur Seite und verwandelte den Schwung in einen neuen Schlag.
    Frost hingegen machte erst gar keine Anstalten, den Schwung seines Sprunges ausgleichen zu wollen. Klebrig-nasser Schnee spritzte auf, als sich seine Stiefel in den Boden bohrten, er sich einfach fallen ließ und Lorkar kurzerhand die Füße wegtrat. Sein Gegner vollführte eine halbe Drehung in der Luft und schlug zu, noch bevor er einen knappen Schritt neben Frost in den Schnee krachte.
    Ein hastig geführter Streich fegte Lorkars Klinge beiseite. Eine Seitwärtsrolle brachte den Waffenmeister wieder auf die Füße, weiße Wölkchen entwichen in raschen Stößen zwischen seinen Zähnen. Auch sein Gegner stand bereits wieder, der blanke Stahl seines Schwertes zielte direkt auf Frosts Gesicht.
    "Komm her Frost!" Seine Finger zitterten vor Erregung. "Zeig mir all deinen Hass!"
    Außerhalb des seltsamen Kreissymbols in der Hofmitte lösten sich die beiden Würmer von Norjuas Arm und klatschten wie nasse Taue auf den Boden. Reste des dampfenden, schwarzen Sekrets tropften ölig von dem Knochenstummel, der einst ihr Ellenbogen gewesen war. Synchron, als ob sie von einer unsichtbaren Hand geführt werden würden, krochen die dämonischen Biester mit erstaunlicher Schnelligkeit und schlangenartiger Anmut in unterschiedliche Richtungen auf den Rändern des Symbols davon.
    Währenddessen stimmte die Paktiererin einen durchdringenden, besänftigenden Gesang an. Langsam und mit tänzerischen Schritten, die einem komplizierten Rhythmus folgten, bewegte sie sich entlang der mystischen Zeichnung. Es war ein fremdartiger Tanz und ein ebenso fremdartiger Gesang, doch darüber hinaus war es vor allem eines: Bedrohlich. Auf seine ganz eigene, unbegreifliche Art machte der Tanz der Paktiererin Frost Angst. Obwohl er weder hektisch war, noch die Worte in irgendeiner Weise furchterregend klangen, konnte der Krieger spüren, wie sich etwas in ihm verkrampfte.
    Nein, nicht verkrampfte.
    Wie sich etwas befreite.
    Jeder Herzschlag kam schneller und mit der doppelten Kraft wie der vorige. Das Pochen brachte sein Brustbein zum Vibrieren, jede einzelne Rippe schien in Resonanz zum Gesang der Paktiererin zu schwingen. Er spürte die Kraft des Adrenalins seinen Körper fluten, eine pulsierende, ungehemmte Macht, die sich ihren Weg durch seinen Kreislauf bahnte und ihn in einem Gefühl freudiger Ekstase untergehen ließ. Die Wut, sein ganzer Hass, war frei und brannte in seinem Inneren wie ein Hochofen voll glühender Energie.
    Und es schockierte Frost, wie sehr er das Gefühl genoss.
    Das nächste Zusammentreffen der beiden Kontrahenten glich dem zweier Tiere, die durch den Hunger zum Kannibalismus getrieben wurden. Klingen schmiegten sich aneinander und zogen bei ihrer Liebkosung eine Spur aus Funken hinter sich her. Tritte wurden in rasend schneller Folge ausgetauscht, plötzliche Ausweichmanöver wechselten sich mit Sequenzen brutalen Aufeinanderhackens ab. Die Schnelligkeit des Kampfes war schwindelerregend. Schwertklirren, keuchende Atemstöße sowie die Schreie der Erzfeinde vermischten sich mit Norujas Gesang und dem Stampfen der Kampfstiefel zu einer Symphonie des Hasses.
    Frost führte seine Schwerter mit der Sicherheit und Präzision eines Dirigenten. Lorkar hingegen schmetterte ihm die erbitterte Gewalt eines Orchesters entgegen, das einen prall gefüllten Konzertsaal mit seinem Klang zu erfüllen hatte. Mondlicht tanzte über geschliffenen Stahl wie ein Irrlicht, das sich zwischen den beiden Kontrahenten verfangen hatte.
    Lorkar wich gerade einem von oben geführten Hieb aus, als Frost auf dem Absatz herumwirbelte. In einer Bahn aus silbrigem Licht zerschnitt der Eisbrecher mit hellem Sirren die Luft, bevor er auf die Schulterpanzerung Lorkars niederfuhr. Stahl kreischte, als die Ironiaklinge über die Rüstung schabte, Funken stoben wie ein Schwarm von Glühwürmchen in die Nacht davon.
    Fast im selben Moment traf Lorkars Klinge Frosts Brust und stieß ihn nach hinten. Sein dämonischer Panzer hielt dem Schlag stand, doch fraß sich der Schmerz pulsierend durch die getroffenen Rippen. Seine Lunge schnappte keuchend nach Luft, während der Waffenmeister um seine Balance kämpfend zurückwich.
    Sein Gegner durchtrennte mit einem schnellen Schnitt die Riemen seines Schulterschutzes. Der Eisbrecher hatte die Rüstung wie eine Tomate zerschnitten und die Kleidung zerfetzt, die Haut darunter jedoch unversehrt gelassen.
    "Du kannst nicht gewinnen, Lorkar. Gib endlich auf!"
    Die Klingen in Frosts Händen hoben sich erneut und deuteten wie Wegweiser des Todes auf Lorkar.
    "Freu dich nicht zu früh", knurrte Lorkar und griff erneut an.
    Die Schwerter trafen hart aufeinander. Der Aufprall glich dem eines Schmiedehammers auf einem Amboss. Die Erschütterung arbeitete sich Frosts Arm hinauf, drohte ihm die Waffe aus der Hand zu prellen und ersetzte jegliches Gefühl in seinen Fingern durch ein unangenehmes Kribbeln. Augenblicklich setzte Lorkar nach, sprang nach vorne und versuchte, Frosts Klinge beiseite zu drücken. Scharrend glitten die Schneiden aneinander ab, bis Lorkars Waffe von den Parierstangen der Flammenschneide gestoppt wurde.
    "Wofür das alles?", fragte Frost und ließ den Eisbrecher fallen, um den Druck mit beiden Händen aufrecht zu erhalten. Trotz allem schob Lorkar seine Waffe Millimeter für Millimeter weiter zurück. "Was hoffst du durch meinen Tod zu erreichen?"
    "Erlösung", knurrte Lorkar zwischen vor Anstrengung verkrampften Kiefern, "Erlösung von den Qualen, die du mir bereitet hast. Nach all den Jahren endlich wieder zur Ruhe zu kommen."
