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Das Land Gorthar #7
"Wo ist der Wurm?", rief Mondträne über das Dröhnen der Luftruder hinweg.
Von Stille war nicht mehr zu sprechen. Wenn das Rattern, Heulen und Ächzen nicht zu hören war, dann nur, weil es von einem Donnerschlag übertönt wurde.
"Er ist in die Wolken abgetaucht!", rief einer der Männer am Fenster.
"Da!", rief ein anderer, "Der Schwanz!"
"Wo ist der Kopf?", hakte Mondträne nach, "Ich muss wissen, wo der Kopf ist!"
Dabei wusste sie selbst nicht, ob dieses Wissen viel ändern konnte. Wie täuscht man eine Kreatur ohne zu wissen, wie sie sich orientiert? Der Wurm hatte sie bereits einmal verfehlt, aber das konnte ebenso Glück gewesen sein.
Ihre Magie war nutzlos. Genauso nutzlos wie all die Waffen an Bord. Doch das würde sie niemals offen zugeben.
"Albrecht!", rief sie über die Schulter, "Wir müssen sinken. Es ist unsere einzige Chance."
"Sinken?", kreischte Albrecht, "Durch die Wolken? Mitten in den Sturm?! Was, wenn wir einen Berg, oder gar dieses Ding rammen?! Das Schiff--"
"Hier oben sind wir ihm ausgeliefert", unterbrach Mondträne. "Wir müssen es versuchen. Vielleicht irritiert ihn der Sturm genauso wie uns."
Sie glaubte selbst nicht daran. Der Wurm bewegte sich durch die Wolken wie ein Delphin durchs Wasser.
"Nun gut", seufzte Albrecht, "Ich gebe das Zeichen."
"Ich seh ihn!", kam es vom Fenster, "Mondträne, da unten bewegt sich et--"
Es blieb nicht allein bei der Bewegung. Und es traf die Nadeija mit voller Wucht.
"Wieviele von den Biestern sind denn da noch?", rief Wilhalm, "Mir gehen die Bolzen aus!"
Wie durch die Worte beschworen, näherte sich ein ganzer Schwarm der tödlichen Würmer vom Achterdeck. Einer stürzte sich übermütig auf Narya und bezahlte seinen Eifer mit dem Kopf, als ihre Klinge zielsicher zwischen die Panzersegmente fuhr.
"Kalt . . .", murmelte die verletzte Bogenschützin, ". . . so kalt . . ."
"Nicht bewegen", sagte Ma'ong.
Geschickt zupfte das Männlein die blutdurchtränkte Kleidung zur Seite und fuhr sich durch den spitzen Bart. Die Stacheln hatten kreisrunde Löcher in Unterleib und Brust hinterlassen, in denen Blut blubberte wie Magma in einem Vulkankrater. Ma'ong wusste, dass er hier nichts mehr tun konnte. Rund um ihn summte und knallte die Luft, während Narya, Frost und Sheyra die Angreifer zurückzuhalten versuchten.
"Was ist mit der Glocke?", rief Sheyra.
Frost blickte auf. Da war tatsächlich ein Glöcklein, das auf sich aufmerksam zu machen versuchte.
"Alle rein!", rief Wilhalm, seine Armbrust nachladend, "Das ist das Zeichen, dass wir sinken!"
"Sinken?", wunderte sich Sheyra.
"Wir verlieren an Höhe. Hier draußen wird's zu gefährlich!"
"Halt das gut fest", sagte Ma'ong und drückte der Diebin einen kleinen, runden Gegenstand in die Hand. Die Frau nickte schwach. "Gut festhalten. Gleich wird dir warm", sagte Ma'ong, als er die lange Lunte entzündete, die von der Kugel herabhing.
Wilhalm war fast an der Tür und hob seine Armbrust für einen letzten Schuss, als sich einer der Würmer über die Reling des Achterdecks schlängelte und von oben zuschnappte. Die Zangen bohrten sich tief in seinen Oberarm. Er ließ die Armbrust fallen, taumelte gegen die Tür und zückte einen Dolch, als Naryas Schwert den Wurmschwanz abhackte. Mit einem zornigen Summen zuckte der Wurm zur Seite, wobei sein Hinterleib dunkles Sekret verspritzte. Wilhalm sackte stöhnend an der Tür zusammen. Sheyra zog ihn an der unverletzten Schulter hoch.
"Mein Arm", murmelte Wilhalm, "Nicht berühren . . . nicht berühren . . ."
"Ich berühr ihn nicht", sagte Sheyra, ihn nach innen zur Treppe ziehend.
"Du musst ihn loslassen", klagte Wilhalm, "Es tut so weh . . . so weh . . ."
"Ich berühr deinen Arm nicht!"
Sie ließ Wilhalm an der Wand zu Boden gleiten und realisierte erst jetzt die Unmengen an Blut.
"Niemand den Arm berühren", stöhnte Wilhalm das Gesicht kreidebleich, und mit der Hand den Stummel umfassend, den der Wurm von seinem rechten Arm übriggelassen hatte.
"Alle drin?", fragte Frost, als Letzter bei der Tür.
"Was ist mir ihr?!", rief Sheyra, auf die Bogenschützin deutend, die unweit der Tür in einer Blutlache lag und einen kugelrunden Gegenstand in den Händen hielt. Das Summen des Schwarms draußen wurde lauter und es zeichneten sich mehrere Schatten ab, die auf die Diebin zuhielten.
Ma'ong schüttelte den Kopf. Frost zog die Tür zu und klemmte dabei einen aus dem Nichts kommenden Wurmkopf ein. Narya machte ihn mit der Spitze ihres Schwertes vertraut und nach einem gezielten Tritt fielen Tür und Riegel zu.
"Weg von der Tür", warnte Ma'ong.
Keine Sekunde später war der dumpfe Knall einer Explosion zu hören und etwas schlug mit gewaltiger Kraft von außen gegen die Tür. Das Holz erbebte, die Scharniere verbogen sich und die gesamte Tür wölbte sich wie von einer Riesenfaust getroffen nach innen. Obwohl seine Ohren erneut klingelten, hörte Frost draußen das Aufschlagen mehrerer Körper auf den Planken.
In diesem Moment passierte es.
Zuerst war es nur eine unwesentliche Veränderung. Vielleicht eine besonders heftige Böe, die die Wolken unter der Nadeija streifte. Kleine Wirbel bildeten sich in der Oberfläche der düsteren Sturmwolken. Für einen Moment war ein großer Schatten, dann einer der fadenartigen Auswüche zu sehen, über den Blitze sprangen.
Bis auf den Donner geschah es völlig lautlos.
Die Wolkendecke zerriss wie ein dünnes Laken, als ein Schauer länglicher Schemen hervorbrach. Wie Hagel schoss er von unten auf das Luftschiff zu. Als wären von einem Bienenschwarm lediglich die Stacheln übriggeblieben.
Während ein feuriger Pilz vom Schiffsdeck aufstieg und Dutzende verkohlte Wurmkörper in die Tiefe stürzten, trafen die ersten Stacheln den Schiffsrumpf. Einige trafen flach und prallten ab, wobei sie lediglich Schrammen im Holz hinterließen. Andere bohrten sich tief hinein. Doch einige schlugen mühelos durch den Rumpf und hinterließen Löcher dick wie Männerdaumen. In der Steuerkanzel brach einer der Dornen durch das Fenster, an dem einer der Diebe stand, traf den Mann unter dem Kinn und nagelte ihn mit dem Kopf unter die Decke. Von dem linken Segel des Schiffes blieb ein zerfleddertes Leichentuch zurück, als es von der sirrenden Wolke gestriffen wurde. Funken stoben von einem der Luftruder, als es mehrmals in dichter Folge getroffen wurde. Das metallene Blatt bog sich. Öliger Qualm stieg von der Kammer auf, in der das Ruder steckte. Dann explodierte etwas mit einem abrupten Knacken. Das Ruder wirbelte mit unvorstellbarer Wucht davon, striff den gewölbten Schiffsrumpf und hinterließ eine meterlange, tiefe Kerbe. Im oberen Teil des Schiffes, an der Treppe, die in die Tiefe führte, erstarrte Ma'ong mitten im Schritt. Zwischen seinen Füßen war ein Loch erschienen, auf dessen Ränder nun Blutstropfen fielen. Ohne einen einzigen Laut kippte das fast kugelrunde Männlein auf seinen kurzen Beinen nach vorne auf die Treppe und purzelte die Stufen hinunter.
In der Steuerkanzel herrschte Chaos. Eine Frau lag am Boden und umklammerte ihr Bein, in dessen Wade ein armlanger Stachel steckte. Andere Mitglieder der Diebesbande rührten sich gar nicht mehr. Kardâz gab sein Bestes, das Steuerrad ruhig zu halten. Seine ausladenden Schultern bebten vor Anstrengung. Albrecht stolperte orientierungslos durch die Zerstörung und stieß jedesmal einen spitzen Schrei aus, wenn er in eine neue Blutlache trat oder gegen einen weiteren Körper stieß.
Mondträne stand mit zitternden Knien inmitten des Chaos und sah ihren Traum zerbrechen. Jeder der Anwesenden schien gleichzeitig ihren Namen zu rufen, sie um Hilfe anzuflehen, sie anzuklagen. Das Schiff ächzte und stöhnte unter der Belastung, während es rasant an Höhe verlor und ihren Magen mit einem Gefühl von Schwerelosigkeit beglückte. Die Stimmen waren dumpf und kaum auseinanderzuhalten. Mondträne gab sich keine Mühe, sie zu verstehen. Sie hätte ohnehin niemandem helfen können.
Erst eine neue Explosion aus dem Heck des Schiffes ließ sie aus ihrer Ohnmacht erwachen.
"Albrecht!"
Ein blonder Struppelkopf kam in den Raum gestürzt. Seine rechte Gesichtshälfte war blutverschmiert und seine Kleidung teilweise angesengt. Heftig schnaufend tastete er nach dem Türrahmen, um sich abzustützen.
"Der Antrieb", keuchte er.
"Was ist damit?", fragte Albrecht mit vor Panik schriller Stimme. "Wurde er getroffen?!"
"Glatt durch", erwiderte der Mann, "Der Oszillator."
Sämtliche Farbe war aus Albrechts Gesicht gewichen. Selbst seine Lippen hatten einen leichten Blaustich.
"Der Oszillator? Das kann nicht sein! Ich habe ihn selbst noch einmal überprüft!"
"Der Kolben hat Caleb zerdrückt, als der Kessel explodierte. Da ist nichts mehr zu machen."
"Das kann nicht sein", murmelte Albrecht, die Stimme noch schriller, "Ihr lasst euch doch alle von Olgar Flöhe ins Ohr setzen! Der Oszillator funktioniert fehlerfrei, ihr werdet schon sehen!"
Bevor ihn jemand zurückhalten konnte, stürmte Albrecht zur Treppe. Eine Windböe traf die Nadeija, als sie sich den Sturmwolken näherte. Kardâz stöhnte vor Schmerzen.
"Ich kann sie nicht halten! Sie zieht nach rechts!"
"Lass los!", rief Mondträne über den Sturmwind hinweg, der durch die zerborstenen Fenster schlug und lose Blätter von den Tischen fegte. "Und ihr holt mir Albrecht zurück! Ohne ihn sind wir verloren!"
Niemand kam dazu, dem Befehl zu folgen. Als Kardâz das Steuer losließ, ging ein Ruck durch das Schiff. Die verbleibenden Luftruder heulten auf, als die Nadeija in die Wolken stürzte und eine Spur aus dichtem, schwarzen Qualm hinter sich herzog. Das Schiff begann sich zu drehen, zuerst gegen den Uhrzeigersinn, dann auf einmal mit ihm. Mondträne fühlte hilflos, wie sie den Boden unter den Füßen verlor und davongerissen wurde. Eine riesige Hand bekam sie zu fassen und im nächsten Moment wurde sie gemeinsam mit Kardâz gegen die Wand geschleudert. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Eine unsichtbare Macht drückte sie fest an die Wand.
Hinter den Fensterscheiben rotierte die Welt. Graue Sturmwolken kreisten um das Schiff. Regen schlug in Wellen fast waagrecht in die Kanzel, wenn sich das Schiff in den Wind drehte. Dann war da ein unendlich großer, gewundener Schatten direkt voraus, der sich gemächlich durch die von Blitzen flackernd erhellte Dunkelheit schob.
"Götter", hörte sie eine Stimme nahe an ihrem Ohr.
"Wir werden an ihm zerschellen!", schrie einer der Männer.
"Kardâz! Tu etwas!", rief Mondträne.
Doch Kardâz kam gegen die unsichtbare Gewalt ebensowenig an wie die anderen. Er fühlte sich fest gegen die Wand gedrückt, spürte den Wind an seinem Gesicht zerren und glaubte, sogar langsam an der Wand nach oben zu rutschen.
Draußen, hinter dem wild pendelnden Körper des Diebes, der noch immer an der Decke hing, schlängelte sich der Wurm durch den Sturm. Er war so nah, dass die Panzerplatten den gesamten Sichtbereich ausfüllten. Die Beulen auf seinem Körper waren groß wie Häuser. Eine platzte auf und schleuderte einen weiteren Schauer spitzer Dornen in Richtung des Schiffes. Doch verfehlten sie das wild taumelnde Schiff komplett.
Das Surren der dutzende von Metern langen Libellenflügel war überall. Es war in den Ohren, im Holz, sogar in der Luft. Alles vibrierte im Takt der schillernden Flügel. Der Wurmkörper war so nah, dass man nur die Hand aus dem Fenster hätte strecken brauchen, um ihn zu berühren. Mondträne wusste, dass das Schiff an dem Panzer zerplatzen würde wie ein Regentropfen.
Dennoch zerschellte die Nadeija nicht.
Der gekrümmte Panzer rauschte an dem Schiff vorbei wie eine Steilklippe. Plötzlich waren unter dem Schiff wieder Wolken und das Surren der Flügel schien bereits in die Ferne zu rücken.
Dann streifte einer der Faden den Schiffsrumpf. Obwohl sie aus der Distanz filigran und zerbrechlich wirkten, kam die Berührung dem Auflaufen auf einem Riff gleich. Der rechte Flügel der Nadeija flog davon, zwei der Luftruder wurden zermalmt und irgendetwas an der Flanke des Schiffes explodierte mit einem nüchternen "Flopp".
Immerhin verlor die Rotation des Schiffes an Kraft. Anstatt weiterhin wie ein wild wirbelnder Stein in die Tiefe zu stürzen, zog das Schiff weiter werdende Kreise, verlor aber weiterhin unkontrolliert an Höhe. Plötzlich rissen die Wolken auf. Anstatt dumpfen Graus waren da die dunklen Umrisse von Land in der Abendsonne. Da waren die Baumwipfel von Wäldern in unendlich weiter Ferne. Gebirgsketten, die sich wie die Ränder einer Abflussrinne über das Land zogen.
Und die Nadeija stürzte wie ein verloren geglaubtes Glühwürmchen Richtung Erde.
Geändert von Superluemmel (03.04.2008 um 17:40 Uhr)
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Als Frost das Blut aus seinem Auge blinzelte, hing er kopfüber am Treppenabsatz in der Luft. Ma'ong ging es am anderen Ende der Treppe genauso. Wie ein unförmiger Luftballon schwebte er unter der Decke. Die im Vergleich zu seinem Körperumfang viel zu kurzen Ärmchen pendelten lose.
"Was ist das?", hörte Frost eine vertraute Stimme.
Ein Stück neben ihm hingen Sheyra und Wilhalm in der Luft. Letzterer hatte die Augen geschlossen und jegliche Farbe verloren. Frost machte den Blutverlust verantwortlich. Der Wurm hatte den Arm nahe an der Schulter abgerissen. Wilhalms Überlebenschance ging unter den derzeitigen Umständen gen Null. Wahrscheinlich war er bewusstlos besser dran als der Rest der Mannschaft. Frost hatte keine Ahnung, wie sich der Aufprall nach einem Sturz über tausende von Metern anfühlte, aber er ging von keiner wünschenswerten Erfahrung aus.
"Hexerei", presste Frost mühsam hervor.
Sein Kopf schmerzte. Da war ein seltsamer Druck auf seine Schläfen und in seinen Ohren rauschte es. Trotz des Adrenalins fühlte er alle paar Sekunden den Drang zu gähnen.
"Von wem?"
Sheyras Frage glänzte durch simple Pragmatik.
Die Frage, was zum Henker eigentlich vor sich ging, stellte man sich ebenso in der Steuerkanzel.
"Was ist da los?!", fragte sich auch Albrecht, während er sich mit nie gekannter Kraft an einem Eisenring festhielt und mit der freien Hand und einer schweren Zange an einem widerspenstigen Ventil herumzerrte.
"Warum funktionierst du nicht?!", kreischte er in das Schnauben und Husten der überlebenden Maschinen.
"Olgar! Du verfluchter Bastard! Brudermörder! Ich verfluche dich, Verräter an der Wissenschaft!"
Diesmal rutschte Albrechts Brille nach oben, bis sie sich schließlich ganz löste und zur Decke emporschwebte. Verdammtes Ventil. Ebenso wütend wie erfolglos rüttelte Albrecht an der Zange. Er wusste, dass der Schaden am Antrieb irreparabel war. Feuerschein drang durch die Löcher, die von den Stacheln in die robuste Außenwand gestanzt worden waren. Der Kessel hatte sich in einen schwarzen Fleck und die umstehenden Maschinen in halb geschmolzene Klumpen verwandelt. Aus geplatzten Rohren strömte heißer Dampf, der Albrechts Unterarm verbrannte und die Haut Blasen werfen ließ. Die Maschinen lagen in den letzten Atemzügen.