    Die Dämonenwürmer zeichneten mittlerweile die ineinander verwobenen Linienmuster in der Mitte des Symbols nach. Norujas Gesang gewann an Intensität, ihr Rhythmus wurde schneller, unruhiger. Egal wohin sich die Kämpfenden auch bewegten, die Würmer schienen trotz der Zielstrebigkeit, mit der sie das Symbol erneuerten, stets einen bestimmten Abstand zu wahren.
    Frost schob einen Fuß nach vorne, um sich besser gegen Lorkars Druck stemmen zu können.
    "Selbst mein Tod wird deinen Verlust nicht ausgleichen können." Die Waffe seines Gegners wurde ein Stückchen zurückgedrängt. Blut rauschte als donnernder Fluss in seinen Ohren. Irgendwo inmitten der wogenden Fluten hörte er das dumpfe Wummern seines eigenen Herzens. Und mit jedem Zentimeter, den sich die Flammenschneide Lorkars Gesicht näherte, wurde das Trommeln in seinem Inneren dumpfer und mächtiger.
    "Was ist mit Terjan? Du reißt deinen eigenen Sohn mit ins Verderben!"
    Lorkars Züge verhärteten sich zu einer Maske aus Granit, in der seine Augen wie dunkle Moosflecken wirkten. Das Zittern seiner Hände war durch die Schwerter deutlich zu spüren.
    "Terjan hat sich längst von mir abgewandt. Meine Familie starb damals in Norgafirn."
    "Damals starb vor allem dein Verstand!"
    Der Hochofen in Frost spuckte seine Glut bis in die entferntesten Winkel seines Körpers. Die Flammenschneide schabte erregt an der Klinge seines Gegners. Ihr Blutdurst war wieder erwacht. Und Frost war durchaus gewillt, sie Blut kosten zu lassen.
    Er spürte den Hass wie das Magma eines kurz vor dem Ausbruch stehendem Vulkan in sich aufschäumen. Norujas Gesang wirkte auf einmal nicht mehr beunruhigend, sondern klang wie ein ganzer Chor göttlicher Stimmen, die ihn anfeuerten. Sheyra, die Frostwölfe, Esthera - alle warteten nur darauf, dass er das Herz des Verräterschweins mit der schwarzen Klinge seines Gestalt gewordenen Hasses durchbohrte.
    Mit einem Schrei riss Frost das Schwert nach oben. Lorkars Klinge verhakte sich zwischen einem der Dornen oberhalb der Parierstange und der Schneide. Brüllend wie ein rasender Dämon warf sich Frost herum. Begleitet von dem Klirren von Metall schlitterte Lorkars Waffe über den vereisten Hof.

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    Cheshire Cat  Avatar von Superluemmel
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    Ein triumphales Funkeln erhellte Frosts Augen, als er Lorkar nachsetzte und gnadenlos zustieß. Mit beiden Händen trieb er die Flammenschneide vorwärts und spürte, wie sich das Schwert seinem Erzfeind entgegenzustrecken schien. Noruja stieß einen lauten, glockenhellen Schrei aus, warf die Hände nach oben und verharrte regungslos.
    Lorkars freie Hand veränderte sich. Ein Wabern durchlief sie, als ob die Haut auf einmal zu einem zu groß geratenen Handschuh geworden wäre. Die Finger streckten sich mit einer solchen Gewalt, dass sie aus den Gelenken gerissen wurden und verkrampften sich zu krallenartigen Bögen. Binnen weniger Augenblicke wuchsen die Fingernägel aufs Äußerste in die Länge und liefen wie Quecksilberflüsse bis über den Handrücken, bevor sie sich zu einem massiven Panzer aus Horn verhärteten.
    Ehe sich Frost versah, schnellte die Hornkralle vor, prellte sein Schwert beiseite und bohrte sich in seine Seite. Die Fingernägel kratzten kurz über den schwarzen Dämonenpanzer, fanden eine Lücke zwischen den Platten und schnitten mit der Unbarmherzigkeit eines Rasiermessers durch sein Fleisch.
    Ein heiseres Keuchen, halb aus Überraschung, halb aus Schmerz, bildete eine schwache, graue Wolke in der kalten Nachtluft. Ein Gefälle aus Blut stürzte zwischen Lorkars auf unglaubliche Weise verwandelten Fingern hindurch und wurde von Frosts Rüstung aufgesogen wie von einem trockenen Schwamm. Tröpfelnder Regen sprenkelte den Schnee dunkelrot. Norujas Tanz erreichte den Zustand völliger Ekstase
    "Dies ist das Ende", hauchte Lorkar.
    Frost zuckte zusammen, als sich die Krallenfinger mit sadistischer Langsamkeit aus seinem Körper lösten. Ein Schwall dunklen Blutes plätscherte zu Boden und hinterließ einen hässlichen, schwarzen Fleck inmitten des mystischen Symbols. Schwankend taumelte er nach hinten, das Schwert rutschte aus seinen Fingern.
    "Vater!"
    Sheyra erwachte aus ihrem tranceartigen Zustand und bäumte sich in Sifars Griff auf. Erst als sie ein Tritt zu Boden schleuderte, erstarb ihr Widerstand.
    Frost war auf ein Knie gesunken und hielt eine Hand fest auf die Wunde gepresst. Er spürte, wie sein Puls weitere Stöße warmen Blutes über seine Finger sprudeln ließ, fühlte den Schmerz, der sich wie brennendes Öl durch seine Eingeweide fraß.
    "Zu hell", schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das Blut war zu hell. Hätte Lorkar ein wichtiges Organ getroffen, hätte sich das Blut dunkler verfärbt. Um ihn zu töten, hätte Lorkar seine Klaue nur noch etwas tiefer in sein Fleisch stoßen müssen.
    Warum hatte er es nicht getan?
    Die Wunde würde ich nicht umbringen. Sie würde ihn schwächen und den Kampf zu einer Reise durch Höllen voll Schmerz machen, doch sie war nicht tödlich. Wahrscheinlich würde Frost in einigen Minuten vor Erschöpfung zusammenbrechen und das würde sein Schicksal besiegeln, doch bis dahin hatte er noch eine Chance.
    "Steh auf", hustete Sheyra und versuchte sich aufzurichten, doch Sifar setzte seinen Stiefel in ihr Genick und presste sie in den Schnee.