"Es war nicht der Oszillator", sagte jemand neben ihm.
Olgar lehnte an der Wand und verfolgte unbekümmert die Bemühungen seines Bruders.
"Ich weiß, dass er funktioniert!", schrie Albrecht.
"Er funktionierte -- in seinen Grenzen."
"Was weißt du schon", sagte Albrecht und versuchte, seinen Unterarm als Hebel zu nutzen. "Du bist tot."
"Ein Zustand, den du in wenigen Minuten teilen wirst", meinte Olgar gleichgültig.
"Ich werde nicht sterben. Die Nadeija wird fliegen. Fliegen! Du wirst schon sehen. Du wirst schon sehen . . ."
"Der Fehler lag nicht beim Schiff", sagte Olgar bedächtig.
"Sie wird fliegen", beharrte Albrecht, die Stimme heiser.
Niemand antwortete. Nicht, bis das Ventil resigniert zischend nachgab. Das Schiff schien aufzuatmen und entließ die Todesangst in einem Seufzer, der in Form einer gewaltigen Flamme aus der Metallorgel am Heck des Schiffes brach und den spiralförmigen Sturz der Nadeija abrupt auffing.
Eben hing er noch schwerelos in der Luft, dann sprangen die Treppenstufen wie ein Raubtier auf ihn zu. Irgendwie schaffte Frost, seinen Kopf zu schützen, als er plötzlich zu Boden donnerte und haltlos die Treppe hinunterpurzelte. Da war Blut in seinem Auge, und ein nicht enden wollendes Pochen hinter seiner Stirn.
"Vater?"
Jemand rüttelte an seiner Schulter. Frost versuchte sich aufzurichten und war froh, dass ihm derselbe Jemand unter die Schulter griff.
"Ich lebe noch . . ."
An Sheyras Stirn schickte sich eine frische Beule an, den kommenden Morgen zu begrüßen. Kleidung und Rüstung sahen aus, als hätte sie in Wilhalm gebadet. Dennoch schien sie selbst weitgehend unverletzt.
"Was ist mit Wilhalm?", erkundigte sich Frost.
Narya, die am oberen Ende der Treppe stand, schüttelte den Kopf. Frost unterdrückte einen Fluch.
"Albrecht. Wir müssen ihn finden. Er ist der Einzige, der weiß, wie man dieses Ding steuert oder zurück auf den Boden bekommt."
Bereits nach wenigen Schritten fand sich Frost zitternd an der Wand lehnend wieder. Sein Magen drehte fröhlich Kreise, als ob er den unstabilisierten Flug der Nadeija nachahmen wollte.
"Alles in Ordnung?", fragte Sheyra besorgt.
"Geht schon", erwiderte Frost, "Etwas Schwindel, mehr nicht."
Huiiii!, rief der kleine, wirbelnde Knoten, der einmal sein Magen gewesen war.
"Du siehst nicht gut aus", stellte Sheyra scharfsinnig fest.
"Mir ist übel", gestand Frost. "Kann's kaum erwarten, wieder auf den Boden zu kommen."
"Hoffentlich nicht zu schnell", murmelte Sheyra. "Komm, ich helf dir."
Der Weg nach unten glich einem Gang durch ein Schlachthaus. Verwundete kauerten verkrümmt am Boden und wimmerten leise oder flehten zu den Göttern. Viele der Männer und Frauen lagen verdreht wie abgelegte Marionetten da. Blut tropfte von den Wänden oder lief durch daumengroße Löcher ab. Die Wurmstacheln hatten Löcher in die Kupferadern des Schiffes gestoßen, aus denen zischend heißes Dampf entwich. Stellenweise steckten sie noch tief im Holz, in Leitungen oder Menschen.
Von außen sah es aus, als wäre dem Schiff über Nacht ein stoppeliger Bart gewachsen.
"Ich habe dir gesagt, dass sie fliegen wird", kicherte Albrecht, als sie seine zusammengesunkene Gestalt vor den hustenden Maschinen fanden.
"Du hast was?", fragte Sheyra, die vor ihm auf die Knie gesunken war.
"Sie fliegt!"
Albrecht lachte, wobei das Lachen schnell heiser und zu einem kraftlosen Keuchen schrumpfte.
"Sie fliegt! Ich habe es dir gesagt, immer wieder . . ."
Frost zupfte an ihrem Ellenbogen. Er deutete auf Albrechts Unterarm. Die Haut war dunkelrot, schon fast braun und das Fleisch war vom Knochen zurückgewichen und schälte sich wie ein morscher Ast. Sheyra wich zurück.
"Lass ihn. Er halluziniert."
"Er funkioniert!", lachte Albrecht. "Ich habe es gesagt. Er funktioniert und sie fliegt . . . immer weiter . . . weiter . . . sie fliegt . . ."
Mit sinkendem Mut zog Frost seine Tochter auf die Treppe zu, vorbei an einem großen Kolben, unter dem ein zertrümmerter Arm hervorragte.
"Kardâz!", bemühte sich Mondträne gegen den Wind anzukommen. Dessen unsichtbare Finger wirbelten alles durcheinander, was nicht niet- und nagelfest war.
"Kannst du das Schiff steuern?"
Kardâz stemmte sich gegen das Steuerrad, woraufhin die Nadeija sich heftig auf die Seite legte und ein schrilles Sirren von Backbord kam.
"Nicht mehr als 'nen Karren, der von tollwütigen Ochsen gezogen wird", knurrte er. "Das Scheißding ist überempfindlich. Können von Glück reden, dass wir uns nicht mehr auf der Stelle drehen."
"Was ist mit Albrecht?", fragte Mondträne, sich an die wenigen Überlebenden richtend, "Ich brauche ihn hier!"
"Der ist keine große Hilfe mehr", antwortete Frost, unter der Tür hindurchtretend. "Dieser Verrückte hat sich den halben Arm weggebrannt und redet wirr."
Einer der verletzten Diebe wimmerte kläglich.
"War ja klar, dass dieser Spargel als Erster am Rad dreht", brummte Kardâz düster.
"Kardâz!", fuhr Mondträne ihn an.
Die Stimmung war ohnehin schon auf dem Tiefpunkt. Kein Wunder, dass einer nach dem anderen durchdrehte.
"Können wir nirgends landen?", fragte Sheyra.
"Ich wüsst nicht, wie. Kann bestenfalls etwas gegensteuern. Das Mädl bockt wie ne Furie. Ein kleiner Schubs und wir rauschen geradewegs in den nächsten Berg."
"Wenn wir weiterhin so schnell an Höhe verlieren und nicht irgendwie langsamer werden, macht es keinen Unterschied, wo wir aufkommen", beobachtete Frost.
"Was ist mit dem Meer?"
Sheyra deutete auf den glitzernden Riss, der Myrtana von Varant trennte. Die Bergmassive zu den Flanken waren erheblich gewachsen. Irgendwo in weiter Ferne glaubte sie Giebel von Häusern in der Sonne blitzen zu sehen.
"Sieht einladend aus, aber bei unserer Geschwindigkeit könnte das verdammt eng werden", erwiderte Kardâz.
"Warum? Da ist doch mehr als genug Platz!"
"Deshalb", sagte Kardâz und ließ das Steuer los.
Geschlagene zwölf Sekunden passierte gar nichts. Dann zuckte das Schiff so abrupt nach steuerbord, dass bis auf Kardâz alle Anwesenden unsanft zu Boden gingen.
"Was zum--!?"
"Glaub nicht, dass wir mehr als einen Versuch haben", sagte Kardâz völlig nüchtern. "Das Ding fliegt, wohin es will. Kann bestenfalls versuchen, den Kurs auszugleichen."
Frost biss die Zähne zusammen. Die Sicht aus dem Fenster hatte sich dramatisch geändert. Anstatt dem Meer waren in der Ferne nun schneebedeckte Berggipfel auszumachen, über denen dunkle Wolken Rudel bildeten.
"Was ist mit der Höhe?", gab Frost zu bedenken, "Selbst wenn wir das Wasser treffen, würden wir zerschellen. Wir sinken zu schnell."
"Woher willst du das wissen?", fragte Kardâz genervt, "Bist du schonmal mit so einem Ding ins Wasser gerauscht?"
"Warum springt ein Stein übers Wasser?", erwiderte Frost. "Weil er schnell genug ist und flach auftrifft. Bei einer derart großen Geschwindigkeit wie unserer ist das Wasser hart. Wenn wir langsam absinken, könnte uns das Wasser weit genug bremsen, doch wenn wir zu schnell fallen, werden wir einfach zerschellen."
"Find ich nich gut", murrte Kardâz.
"Als wir aus Gorthar geflohen sind, hat Albrecht diesen Hebel benutzt. Bin mir aber nicht sicher, wie er funktioniert."
Misstrauisch betrachtete Mondträne den Hebel an der Wand.
"Egal, versuchen wir's", sagte Sheyra und schob den Hebel ein Stück nach oben.
Die Luftruder heulten auf. Das Schiff begann zu zittern, als es sich mit den verbleibenden Rudern gegen den Sog der Schwerkraft stemmte. Gleichzeitig schwenkte es erneut herum und das Meer kam erneut in Sicht.
"Kardâz, jetzt!"
Der Krieger stemmte sich gegen das Steuerrad. Von der Flanke des Schiffes drang das Ächzen von Metall. Das Zittern wurde stärker. Dazu kam ein Quietschen, als würde jemand eine Katze verbiegen. Und sich dabei mächtig Zeit lassen.
Dennoch blieb die Nadeija auf Kurs. Langsam hob sich der Bug des Schiffes. Die Luftruder stöhnten unter der Belastung. Frost sah den spärlich bewaldeten Kamm des Gebirges unter ihnen vorbeirauschen und dann lag vor ihnen das Meer wie ein verheißungsvoll ausgebreiteter, dunkelblauer Teppich.
"Wir können es schaffen!"
"Innos steh uns bei . . ."
"Verdammte . . . Schei-ße", presste Kardâz hervor. An seinen Armen quollen die Muskeln wie Maulwurfkolonien hervor.
Nur noch wenige hundert Meter unter ihnen glitzerte das Wasser im Sonnenlicht wie ein Becken voller Diamanten. Von hier oben waren kaum Wellen zu erkennen. Einige Vögel zogen ihre Kreise über den Klippen.
Plötzlich gab es einen Knall und das Schiff kippte auf die Seite. Die Luftruder jaulten gequält. Mit einem Peitschenschlag knallte etwas gegen ein Seitenfenster und presste ein Spinnennetzmuster hinein. Das Glas knirschte leise, als die Nadeija von einer Windböe erfasst wurde.
"Keine . . . Chance", keuchte Kardâz, kurz bevor er das Ruder loslassen musste.
Die Nadeija taumelte. Der Bug stieg weiter an, als sich das Schiff frontal in den Wind legte, dann brach es zur Seite aus. Anstatt auf das offene Meer hinauszuschießen, jagte es in einer weiten Wende direkt auf das Landesinnere zu. Auf einmal waren die Bäume keine zerbrechlichen Hölzer in weiter Ferne mehr, sondern massiv wirkende Hindernisse, deren Wipfel keine zwei Schiffslängen unter ihnen in die Höhe ragten.
"Da vorne ist eine Stadt!", rief Sheyra.
"Der Fluss! Kardâz, steuerbord, hart steuerbord!"
Kardâz grunzte etwas und das Schiff bäumte sich auf, um kurz danach direkt auf einen Berghang zuzusteuern.
"Backbord, backbord! Zurück zum Fluss!"
"Ja, was denn jetzt?!"
Holz barst krachend auseinander, als die Nadeija über eine Hügelkuppe hinwegsauste.
"Wir haben etwas getroffen! Götter, wir sind aufgelaufen!"
"Wohin?! Scheiße, wo ist der verdammte Fluss hin?!"
"Ich seh ihn nicht, ich -- da! Steuerbord, vorsichtig . . ."
"Ach, leck mich doch", fluchte Kardâz und plötzlich trieben die Luftruder des Schiffes Seewasser in großen Wellen vor sich her und ließen weißen Schaum aufspritzen.
"Da vorne sind Häuser", sagte jemand.
Frost realisierte die Gefahr als Erster.
"Sheyra, wir müssen höher! Wir sind viel zu tief!"
Sheyra stieß den Hebel bis zum Anschlag nach oben.
Die Nadeija hatte den See zur Hälfte überquert, als die Luftruder ein lautes Knattern von sich gaben und versuchten, das Schiff erneut in die Höhe zu hieven. Die Rohre am Heck des Schiffes stotterten und husteten schwarzen Qualm. Ab und zu züngelten noch einzelne Flammen hervor, doch dem Schiff ging der Atem aus. Eine Metallverstrebung, die sich von dem verbleibenden Flügel gelöst hatte, hing an einem Tau herab und zog Wellen durch das Wasser.
Als die Nadeija nur noch einige hundert Schritt von dem Städtchen entfernt war, begann eines der verbleibenden Luftruder am Heck Funken zu speien. Qualm stieg auf, als sich das Ruder kurzzeitig schneller drehte und ein lautes Sirren von sich gab. Dann zerplatzte es in einer Feuerblume und glühende Metallstücke fielen zischend ins Wasser.
Der Bug der Nadeija stieg auf wie ein auftauchender Wal.
"Raus aus der Kanzel!", schrie Mondträne, nachdem sie sich mühsam aufgerappelt hatte. "Wir müssen weiter nach oben!"
Frost war überrascht, dass sie überhaupt noch lebten. Das Schiff war robuster als erwartet. Doch das würde nichts helfen. Obwohl das Schiff deutlich an Geschwindigkeit verloren hatte, gab es vor ihnen nichts weiter als leicht hügelige Felder. Und dahinter Wald. Unendlich viel Wald.
"Wurde auch Zeit", murmelte Kardâz.
Während die wenigen Überlebenden zur Treppe eilten, griff er nach seinem Schwert. Nachdenklich rieb er sich kostbare Sekunden lang das Kinn. Schließlich hob er die Schultern und rammte die massive Klinge zwischen die Speichen des Ruders. Das Holz knirschte unter der Belastung, doch das Schwert rührte sich keinen Millimeter.
Als Kardâz die Treppe erreichte und über die Schulter zurückblickte, hatte er gerade noch genug Zeit, um den Hügel zu erkennen.
Die Nadeija striff die Erde, verlor dabei Planken und verbogenes Metall und hinterließ eine tiefe Kerbe in der Hügelkuppe. Vollends aus der Bahn geworfen, legte sich das Schiff auf die Seite, stieg erneut ein Stück weit in die Luft und schlitterte, vom eigenen Schwung getragen, mit der lädierten Flanke voran in den Wald. Bäume knickten um wie dürre Sträucher. Eine knorrige Eiche riss den Adlerkopf vom Bug und eine Buche holte sich das, was von dem zweiten Flügel übriggeblieben war. Eine Felsformation schabte eine tiefe Narbe in den Rumpf und die letzten Luftruder wurden von den Stämmen zertrümmert oder verweigerten resigniert den Dienst.
Der Fokuskristall, dessen Magie das Schiff zum Leben erweckt hatte, entschied in diesem Moment, dass er genug durchgestanden hatte. Etwas wie ein leiser Seufzer lief durch das Schiff, folgte den Windungen der kupfernen Rohre bis in den hintersten Winkel. Die magische Entladung verbog und zerkochte die Leitungen, lies aus längst toten Astlöchern neue Sprösslinge treiben und an anderen Stellen das Holz vermodern.
Dann explodierte der Antrieb.
Völlig übersättigt von dem plötzlichen Zustrom magischer Energie, blähte sich die Konstruktion auf und schien einen Moment lang an Konsistenz zu verlieren, als ob ein Sog aus einer anderen Sphäre daran zerren würde. Dann zerplatzte sie wie eine Seifenblase.
Gerade eben hastete er noch mit Sheyra im Schlepptau die Treppe nach oben, als Frost Wind in den Haaren spürte. Um ihn herum zerstoben Bäume zu Sägemehl und Trümmer des sterbenden Schiffes regneten zu Boden.
Gerade eben hielt er noch Sheyras Hand fest in der eigenen. Dann ein Scheppern und als er sich umblickte, war sie fort. Starr vor Angst blickte er auf das klaffende Loch, wo sich eben noch die Schiffswand befunden hatte.
Fort. Einfach so.
Er wollte sich hinsetzen und auf das Ende warten, doch seine Füße trugen ihn weiter die Treppe nach oben. Tränen brannten in seinen Augen, als er geistesabwesend Ma'ong in eine Ecke wuchtete, sich unter seinem starren Blick zusammenkauerte und die Finger in den kugelrunden Bauch krallte.
Die Nadeija zuckte ein letztes Mal, als ihr Rumpf in einen besonders dicken Baum krachte. Der Bug neigte sich nach vorne, berührte den Boden, vergrub sich tief darin und brach seitlich auf. Die Narbe an der Flanke weitete sich zu einem Riss über die komplette Länge des Schiffes, die Steuerkanzel riss ab und der geköpfte Rest schob eine meterhohe Erdwelle vor sich her, bis er ebenfalls zum Stillstand kam.
Es sah aus, als hätten Titanen ein Schiff von den Wellen gepflückt, die Segel abgerissen und dann so lange damit Fußball gespielt, bis es irgendwann in den Wald getreten und vergessen worden war.
Geändert von Superluemmel (03.04.2008 um 18:02 Uhr)
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Als er zurückkam, war Kuratis weg. Auch die Kiste war weg und hinterließ bloß einen Abdruck im Boden, so dünn, dass er im Fackelschein kaum zu erkennen war. Ferox hatte den Punkt auch nur deshalb wieder gefunden, weil ihn eine markante Astformation in einem der nahen Bäume anhalten ließ, die ihm aus irgendeinem Grund in Erinnerung geblieben war. Das allein hätte man als ungeheures Glück bezeichnen können, brachte es den Streiter doch an seinen Ausgangspunkt zurück und damit zum einzigen Orientierungspunkt in diesem Wald. Ferox aber war dem nicht sehr zugeneigt. Sein einziger Gefährte hinfort, ohne ein Wort; um ihn herum nur Dunkelheit, in einem völlig unbekannten Gebiet. Hinzu kam, dass sich der Himmel langsam zu verziehen schien. Ein fahler Schleier verdichtete sich mit jedem weiteren Moment um den Mond, so dass er bald völlig verschwunden wäre und die Sterne blickten schon eine ganze Weile nicht mehr durch ihn hindurch. Wenn er Pech hatte - und das hatte er gewiss -, würde ein Regenschauer nicht lange auf sich warten lassen.
Seufzend senkte er den Blick zu Boden, um ein weiteres, verzweifeltes Mal die schwachen Fußabdrücke anzusehen, die vom ehemaligen Standpunkt der Kiste in den Wald führten. Nur gut, dass Stiefel sich erheblich tiefer in den Boden drückten, als nahezu federleichte magische Truhen.
Langsam schüttelte Ferox seinen Kopf mit verschlossenen Augen. Dieser Situation ist nichts Gutes abzugewinnen, sann er und sah mit traurigem Blick in den Wald hinein. Eigentlich war völlig klar, dass er den Entführern des Wassermagiers folgen musste. In diesem fremden Land konnte - wollte er nicht alleine sein. Zu zweit war man stärker als alleine und wenigstens bestand die Hoffnung, dass Kuratis noch lebte. Sonst wäre er wohl gleich an Ort und Stelle getötet worden, worauf - Innos sei Dank - keinerlei Blut Hinweise lieferte. Aber es ging nicht. Auch Paladine waren normale Menschen, die nicht nachts und völlig alleine, dazu mit einer fast heruntergebrannten Fackel und ohne Bewaffnung, in einem unbekannten Waldgebiet nach einer Handvoll Menschen fahnden konnten. Andere würden ihm, der er auch noch Anführer jener Streiter war, diese Eigenschaft vielleicht zusprechen, Ferox jedoch wusste weit besser, wie schlecht seine Chancen waren.
Und dennoch stand er einige Zeit hin und her gerissen auf dem Weg und fixierte mit starrem Blick die Finsternis, bis die ersten Regentropfen seine Kapitulation besiegelten. Es ging nicht anders. Nichts war da, ihn zu leiten, niemand hier, um ihm zu helfen. Er war völlig alleine, verlassen von allen. Nicht einmal seine Gedanken wollten ihm jemanden schicken. Erinnerungen an frühe Zeiten verblieben in den tiefen seines Geistes verborgen, der sich mit keinem Hinweis melden wollte. Innerlich so verstummt hatte sich Ferox noch nie erlebt. Irgendwie schien alles vor ihm davon zu fließen, wie die Farbe eines frisch gemalten Bildes, das unachtsam im Regen stehen gelassen wurde. Was würde… jemand anders jetzt tun? Jemand anders, ja. Ferox würde über sich selbst lachen, wenn er konnte. Doch nichts als ein müdes Lächeln, das sofort wieder verblasste, wollte sich auf seine Lippen stehlen. Ihm fiel nicht mal ein Name ein. Weder von seinen Freunden, noch einem seiner Meister oder Ausbilder. Überhaupt war das absurd. Die Paladine hatten ihn zu ihrem Anführer gewählt, er musste die Antworten wissen. Er sollte sich selbst zu helfen wissen. Er durfte die Verzweiflung nicht über sich siegen lassen.
Dennoch ließ er sich, die zwei getöteten Kaninchen noch blutig in der Hand haltend, hängenden Kopfes an einem Baum zu Boden sinken. Eine halbe Ewigkeit verging, bevor den Krieger endlich ein unruhiger Schlaf erfasste. Viel zu früh, so schien es, wurde er schon wieder aus ihm herausgerissen.
Er schreckte hoch. Den triefnassen Kopf wild in alle Richtungen gedreht, bemerkte Ferox das laute Getöse im Wald hinter sich erst nach einigen erschreckenden Augenblicken. Mühselig richtete er sich auf und streckte die schlaffen Glieder, als ihn bereits ein helles, höchst unnatürlich wirkendes Licht am Himmel wachsam werden ließ. Kuratis!, schrie der wieder erwachte Geist in ihm. Das war unmöglich natürlichen Ursprungs. Dafür war es zu hell und zu… starr an einem Punkt. Ohne zu überlegen setzte er seinen Helm auf und stürzte zwischen den Bäumen hindurch in die Richtung der Magie, was ihn beinahe das Gleichgewicht gekostet hätte. Die vom Regen völlig aufgeweichte Erde bot einen ebenso unzuverlässigen Untergrund für einen hastigen Laufschritt wie die Steine an der Sturmküste Nordmars. An seinen Sturz erinnert, entschied er, dass Vorsicht geboten war. Sonst schlidderte er noch wie ein suhlendes Wildschwein durch die nächste matschige Pfütze und damit buchstäblich auf der Brustplatte seiner Rüstung mitten ins Feindeslager hinein.
Den Schritt auf ein schnelles Gehen verlangsamt, brach Ferox also, nicht ohne eine zurückgebliebene aber zielgerichtete Hast, durch das nächtliche Dickicht. Fest umklammerte er den Griff des Säbelstückes in der Hoffnung, seine Götter würden ihm ihre Gunst in diesen Zeiten nicht verwehren und es wenigstens zu einer einigermaßen brauchbaren Waffe machen. Trotz dem Vertrauen in seine Fähigkeiten als Einhandkämpfer, wollte der Streiter den Säbelstumpf nicht als einzige Chance wissen. Er sandte zwei kurze Gebete an Innos und Adanos, durch die er beinahe zu spät zum Anhalten gekommen wäre. Nur wenige, vielleicht zehn Schritt vor ihm war eine Lichtung aufgetaucht. Das Lagerfeuer in der Mitte verlieh den umstehenden Gestalten lange, flackernde Schatten. Ein schauriges Lichterspiel, selbst wenn man die dunklen Silhouetten als zweifelsfrei menschlich identifizieren konnte.
Ferox versteckte sich hinter einem nahen Baum, von dem aus er eine gute Übersicht über das Geschehen behielt. Drei Männer schienen dort zu sein. Und Kuratis, der dem Ritter am fernsten war. Der Magier saß genau am gegenüberliegenden Ende der Lichtung an einen Baumstamm gebunden auf dem Boden. Die Wachsamkeit seiner Entführer richtete sich wohl alleine auf ihn. Ein Vorteil, dachte Ferox. All seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Geschehen. Eine Unterredung war im Gange. Wahrscheinlich ein Verhör, entschied der Kämpfer und suchte, unbemerkt den nächst näheren Baum zu erreichen, um das Gesagte besser verstehen zu können.
Knack
Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken. Er schluckte, wandte ungläubig den Blick nach unten. Auf den einzigen herumliegenden Ast, der seinen Weg kreuzte. Beliar! Wahrscheinlich der einzige Ast im Wald, der zum Zerbrechen noch die nötige Trockenheit aufwies. Einer der Männer drehte den Kopf nach hinten, wandte den Blick genau in seine Richtung. Ferox hielt den Atem an. Der Entführer trat einige Schritte aus dem Kreis des Verhörs und blickte sich um.
Einige ewig dauernde Momente vergingen, in denen nur das leise Knistern des Feuers die Stille des Waldes zu durchdringen schien.
„Was ist?“, sagte der mittlere der drei in rauem Ton. Der Angesprochene zuckte zusammen und entgegnete irgendwas, das zu leise war, um es auf die Entfernung zu verstehen. Schließlich spuckte er aus, kratzte sich am Hintern und wandte sich wieder dem Wassermagier zu.
Mit geschlossenen Augen atmete Ferox aus und entkam der eisigen Paralyse, die ihn wie die unbarmherzige Faust eines Tyrannen umklammert hatte. Langsam öffnete sich der Griff wieder, so dass ein wärmendes Lodern in sein Herz zurückkehren konnte. Unbeschadet konnte er den nächsten Baum erreichen. Keine sehr aufmerksame Truppe, dachte er kopfschüttelnd, aber erleichtert. Von hier aus konnte er dem Gespräch folgen. Oder direkt angreifen? Nein, zu riskant. Keinen von ihnen sollte unbedingt getötet werden; sofern es hier einen Kampf gab, war das nicht der des Paladins. Und mit ein bisschen Strategie ließen sich die drei vielleicht in die Flucht schlagen. Sie erweckten nicht gerade den Eindruck ausgebildete Kämpfer oder Krieger zu sein; wahrscheinlich waren sie bloß herumstreunende Banditen auf der Suche nach Beute. Die kleinen Kistenstapel und Sackhaufen, die erst jetzt sichtbar aus der Dunkelheit hervortraten, deuteten darauf hin.
Trotz der Nähe zum Geschehen fielen dem Ritter nur einige Gesprächsfetzen zu. Anscheinend wollten die Banditen Kuratis dazu bringen, den Inhalt der magischen Kiste zu offenbaren, wozu dieser natürlich außerstande war.
Stirnrunzelnd sah Ferox hinauf zu dem Licht, das ihn geleitet hatte. Den Entführern schien die flimmernde Magie nichts auszumachen. Wie können die denn das nicht bemerken? Ungläubig erwog der Streiter schon mit sich selbst witzelnd, seinem Feind auf die Erscheinung aufmerksam zu machen, um den dreien wenigstens eine gerechte Chance zu erlauben. Warum nutzte der Heiler eigentlich keine Magie zu seiner Befreiung? - Wahrscheinlich, um das magische Gleichgewicht nicht zu stören, schloss Ferox für sich und wandte seine Gedanken wieder der Angriffsplanung zu.
Es war nicht einfach, die vom schwachen Feuerschein flackernd erhellte Lichtung mit dem Auge zu erfassen. Und ein Angriff ohne Waffe…
Urplötzlich stöhnte ein Donner am Himmel auf. Ferox fuhr, wie alle Umgebenen, erschreckt zusammen. Ein weiteres Mal sah er hinauf, stürmte jedoch fast im selben Moment auf die Lichtung, um dem Nächsten der Meute das Schwert von hinten aus dem Waffengurt zu entreißen. Sofort erfüllte ihn das Hochgefühl, wieder ein richtiges Schwert in Händen zu halten. Und im selben Atemzug, in dem er kurz die Augen schloss, stieß er den Mann kräftig in den Rücken und brachte ihn vornüber zu Fall. Ein Ausfallschritt folgte und der Entwaffnete lag, Ferox’ Stiefel in den Rücken gepresst und die Schwertspitze im Nacken, mit dem Gesicht auf Adanos’ Erden.
„Hey!“, „Halt!“, riefen die Gefährten des Liegenden ähnlich gleichzeitig, wie sie ihre Waffen gezogen hatten. Sie sahen sich an, als ob sie berieten. „Wer b-bist du und w-w-was willst du..?“ Innos sei Dank schienen die Beiden keinen Wert darin zu erkennen, ihrerseits Kuratis zu bedrohen und so einen möglichen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Seiten zu schaffen.
„Ich bin Ferox Severus, Streiter Innos’.“, antwortete der Paladin ruhig, aber mit strenger Härte. „Und ich bin ein Freund des Magiers, den ihr gefangen haltet.“ Obwohl sie zwischen dem Sprechenden und dessen Freund langsam hin und her wanderten, blieben seine Augen starr. „Lasst uns ziehen und ihr werdet verschont.“
Nur wenige Augenblicke waren seit dem Beginn des Gefechts vergangen und günstige Situation hatte sich für Ferox ergeben. Die Augen weiterhin bedrohlich auf seine Feinde gerichtet, wartete der Paladin ab. „Was ist?“, warf er den still Stehenden entgegen. Sie machten nicht den Eindruck, von alleine wieder in Bewegung kommen zu können. „Geht und lasst den Magier frei. Wir wollen euer Zeug nicht, wir wollen nicht als weiterziehen.“
Etwas schien die Gemüter der Banditen wieder aufzutauen. Tatsächlich - Ferox hatte wirklich nicht damit gerechnet - senkten die Beiden ihre Waffen. „L-los! Ne-nimm das Schwert weg von ihm!“
Er starrte in die Augen des Sprechenden. Würde nur ein falsches Zucken eine Lüge enttarnen, würde Ferox auf Ewig dort verharren. Aber da war nichts.
„Gut.“, meinte er schließlich, indem er die Schwertspitze von des Mannes Nacken nahm und sich sichtlich entspannte. „Wir gehen nun.“, setzte der Streiter an, „Folgt uns nicht!“, und wandte sich dabei an den Wassermagier, der schon verstand und sich langsam aus dem Geschehen entfernte. Eine ungeahnte Sanftheit hatten die letzten Worte des Mannes angenommen, die nicht recht in die Situation passen wollte. Schließlich jedoch konnte er, nach einem letzten Blick auf die Widersacher, kehrt machen und getrost mit Kuratis eine neue Richtung einschlagen. Heraus aus dem Wald und in einen neuen Tag hinein, der hoffentlich bald anbrechen würde.
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Lehrling
Die Nacht verging wie im Fluge und auch der halbe Tag verbrachten sie in der Hütte des Mannes, dessen Namen er auf eine so bizarre Weise wieder erkannt hatte. Müde waren die beiden Männer am Ende des nächsten Tages sehr, quälten sich nur noch über den Boden, bereit, hier und jetzt an Ort und Stelle zusammenzubrechen. Das Festmahl war gewaltig gewesen, vor allem, da sie immer wieder nachfüllen mussten. Es gab alles, Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst, ja, Obst, viel Obst, reichlich sogar, obwohl noch kaum etwas wuchs, Nüsse und Gebäck. Doch das Essen war mehr ein notwendiges Übel und hatte bald seinen immer wieder kehrenden Reiz verloren, ja, diente nicht einmal mehr der Nahrungsaufnahme. Der wahre Wettkampf zwischen den beiden Männern war das Trinken. Der Quercurum servierte Wein, Met und Bier, der Kerl war ein würdiger Führer, denn zumindest das Trinken beherrschte er ganz vorzüglich. Und so aßen sie nur, um die Zeit ihrer geistigen Beherrschungslosigkeit nach hinten zu verschieben. Es ging jedoch nicht nur darum, wer am meisten trinken konnte. Auch, wessen Blase die Bessere war. Denn sie waren an einem Punkt angekommen, an dem sich eben niemand mehr bewegen konnte. Der nächste, der sich in die Büsche quälte, war wohl der Verlierer. Doch Kalev hatte sich einen würdigen Gegner ausgesucht, besser gesagt, ein schlechtes Opfer. Gastfreundschaft war zwar ein würdiges Motiv, doch sie wussten beide, daß eine Niederlage in diesem Wettstreit, den nie jemand mit einer Silbe angesprochen hatte, kein gutes Licht auf den Verlierer warf. Innerlich hatte der Quercurum den Tauschmann sicher schon duzende Male verflucht, aber das Schlitzohr wusste genau, wann man trinken musste und wann es an der Reihe war nur so zu tun als ob. Und gegen all das Teufelszeug, was er in seinem Leben schon geschluckt hatte, waren der Wein, der Met und das Bier hier zwar vorzüglich, aber harmlos.
Es wurde jedoch nicht nur getrunken, gegessen und sich in die Büsche geschlagen. Nein, geredet wurde natürlich auch noch. Und das nicht zu knapp, nahm doch der Austausch von Informationen die einzige Bedeutung in ihrer Zusammenkunft ein. Die Geschichten von Johann den Waldläufer hatten sich – wie so vieles – tief in sein Gedächtnis gebrannt. Es war vor den Windspeerhügeln gewesen, als er den Mann getroffen hatte. Aus Handelstreff besorgte er dem Waldläufer und seinen Freunden zig Waffen und kam immer wieder mit ihm ins Gespräch. Er hatte damals darauf bestanden, ihn zu begleiten. Dafür zahlte er mit Gold. Verdammt viel Gold. Die Windspeerhügel, die gute alte Zeit. Auch der Tauschmann musste bei seinen Erzählungen lebhaft zurückdenken, seine Heimat, die gute alte Zeit… es war vorbei. Vorerst jedenfalls. Unterbrochen ja, für immer nein. Er wollte irgendwann dorthin zurückkehren, in einem Jahr, vielleicht zwei oder drei, er wollte nicht hier sterben, nicht für immer hier bleiben. Sobald er seinen Auftrag in Gorthar erfüllt hatte, wollte er etwas Gold ansammeln. Mit einem Schiff voll Gold zurück nach Amn, nein, ein Ribald Tauschmann kam niemals mit leeren Taschen von einer Reise heim.
Am Ende, als sie wirklich alles beredet hatten und beinahe jede Kleinigkeit des Gegenüber kannten, die nicht in die Kategorie der Geheimnisse gehörte, wich das Geplauder endlich den ersten Themen. Jedenfalls für Ribald. Von einem nüchternen Kalkül zu sprechen, war an dieser Stelle jedoch ein Witz, beide Männer waren zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich am Ende, kämpften aber ehrenvoll mit der Fassung, um sich ja keine Blöße zu geben. Als Dank für die guten Nachrichten und auch, weil er es als eine Art Verpflichtung ansah, schenkte der Quercurum dem Händler kurzerhand dreihundert Waffen, ehe er diese Zahl flugs auf drei reduzierte, als ihm bewusst wurde, daß er mehr Waffen verschenkt hatte, als sie alle zusammen besaßen, redeten sie hier doch von relativ hochwertigen Bögen, wenn auch ohne aufwändige Verzierungen oder Edelmetallzusätze. Ribald hatte darauf bestanden, denn was sollte er bloß mit noch mehr Fellen, Fleisch oder Tiertrophäen?