    Zuviel. Erinnerungen an die vergangenen Kämpfe, den Tod seiner Freunde, die verlorenen sechzehn Jahre und das Gefühl der Einsamkeit blühten wie grelle Explosionen in Frosts Gedächtnis auf. Sie schwappten wie eine Springflut über sein Denken hinweg und hinterließen eine Leere, die schlagartig von einem einzigen Gedanken erfüllt wurde: Töten.
    "Es wäre besser für uns alle gewesen, wenn du schon damals gestorben wärst", hörte er Lorkars Stimme, "Vor allem für deine Tochter."
    Im nächsten Moment sprang Frost ihn an. Wahrscheinlich hatte Lorkar damit gerechnet, dass Frost abermals aufstehen würde, doch der Angriff kam so plötzlich, dass seine Reaktion zu spät kam. Ohne Andeutungen eines Sprunges, aber mit der Schnelligkeit eines zustoßenden Falkens, huschte Frost auf Lorkar zu und rammte ihm seine Faust ins Gesicht.
    Der Schmerz in seiner Seite lag auf einmal in weiter Ferne. Frost wusste, dass er für den plötzlichen Kraftschub einen hohen Preis zahlen musste und auch schon zahlte. Die Rüstung trank mit gierigen Schlücken von seinem Lebenselixier, labte sich an den Schmerzen, mit denen jeder Blutstropfen aus seinem Körper gerissen wurde.
    "Es ist zuviel!, brüllte Frost, während er in seinem Blutrausch aufging wie eine Rosenblüte im Frühling.
    Sein Schlag ließ Lorkars Lippe in einer Explosion aus Blutstropfen und Speichel explodieren. Bevor auch nur der erste dieser Tropfen auf dem Boden zerplatzte, krallte sich Frosts Linke in Lorkars Kiefer fest und hob ihn von den Füßen. Als sein Knie in Lorkars Magengrube krachte, klappte er trotz der Rüstung wie ein Sack Kartoffeln zusammen. Ohne die Spur eines Zögerns setzte Frost nach, rammte seine Knie in Lorkars Oberarme und drosch auf das Gesicht seines Erzfeindes ein.
    "Lass meine Familie in Ruhe", schrie Frost mit einem Hass, der ihn zu anderen Zeiten selbst erschreckt hätte. "Lass mich endlich in Frieden leben!"
    Das Geräusch, mit dem Lorkars Nasenbein brach, erinnerte Frost an einen Holzscheit, der zu lange im Feuer gelegen hatte. Lorkar brüllte vor Schmerz und versuchte verzweifelt, den dunklen Krieger von seiner Brust zu schütteln. Kreischend wie Kreide auf einer Schiefertafel, fuhren seine Krallenfinger über den nachtschwarzen Panzer, konnten jedoch keine weitere Schwachstelle finden.
    "Das ist das Ende", knurrte Frost und seine Augen funkelten kalt wie Saphire, "Dein Ende!"
    Seine Faust hob sich erneut, bereit, auch den restlichen Knochen von Lorkars Nase zu zerschmettern. Ja, dies war das Ende. Das Ende eines sechzehn Jahre währenden Albtraums.
    Er schlug zu.
    Zumindest versuchte er es. Seine Hand zitterte, als ob sie sich mit aller Kraft gegen ein unsichtbares Hindernis stemmen würde, doch bewegte sie sich nicht weiter. Irgendetwas hielt ihn fest...
    Frosts Kopf ruckte herum, sein Blick fand einen gespenstisch blassen Schemen auf dem zusammengestürzten Wall. Shoruns starrte ihn aus seinen glanzlosen, toten Augen an.
    "Elender Bastard", fluchte Frost.
    Der Geist blinzelte. Frosts Hand wurde losgelassen, doch bevor er reagieren konnte, traf ihn irgendetwas mit der Gewalt eines umfallenden Baumes an der Schläfe und schleuderte ihn von Lorkar herunter. Der Geschmack von Eisen erfüllte seinen Mund, er spürte warmes Blut über sein Kinn laufen. Vor seinen Augen flammten rote Blüten auf, nur um in Sekundenschnelle zu schwarzen, verwelkten Blättern zu zerfallen. Er musste für ein paar Augenblicke das Bewusstsein verloren haben, denn als er das nächste Mal klar sehen konnte, lag er auf dem Rücken im Schnee.
    Er registrierte eine rasche Bewegung am Rande seines Sichtfeldes, rollte sich zur Seite und konnte hören, wie hinter ihm lange Klauen den festgedrückten Schnee zerfetzten. Mit einer Drehung kam Frost wieder auf die Beine, duckte sich unter einem weiteren Hieb hinweg und schwang seinen Fuß kraftvoll gegen Lorkars Brust. Sein Gegner geriet ins Taumeln, fing sich jedoch nahezu augenblicklich und erwiderte den Angriff mit einer schnellen Folge aus Faustschlägen.
    Der Waffenmeister blockte den größten Teil mit den Unterarmen ab, ließ sich abrupt auf ein Knie fallen, schraubte sich mit einer schnellen Drehung wieder in die Höhe und trat zu. Doch Lorkar reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit, packte sein Bein und drehte es brutal herum. Der Hof überschlug sich vor Frosts Augen, als er eine plötzliche Rolle in der Luft machte. Irgendwie schaffte er es, den auf ihn zuspringenden Boden mit den Händen aufzufangen und gleichzeitig seine Füße um Lorkars Bein zu schlingen. Mit einem Ruck brachte er seinen Gegenspieler ebenfalls zu Fall.
    Dann wurde Frost auf einmal nach oben gezogen. Er glaubte einen Arm zu fühlen, der sich um seinen Hals legte und die Luft abdrückte, versuchte danach zu greifen doch da war nichts. Seine Finger bekamen lediglich kalte Luft zu fassen, während der Druck auf seine Kehle zunahm und er keuchend nach Atem schnappte.
    Aus dem Augenwinkel sah er Lorkar aufstehen. Benommen schüttelte er den Kopf und spuckte Blut. Das Blut ließ sein Gesicht zur Fratze einer Todesfee werden, die aus dem Grab gestiegen war, um Rache zu nehmen. Ein rötliches Leuchten drang durch die Ritzen seines Brustpanzers, die schreckliche Klauenhand verwandelte sich zurück. Im Hintergrund führte Noruja ihren rauschartigen Tanz weiter, wirbelte wie ein lebend gewordener Kreisel um die Linien ihres Symbols herum.
    "Wehr dich dagegen", sprach Lorkar erwartungsvoll und versuchte sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, verschmierte es dadurch allerdings nur noch mehr. "Zersprenge die Ketten durch deinen Hass!"