Schließlich war es so weit, es kam zum alles entscheidenden Zug. Beide Kontrahenten blickten sich in die glasigen Augen und sahen doch aneinander vorbei, sahen sich sogar doppelt. Der volle Krug des guten Biers wurde erhoben und sollte ein letztes Mal geleert werden. Sie prosteten sich zu und wollten anstoßen, doch plötzlich spürte er nur noch einen Stoß am Kopf und verlor das Bewusstsein.
Der Quercurum hatte mit dem massiven Krug seinen Kopf getroffen und ihn so ins Reich der Träume geschickt. Aber das machte nichts, denn Ribald hatte gewonnen. Jedenfalls theoretisch. Der Waldläufer merkte nichts von dem Missgeschick und leerte seinen Krug, doch das hätte er nicht tun sollen, es dauerte nicht lang, da fiel er ebenfalls kopfüber nach hinten und gab auf. Sein Körper rebellierte und schaltete in den Ruhemodus.
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Schneller als erwartet ergoss sich das Tageslicht über den Wald. Wie ein wärmender Tee schien es die Seele des Waldes zu erwecken und ihn weniger bedrohlich und finster erscheinen zu lassen als vor wenigen Stunden in der Nacht. Gleichsam zog die sommerlich anmutende Wärme in die Gemüter der beiden Gestrandeten ein, die ihre karge Lagerstätte inmitten der riesenhaften Bäume bereits zugunsten eines neuen Weges verlassen hatten, der sie hoffentlich aus dem Dickicht herausführen würde. Sowohl den alten Weg als auch die magischer Kiste hatten sie zurückgelassen. Letztere weniger freiwillig als deshalb, weil sie von den Banditen wahrscheinlich schon vor ihrer Ankunft an einen sichereren Ort gebracht worden war. Kuratis jedenfalls hatte sich nicht imstande Gefühlt, sie aufzuspüren, weswegen sie einvernehmlich beschlossen hatten, das Fundstück zurückzulassen. Kein besonders großer Verlust, hatte Ferox gedacht, obgleich er wusste, wie wertvoll der Inhalt sein musste. Der Magier wollte seine Ansichten dazu nicht preisgeben - ebenso wie Ferox es auch nicht getan hatte. Kuratis schien ähnlich verschwiegen, wie der Paladin, dessen geringes Interesse an Reichtümern mit dem Stranden in diesem Teil der Welt völlig verschwunden war. Aber irgendwas an dem Heiler wirkte verändert. Still trottete er hinter dem Streiter Innos’ her, den Blick nachdenklich zu Boden gewandt. Nur wenige Male glaubte Ferox, seinen durchdringenden Blick im Rücken zu spüren, hatte sich daraufhin aber nicht umgedreht. Der Zeitpunkt schien ihm nicht der richtige zu sein und er war sich nicht sicher, ob dieser Moment je kommen würde. Denn auch er selbst schweifte ständig in Gedanken ab, die ihm große Teile seiner Aufmerksamkeit als Späher kosteten. Allerdings erweckte der Wald nicht den Eindruck, außer den Banditen weitere Gefahren zu beherbergen. Ferox konnte sich hier kein wildes Tier vorstellen, das groß genug wäre, ihnen gefährlich zu werden. Hinzu kam, dass der Wald langsam lichter und er zuversichtlich wurde, bald sein Ende zu erreichen. So gönnte er sich, entgegen seiner sonstigen Einstellung, die Freiheit, einmal die Sinne schweifen zu lassen, um vielleicht irgendeine verschrobene Erkenntnis über Kuratis oder die Kiste oder gar sich selbst zu gewinnen. Dass er dabei sein erbeutetes Schwert in der Hand hielt, diente ihm dazu, ein Gefühl für dessen Eigenheiten zu bekommen. Natürlich wäre es nie ein Ersatz für Silivren gewesen, dessen Verlust er in seinem Innern weiterhin tief betrauerte, aber es war besser als nichts. Zwischendurch schwang er immer wieder halb unbewusst die Klinge durch das tiefer hängende Geäst naher Bäume oder Büsche, die nicht den Weg der beiden Gefährten beeinflussen sollten, dies aber doch irgendwie taten.
„Sollen wir rasten?“, wandte sich Ferox unvermittelt zu dem Wassermagier um, der nur den Kopf hob und mit seinem Blick eine Antwort zu verstehen gab. Fast im selben Augenblick hielten sie an. Ein glänzender Schweißfilm auf Kuratis’ Stirn deutete an, wie Nötig er eine Pause brauchte. Und obwohl dem Paladin das lange Marschieren weniger schwer fiel, fühlte auch er sich matt und zerschlagen, seitdem seine Gedanken an dem verlorenen Schwert hafteten. Bis hin zur düstersten Finsternis verdunkelte der Schatten der Erinnerung seinen Geist, auf dem, wie ein schwarzer Schleier, eine tiefe Trauer ruhte, die sich nicht heraus zu brechen traute. Silivren war sein engster Vertrauter gewesen. Und was konnte er, ein Kämpfer, schon ohne diesen sein?
Doch noch etwas war in ihm. Nichts Verlorenes wie die Schwerter, sondern eine unbestimmbare innere Unruhe, die dem Paladin vollkommen neu war und die er erst jetzt, da er eine gewisse äußere Ruhe hatte, bemerkte. Es dauerte eine Weile, bis er ihrer anstrengenden Existenz völlig gewahr wurde. Im selben Moment ertappte sich Ferox dabei, dass er die ganze Zeit den Boden angestarrt hatte, ohne dem Blick des Magiers zu bemerken, der auf ihm ruhte. Nun sah er auf und direkt in Kuratis’ ruhige Augen doch nur kurz, bevor er sich abwendete. Er streifte mit den Augen den Aquamarinring an seinem Finger und blieb daran hängen. Das Erkennungszeichen seiner Brüder und Schwestern begleitete ihn so lange wie Silivren; nein, länger, denn es hatte ihn nicht vorzeitig verlassen. Diese kleine Erkenntnis erfreute den Mann, beflügelte ihn sogar ein wenig. Doch sein Unbehagen konnte sie nicht vertreiben.
„Etwas ist in dir erwacht.“, sagte Kuratis plötzlich, „Du wirst finden, was es ist. Lass dir nur sagen: Es ist etwas Gutes. Etwas wahrhaft Gutes.“ Ferox legte die Stirn in Falten. Es folgte ein langes Schweigen. Etwas wahrhaft Gutes, wiederholte er die Worte innerlich und dachte dabei an die ungewöhnliche Betonung jenes einen Wortes, die ihn die ganze Zeit über stutzig machte.
„Warst du darüber so…“ nachdenklich? setzte er im Geiste fort, während er erkannte, wie töricht diese Frage war. Im gleichen Atemzug schwang er sich vom Boden auf und sagte: „Suchen wir was zu Essen.“ woraufhin er die freudige Zustimmung seines Gefährten erntete, der sich etwas schwerfälliger als der Paladin erhob. „Ich will nicht wieder… abhanden kommen.“, erwiderte er auf seinen fragenden Blick, dann gingen sie los.
Die Beute fiel sehr mager aus, falls man sie überhaupt „Beute“ nennen wollte, so dass sie nach einer als viel zu lang empfundenen Zeit resigniert aufgaben. Bloß ein paar Beeren und Kräuter konnten sie finden, die für ein Frühstück keinesfalls ausreichten. Kein einziges Tier war ihnen über den Weg gelaufen, was Ferox annehmen ließ, dass sich in diesem Wald wahrscheinlich überhaupt kein tierisches Leben aufhielt.
„Vorschläge?“, murrte der Streiter Kuratis an, seine anfänglichen Hoffnungen begannen wieder zu schwinden. Der Magier schüttelte nur langsam den Kopf. Bei Adanos und Innos! dachte er, Wieso helft ihr uns nicht? Ferox fand die Frage berechtigt, obwohl er sich schlecht fühlte, sie tatsächlich gestellt zu haben - wenn auch nur zu sich selbst. Er war immer der Meinung gewesen, die Hilfe der Götter auf wirklich ausweglose Situationen zu beschränken, in denen viel auf dem Spiel stand; mehr als sein eigenes Leben, das ein Streiter des Feuers alleine oder wenigstens in seiner Gemeinschaft bewältigen können sollte. Aber seine einzige Gemeinschaft war Kuratis, der auf einmal zu reden anfing als wolle er predigen:
„Der Ruf des Wassers ist, den wir befolgen müssen. Wo Grünes ist, ruht und wandelt auch das ewige Blau, das wir auserwählt haben, uns zu leiten. Jeder, der sich Adanos verschrieben fühlt, wird auf diese Weise seinen Weg finden. Und so werden auch wir bald den Ort finden, zu dem wir gelangen sollen - das spüre ich. Nur dürfen wir nicht zu sehr danach suchen.“
Ferox verstand. Eine lange Zeit ist vergangen, seit solche Worte sein Ohr berührt haben, doch sie hielten die Bedeutung fest, die der Ringbruder in ihnen fand. Und so fühlte er sich besser, sogar ein kurzes Lächeln mühte sich auf seine tauben Mundwinkel. Er dachte an Vatras, dessen Erzählungen er früher immer gelauscht hatte. Damals war er noch Soldat in der Miliz von Khorinis - schöne Zeiten, die da auf den Paladin einströmten und die Kraft besaßen, ihn zu bewegen.
Und er bewegte sich, einfach geradeaus, ohne wirkliches Ziel, aber mit der Zuversicht, bald ein solches zu besitzen.
-
Die Zuversicht schlug schnell in ein unerwartetes Ereignis um. Nach dem Erreichen eines Weges, den man seiner Breite wegen schon Straße nennen könnte, zeichnete sich nach nicht allzu langer Zeit ein Gebäude am fernen Straßenrand ab. Ferox und Kuratis beschleunigten ihren Schritt unbewusst und trachteten nach dem näher kommenden, endlich in erreichbare Nähe gelangten ersten Ziel ihrer Irrreise in diesen Landen. Letztlich schien sich das Blatt doch zum Guten zu wenden, was durch die Erkenntnis bekräftigt wurde, dass es sich bei dem Haus offensichtlich um eine Taverne handelte, wie sie häufig an Wegesrändern und ähnlich häufig in nicht allzu großer Entfernung von Städten zu finden war.
Der Wald hatte sich in eine weite Wiesenlandschaft gewandelt, auf deren weiten Grün sich bloß vereinzelte Bäume finden ließen. Alles blühte um sie herum und zum ersten Mal stieg den Männern der Frühlingsduft in die Nase und benebelte ihre Gemüter mit einer fröhlichen Stimmung. Allmählich wurden sie langsamer. Jetzt, am erhofften Beginn ihres Heimwegs, wollten sie ihn nicht zu schnell erreichen. Zu schön ließ sich das Glück auskosten, an dem sie Anteil haben durften, das sie wie eine Sommerbriese umgarnte und jedes miese Gesicht in Freundlichkeit taufte. Indem sich Ferox umsah, bemerkte er den leichten Anstieg des Weges, von dem er zuvor keine Notiz genommen hatte. Etwas gefiel ihm nicht daran. Waren sie die ganze Zeit schon nach oben gelaufen?
Aber bevor ihm ein kalter Schauer allen Frohmut nehmen konnte, kamen sie unter dem großen Schild, das über der Tavernentür baumelte, an, und den überaus passenden Namen „Zum alten Burgturm“ anpries. Dieser Burgturm nämlich gehörte, sehr zur Verblüffung des Paladins, anscheinend zum übrigen Fachwerkbau. Aus dem drangen vereinzelt lautere Wortfetzen nach draußen, wo Ferox seinen Begleiter wortlos anblickte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und verschaffte sich Einblick in den Schankraum, indem er die alte Holztüre knarrend nach innen aufschob. Bloß einige desinteressiert dreinblickende Gesichter wurden ihm entgegen gerichtet, die sich sofort wieder unbeeindruckt einem Gesprächspartner oder Krug zuwendeten. Er schweifte einmal mit den Augen durch den Raum, von der Theke über die Ecktische mit Bänken und Stühlen und die Menschen, bis er wieder in seiner Nähe angekommen war und einen Schritt über das knarrende Parkett machte. Kuratis trat hinter ihm ein und erregte nicht mehr Aufmerksamkeit als sein Vorgänger. Nur der Wirt stierte zu ihnen herüber, während er in einer apathischen Art und Weise den Krug in seinen Händen mit einem Lappen putzte, der das Gefäß unmöglich würde sauber machen können. Aber so etwas kannte Ferox bereits aus anderen Pinten, besonders der „Toten Harpyie“, der er auf Khorinis einige Besuche abgestattet und ein - mehr oder weniger angenehmes - Gespräch mit dem Wirt Sador geführt hatte. Diese Wirtschaft schien eine ganz ähnliche zu sein, vermutlich sogar mit kargen Schlafkammern ausgestattet, in denen sich Wanderer zwischen irgendwelchen Städten ausruhen konnten.
„Zum Gruße“, trat der Streiter auf den Krugreiniger zu und gebot dem Magier, zu folgen, „Dies ist der Magier Kuratis und mich kennt man als Ferox. Wir haben eine weite Reise hinter uns. Wie darf ich euch nennen?“
„Magier oder Paladine kreuzen hier wahrhaft nicht oft auf.“, entgegnete der Mann ein wenig spöttisch, „Eure Reise muss wirklich eine weite gewesen sein. Ihr kommt nicht von hier, das sieht man euch an.“ Er dachte kurz nach. „Mein Name ist Solis. Was führt euch in die grüne Mark?“
„Im Sturm warf unser Schiff uns ab, wir haben alles verloren, außer das, was noch an unseren Körpern hängt. Wir haben uns bis hierher durchgeschlagen; dass wir euer Haus fanden, ist das erste Glück unserer Wege.“ Ferox schwieg einige Augenblicke, sprach dann aber: „Wir wünschen bloß einen oder zwei Tage Ruhe und die Information, wie wir wieder in unsere Gegend kommen. Aber ich muss gleich sagen, dass unser Vorrat an Tauschgut nur mit Leere glänzt.“
Ein Fünkchen Misstrauen flackerte in Solis’ Augen auf, der dem Krieger nicht recht gefiel. Aber was sollte er erwarten? Es wäre eigenartig, wenn Paladine in allen Ländern gleich gerne gesehen würden. Befände er sich in einer Taverne Myrtanas, hätte wahrscheinlich niemand erst überlegen müssen.
„Na gut.“, sagte der Mann schließlich etwas mürrisch, „Setzt euch.“, und knallte zwei überschwappende Krüge auf den Tresen.
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Mit dem Wechsel des Tages in den Abend waren die Geschichten der Beiden Fremden und die des Wirts und des Landes ausgetauscht. Je näher der allmähliche Einzug der Nacht voranschritt, desto mehr Menschen siedelten sich im Schankraum an, derer sich ein großer Teil samt seines Bieres um die Erzählenden versammelt hatte und lauschte ihren Worten. Dabei unterbrachen immer wieder Rufe allgemeinen Ärgers oder der Zustimmung den Redefluss des Wirts. Manchmal fasste auch einer der Tavernengäste selbst einige längere Worte zusammen, um seinen kleinen Part innerhalb der Landesgeschichte kundzutun. Besonders dann, wenn Solis gerade Krüge nachzufüllen hatte und aufgrund dessen schlechter zu verstehen war. Dazu musste er den Gästen an der Theke stets den Rücken zukehren, weil das große Bierfass an der genau gegenüberliegenden Wandseite aufgestellt war, was Ferox etwas unpraktisch fand. Er hielt es für angenehmer, wenn man den Schankraum stets im Blick haben konnte. Allerdings war sein Wissen der Bewirtungskunst nur sehr gering, weswegen er sich von diesen Gedanken schnell wieder abwandte und den Männern zuhörte, die allesamt Bauern der nahen Umgebung zu sein schienen; keiner von ihnen stammte aus einer der Städte, die - sehr zur Erleichterung des Kriegers - nicht weit von hier existierten.
„Diese meine Kneipe hier, mein „alter Burgturm“, ist der einzige, wirklich noch freie Ort in der grünen Mark. Ich muss mich ständig gegen die blauen und roten Krieger oder manchmal gleich gegen Beide wehren.“, sagte Solis woraufhin er von einigen der im Halbkreis stehenden Bauern regen Anteilnahme und Zustimmung erhielt. Viele schienen ähnliche Probleme zu haben. Und Ferox horchte besonders auf und hakte ein: „Wieso nennt ihr sie „blaue“ und „rote“ Krieger?“ Mit finsterem Blick forschte er in den Gesichtern der Runde. Bisher hatte er nicht herausfinden können, wer hier die Konfliktparteien waren. Dies schien der geeignete Zeitpunkt dazu. Einer der Männer hob die Augenbrauen, es war stiller geworden. „Na, weil se Anhänger der Feuer- oder Wassermagier sind.“, meinte er, als wäre das völlig offensichtlich. Aus diesem Grund verstand wohl auch niemand die plötzliche Konsterniertheit des Streiters, der, spürbar Kraft verlierend, in sich zusammensank und seine Haare raufte. „Na, damit habter wohl nich gerechnet.“ Solis sah mit einem ironisch betrübt wirkenden Ausdruck abwechseln in Ferox’ und Kuratis’ Gesicht. „Als Paladin oder Wassermagier solltet ihr euch hier nicht leichtfertig überall herumtreiben, das könnt’ stark ins Auge gehen. Die sind hier echt fanatisch drauf.“
Ein langes Schweigen kehrte seitens des Paladins und des Magiers ein, wobei letzterer sich ohnehin seit längerer Zeit mit Worten zurückhielt und schweigend etwas außerhalb des Geschehens an einem runden Zweiertisch ruhte. Er wirkte nachdenklich, trotzdem nicht abwesend, sondern machte den Eindruck, allen Erzählungen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Worüber denkt er nach?, blitzte in Ferox die Frage auf und verlosch so schnell wie sie gekommen war. Er war es, der seine Aufmerksamkeit jetzt, auf Kosten der leiser werdenden Parolen um ihn herum, eher nach innen richtete.
Muss ich hier eingreifen?, fragte er sich, den Blick von unten herab durch die Runde schweifen lassend, Ich bin doch Beides, Kämpfer des Feuers und des Wassers. Die Paladine in dieser Gegend nahmen ihn bestimmt gerne als Unterstützung auf. Aber wie sollte er gegen die Wassermagier kämpfen? Gegen Adanos, der ihn seit allen Zeiten begleitete und bekräftigt hatte - war er doch sogar in seinem Namen getauft worden!
Zum ersten Mal seit Langem stellte Ferox, der Paladin, den seine Kameraden zu ihrem lebenslangen Führer erwählt haben, die Entscheidung, in die Dienste des Feuers getreten zu sein, in Frage…
„… wenigstens ist Aireon auf unserer Seite.“, drang ein Gesprächsfetzen zu ihm durch. Und dann ein weiterer: „Ja, der alte Magier in seinem Turm ist wirklich ein Segen für uns.“
Ferox blickte auf: „Wer ist das?“
„Wer, Aireon? - Der Magier der Winde. Er ist der Einzige, der sich nicht nur um seine, sondern auch um unsere Dinge kümmert… man, ich bin zu müde, ich hau ab. Gut’ Nacht, Jungs. Bis demnächst.“ Einige Andere zogen mit dem Bauern davon aus dem Wirthaus und Ferox entschied, sich erst am nächsten Tag weiter mit der Sache zu befassen. Er hatte viele Geschichten gehört, die in der kommenden Nacht lange in ihm spuken würden.
„Wahrscheinlich komme ich gar nicht zum Schlafen.“, seufzte er hörbar, wandte sich an Kuratis und verabschiedete sich für den Abend dankend bei Solis, woraufhin er aus dem Schankraum in eines der Zimmer wandelte, das der Wirt ihnen so freimütig angeboten hatte.
…
Waren die Wege Adanos’ und Innos’ wirklich so verschieden? Würde er sich für einen entscheiden müssen?
Mit vielen Fragen beschäftigte sich der einstige Statthalter, bis er irgendwann in einen unruhigen Schlaf fiel; voller Träume von Krieg und abgebrannten Feldern, Toten und ewigem Gewitter. Von Dunkelheit und einem Spalt in der Seele, von dem aus er sich vollkommen ausgesaugt fühlte…
-
Von weit her schienen die Träume dieser Nacht gekommen zu sein. Es waren keine von Krieg und Verbrechen, weder von Plünderungen, noch von Mord oder Armut. Sie handelten von Nichts, berührten Ferox aber, wie nur Weniges ihn je berührt hatte. Etwas Gutes war zu ihm gekommen und hatte sich in seinem Kopf niedergelassen, ein warmes Grundgefühl bestärkte ihn, ganz als ob die Welt um etwas unbestimmt Gutes reicher geworden wäre. Ferox fühlte, dass es mit den Paladinen oder mindestens mit Innos zusammenhängen musste, denn etwas Ähnliches hatte sich in ihm abgespielt, als die Wahl des Großmeisters angestanden hatte. Und nichts deutete darauf hin, dass es einzig mit ihm selbst zu tun hatte, sondern erweckte den Eindruck, groß, allmächtig zu sein.
Er hielt den Orden seines Bruders in der Hand, als er erwachte.
Seit Jahr und Tag baumelte er um seinen Hals, für Ferox selbst unauffällig und doch ein bedeutendes Objekt seines Lebens. Wenn er daran dachte, mochte dies auch immer seltener geschehen, so kamen ihm die leibhaftigen Bilder seines Abreisetages in den Sinn. Als er mit der Galeere das Festland verließ, Seite an Seite mit den großen Kriegern, zu denen er immer gehören wollte, wie seine Brüder. Damals, als sein Bruder ihm den Orden für Tapferkeit zuwarf, seinen Orden, den Rhobar ihm persönlich verliehen hatte. „Irgendwann gebe ich ihn dir wieder“, sagte Ferox zu sich selbst und erhob sich in den Schein der Morgensonne, die ihn durch das Zimmerfenster begrüßte.
Von einem neuen Frohmut gefasst, rüstete sich der Paladine seelenruhig und mit einer unbeschwerten Sorgfalt, wie in den früheren Tagen, da Khorinis noch von seiner Hand geführt wurde und er bloß Kleidung zu tragen hatte. Der Krieg veränderte die Gefühle, sei er präsent oder aller Tore fern. Egal, ob der eigene oder der von irgendwem. Manchmal braucht es einen Strahl aus dem Reiche Innos selbst, der den Ansporn zu neuen Taten und Entscheidungen liefert. - Letztere waren nun endlich getroffen.
„Ich gehe in die Stadt der Paladine. Wie weit ist es?“ Seine Stimme war fest, als er zu Solis und Kuratis sprach, die miteinander im Schankraum redeten.
„Einen halben Tag die Straße gen Osten.“, erwiderte Solis.
„Suche du den Magier der Winde auf.“, wandte er sich gleich an Kuratis, „Und finde heraus, welche Rolle er hier spielt. Ein eigenartiges Gefühl schleicht sich in meine Gedanken an ihn. Kann ihn jemand begleiten?“
„Ich kann die Taverne nicht allein lassen.“
„Solis, bitte. Du wirst doch jemanden finden. Oder willst du den Krieg hier nicht beenden?“
Kuratis hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut. Ich werde selbst meiner Wege gehen. Sorge dich nicht, sei um deinen Weg bemüht.“
„Nun gut. Aber lass dir nicht zu viel Zeit. Zum Nachtfall des vierten Tages sollen wir uns hier wieder treffen.“
„So soll es sein.“
„Ich breche sofort auf. Hab Dank für die Gastfreundschaft, Solis. Sobald ich sie irgendwie aufbringen kann, wirst du deine Zeche erhalten.“
Doch der Wirt winkte ab. Ferox aber marschierte bereits in großen Schritten zur Türe hinaus und wandte sich der Sonne entgegen. Gen Osten also, dachte er und versank in Gedanken.
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„Ein Großmeister.“, erklärte der Mann, „Es gibt mehrere. Jede Ordensgemeinschaft hat ihren eigenen.“
Verdutzt blickte Ferox drein, als er die Worte seines Gegenübers vernahm, dem er sich als Großmeister der Paladine vorgestellt hatte, woran ihm auch nichts verwerflich erschienen war. Einzig, dass er noch niemals mit seinem vollständigen Titel oder Namen - wie auch immer man das nennen wollte - vorstellig geworden ist, war ein Unterschied. Und nach dieser Rüge würde der einstige Statthalter auch in Zukunft eher darauf verzichten, seine Existenz gänzlich zur Schau zu tragen.
„Es gibt sogar einen Orden der Großmeister.“, fügte der Redner hastig hinzu, als würde es für ihn die Welt bedeuten.
„Nun gut.“, antwortete Ferox, „Somit wäre ich Ferox Severus, Streiter Innos’ und Lord unter König Rhobar II. Ein einfacher Mann aus dem weit entfernten Myrtana.“ Er sagte das mit einem Lächeln und blickte sich kurz um, bevor er weiter sprach.
„Ihr seid ebenso ein Paladin?“
Der Mann nickte: „Grisom Reinstein, zu euren Diensten, Bruder.“
„Wer ist euer Großmeister?“
„Der ist auf Reisen.“
„Und wo?“
„In der Hauptstadt. Fünf Tagesritte von hier, ich kann jemanden auftreiben, der euch hinbringt, wenn ihr…“
Ferox winkte ab. „Kann ich hier mit jemandem sprechen?“
„Der Stadtkommandant ist zugegen, Berling von Felsfest, ein großer Streiter unseres Ordens.“
„Führt mich zu ihm.“
Die knappe Bitte in Befehlsform schien den Krieger offenbar bis zum Stillstand zu verwirren. Unverblümt starrte er Ferox an, ohne Anstalten zu machen, ihm auch nur den Weg zur nächsten Schänke, geschweige denn zum Kommandanten zu weisen.
„Also eigentlich…“, brachte er schließlich stotternd heraus. Ferox sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue und vor der Brust verschränkten Armen an. „Ich kann meinen Streifenweg nicht verlassen.“ Nun gesellte sich auch die zweite Braue des Paladins zu der anderen hinauf. „Du kannst deinem stadtneuen Bruder keinen kameradschaftlichen Dienst erweisen?“ Wieso ist überhaupt ein Paladin zur Wache eingeteilt?
„Nein! Ich hab schon Ärger, den muss ich nicht noch ausweiten.“
So ist das also.
„Wenn das so ist.“ Ferox seufzte. „Sag mir wenigstens, wo ich den Kommandanten finde.“
Der Weg war einfach und dementsprechend schnell erklärt, so dass der Paladin gleich den Weg aufnehmen konnte. Der Sitz des Kommandanten war im Ordenshaus des Feuers. Dort, wo auch die Magier hausten, wie Grisom leise erklärte, als müsste er Angst davor haben, es auszusprechen. Mach dir nichts draus, meinte die Stimme in seinem Kopf, deren leises Gedankenspiel langsam seinen Kopf schütteln ließ. Eigenartiger Kerl.
Das Ordenshaus lag am Ende einer relativ breiten, mit Kopfsteinen gepflasterten Straße, auf der kleinen Anhöhe, über die sich die Häuser der Stadt erstreckten. Sie war wohl der Anfang jenes Gebirges, dessen Berge sich undeutlich hinter einem schimmernden Nebelschleier in weiter Ferne gezeigt hatten, während er noch auf dem Weg hierher war. Innerhalb der Stadt waren die Häuser dafür zu dicht gebaut und zu hoch.
Erst aus dem Fenster des Vorzimmers, in das er von einer Wache mit der Anweisung zu warten geführt wurde, konnte er die Gebirgskonturen wage erkennen. Das Zimmer lag im zweiten Stock des Gebäudes, das mit seinem Prunk Innos wohl alle Ehre bereiten sollte. Es behagte dem Streiter, den Orden des Feuers in solcher Blüte erblicken zu dürfen, erfüllte ihn aber auch mit einem unbestimmten Misstrauen. Derartiger Prunk schien in die ansonsten eher karg wirkende Stadt nicht zu passen. Die Wohnhäuser, obgleich gepflegt und mit schönen Fassaden, wirkten irgendwie arm, beinahe trostlos. Und überhaupt waren erstaunlich wenig Menschen auf den Straßen anzutreffen. Die konnten sich doch nicht alle verstecken an einem so sonnigen Tag. Allerdings, bemerkte Ferox für sich, dass hier wahrscheinlich viele Tage von starkem Sonnenschein geprägt sein mussten. Gerade die Mittagssonne trieb auch ihm den Schweiß auf die Stirn; eine Last, unter der er sich keine tägliche harte Arbeit vorstellen konnte. Wahrscheinlich arbeiteten die Leute eher am kühlen Abend. Ja, so musste es sein.
Als hätte jemand ihn erhört, wehte am Ende seiner Gedanken ein leichter Wind durch das geöffnete Fenster an ihm vorbei. Ferox schloss für einen Moment die Augen und nahm etwas von der Atmosphäre auf, die ihn umgab. Ungewohnt fühlte sich alles an. Aber wie auch sonst? Er war hier ein Fremder. Eine Tatsache, die sich wahrscheinlich niemals verändern würde. Und wenn, dann nicht nach dieser kurzen Zeit.
„Tretet ein.“, schallte die Stimme des Kommandanten durch die verschlossene Türe. Ferox schloss das Fenster wieder und wandte sich schließlich um, über die Schwelle zu treten.
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Man konnte die Luft förmlich spüren, so sehr stand sie in dem Raum. Sie setzte den Kopf des Streiters einem Druck aus, unter dessen Einfluss er nicht sicher war, längere Zeit einem intensiven Gedankenaustausch mit dem Kommandanten standhalten zu können. Dem Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch schien es nicht anders zu gehen.
„Verzeiht, aber warum öffnet ihr kein Fenster?“, platzte es Ferox heraus, der seine Konzentration schon jetzt schwinden spürte.
„Geht nicht. Sind versiegelt, magisch. Soll mich vor Angriffen schützen.“ In seiner Stimme lag ein solch unverhohlener Hohn, wahrscheinlich hätte ein Kleinkind ihn mühelos erkannt. Der Kommandant tunkte die Schreibfeder in ein kleines Tintenfässchen und bot mit einer einladenden Geste Ferox den Stuhl auf der gegenüberliegenden Tischseite an, während er zu ende schrieb. So, wie er da schrieb und zackig sein Signum unter das Verfasste setzte, sah Ferox sich selbst als Statthalter vor seinem Schreibtisch im Rathaus von Khorinis, Anträge irgendwelcher Bürger unterschreiben, von denen ihm bedauerlicherweise die Wenigsten bekannter waren, als die abgelegten Papiere in seinen Regalen. Ob sie sich so gefühlt haben?, fragte er sich, seine Blicke schweiften durch das geräumige Zimmer mit den vielen Fenstern und Kunstgegenständen - alte Waffen und Rüstungen, Bilder, Skulpturen - denen das einfallende Sonnenlicht einen gleißenden Glanz hinterließ. Kein Feuer brannte im Kamin. Das wäre auch Selbstmord, dachte er und stellte sich unweigerlich vor, wie der tänzelnde Flammenschein den Raum jeden Abend in ein ehrvolles Spiel aus Licht und Schatten tunkt; Erinnerungen an alte Schlachten werden wach oder an die jüngsten, die noch nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden sind. Ja, so hatte es in seiner Arbeitsstube auch ausgesehen, erinnerte er sich mit dem nötigen Maß trauriger Melancholie, bis der starre Blick des Stadtkommandanten den seinen kreuzte.
„Verzeihung.“, bemerkte er knapp. „Ich bin Lord Ferox, Paladin Myrtanas.“
„Berling, wie ihr sicher wisst. Was ist euer Anliegen?“
„Mehr zu erfahren über diesen Krieg und ob ich euch unterstützen kann.“
„Ihr? Und dafür seid ihr von Myrtana hergekommen? Alleine?“
„Gestrandet bin ich hier, sonst nichts. Und wenn ich keinen Weg zurückfinde, sei es vorerst, kann ich ebenso gut meinen Brüdern helfen.“
„Aha. Ehrlich also. Gut, ich glaube euch. - Ihr wollt mehr erfahren? Nahrungsknappheit herrscht hier, seit die Wassermagier die Bewässerung unserer Felder eingestellt haben. Ihr seht ja selbst, wie heiß es hier im Sommer ist. Keiner meiner Soldaten kann noch richtig kämpfen.“
„Ich hatte das Gefühl, ihr seid nicht zufrieden mit dem Schutz, den man euch gewährt.“ Ferox wies auf die Fenster.
„Oh doch, der Schutz ist wichtig. Wegen der vielen Attentate, die hier auf mich verübt werden.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist Entscheidung der Magier und die wird nicht angezweifelt. Wenigstens nicht öffentlich.“, fügte der Streiter zögernd und etwas leiser hinzu. „Die Magier machen den Krieg, wir unterstehen ihrem Befehl.“
„Sind die Magier zugänglich?“
„Sie lassen niemanden zu sich vortreten. Auch Befehle kommen nur schriftlich über einen einzigen Boten. Ein Wunder, dass ihr überhaupt bis zu mir gekommen seid.“
„Was, denkt ihr, ist der Ursprung von dem allen?“
„Die Antwort darauf“, begann er nach einigen Momenten des Zögerns, „ist, meiner Ansicht nach, mit dem Winde verweht.“
„Gibt es in der Nähe einen Hafen?“
„Ach, so schnell gebt ihr also auf.“
„So sollte das nicht klingen.“
„Ich verstehe euch schon. Die Stadt der Wassermagier liegt an einem Fluss, es ist nicht so weit zum Meer. Wenn ihr Glück habt, könnt ihr es lebend schaffen. Ansonsten müsst ihr unser Land wohl befreien.“, sagte er witzelnd, „Dann bringen die euch sicher gern nach hause.“, und erhob sich, um Ferox hinaus zu begleiten. „Ich geh auch was an die Luft, ist mir zu warm hier.“
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"Wir könnten hier sein", meinte Navarro und stach mit einem langen schlanken Finger auf einen Abschnitt der Karte, welcher in etwa zu ihrer Position passen könnte. Es war ein Küstenstreifen, so wie ihrer, nicht zu weit nördlich und laut der Karte begann schon nahe der Küste ein Waldstück, all diese Merkmale waren auch in der Realität gegeben.
"Jaaa", meinte Grimward gedehnt, denn ihn hatte die Vermutung nicht wirklich überzeugt, "Wir könnten aber genauso gut.... dort", er beugte sich vor und deutete willkürlich auf einen anderen Punkt, der an der Küste lag, "sein. Macht euch doch nichts vor, bis wir auf jemanden treffen, haben wir keine Ahnung wo wir sind!"