    Frosts Blick fiel auf die Flammenschneide. Die schwarze Klinge lag nur knapp zwei Schritt von ihm entfernt. Ein Schimmer, gleich einer Spiegelung von Flammen, flog über den geschliffenen Stahl. Wenn er die Klinge erreichen konnte...
    "Hört auf!"
    Der Griff des Unsichtbaren löste sich, als eine neue Stimme über den Hof schallte. Sowohl Frost wie auch Lorkar blickten gleichzeitig in Richtung des unbekannten Neuankömmlings. Selbst Noruja hielt in ihrem Tanz inne.
    "Terjan!"
    Lorkars Stimme spiegelte Überraschung wider. Sein Sohn stand inmitten des Tores, eine Armbrust drückte sich gegen seine Schulter. Die Spitze des Bolzens zielte direkt auf Sifars Stirn.
    "Beendet endlich diesen Wahnsinn", sagte er leise und dann umso lauter: "Und du Bastard nimmst endlich deine dreckigen Hände von Sheyra!"
    Terjans Gesicht ließ kaum eine Regung erkennen, aber in seinen Augen brannte der Zorn. Mit halb zugekniffenem Auge visierte er den abtrünnigen Magier an. Sifar blickte erst auf die am Boden liegende Sheyra, dann zu der neuen Gefahr. Seine Mundwinkel senkten sich abwertend.
    "Und warum sollte ich mir von dir etwas befehlen lassen?", fragte er mit der ganzen Arroganz, aus der die Vorurteile gegenüber Magiern enstanden sein mochten.
    "Terjan, was soll das?", fragte Lorkar wenig beherrscht. Frost nutzte die Gelegenheit, um sich langsam aufzurichten.
    "Das könnte ich dich genauso gut fragen", erwiderte Terjan, ohne Sifar aus den Augen zu lassen. "Sag deinem Speichellecker endlich, dass er Sheyra loslassen soll!"
    "Wie hast du mich genannt?", zischte Sifar. Zwischen den Fingern seiner verkrampften Hand gefror die Luft zu weißen Wolken.
    "Bist du denn etwas anderes?", fragte Frost herausfordernd und erntete die hasserfüllte Aufmerksamkeit des Magiers. "Wie lange sitzt du nun schon auf demselben Rang?"
    Lorkars Blick sprang gehetzt zwischen Frost und Sifar umher. Seine Kiefernmuskeln arbeiteten wie Mühlräder und wahrscheinlich knirschten seine Zähne auch genauso.
    "Worauf willst du hinaus?" Sifars Selbstsicherheit bröckelte ebenso wie das Mauerwerk des alten Wachturms. Und Frost wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Als er weitersprach, schenkte er Sifar sein bösartigstes Lächeln.
    "Du elender Narr. Ich wusste schon früher, dass du mit der Verantwortung eines höheren Ranges nicht umgehen könntest. Offensichtlich habe ich Lorkar für dümmer gehalten, als er eigentlich ist - denn er scheint es ebenfalls zu wissen."
    Sifars Augen fixierten Lorkar, seine Finger zuckten wie die Glieder eines Insekts, dessen Reflexe selbst nach seinem Tod noch weiterarbeiteten.
    "Erklär mir das!", forderte er mit der zitternden Stimme eines Mannes, der nicht realisieren wollte, dass er verraten worden war.
    "Ich halte mein Versprechen", antwortete Lorkar mit gespielter Ruhe, "Sobald das hier vorbei ist, bekommst du deinen Lohn."
    Sifars Augen wurden zu Leuchtfeuern des Wahnsinns.
    "Du hast mich verraten...", keuchte er, "Du Hundesohn hast mich verraten!"
    "Natürlich hat er dich verraten", stachelte Frost den Hass des Magiers weiter an, "Er hat dich ebenso verraten, wie er mich damals verraten hat."
    "Dafür werdet ihr bezahlen, dafür werdet ihr beide bezahlen..."
    "Reiß dich zusammen!", brüllte Lorkar.
    "Lass Sheyra los!", schrie Terjan.
    "Ja", flüsterte Sifar und hob den Dolch, während seine andere Hand von einer eisigen Wolke verschlungen wurde, "Das werde ich..."
    Frost wollte sich auf ihn werfen, doch Terjan kam ihm zuvor. Die Armbrust schleuderte ein lautes Klacken in die Nacht und den Bolzen exakt zwischen Sifars Rippen. Einen heiseren Schrei ausstoßend, stolperte der Magier nach hinten. Ein dunkler Fleck bildete sich dort auf seiner Robe und breitete sich rasch aus.
    "Bastard", hauchte er schwach und fiel auf die Knie. "Dafür wirst du büßen, Lorkar..."
    Er streckte seine Hand nach Terjan aus, rammte den Dolch in den Boden und kratzte einen mehrzackigen Stern in das Eis. Ohrenbetäubender Donner verschluckte Lorkars Schrei, eine gigantische Druckwelle ließ die gesamte Klippe erzittern, schleuderte Schneestaub und Erdbrocken in die Luft und rollte geradewegs auf Terjan zu. Der junge Krieger warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, ehe die Gewalt der Druckwelle ein mehr als mannshohes Loch in die Seitenwand des Tores riss und einen Schauer aus Steinsplittern über den gesamten Hof schickte. Terjan hustete und hielt sich die linke Schulter, stemmte sich aber dennoch vom Boden hoch. Doch bevor er sich vollends aufgerichtet hatte, zersprang die Kette des Fallgatters mit einem peitschenden Knall. Terjan hatte gerade noch Zeit erschrocken den Kopf zu wenden, bevor ihn das Fallgatter laut scheppernd unter sich begrub.
    "Nein!", schrien sowohl Lorkar wie auch Sheyra zugleich.
    "Ich reiß euch alle mit ins Grab", hustete Sifar und presste seine Hand auf die heftig blutende Wunde.
    Ein Schatten huschte über die Burgmauer, Mondlicht schien für einen Augenblick auf silbernes Fell. Ein kehliges Knurren, dann ein röchelnder Schrei hallten durch die Nacht. Die Blutlache unter dem zuckenden Körper Sifars wuchs, als scharfe Zähne seine Kehle in Stücke rissen. Als der Silberwolf Frost seine blutverschmierte Schnauze zuwandte, lag Sifar still.
    "Esthera... warum..."
    Er hatte sie beschützen wollen. Mit allen Mitteln hatte er versucht, sie aus diesem Kampf rauszuhalten, damit sie sich nicht mit Blut besudelte. Und schon wieder hatte er versagt. Konnte er es als einzelner Mensch überhaupt jemals schaffen, seine Ziele zu erreichen? Jedesmal, wenn er sich ihnen näherte, schienen sie auf einmal mit einem Satz in unendliche Ferne zu springen...