"Und wenn wir überhaupt nicht in Gorthar sind?" warf Dansard ein. Doch selbst der Bogenschütze war nicht überzeugt und auch die Stimme des ehemaligen Waldläufers klang nicht besonders selbstbewusst.
"Unsinn", meinte Harlek harsch und blickte unangenehm selbstzufrieden und überheblich zu Dansard hinüber, "Keine andere bekannte Küste ist so groß, dass wir zwei Tage lang nach Süden wandern könnten, ohne auf irgendetwas zu stoßen."
"Keine Bekannte", murmelte Dansard grimmig, wohl nur um Harleks Bemekrung nicht unbemerkt stehen zu lassen, was jedoch nur ein unwilliges Schnauben bei dem Grauhaarigen hervorruf. In der Tat war es ziemlich albern, an die Existenz einer solch riesigen Landmasse, die bisher völlig unbemerkt zwischen Gorthar und Myrtanan gelegen hatte, zu glauben. Grimward war sich auch sicher, dass Dansard nicht wirklich daran glaubte, er schien bloß die zwanghafte Veranlagung zu entwickeln, nicht Harleks Meinung zu sein, was Grimward ganz gut verstehen, aber nicht gutheißen konnte. Ansonsten hatte sich Dansard jedoch ganz gut erholt. Er sah mittlerweile wieder normal, vielleicht ein wenig abgerissen, aber immerhin gesund aus. Auch hatte er mittlerweile keine Schwierigkeiten mehr, den ganzen Tag und bis spät in den Abend hinein, zu wandern. Nur zum Bogenschießen hatte Grimward ihn nicht überreden können, obwohl sie es auf See noch einmal erfolglos versucht hatten. Also trug der Ritter Selerondars jetzt zwei Bögen mit sich rum, doch er war fest entschlossen, seinen Freund von dieser Phobie zu heilen.
"Wie dem auch sei", meinte Navarro, nach einigen Augenblicken des Schweigens und erhob sich, "Wir müssen weiter. Unsere einzige Chance ist es, irgendjemanden zu treffen, der hier ansässig ist. Der wird uns sagen können, wo genau wir uns befinden. Und dann, ja dann können wir uns unserem eigentlich Ziel zu wenden", ein mahnisches Funkeln trat kurz in seine Augen, doch es war so schnell vorüber, das Grimmward sich nicht sicher war, ob er es wirklich gesehen hatte. Aufjedenfall wusste der Bogenschütze genau, wovon Navarro sprach. Die rote Markierung auf der großen Karte, die ein ungewöhnlich großes Stück von Gorthar zeigte, war kaum zu übersehen. Die Markierung lag fast gänzlich im Süden und ziemlich weit im Osten der abgebildeten Karte. Ganz gleich wie weit südlich sie mittlerweile gekommen waren, sie hatten noch ein gutes Stück vor sich, den sie befanden sich an der Westküste des Landes. Grimward erhob sich ebenfalls, die beiden anderen taten es ihm gleich und Dansard bemerkte.
"Vielleicht sollten wir uns endlich in den Wald hineinwagen, ich kann mir nicht vorstellen, dass wir hier, direkt am Meer auf ein Dorf treffen", meinte Dansard und deutete auf die großen Wassermassen zu seiner Rechten, keine zehn Schritte entfernt.
"Das haben wir doch schon besprochen, die Gefahr, dass wir uns verlaufen, ist zu groß", wand Navarro ein. Bis jetzt hatte sich Grimward aus dieser leidigen Diskussion, die tatsächlich jeden Morgen vom Zaun gebrochen wurde, rausgehalten, da er sich selbst noch nicht sicher gewesen war, welcher Gedanke bei ihm überwog. Doch über Nacht war ihm die Eingebung gekommen, dass sie nicht ewig von den Vorräten leben konnten. Sie mussten jemanden finden, am besten ein Dorf. Also schlug er sich auf Dansards Seite, wie er es wohl am besten schon vor Tagen getan hätte.
"Das Risiko hier endlose Tage am Strand entlang zu laufen, bis wir eines Tages kein Jagdglück mehr haben und unsere vorräte erschöpft sind, scheint mir auch Recht groß."
"Du ziehst also lieber planlos in einen dichten Wald?" fragte Navarro aufgereizt. Doch Grimward blieb eine Antwort erspart, denn er erhielt Unterstüzung von unerwarteter Seite.
"Die beiden Frischlinge haben Recht, Navarro. Im Wald haben wir wenigstens eine theoretische Chance auf irgendetwas interessantes zu stoßen. Außerdem müssten wir uns zumindest ungefähr auf unser Ziel zu bewegen, wenn wir südöstlicher Richtung marschieren", erklärte Harlek.
"Also gut", lenkte Navarro, noch immer nicht wirklich überzeugt klingend ein, "Dann aber los. Und sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt."
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Ein Schreckensschrei, ein Aufblitzen von Stahl, ein dumpfer Aufprall.
Dann war es geschehen. Mit immer noch zitternden Händen betrachtete Harlek sein Werk, während die anderen drei aus verschiedenen Richtungen zu ihm heranliefen, bereits im Lauf vorsichtshalber ihre Waffen zückend.
„Was ist?“, fragte Navarro eilig, als er sich seinem grauhaarigen Freund näherte. Doch die Antwort blieb aus. „Harlek?!“, rief er nochmals, als er ihn an der Schulter packte und zu sich drehte.
Währenddessen waren auch schon Grimward und Dansard neben ihnen und bestaunten schnaubend das Bild. Harlek hielt – immer noch zitternd und schwer atmend – die blutige Klinge in seiner zitternden Hand und starrte vor sich in die Luft.
„Was ist geschehen?“, erkundigte sich Grimward, nachdem er tief Luft geholt hatte.
Die Antwort erübrigte sich allerdings, als Harlek – wie vorauszusehen war – das Schwert fallen ließ und zunächst rückwärts taumelte bis er auf etwas traf und dann an jenen Baum gelehnt erst in die Knie sackte und schließlich auf den Boden plumpste. Was sich den Augen der drei bisher entzogen hatte, erkannte das Trio mit Schrecken. Auf dem Boden lag reglos ein bärtiger, stämmiger Mann mit silbernen Strähnen im Haar. Seine Augen waren geschlossen und der Bauch war aufgeschlitzt und gab freie Sicht auf jenes, was wohl keiner der Anwesenden sehen wollte.
Zuerst regte sich Navarro. Er eilte zu dem scheinbar toten Mann und ging vor ihm in die Knie. Er tastete zunächst an seinem Hals nach der Schlagader, gab es aber schnell auf und legte sein Ohr auf die breite Brust, welche von einigen Lederfetzen bedeckt war.
„Er lebt noch!“, meldete er sich schließlich und kramte daraufhin in seinem Gepäck. Einige Sekunden später kam eine Wasserflasche zum Vorschein und Navarro zog mit seinen Zähnen den Korken heraus, welcher sich mit einem lauten Geräusch löste. Der Mann legte die Flasche zunächst auf die Erde ab, riss die Kleider um den Bauch des Verletzten auf und wandte sich an die beiden Männer die noch immer kerzengerade hinter seinem Rücken standen:
„Los! Holt Wasser!“, maulte er und die beiden setzten sich in Bewegung. Beide griffen an ihre Gürtel, schnallten die gerade erst frisch aufgefüllten Wasserflaschen los und reichten diese Navarro, der die Wunde des Verletzten damit säuberte, um diese danach mit in Fetzen gerissenem Stoff zu verbinden. Da die Wunde sich schräg von kurz unterhalb der Brust bis zum Beckenknochen zog, klappte es sogar ganz passabel mit dem Binden und die Blutung konnte gestoppt werden. Zumindest, was das Äußere anging.
„Wir sollten hier nächtigen. Dem dort helfen nun nur noch Gebete.“, stellte Navarro fest, nachdem er fertig war. Zustimmendes Nicken war die einzige Erwiderung seitens Dansard. Er versank in seinen Gedanken. Er konnte es nicht fassen, dass es tatsächlich Navarro gewesen war, welcher so bereitwillig dem armen Schlucker geholfen hatte. Unter diesen Umständen konnte man sogar ein von Grund auf auf das Gute ausgerichtete Herz in diesem korrupten, gierigen Drecksack vermuten. Allerdings war Dansard klar, für wen er das alles tat. Dieser – dem Bogen und Jagdfallen zu urteilen – Jäger war wohl der einzige, der sich in diesen Wäldern auskannte. Zumindest in ihrem Umkreis hatten sie in Gorthar – falls es Gorthar war, wo sie von den Winden abgesetzt wurden – noch keine Menschenseele getroffen und die Vorräte der Schatzjäger gingen zuneige. Aus diesem Winkel betrachtet schienen Navarros Beweggründe ihm ähnlicher zu sein – durch und durch egoistisch.
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„Meine Fresse, ihr habt doch alle schon mal um euer Leben bangen müssen und einen Mann umgebracht!“, rechtfertigte sich Harlek verzweifelt.
Dansard seufzte verächtlich. „Ich schau aber hin, wen ich abschlachte“, murmelte er dann leise, drehte sich weg und starrte in die tanzenden Flammen. Überraschenderweise verkniff sich Harlek jeden Kommentar, was Dansard zugleich wunderte und enttäuschte. Zu gern genoss er es, dass dieser graue Wolf einen Fehler einsehen musste. Besonders sein schwindender Stolz, der bei jeder Schuldbekenntnis seitens Harlek förmlich verpuffte, weckte ein fast schon angsterregendes befriedigendes Gefühl in Dansard. Doch nun war es wohl genug, entschied er schließlich, weniger von seinem Anstand als von Grimwards strengem Blick gelenkt.
Er gähnte gelangweilt und sah zum schlafenden Jäger hinüber, der zwischen den dicken Eichenwurzeln lag, welche aus der Erde hervortraten und neben einer Stolperfalle auch einen guten Schlafplatz darstellten. Der Mann hatte noch immer keinen Ton von sich gegeben, obwohl er in seinem Fieber streckenweise sogar sehr lautstark gehechelt hatte und die ganze Zeit über ungewöhnlich viel schwitzte.
Müde verdrehte Dansard die Augen und legte sich auf den Rücken, bevor er sich auf die Seite rollte und auf den Ellenbogen abstützte. Sein Blick wanderte von dem Verletzten hinüber zum Feuer und blieb schließlich an dem Kurzbogen hängen, der nur eine Armlänge von seiner Brust entfernt lag, obwohl er sich eigentlich in Grimwards Gepäck befinden sollte. Mit gespielter Lässigkeit griff der Vogelfreie danach und setzte sich auf. Er betrachtete die Waffe in seiner Hand. Das Holz, die Sehne, es kam ihm sehr bekannt vor. Natürlich wusste er, wie ein Bogen aufgebaut war, doch diese spezielle Form sowie die Farbe und die Beschaffenheit des Holzes erinnerte ihn an etwas. Es war sein erster Bogen – die Waffe, die er nutzte, als er im Kastell des dunklen Magierzirkels von Nafolux in der Bogenkunst unterwiesen wurde. Es mochte sentimental erscheinen, aber vielleicht sollte die Ähnlichkeit gar kein Zufall sein. Dansard begab sich auf das gefährliche Terrain der philosophischen Spekulationen. Möglicherweise würde der ehemalige Schütze ausgerechnet mit dieser Waffe seinen Weg zurück zum Bogen finden. In Erinnerungen schwelgend fiel ihm auch wieder ein, dass es gerade die ausgesprochen harte und nur schwer zu meisternde Ausbildung gewesen war, die ihn mit all seinen Bögen so dermaßen vereint hatte. Reitet man also weiter auf jener abergläubischen Welle, wäre zu erwarten, dass nur Selbstüberwindung und Zielstrebigkeit ihn auch nun weiterbringen würde.
Im Kopf noch immer die Gedankengänge ausformulierend, erhob sich Dansard schließlich und sah die Waffe in seiner Hand mit einer Entschlossenheit an, die er womöglich nur sich selbst vorzuspielen versuchte. Er schnappte den dazugehörigen Köcher und verschwand zwischen den Bäumen. Es mochte zwar absurd klingen, dass jemand mitten in der Nacht das Bogenschießen übte, doch in jenem Fall kam es nicht auf die Treffsicherheit an. Nicht diesmal.
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"Grim...", Dansard meldete sich erneut, er war heute ungewöhnlich guter Laune, merkwürdigerweise. Denn noch immer lag der Jäger im Fieberwahn dar und Grimward hatte seinerseits schon jegliche Behandlung abgebrochen, es half nur noch zu beten. Auch von dieser Möglichkeit war der Ritter Selerondars nicht zwingend begeistert. Harlek wurde nicht müde zu betonen, dass es ja gar nicht wirklich seine Schuld sei und er es nicht absichtlich gemacht hatte, ein klares Anzeichen dafür, dass er sich schuldig fühlte. Etwas betreten saß er nun, betont sicherheitsabstand zu dem verletzten Jäger halten, im Schatten eines hohen Baumes und spielte nervös mit einem Zweig. Grimward war sogar ein bisschen froh, dass Harlek in dieser schlechten Verfassung war, denn zum einen ging er ihm weit weniger auf die Nerven und zum anderen zeigte es, dass er noch genug Mensch war, um sich solcher Fehler zu schämen. Navarro hingegen war noch deutlich kühler, als Grimward ohnehin schon angenommen hatte, er brütete die ganze Zeit über einer Karte, die Gorthar zeigte, murmelte vor sich hin, zog mit einem schmalen Kohlestück Kreise und Linien, seufzte auf und verwischte sie wieder, sodass die Karte mittlerweile ziemlich mitgenommen aussah. Um den fast toten Jäger, kümmerte er sich kaum.
"Was denn?" fragte Grimward und versuchte nicht genervt zu klingen. Die Warterei machte ihn verrückt, er wünschte sich nur, er hätte irgendeine sinnvolle Aufgabe, doch in den letzten Tagen waren sie einfach gar nicht vorran gekommen. Zwar hatten sie versucht, den Verletzten einfach abwechselnd zu tragen und weiter zu ziehen, doch das hatte sich als deutlich zu schwierig herausgestellt und außerdem hatten Grimwards Bedenken, ob der Jäger tatsächlich transportfähig war, die anderen davon abgehalten, auf biegen und brechen weiterzuziehen.
"Ich war gestern im Nacht mit dem Kurzbogen unterwegs...", meinte Dansard halblaut, sodass Navarro und Harlek ihn nicht hören konnten, "Ich habs geschafft. Ich hab einen Pfeil abgeschossen. Nur einen einzigen... aber immerhin."
Grimward zog die Brauen hoch, er hatte gehofft, dass Dansard auf kurz oder lang zu seinem Selbstvertrauen zurückfinden würde. Doch auf eine schnelle Genesung hatte er nicht zu hoffen gewagt.
"Sehr gut, demnächst sollten wir..."
Von der liegenden Gestalt, nahe am Lagerfeuer, welche den halbtoten Jäger darstellte, kamen grässliche Schmerzenslaute, welche sich deutlich von jenen unterschieden, die Grimward oder die Anderen bis dato vernommen hatten. Tatsächlich klang es mehr nach dem Stöhnen und Ächzen eines verwunden, als nach dem fiebrigen Gezeter, welches er bisher von sich gegeben hatte. Hastig gingen Grimward und Dansard zu dem Verwundeten hinüber, auch Harlek tauchte hinter ihnen auf, doch Grimward beachtete ihn nciht weiter, er konzentrierte sich auf den Jäger, dessen Augenlieder flatterten, seine Stirn war kalt vor schweiß und sein ruckartiger Atem sorgte dafür, dass sich seine Brust stoßweiße hob und senkte. Der Barbier griff nach seiner Wasserflasche und benetzte das Gesicht des Verwundeten ein wenig damit, dann riss er einen kleinen Fetzten von seinem Mantel, tränkte ihn, das höhnische Schnauben Harleks missachtend, mit Wasser und legte es an die Lippen des Jägers, der sich ein wenig beruhigte und schwächlich hustend und röchelnd begann, an dem getränkten Tuch zu saugen. Schließlich warf Grimward das stück Stoff beiseite und füllte den Deckel seiner Trinkflasche mit ein wenig Wasser. Er träufelte es vorsichtig in den halb geöffneten Mund des Verletzten, dieser schluckte gierige, verschluckte sich, hustete und würgte. Dann jedoch schlug er die Augen auf, so plötzlich, dass Grimward glaubte, Harlek hinter sich zusammenzucken zu hören.
"Navarro, Navarro, er ist wach! Er ist wach", rief Harlek und der Bogenschütze vernahm die Erleichterung in seiner Stimme nur zu deutlich.
"Wasser", krächzte der Fremde nur und hustete erneut.