    "Der angestaute Hass beschwört die Dämonen", hörte er Estheras sanfte Stimme sagen, "Dieser Kampf darf nicht weitergehen."
    Ein schmales Lächeln zierte Norujas blasse Züge.
    "Schlaues Kind", meinte sie mit ehrlicher Freundlichkeit, die jedoch Sekundenbruchteile später in berechnende Kälte umschlug. "Tötet sie!"
    Fauchend lösten sich die Dämonenwürmer aus dem Beschwörungssymbol und krochen beängstigend schnell auf Esthera zu.
    "Terjan... dafür reiße ich dir die Eingeweide aus dem Leib, Frost!"
    Die nächsten Ereignisse geschahen so schnell, dass die Zeit stehenzubleiben schien. Lorkar stürzte mit stoßbereiter Waffe auf Frost zu. Sheyra wälzte sich herum und durchtrennte geschickt ihre Fesseln mit dem Dolch, der noch immer in Sifars verkrampfter Hand lag. Die Flammenschneide lag knapp zwei Schritt von Frost entfernt. Durch das Kopfende eines Wurmes ging ein breiter Riss. Schwarzer Schleim troff von den Rändern eines breiten Hornmaules mit vier langen Schlangenzähnen. Der Wurm spannte sich, das Maul klaffte auf. Der Silberwolf sprang mit einem gewaltigen Satz an der Mauer empor und zog sich wild strampelnd auf den Wehrgang hinauf. Das zuschnappende Wurmmaul schnitt durch die Mauersteine wie durch Butter und riss eine fast armlange Schneise in die Mauer.
    Frost warf sich entgegen Lorkars Erwartung nicht zur Flammenschneide, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Shorun spreizte die Beine und legte die Fingerspitzen aneinander. Seine Augen schlossen sich, die Tätowierungen auf seinem Körper verschwammen wie hinter einem Schleier heißer Luft. Frost spürte, wie sich unsichtbare Finger nach seinem Geist ausstreckten. Jeden Moment würden sie ihn packen und wie dünnes Papier zerreißen.
    Ein silberner Streifen durchschnitt die Luft. Shorun zuckte zusammen, schlug eine Hand an seine breite Schulter und stürzte lautlos nach hinten.
    Lorkars Schwert hackte dicht neben Frosts Kopf in den Schnee. Eine Spur aus Blut hinter sich herziehend, rollte sich der Waffenmeister über den Boden, zog die Beine an den Körper und katapultierte sich in einem Hechtsprung nach vorne. Dicht hinter ihm zerstampften Lorkars Stiefel den Schnee, ein gellender Schrei kündigte den bevorstehenden Hieb an.
    Frosts Finger schlossen sich um rauhes Leder, sein Bein stemmte sich in den Schnee und drückte seinen Körper vom Boden hoch. Die Spitze des Eisbrechers scharrte über den Boden, ließ Schnee und Eis in einem engen Kreis beiseite spritzen. Die linke Hand des Kriegers schmiegte sich ebenfalls fest um den Schwertgriff, mit beiden Händen zog Frost das Schwert in die Höhe.
    Blut spritzte in Frosts Gesicht. Eine Spur warmer Luft streichelte seine Wangen. Sein Schwert beendete die Bewegung im selben Moment wie Lorkars.
    Von der Spitze des Eisbrechers perlte Blut. Eine einzelne, silbergraue Haarsträhne schwebte an Frosts Auge vorbei und kitzelte auf seiner Nasenspitze.
    Lorkars Schwert fiel klirrend zu Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht umklammerte er die blutigen Stummel, die kurz zuvor noch sein Ring- und kleiner Finger gewesen waren. Unglauben schillerte wässrig in seinen Augen. Er hatte Frost verfehlt.
    "Das ist noch nicht vorbei", presste er keuchend hervor. "Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen!"
    Stolpernd und taumelnd schleppte er sich in Richtung der Stufen zum Wehrgang.
    "Es ist zu spät", verkündete Noruja unheilsvoll, bevor sie Lorkar eiligst folgte. Ihre Würmer ließen von Esthera ab und schlängelten sich der Paktiererin hinterher.
    Shorun stemmte sich mühsam auf die Beine. Ohne die Spur einer Regung riss er einen schmalen Dolch aus seiner Schulter und schleuderte ihn in den Burghof. Esthera sprang behende von der Mauer, federte den Sprung auf weichen Pfoten ab und kam auf Frost zugelaufen.
    Noruja stieß einen langen, schrillen Pfiff aus. Die Würmer wanden sich über ihr Bein an ihrem Körper empor und nahmen erneut ihren Platz am Arm der Paktierin ein. Das Schmatzen, mit dem sie sich an ihrem Knochen festsaugten, war über den gesamten Hof zu hören. Plötzlich bildete sich in der Dunkelheit über der steil abfallenden Klippe ein gleißender, gezackter Riss. Ein Knarzen, ähnlich dem einer alten Tür, nur deutlich langgezogener und dunkler, war zu hören, dann weitete sich der Riss zu einem groben Oval aus. Ein Schwall goldener Federn schoss aus dem torähnlichen Gebilde, leises Flügelschlagen drang aus der Ferne, wurde jedoch schnell lauter.
    Von einer Sekunde auf die andere jagte ein leuchtend heller Schemen aus dem Licht. Mächtige Schwingen mit goldenen Federn peitschten die Luft, mächtige Krallen vergruben sich in den Zinnen der alten Turmmauer. Die Kreatur ähnelte entfernt einem Adler, besaß jedoch pupillenlose, schwarze Augen und anstatt zweier Flügel entsprangen seinem mehr als ochsengroßen Körper gleich vier Schwingen, die sich gleich einem goldenen Mantel über die Mauer legten. Zwei zuckende, dornenbewehrte Drachenschwänze schlängelten sich von seinem Hinterleib und brachten mit unrhythmischen Schlägen die Turmmauer zum Erbeben.
    Als die Kreatur ihren gewaltigen Schnabel neigte, hob Noruja ihren halb abgefressenen Arm. Liebkosend strichen die Wurmschwänze über den Schnabel des Monstrums, welches genussvoll den Kopf auf die Seite legte. Sowohl Shorun wie auch Lorkar kletterten hastig über eine der tiefliegenden Schwingen auf den Rücken der Kreatur.
    "Vielleicht wird die Entscheidung doch noch nicht heute fallen", rief Lorkar Frost zu, "Aber ich schwöre dir, du wirst von deinem Sieg nicht viel haben. Ich werde meine Rache bekommen, verlass dich darauf. Wir sehen uns in Khorinis!"
    Auch Noruja schwang sich elegant auf den Rücken des monströsen Ungeheuers. Einen donnernden Schrei ausstoßend, breitete es die Flügel aus und peitschte den Innenhof mit Orkanböen. Frost fehlte die Kraft, um sich gegen den entfesselten Sturm stellen zu können und wurde wie ein Stück Holz auf rauher See davongeschleudert. Auf flappenden Schwingen erhob sich das geflügelte Monstrum und gewann schnell an Höhe, bevor es in der Nacht verschwand und Frost schwarz vor Augen wurde.
    Als er sie wieder öffnete, blickte er in Estheras Antlitz. Halb getrocknetes Blut glitzerte auf dem Saum ihres Fellkragens und um ihre Mundwinkel. Sifars Blut. Ihre Hand tastete sich über Frosts Handrücken, schob seine Finger behutsam beiseite und berührte sanft die Wunde unter den Panzerplatten seiner Rüstung. Frost spürte, wie sie zitterte und wie er sich selbst unter ihrer Berührung verkrampfte, doch ließ er sie gewähren. Er hätte ohnehin nicht die Kraft gehabt, sie davon abzuhalten. Zudem spürte er, wie der Strom aus Blut langsam schwächer wurde, bis er schließlich vollends versiegte.
    Sein Kopf rollte in Estheras Schoß auf die Seite. Unter dem halb zertrümmerten Steinbogen des Tores saß Sheyra. Sie hielt Terjan in den Armen, Kopf und Schultern bebten heftig. Lorkars Sohn lag wie eine leblose Puppe über ihren Knien, sein Kopf pendelte leblos im Takt von Sheyras zitternden Armen. In seinem hellen, blonden Haar hatte sich eine Stelle dunkel verfärbt.
    "Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie sich lieben?", fragte Frost flüsternd.
    "Weil ich wusste, dass ihr euch wieder streiten würdet", antwortete Esthera ehrlich.
    "Haben wir in diesem Kampf überhaupt irgendetwas gewonnen?"
    Es dauerte einige Sekunden, bevor Esthera erneut sprach.
    "Wir sind noch immer am Leben. War es nicht das, was du wolltest?"
    Die Frage stach schmerzhafter, als es Lorkars Krallen getan hatten.
    "Ja", erwiderte Frost schwach, "Ja und nein. Egal was ich will, egal was ich tu, im Nachhinein bleiben stets nur die Tränen..."
    "Sollte dies dein Schicksal sein, so lass es uns teilen. So wie damals."
    Frost lächelte traurig, hob die Hand und wischte seiner Geliebten das Blut von der Wange.
    "Lass uns gehen", meinte er.
    Stöhnend stemmte er sich in die Höhe, bevor er von seiner Frau gestützt in Richtung seiner trauernden Tochter stapfte.

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    Epilog

    Weder von der Rückreise nach Thjerenfeldt, noch von den folgenden zwei Tagen bekam Frost sonderlich viel mit. Die Erschöpfung traf ihn so unvermittelt wie ein Armbrustbolzen und streckte ihn ebenso effektiv nieder. Er wusste nicht, ob er wach gewesen war oder das Bewusstsein verloren hatte - im Nachhinein konnte er sich jedenfalls kaum an etwas erinnern. Vermutlich war die Anspannung der letzten Wochen der Grund für seinen plötzlichen Zusammenbruch, sicherlich hatten auch seine Wunden ihren Teil dazu beigetragen.
    In den kommenden Tagen verließ er nur selten das Haus. Eine seltsame Unruhe ließ ihn ziellos durch die Räume und Gänge seines Hauses wandern und nahm ihm die Möglichkeit, in den Alltag zurückzukehren. Obwohl der Kampf mit Lorkar vorbei war, fand er keine Ruhe. Eher das Gegenteil war der Fall. Schon zum zweiten Mal hatte es Lorkar geschafft, Frosts Leben völlig aus seiner Bahn zu werfen. Das erneute Zusammentreffen mit seinem erbittertsten Widersacher hatte in ihm eine Stütze gesprengt, die sein Gewissen jahrelang getragen hatte. Er war sich schon lange darüber im Klaren gewesen, dass sich viele der Entscheidungen, die er als General gefällt hatte, als schwere Fehler herausgestellt hatten. Dennoch hatte er es bislang fast immer geschafft - oder es sich zumindest eingebildet - die Fehler durch schnelle Reaktionen und der nötigen Weitsicht wieder auszugleichen.
    Der Konflikt mit Lorkar war jedoch auf einmal persönlich. Auf einmal trugen die Opfer des Krieges nicht mehr die Masken der Anonymität, sondern ihm bekannte Gesichter. Er konnte seine Schuld am Tod von Lorkars Familie nicht leugnen - es war sein Befehl, sein endgültiges Urteil gewesen, das ihr Schicksal besiegelt hatte. Jetzt war auch noch Terjan tot. Lorkars einziger Sohn war gestorben, weil er Frosts Tochter das Leben retten wollte. Und wieder hatte Frost seine Hände im Spiel gehabt, obwohl sie vom Blut unbefleckt waren. Sifars Wutausbruch ging zum größten Teil auf seine Rechnung.
    Er wusste nicht mehr, was er sich dabei gedacht hatte. Vielleicht hatte er unterbewusst sogar damit gerechnet, dass er durch sein Verhalten Terjan in Gefahr brachte. Es war ein Risiko gewesen, dass er in seiner Situation gerne einzugehen bereit war. Während dem Kampf war es ihm einzig darum gegangen, Sheyra zu retten.
    Jetzt hatte er fast eine komplette Familie ausgelöscht. Eine Blutlinie, die er einst als Freunde zu schätzen gewusst hatte.
    Es waren mitunter diese Gedanken, die ihn über jeden Besuch froh werden ließen. Der Krieger war überglücklich, als er erfuhr, dass Koris die tödliche Verletzung überlebt hatte. Zwar bereitete ihr das Laufen noch arge Probleme und ihr linker Arm war schwach und lahm, doch hatte sie es mit Tarwulfs Unterstützung sogar zu einem Besuch geschafft.
    Dies war einer der Momente, in denen Frost zumindest kurzzeitig bedauerte, Lorkar nicht getötet zu haben, als er die Chance gehabt hatte.
    Einen Großteil seiner Zeit verbrachte der Waffenmeister in seinem Studierzimmer. Die Bücher lockten ihn mit dem Versprechen nach Wissen, dem eigentlichen Grund für seine innere Unruhe.