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"Da vorne, kommt jetzt, wir haben es fast geschafft, gleich hinter diesen Bäumen, ist die Lichtung", meinte Jenor über die Schulter zu ihnen. Der Jäger bewegte sich noch immer ziemlich langsam und vorsichtig. Kein Wunder, Grimward war schon ziemlich überrascht, dass Jenor sich überhaupt noch bewegte. Denn immerhin hatte Harlek ihn vor ein paar Tagen beinahe umgebracht. Doch mittlerweile ging es ihm wieder einigermaßen gut und er hatte eingewilligt, sie zu seinem Dorf zu führen. Wenn sie ein wenig Glück hatten, war dies das Dorf, nach welchem sie suchten. Wenn nicht, würden sie zumindest eine Auskunft und vielleicht ein Dach über dem Kopf haben. Grimward konnte spüren, dass sie sich dem Schatz näherten und seine Aufregung stieg. Was mochte wohl hinter dem Schatz und dieser seltsamen Münze stecken. Navarro und Harlek schienen mehr zu wissen, doch sicher war sich Grimward da auch wieder nicht. Die Neugier machte ihn nervös und reizbar, er musste wissen, was es damit auf sich hatte. Wie gut, dass Jenor sich bereit erklärt hatte, ihnen den Weg in sein Dorf zu zeigen. Wobei, als Grimward gerade ein paar Zweige beiseite schlug, die nach seinem Gesicht zu greifen schienen, da rief er sich in Erinnerung, das bereit erklärt, nicht wirklich stimmte. Sie hatten ihn regelrecht breit schlagen lassen und Grimward war ziemlich sicher, dass es nicht geklappt hätte, wenn Jenor nicht um sein Leben gefürchtet hätte. Grimward hatte zu einer Methode gegriffen, vor der er normalerweise immer zurückgeschreckt wäre und er schauderte bei dem Gedanken daran, dass wirklich er, der Ritter Selerondars, so etwas getan hatte. Zwar hatten die vier Schatzsucher nicht durchblicken lassen, warum sie überhaupt nach Gorthar gekommen waren, doch Jenor musste wohl ahnen, dass sie ein tieferes Ziel verfolgten. Vor seinem geistigen Augen ließ er noch einmal das Gespräch mit dem Jäger, welches er am gestrigen Morgen geführt hatte, während die anderen etwas Feuerholz gesucht hatten.
"Keinesfalls", meinte Jenor, auf dem Rücken leigen, "Keinesfalls werde ich zu meinem Dorf führen. Meine Heimat steht den Fremden nicht offen, niemals!"
"Mach dich nicht lächerlich", erwiderte Grimward und verband die noch immer fürchterlich aussehende Schnittwunde, "Immerhin habe ich dir das Leben gerettet und so wie es aussieht schuldest du mir etwas."
"Nachdem euer Freund mich von oben bis unten aufgeschlitzt hat und vielleicht für mein ganzes Leben zum Krüppel gemacht hat? Ich bin doch nicht verrückt. Ich schulde euch gar nichts, wenn überhaupt, schuldet mir dieser grauhaarige Harlek etwas!"
"Spiel dich nicht so auf, es ist doch nur üble Schnittwunde, du wirst schon bald wieder jagen können", beschwichtigte der Barbier, obwohl er nicht sicher war, ob das wirklich stimmte. Die Wunde sah noch ziemlich übel aus, und der Jäger hatte große Mengen an Blut verloren, obwohl Grimward mit Dansards Hilfe alles getan hatte, um die Blutung in Grenzen zu halten. Irgendwie schien der menschliche Körper zwar Blut nachzuproduzieren, auch wenn der Ritter Selerondars keine Ahnung hatte, wie der Körper das anstellte. Aber andererseits brauchte der Mensch dafür einige Zeit und normalerweise jede Menge Ruhe. Beides Dinge, die sie Jeron wohl nicht gönnen konnten.
"Aber ich werde euch trotzdem nicht sagen, wohin ihr gehen müsst, wenn ihr das Dorf finden wollt. Man würde micht bestrafen, fürchterlich bestrafen! Was wollt ihr überhaupt?" fragte Jeron.
"Warum sollte man dich bestrafen?" erkundigte sich Grimward, dem auf kurz oder lang die Galle in hochstieg. Warum stellte sich dieser verdammte Jäger quer. Flüchtig schoss ihm durch den Kopf, dass er ihn auch einfach hätte verbluten lassen können. Ein gemeiner Gedanke, aber nichtsdestotrotz in diesem Augenblick sehr verlockend.
"Ungläubige dürfen das Dorf nicht betreten", murmelte Jeron halblaut, eindeutig nicht an Grimward gewand.
"Ungläubige?" echote der Barbier
"Bei.... habe ich gerade? Vergesst was ich gesagt habe! Ihr könnt nicht in das Dorf."
Grimward hatte genug, er zog sein Schwert, "Ich kann Freundchen! Du wirst uns dorthin führen denn sonst...", er steckte die Klinge wenige Zentimeter neben dem Gesicht des Jägers in den nassen Boden.
"Deine Freunde würden das nicht gutheißen", meinte Jeron, doch Grimward sah die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn bildeten und beobachtete wie seine Augen hektisch zwischen dem Schwert und ihm hin und her huschten
"Ich werde sagen, dass du weggelaufen bist... oder besser gesagt, dass du versucht hast, wegzulaufen", erwiderte Grimward.
"Das werden sie dir nicht glauben!"
"Du wärest in jedem Fall tot, was nützt es dir also, wenn meine Freunde mich nicht mehr mögen", antwortete der Barbier und funkelte den Jäger wütend an. Dieser zögerte noch einen Moment, doch dann erlahmte sein Widerstand vollends.
"Also schön", murmelte er und Grimward zog seine Klinge aus dem feuchten Waldboden.
Dem Ritter Selerondars fiel erst jetzt wieder ein, dass Jeron etwas von einer Bestrafung gesagt hatte. Vielleicht hatte der Jäger sich selbst wohlwissentlich in eine Zeit im Gefängnis geführt, in der Hoffnung, dass sein eigenes Dorf vielleicht doch Gnade walten lassen würde? Grimward musste ihm schon ziemlich Angst eingejagt haben, doch er freute sich nicht gerade darüber, eher schämte er sich. Die Neugier beihnhaltete das Wort Gier wohl nicht zu Unrecht. Vielleicht führte Jeron ja auch bloß die vier Schatzsucher in den Tod. Zum ersten Mal seit langem wurde ihm bewusst, wie weit weg sie von Myrtana waren, wie weit weg von den Wurzeln, von ihrer Heimat. Tief in den gorthanischen Wäldern, er, Dansard und zwei zwielichtige Schatzsucher, denen Grimward in etwa so weit traute, wie er sein Schwert schleudern konnte. Er warf einen flüchtigen Blick auf Dansard, der konzentriert und in sich gekehrt wirkte. Er trug den Kurzbogen über der Schulter, auch wenn der Ritter Selerondars es noch nicht gesehen hatte, so war er doch sicher, dass Dansard sich täglich ein wenig Zeit stahl und sich seinen Ängsten stellte. Grimward war froh darüber, denn er hatte das ungemütliche Gefühl, dass sie schon allzubald auf Dansard und seinen Bogen angewiesen waren.
"Da ist es", meinte Jeron, der durch ein paar letzte Bäume hindurchgebrochen war und nun halblaut sprach. Grimward war der nächste der die Lichtung betrat und stellte fest, dass Jeron untertrieben hatte, als er von einer "Lichtung" und einem "Dorf" sprach. Dem Barbier klappte die Kinnlade unwillkürlich nach unten. Vor ihm erstreckten sich dutzende, Häuser, die ordentlich angeordnet die Lichtung bevölkerten, doch das war nicht der eigentliche Grund. Ihm direkt gegenüber, doch am anderen Ende der Lichtung, erhob sich ein Tempelgebäude, beeindruckend viel größer als alle anderen Gebäude auf der Lichtung, und von ebenso beeindruckender Pracht.
"Bei Innos", murmelte Dansard, als er die Lichtung betrat und neben Grimward stehen blieb. Der Wind fuhr ihnen durch die Kleider und ließ den Barbier schaudern, sie hatten ihr Ziel erreicht.
Geändert von Grimward (03.08.2008 um 22:51 Uhr)
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Grimward schlug die Augen auf und sein Blick traf auf die hölzerne Decke, direkt über ihm. Einen Moment war er versucht wieder in die Welt der Träume zurückzugleiten, noch ein wenig Ruhe zu genießen, doch dann entschied er sich dagegen. Er war nicht am richtigen Ort, um in den Tag hineinzuschlafen, ja er hatte das unsichere Gefühl, dass seine volle Aufmerksamkeit und Konzentration schon bald gefragt sein würde. Etwas behäbig zwar, aber fest entschlossen nicht mehr einzuschlafen, setzte er sich auf und warf einen flüchtigen Blick in die Runde. Seine Gefährten lagen, wie er selbst bis vor wenigen Augenblicken, auf einfachen Matten, welche wiederum auf dem Boden lagen. Die Bewohner des Dorfes hatten sie am gestrigen Tage nicht besonders herzlich empfangen. Grimward hatte das Gefühl gehabt, dass sie nicht besonders aufgeschlossen gegenüber Fremden waren, genau wie es angenommen hatte. Weit gekommen waren die Schatzsucher freilich nicht. Schon am ersten Haus hatte man sie abgefangen und in eines der Häuser komplimentiert. Der Besitzer des Hauses war Jeron, der ebenfalls hier übernachtete, jedoch in seinem eigenen Zimmer. Zum Tempel hatte man sie nicht vorgelassen, geschweige denn, dass sie irgendetwas anderes in der Stadt hatten sehen dürfen. Im Grunde waren sie jetzt schon Gefangene, denn Jerons Haus war zum Gefängnis umfunktioniert worden, spätestens als zwei grimmige Wachen, zwar nicht uniformiert, aber doch eindeutig als Wachen erkennbar, vor ihrem Quartier Position bezogen hatten, war Grimward dies klar gewesen. Die Stimmung unter den Schatzsuchern war gedrückt, obwohl Jeron ihnen ein gutes Abendmahl serviert hatte und alle bemüht gewesen waren, möglichst entspannt zu wirken. Auch Jeron schien es nicht besser zu gehen, er mied jeden Kontakt mit den Fremden und sprach kein Wort mit ihnen, sondern schloss sich lieber in seinen Privatgemächern ein. Offenbar war auch er Gefangener in seinem eigenen Haus, denn als er versuchte, das Haus zu verlasssen, hatten die Wachen ihm den Weg vertreten und nach einem kurzen, aber heftigen Streitgespräch, von dem Grimward leider nicht viel verstanden hatte, war Jeron wieder zurückgegangen und hatte sich in seinen Zimmern verschanzt.
Der Barbier ging zu Dansards Lager hinüber und weckte den ehemaligen Waldläufer, ohne die beiden anderen Schatzsucher zu stören. Auch wenn er der Meinung war, dass langes Schalfen fehl am Platz war, so legte er doch keinen gesteigerten Wert darauf, dass Harlek oder Navarro wach waren. Seitdem er beinahe den Jäger ermodet hatte, war Harlek zwar angenehm kleinlaut, doch ihm war deswegen noch lange nicht zu trauen. Navarro hatte sich in der letzten Zeit als noch kälter und härter erwiesen, als Grimward zunächst angenommen hatte. Ansonsten konnte er ihn noch immer nicht einschätzen und genau das machte ihn misstrauisch. Mit ein paar Gesten bedeutete er Dansard, der nicht besonders erfreut über die frühe Störung schien, dass er in einen Nebenraum gehen sollte, um wenn möglich ein Frühstück einzunehmen. Grimward ging hinüber in das Esszimmer, welches im Grunde nur aus einem, für eine einzelne Person recht großen, Esstisch bestand. Wahrscheinlich hatte der Jäger oft Freunde zu Besuch, überlegte Grimward, mit einem Blick auf den großen Tisch, den er gestern gar nicht so richtig beachtet hatte. Oder er hatte Familie und diese war in einem, von den Schatzsuchern unbeobachteten Moment aus dem Haus geschleust worden. Der Ritter Selerondars ließ sich am Kopfende des Tisches nieder und stütze seinen Kopf auf seinen Händen ab. Wenig später vernahm er Dansards Schritte, woraufhin der Blondschopf in seinem Blickfeld auftauchte und sich ebenfalls am Tisch niederließ. Ohne groß Worte zu wechseln, packten die beiden die Reste ihres Proviants aus und begannen sie zu verzehren.
"Was denkst du, was haben sie vor?" fragte Dansard zwischen zwei Happen.
"Die Einheimischen?" der Barbier zuckte mit den Schultern.
"Nein, Navarro und Harlek meine ich", verbesserte ihn Dansard, "Ich meine, mit so etwas müssen sie doch gerechnet haben?"
"Hast du mit so etwas", Grimward machte eine ausschweifende Handbewegung gerechnet, "Mit solch einem Tempel, tief in der Wildnis?"
"Nein, aber ich bin auch nicht jahrelang auf der Suche nach dem Schatz. Vertrau mir Grim, dieser Navarro hat noch mehr als eine Karte im Ärmel. Und ich befürchte, in seiner Realität, sind auch wir zwei nur ein paar hochwertige Bildkarten", vermutete Dansard düster.
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Die riesige, schwere Axt blitzte in einem tödlichen Bogen durch die Abendluft. Dansard biss die Zähne zusammen, um Fassung zu bewahren. Der lose Kopf rollte vom Holzpodest herunter und landete auf den Pflastersteinen. Dabei hinterließ er eine Spur aus dunkelrotem Blut. Dem Blut eines Unschuldigen.
Grimwards bedrückter Blick schwenkte zu Dansard hinüber. Die Behauptung, welche die beiden Deserteure für eine verzweifelte und nahezu lächerliche Lüge gehalten hatten, entpuppte sich nun als eine ernst zu nehmende Befürchtung, welche der Jäger mit voller Aufrichtigkeit geäußert hatte.
Der geistliche Vorstand des Dorfes, das mitten in den unerforschten Weiten Gorthars lag, bestand aus einem Kreis von älteren Männern, deren weite, silberfarbene Roben passend zu ihrem Kopf- und Barthaar gewählt zu sein schienen. Sie standen eng beieinander hinter dem Podest und sprachen mit gesenkten Köpfen in einer unbekannten Sprache. Dabei schien der mittlere Priester, dessen Haar komplett in weiß glänzte, die Verse aufzusagen, während der Rest diese in einer Art Kanon wiederholte. Nachdem die Formeln fertig ausgesprochen waren, trat der weißhaarige Priester zum Podest heran und wandte sich zum Henker, welcher seine gewaltigen Hände vor dem Mund faltete und leicht in die Knie ging, woraufhin der Priester ihm seine Lippen auf die Stirn drückte. Als dies erledigt schien, entfernte sich der Vollstrecker mitsamt seiner Doppelaxt. Der Geistliche jedoch stieg vom Podest und trat an den leblosen Kopf heran. Er packte ihn bei den Haaren und spazierte damit langsam zu den vier Gefangenen herüber, vor welchen er halt machte und wild gestikulierend einige weitere Worte in jener Sprache aufsagte. Danach vollführte er mit dem Kopf einen Halbkreis, sodass er nur knapp an den Gesichtern der Vier vorbeisauste und auf jenen feine Bluttröpfchen hinterließ, welche der Priester mit seinen Fingern verschmierte, bevor er den Kopf fallen ließ und sich entfernte. Er kehrte mit seinem Gefolge wieder zurück in den Tempel, ohne die vier angewiderte Gefangenen eines weiteren Blickes zu würdigen.
Darauf bedacht, keine weitere Zeit mit Worten zu vergeuden, schleppten die vier stämmigen Kerle die Gefangenen zurück in Jenors Hütte, die als Verließ für sie diente. Zwar war es angenehmer, in einem Haus zu wohnen als in einer Zelle aus kaltem, kargem Stein, jedoch verstreute auch die Hütte eine hoffnungslose Atmosphäre, welche sonst für ein Gefängnis typisch war.
Als sich die vier gefangenen Männer mitsamt ihrer eskorte der hölzernen Tür näherten, wurde sie von innen aufgeschoben und die Gefangen wurden der Reihe nach unsanft in ihr Verließ gesteckt. Als Harlek und Navarro schon drin waren und Grimward soeben auf dem harten Boden landete, schloss einer der Wachen plötzlich die Tür.
Dansards weit aufgerissene Augen hefteten sich an jene der Wache.
„Was ist nun?!“, rief der Waldstreicher und versuchte vergeblich seine Hände zu befreien.
„Du kommst mit, mit dir haben wir Besseres vor“, antwortete der Muskelberg geheimnisvoll und grinste breit.
„Was?! Bei Beliar...“, fing Dansard an, doch er kam nicht weit. Eine riesige Faust explodierte an seinem Kinn.
„Ruhe! Dein Beliar wird dir nicht helfen, ebenso wenig wie Innos“, hörte Dansard gedämpft und vor seinen Augen verschwamm alles für einen Augenblick. Er erkannte jedoch, dass er in einen Raum gezerrt wurde. Einen hell erleuchteten Raum. Es war kein Licht, das von Fackeln gespendet wurde, es schien anders, sehr viel reiner als jenes der flackernden Flammen. Es musste deinem Zauber entsprungen sein. Als der Gefangene wieder einigermaßen klar sehen konnte und sich seine Augen an die Helligkeit gewohnt hatten, sammelte sich die Helligkeit und nahm die Gestalt eines hämisch grinsenden Priesters in hellem Silbergewand an.
Mit einer Handbewegung ließ er den Blondschopf mit dicken Seilen an einen Stuhl fesseln und kehrte ihm zunächst den Rücken zu.