    "Es ist noch nicht vorbei", hatte Lorkar gesagt und Frosts Gefühl gab ihm jederzeit Recht. Ihr Kampf war noch nicht vorbei. Vermutlich würde er niemals enden, bevor einer von ihnen sterbend am Boden lag.
    Was ihn derzeit jedoch weitaus mehr beschäftigte als Lorkar selbst, war Norujas Ankündigung, er sei zu spät gekommen. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem mysteriösen Symbol im Innenhof des alten Wachturms um eine Runenbild, das die Beschwörung von Dämonen aus einer anderen Sphäre ermöglichen sollte. Frost hatte nicht die leiseste Ahnung, um was es sich dabei genau gehandelt haben mochte, doch allein der Aufwand ließ vermuten, dass er auf eine nähere Bekanntschaft gut und gerne verzichten konnte.
    Stundenlang verschwand Frost hinter einer Mauer aus allen Büchern, die auch nur ansatzweise etwas mit Dämonologie zu tun hatten und die er zudem auch noch auf dem Schreibtisch unterbringen konnte. Er kämpfte sich durch Urwälder aus Buchstaben und Seiten bis seine Augen rot und die Lider schwer wurden, schaufelte so viel Wissen in sich hinein, dass ihm von der Realität neben den Lettern auf dem Pergament schwindlig wurde.
    Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem er sich in seinen Sessel zurücksinken ließ, die Ellenbogen auf die Lehnen stützte und seufzend die Augen schloss. Um seinen Geist führten metaphysische Studien über die Hemisphäre der Geister, der Hierarchie der Erzdämonen sowie der Unterschiede zwischen Daimonoiden und Spektralwesen einen wilden Reigen auf. Doch völlig gleich, wieviel Wissen er in seinen Kopf hineinprügelte, das Gefühl, endlich gefunden zu haben, wonach er suchte, wollte sich nicht einstellen.
    In Gedanken kehrte er noch einmal in die Nacht zurück, in der er Lorkar mit blankem Stahl gegenübergestanden hatte. Sein ziellos über das Schreibtischchaos wandernder Blick blieb auf einem länglichen, silbrig glänzenden Gegenstand haften. Gedankenverloren griff er nach ihm und drehte ihn langsam zwischen den Fingern. Es war der Dolch, den Shorun aus seiner Brust gerissen und in den Hof geschleudert hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte ihm diese dünne, schlanke Klinge das Leben gerettet. Niemand hatte gesehen, wer den Dolch geschleudert hatte, doch hätte der Unbekannte keinen günstigeren Zeitpunkt wählen können. Eine Sekunde später wäre Frost wohl durch den Angriff des Geistes zerschmettert worden.
    Doch auch wenn er den Messerwerfer nicht gesehen hatte, so kannte Frost den Dolch. Das Heft hatte die Form einer zarten Lilie. Er war sich sicher, dass dies die Waffe war, die Win’Dar kurz zuvor einem der Söldner zwischen die Rippen gerammt hatte.
    Von dem jungen Wanderer mit den unergründlichen Augen fehlte seit dem Duell mit Lorkar jegliche Spur. Karaph hatte erzählt, dass Win’Dar kurz nach Frosts Aufbruch mit den Worten, er hätte etwas wichtiges zu erledigen, verschwunden war. Wenn es wirklich Win’Dar war, der den Dolch geworfen hatte, warum hatte er dann auf Shorun und nicht auf Lorkar gezielt? War es nicht Lorkars magisches Amulett gewesen, nach dem er sich gesehnt hatte?
    Nach wie vor standen auf Frosts Liste mehr Fragen als Antworten. Letzten Endes hatte Frost das Gefühl, wieder ganz am Anfang zu stehen. Er war nicht naiv genug um ernsthaft zu glauben, dass Lorkar seine Rachegelüste aufgeben würde. Frost kannte Lorkar lange genug, um zu wissen, dass er sich wahrscheinlich abgesichert hatte. Mit ziemlicher Sicherheit hatte sich Frost allein dadurch einen Widerhaken ins Bein geschlagen, indem er überhaupt zum Turm gekommen war. Nicht nur in dieser Hinsicht waren sie stets gleich gewesen...
    Was würde passieren, wenn sie sich eines Tages erneut gegenüberstanden? Erneut musste Frost an die Vision denken, die Sheyra durch die Flammenschneide gesehen hatte. Obwohl er unter dem Turm Lorkar entgegengetreten war, hatte er überlebt. Hatte sich die Vision als falsch erwiesen? Oder hatte sie lediglich einen möglichen Ausgang des Kampfes gezeigt? Frost vermutete, dass die Klinge nur Dinge zeigen konnte, mit denen sie selbst in Verbindung stand. Wenn dem so war, dann hatte er vielleicht durch seinen Entschluss, den Eisbrecher der Flammenschneide vorzuziehen, sein Schicksal im letzten Moment doch noch abgewendet.
    Er hatte noch eine Theorie, jedoch war diese um einiges beunruhigender. Denn die Vision konnte sich genauso gut auf die Zukunft beziehen. Vielleicht sollte er Sheyra bei Gelegenheit nach Genauerem befragen...
    Die Tür öffnete sich leise klickend, ohne dass Frost den Blick von der schillernden Schneide des Dolches nahm.
    "Hast du immer noch keine Ruhe gefunden?"
    Frost zuckte zusammen und blickte wie ein kleines Kind, das beim Naschen erwischt wurde, zuerst auf den Dolch in seiner Hand, dann zu Esthera. Letztendlich zuckte er die Schultern und legte die Waffe zurück auf den Tisch.
    "Du weißt, was mich bedrückt, nicht wahr?", stellte er als Gegenfrage.
    Esthera schob seinen Arm beiseite und setzte sich auf die Lehne des Sessels.
    "Das Ritual beim alten Turm." Ihre Stimme verriet, dass sie ein derartiges Gespräch bereits vorausgeahnt hatte.
    Frost nickte.
    "Warum meinte die Paktiererin, wir wären zu spät? Ich dachte, du hättest die Beschwörung unterbrochen?"
    Seine Frau griff nach einem der Bücher auf dem Schreibtisch, schlug die Seite mit dem Stoffeinmerker auf, überflog ein paar Zeilen und legte es behutsam wieder auf seinen Platz.
    "Ich habe lediglich verhindert, dass sich die Kreaturen gleich nach der Beschwörung manifestieren konnten. Jedoch konnte ich die Beschwörung selbst nicht aufhalten. Die Mondträne, die wir beobachtet haben, war lediglich die Nabelschnur in unsere Welt. Durch ihre Vernichtung nahm ich den Dämonen die Möglichkeit, an einem bestimmten Punkt zu erscheinen."
    Nicht zum ersten Mal wunderte sich Frost, woher Esthera eigentlich all ihr Wissen nahm. Und nicht zum ersten Mal beschloss er, dass es vielleicht auch besser war, nicht alles zu wissen.
    "Soll das heißen, dass die Dämonen trotzdem bereits in dieser Welt sind?"
    "Ich weiß es nicht. Noruja benutzte das Ritual, um durch den angestauten Hass eine Brücke zwischen den Sphären zu errichten. Sowohl du wie auch Lorkar habt genügend Verzweiflung und Schmerz freigesetzt, um die Brücke zumindest kurzzeitig aufrecht zu erhalten."
    Der Waffenmeister fasste Estheras Hand und stand auf, damit er ihr besser ins Gesicht sehen konnte. Obwohl seine Wunde fast verheilt war, rang sie mit schmerzhaften Nadelstichen um seine Aufmerksamkeit.
    "Was sind das für Dämonen?" Die Unruhe in ihm brach erneut durch. Er hatte gewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte, würde er diesen bitter bereuen.
    "Es sind fünf, so weit bin ich mir sicher." Esthera erhob sich ebenfalls, löste sich von Frost und trat an das Fenster. Die Nachmittagssonne malte vier von einem Kreuz voneinander getrennte Lichtquadrate auf den Holzboden, als sie den Vorhang zur Seite zog.
    "Es sind Jäger und sie wurden herbeigerufen, um diejenigen zu töten, die gezeichnet wurden."
    Frost schloss die Augen. Eigentlich hatte Esthera schon genug gesagt. Dennoch hatte er Angst, die nächste Frage auszusprechen.
    "Ist Sheyra ebenfalls gezeichnet?"
    Esthera blickte aus dem Fenster. Ihre Augen glänzten feucht im goldenen Sonnenlicht.
    "Wir sind es alle."
    Einen lautlosen Fluch ausstoßend, ballte Frost die Hand zur Faust.
    "Was können wir gegen sie tun?", fragte er leise.
    "Nichts." Das Fensterkreuz warf einen dunklen Schatten über Estheras Augen, als sie den Kopf zur Seite drehte. "Die Kreaturen wurden früher Feron’Gal, die Gestaltlosen, genannt. Ihre Form verändert sich, sobald sie die Sphäre ihrer Existenz wechseln. Der Pakt zwingt sie, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie werden kommen und versuchen, uns zu vernichten. Wenn wir Glück haben, hat sich durch die Zerstreuung jeder von ihnen an einem komplett anderen Ort manifestiert. Das würde uns immerhin etwas Zeit verschaffen."
    Sie blickte erneut aus dem Fenster. Als sie weitersprach, wusste Frost, dass sie weinte.
    "Frost... ich selbst kann ihre Sinne täuschen, damit sie mich nicht finden. Bloß..."
    Frost war lautlos hinter sie getreten und umarmte sie.
    "Sheyra und ich sind ihnen ausgeliefert", führte er ihren Satz zuende.
    Anstatt zu antworten, schmiegte Esthera ihren Kopf an Frosts Schulter.
    "Es tut mir leid", flüsterte sie.
    Frost lächelte sanft, fing eine Träne mit dem Zeigefinger auf und ließ ihn langsam Estheras Wange hinaufgleiten, um die Spur zu trocknen.
    "Ich sollte mich entschuldigen. Immerhin war ich es, der sich von seinem Zorn mitreißen ließ. Wenn es nicht anders geht, müssen wir uns wohl unserem Schicksal stellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen Dämon töte. Doch vielleicht finden wir ja doch noch einen Weg. Ich werde Elistin beauftragen, sich in den Archiven der Stadt umzusehen."
    "Ja", erwiderte Esthera, doch klang sie wenig zuversichtlich, "Vielleicht gibt es eine Lösung..."
    Frost zog sie näher an sich heran und küsste sacht ihren Hals.
    "Egal was kommt, wir werden es überstehen. Selbst die Götter werden uns nicht mehr voneinander trennen können. Ich werde immer bei dir bleiben."
    Plötzlich polterten Schritte auf dem Gang, dann wurde die Tür schwungvoll aufgerissen.
    "Elistin, wir haben gerade eben -"
    "Sheyra ist verschwunden!", platzte der Magier keuchend heraus.
    "Verschwunden?" Frost löste sich von seiner Frau und trat auf Elistin zu. "Wo soll sie denn hin sein?"
    Er hatte mit Sheyra seit dem Kampf mit Lorkar nicht mehr gesprochen. Er wollte ihr Zeit geben, um über den Tod Terjans verarbeiten zu können. Sein Verhältnis zu Sheyra war nach wie vor nicht das Beste. Zudem wusste er nicht, wie er nach einem so schweren Verlust auf sie zugehen sollte. Vielleicht hatte er auch einfach Angst, sie könnte ihm die Schuld an Terjans Tod geben.
    Das Recht dazu hatte sie wohl...
    "Ich weiß es nicht", antwortete Elistin noch immer schwer atmend. "Ihre Rüstung und Waffe fehlen, ebenso ihre Reiseausrüstung!"
    "Sheyra", murmelte Frost und spürte, wie ihm auf einmal unangenehm heiß wurde.
    "Esthera, in ihrem Zimmer lag ein Brief für dich. Ich fürchte, das heißt nichts gutes..."
    Elistin schluckte schwer, bevor Esthera den Brief aus seiner Hand nahm und öffnete. Es waren nur wenige Zeilen und dennoch saugten sie an Frosts Kraft wie ein ganzer Teich voller Blutegel.
    Liebe Mutter, schrieb sie, Es tut mir leid, doch ich konnte es dir nicht früher sagen. Wenn Vater davon erfahren hätte, hätte er mich vermutlich in meinem Zimmer eingesperrt. Ich bin aufgebrochen, um Lorkar nach Khorinis zu folgen. Bitte frag nicht nach meinen Gründen oder versuche mich davon abzuhalten - ein Schiff wartet bereits auf mich und verlässt noch heute Mittag den Hafen. Ich weiß, dass ich nicht mehr die nötige Kraft für meinen Entschluss haben werde, wenn ich weiterschreibe, darum fasse ich mich kurz. Pass auf dich auf. Hoffentlich wirst wenigstens du glücklich. In Liebe, Sheyra.
    Als Frost zuende gelesen hatte, traf sein Blick auf Estheras. Doch im Gegensatz zu ihr konnte er nicht mehr weinen. Und abermals verfluchte er das Schicksal für seine Grausamkeit.

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