„Nun, Fremder. Lass uns reden...“
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"Dansard", Grimward keuchte, als der Blondschopf durch die Tür taumelte und der Länge nach in den Flur stürzte. Der Barbier war wenige Augenblicke später schon neben seinem Freund, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Mit einer ordentlichen Kraftanstrengung drehte der Bogenschütze seinen Gefährten auf den Rücken, während er die Blicke der Schatzsucher in seinem Rücken spürte. Diese Mistkerle hatten ihn übel zugerichtet, nachdem sie ihn von den anderen getrennt hatten. Dansard sah nicht so schlimm aus, wie zu Zeiten seiner Gefangenschaft. Aber der Anblick reichte, um Grimward einen heftigen Stich zu versetzten. Nicht nur das Jeron getötet worden war, nun war auch Dansard übel zugerichtet. Schrammen und Blutergüsse zogen sich durch sein Gesicht, eine klaffende Wunde zierte seine Stirn und ein Teil seines blonden Haares war blutgetränkt. Der ehemalige Waldläufer schlug Augen auf, seine Lider flatterten kurz und er versuchte etwas zu sagen, doch dann fielen seine Augen wieder zu. Grimward spürte wie Wut in ihm hoch stieg, fürchterliche nie gekannte Wut. Ein Drang etwas zu zerstören, nach möglichkeit etwas, was diesen Unmenschen gehörte, die Jeron getötet und Dansard so zugerichtet hatten. Seine Hände ballten sich kurz zu Fäusten, seine Knöchel knackten. Wenn er jetzt jemanden in die Finger bekommen könnte. Seine Wut überlagerte für einige Augenblicke sogar seine Angst und die war durchaus gewaltig. Die Welt war ungerecht, dass war keine Neuigkeit. Doch in letzter Zeit trieb sie es wirklich bunt mit ihm. Ständig war er gezwungen, zu sehen, wie seine Freunde in den Staub getreten wurden, nur um mit dem Gefühl leben zu müssen, dass er an ihrem Leid schuld war, so zumindest schien es ihm.
"Helft mir doch verdammt", herrschte er Harlek und Navarro an, "Wir müssen ihn hier aus dem Flur schaffen."
"Er... sieht übel aus", meinte Navarro, kein Mitleid war in seiner Stimme zu erkennen, doch mit mit so etwas wie grimmiger Genugtuung erkannte Grimward die Angst in seiner Stimme umso überdeutlicher.
"Genau deswegen kann er nicht in diesem verdammten, gottlosen Flur liegen bleiben."
Also erbarmte sich Harlek und gemeinsam trugen sie den Ohnmächtigen Dansard in das Wohnzimmer, in welchem sie alle gemeinsam schliefen. Grimward bettete den Kopf seines Freundes möglichst sanft auf den Mantel des Ritters von Selerondar und deckte Dansard mit dem Mantel des ehemaligen Waldläufers zu. Dann verband er den schlimmsten Schnitt auf der Stirn des Blondschopfs und gebot seinen Begleitern, den Raum zu verlassen, da Dansard nun Ruhe brauchte, Grimward folgte ihnen auf dem Weg zur Küche, wo sie sich alle in die hölzernen Stühle fielen ließen. Tatsächlich war Grimward mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass Jeron eine Familie gehabt haben musste, sein Haus war auf mehrere Personen ausgelegt. Nur hatten Grimward und die Anderne sie nie zu Gesicht bekommen. Was ihm im Moment auch herzlich egal war. Denn es war ziemlich sicher, dass sie diesen Ort nie wieder verlassen würden und wenn doch, dann nur um wahlweise in Innos oder Beliars Reich einzutreten. Denn dem tod geweiht waren, sie, spätestens seitdem die Bewohner des Dorfes Dansard so fürchterlich zugerichtet hatten, stand diese Tatsache für Grimward außer Frage.
"Warum habe sie Dansard bloß so zugerichtet", fragte Grimward betreten in den Raum.
"Bist du wirklich so naiv?" gab Navarro die Frage zurück und zum ersten Mal seit Tagen, konnte Grimward eine Emotion in Bezug auf ihn festellen. Navarro war wütend und zwar schon seit Tagen, wie der Ritter Selerondars rückblickend festellte, "Wonach sieht es für dich aus? Sie werden uns kalt machen, so wie sie den Jäger erledigt haben. Aber vorher wollen sie wissen, warum wir überhaupt hierhergekommen sind!"
"Du meinst...", begriff Grimward.
"Ja verdammt, sie haben es aus Dansard herausgeprügelt. Ein Wunder das sie dafür fast einen geschlagenen Tag gebraucht haben, wahrscheinlich waren sie nicht gerade zimperlich", warf Navarro ungeduldig ein, "Wahrscheinlich werden die Priester bald kommen und uns noch einmal verhören. So wie ich das sehe sind wir hier auf ein obskures Nest einer Sekte gestoßen. Ich weiß nicht wen oder was sie anbeten, aber ich bin verdammt nochmal sicher, dass es uns auslöschen wird.
Grimward erwiderte nichts, sein Blick schweifte von den beiden Begleitern ab, zum Fenster hinaus. Ein Strahl des güldenen Sonnenlichts fiel hinein und tausende, winzige Staubflocken tanzten im gebündelten Strahl des Lichts. Eine Schöpfung Innos... zweifelsohne??
Geändert von Grimward (11.06.2008 um 20:38 Uhr)
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Noch immer saßen drei der vier Abenteuerer in grimmiger Schweigsamkeit vereint am Esstisch. Grimward starrte beinahe die ganze Zeit zum Fenster hinaus und verfolgte den Tanz der Staubflocken im langsam aber sicher rötlich werdenden Lichte des hereindämmernden Abends. Harleki war von ihnen noch der Aktivste, hin und wieder erhob er sich, schien einige Schritte orientierungslos durch den Raum zu stolpern, so als bewege er sich durch ein gefährliches Trümmerfeld. Navarro hatte eine stoische Ruhe befallen, soweit Grimward es beurteilen konnte, hatte sich der Schatzsucher schon seit Stunden nicht mehr bewegt. Der Ritter Selerondars hätte gerne gewusst, was im Kopf des Schwarzhaarigen vorging, doch Während der Vierte im Nebenraum lag und in den dunklen Reichen der Traumwelt herumgeisterte. Nur hin und wieder wechselten sie ein paar wenige Sätze, da sie wussten, dass sie sich nur gegenseitig in ihrer Ruhe stören würden. Grimward wusste, dass es hart war, Dinge zu ertragen und im Grunde fürchtete er sich vor dem, was kommen mochte. Fürchtete sich davor, dass er Dinge ertragen musste, die kein Mensch ertragen könnte, an denen er zerbrechen könnte, die er vielleicht nicht überlebte. Doch trotzdem regte sich der verzweifelte Wunsch, irgendetwas möge passieren in ihm und ließ ihn nicht mehr los. Es war weit schwieriger der Dinge zu harren, als zu handeln. Denn die Stunden des schier endlosen Wartens, führten zu gefährlichen Gedanken, grübelein, die in den entscheidenden Augenblicken dazu führen mochten, dass das Schicksal eine unerfreuliche Wendung nahm, weil man eine Sekunde zu lange zögerte, oder schlicht die falsche Entscheidung traf. Das einzige Gefühl, der einzige Gedanke, der sich über Stunden gehalten hatte, der immer wieder durch seinen Schädel sauste und den Takt seiner Gedanken scheinbar spielerisch leicht beherrschte, war Wut, Wut und Hass. Hass auf jene, die Dansard so zugerichtet hatten, Hass auf seine Götter, die ihn in diese Situation manövriert hatten, Hass auf sich selbst, der nicht genügend Mumm gehabt hatte, sich der Garde gleich zu stellen. Nun würde er Buße dafür tun, dass er sich von Neugier oder bloßer Gier hatte leiten lassen.
"In trauter Einigkeit, die Ketzer", verkündete plötzlich eine ölige Stimme, Grimward schreckte aus seiner Trance auf, sein Körper spannte sich, plötzlich saß er Kerzengrade da. Auch Navarro und Harlek versteiften sichtlich, als sie den Neuankömmling, welcher im Türrahmen stand und sie mit einem undefinierbaren Grinsen anstrahlte, erblickten. Der Priester trug, wie es in dieser Religion Tradition zu sein schien, ein langes grausilbriges Gewand. Seine Haare waren fast schneeweiß und als er einen Schritt vorwärts machte, traten noch zwei weitere Priester, etwas jünger, doch in ähnlich würdevolle Roben gekleidet ein. Auf sie folgten vier bewaffnete Männer, die keine Uniformen oder ähnliches trugen, aber in ihrer Erscheinung nicht weniger bedrohlich wirkten, als feindlich gesinnte Krieger.
"Was wollt ihr?", gab Grimward harsch zurück. Es war keine Zeit für Höflichkeiten, hier standen, beziehungsweise saßen sich Feinde gegenüber. In ihren Augen, so überlegte der Ritter Selerondars kurz, mussten die Schatzsucher wie bösartigen Eindringlinge wirken. Doch er scherte sich nicht darum, wie er auf sie wirkte, ihn interessierte nur, was sie mit Dansard angestellt hatten, was sie mit ihnen anstellen würden.
"Die Frage ist viel mehr", lachte der Preister und wurde dann schlagartig ernst, "Was wollt ihr?" er machte eine ausladende Geste, mit der er unterstrich, dass er so etwas wie den Heimvorteil genoss.
"Spart euch eure Spielchen", warf Navarro ein. Hatte Grimwards Stimme noch vor Wut gebebt, so klang der Schatzsucher nun geradezu unnatürlich kühl, wenn auch keineswegs entspannt. Auf seine Art war er wahrscheinlich noch deutlich eregter, als selbst Grimward.
"Aber, aber... wer wird denn unhöflich werden", meinte ein zweiter Priester glatt, "Wir erkundigen uns-"
"Seit still. Denkt ihr wir sind blind? Denkt ihr, wir wissen nicht, warum ihr Dansard gefoltert habt?"
"Gefoltert?" der weishaarige Priester setzte eine Unschuldsmiene auf.
"Schluss jetzt", zischte Navarro erneut unnatürlich kalt ein. Einige sekunden lang, trat Stille ein, Grimward glaubte zu sehen, dass sich die Hände zweier Krieger den Griffen ihrer Klingen näherten. Als er genauer hinsah, stellte er fest, dass die anderen beiden Bewaffneten ihre Hand längst auf den Knauf ihrer Schwerter gelegt hatten. Die Gesichter der Priester, bislang völlig ausdruckslos, oder gar gespielt freundlich, schlugen um.
"Also gut, ich habe es versucht. Ich wollte euch die Sache einfach machen. Aber ihr lasst mir ja keine Wahl. Ihr habt Recht, euer Freund Dansard musste reden. Wir wissen was ihr sucht. Warum ihr hier seid. Und ich bin gekommen, das Urteil zu verkünden, welches unser Gott sprach! Das Urteil lautet..."
"Tod!"
Grimwards Kopf wirbelte herum. Aus dem Nebenraum war Dansard herübergekommen. Er sah furchtbar abgekämpft aus, wie er, an den Türrahmen gelehnt dastand, ein schmutziges Tuch um die Stirn gebunden, funkelte er hasserfüllt zu den Priestern und ihren Helfershelfern herüber.
"Ahh... wie mir scheint, ist euer Verstand nicht in Mitleidenschaft gezogen worden", meinte einer der Priester gehässig und nickte Dansard spöttisch zu. "Wie auch Jeron habt ihr unseren Gott verraten und werdet noch diese Nacht hingerichtet. Wir werden euch nun einige Stunden euch selbst überlassen."
"Wie können wir einen Gott verraten, den wir überhaupt nicht kennen?!" rief Grimward wütend und sprang auf, als sich der Tross zum gehen wandte. Der Priester drehte sich nicht einmal um, sondern ging bloß leise lachend hinaus.
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Die Auszeit nach dem dubiosen Besuch der drei Priester fiel eher mager aus. Es verging keine Stunde, als die Riegel in der Tür schwermütig knarrten und eine der beiden bewaffneten Gestalten die Tür aufschob. Doch die beiden waren nicht allein, versteht sich. Auch diesmal hatten sie geistlichen Beistand – den jüngeren der beiden Priester vom letzten mal – im Schlepptau. Dieser strich sich arrogant das braune Haar aus dem Gesicht und ging eher unwillig in das Zimmer, in dem sich die vier Ungläubigen aufhielten. Ohne die an der Wand lehnenden Schatzjäger zu beachten, bahnte er sich seinen Weg durch den Flur. Er näherte sich Dansard bis auf wenige Meter und blieb dann abrupt stehen, wobei er von seinen beiden Leibwächter angerempelt wurde. Letztere wurden dafür mit einem wütenden Blick bestraft und traten mit eingezogenen Schwänzen einige Schritte zurück.
„Bei der Heiligkeit Rhamutras, ich tue es nicht gern“, leitete der Priester seine Rede ein. „Aber ich tue es in seinem Namen!“
„Was tun?“, murmelte Dansard erschrocken und ertastete verzweifelt eine Wand hinter sich.
„Noch heute werdet ihr Gottlosen vor Rhamutras Gericht stehen und um seine Gnade winseln!“, entgegnete der in Grau gekleidete Mann mit auflodernder Wut. „Rhamutra ist keine Wandmalerei wie die Götter, welche ihr verehrt. Er existiert. Er lebt! Er ist!“, verfing sich der Geistliche langsam in seinen eigenen Bewunderungsreden. „Noch heute werden ihr das spüren! Noch heute wird euch Rhamutra das wahre Leben offenbaren. Doch es ist zu spät!“, er lachte triumphierend. „Das einzige, was meinen Ansprüchen diesbezüglich nicht genügen kann, ist meine jetzige Aufgabe.“
Er hob seine Hand und streckte sie nach Dansard aus. Sie erstarrte jedoch ungefähr eine Elle vor seinem Gesicht und der Zauberer konzentrierte sich einige Sekunden, bevor Dansards Augen von einem überwältigend hellen Licht geblendet wurden. Ein unangenehmes Jucken breitete sich in seinem Körper aus, vor allem im Gesicht fühle es sich an, als würden Tausende von Ameisen darüber krabbeln. So sehr er sich auch bemühte, brachte Dansard keine Bewegung zustande. Es verstrichen einige Sekunden und das licht verpuffte schlagartig.
„So. Nun habt ihr wieder ein würdiges Äußeres, um dem einzig göttlichen Geschöpf auf unsrer Welt entgegenzutreten, ohne dessen Zorn zu erregen“, verkündete der Priester leise und Dansard fasste sich an die Stirn. Kein Blut, keine Wunden. Es musste ein Heilzauber gewesen sein, auch wenn es ihm selbst recht eigenartig erschien, dass derselbe Mann, der ihm alle jenes Leid zugefügt hatte, nun seine wunden besetigte.
„Damit endet die Kette eurer glücklichen Erlebnisse in unserer Stadt aber auch“, fügte der Mann hinzu und hob stolz den Kopf.
Er holte dann zwar noch einmal Luft, kam jedoch nicht zum Sprechen. Ein lautes, bekanntes Geräusch von brechendem Holz platzte dazwischen. Dansards Augen schweiften sofort zum Leibwächter des Priesters, der recht hinter jenem stand und nun in sich zusammensackte. Hinter ihm kam Navarro zum Vorschein, welcher mit einem halben Holzregal in den Händen stolz posierte. Ein wütendes Knurren seitens des Priesters wurde von einer Faust, die seinen Kiefer erbeben ließ, unterbrochen. Dansard schüttelte mit gerümpfter Nase die rechte Hand, rieb die Knöchel und wandte sich dann wieder dem Geschehen zu. Während Navarro nur dürftig die Schwerthiebe des Wächters mit dem Rest des Regals abwehrte, kroch Grimward flink zum bewusstlosen Körper des zweiten und fischte dessen Schwert aus der Scheide. Er rollte daraufhin zur Seite, erhob sich und stürmte auf die zweite Wache. Dieser schien aber kein ganz so schlechter Fechter zu sein und wehrte Grimwards übermütigen Schwertstreich mühelos ab. Mehr noch, er versuchte aus der Paradebewegung einen Konterangriff zu vollführen. Glücklicherweise bekam der groß gewachsene Deserteur seine Klinge aber noch früh genug hoch, um nicht aufgespießt zu werden. Doch sein Gegner ließ nicht locker. Es prasselte nur so Schwertstreiche auf ihn herab, sodass es ihm nur mit allergrößten Mühe gelang, weitgehend heil zu bleiben. Immer wieder wich Grimward vor der langen Klinge des Wächters zurück, bis er irgendwann mit seiner linken Hand einen hölzernen Schrank hinter sich ertastete. Wild fluchend fing er einen gewaltigen Hieb mit der Klinge ab und beobachtete, wie die Wache sich in eine optimale Position für den letzten Stoß brachte, kurz bevor er von den Überresten des Regals begraben wurde. Diesmal war es Harlek, der den Wächter ins Reich der Träume befördert hatte und ihm darüber hinaus einige Tritte versetzte. Zur Kontrolle, sozusagen. Grimward atmete sichtlich erleichtert auf.
Mit der allergrößten Vorsicht schob Dansard die Tür einen schmalen Spalt breit auf und spähte in die Dunkelheit. Die von Fackeln erleuchteten Gassen waren noch recht belebt, selbst zu jener recht späten Stunde.
„Vergesst es. Da kommen wir niemals durch“, erstattete er flüsternd Bericht an seine drei Kameraden.
„Dann probieren wir es mit dem Fenster“, entschied Grimward hastig und schnellte zum nächsten Fenster, welches von dunklen Holzläden verschlossen war. Navarro und Harlek, welche zu zweit den bewusstlosen, gefesselten Priester trugen, hatten Probleme damit, aus dem kleinen Flur heraus zu kommen, der die eigentliche Eingangstür von der Tür, welche die vier Gefangenen bis vor kurzem eingesperrt hatte, trennte. Glücklicherweise waren weder die Priester noch die Wachen schlau genug gewesen, um die abgenommenen Waffen der Schatzjäger und Deserteure weiter als in eben jenem Flur zu horten.
Möglichst leise schob Grimward die Fensterläden auf und blickte behutsam hinaus, natürlich darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Was sie dort erwartete war eine schmale Gasse, die auf der einen Seite durch das Haus von Jenor und auf der anderen durch einen schmalen Bach begrenzt wurde. Hinter dem rauschenden Wasserstrom befand sich nichts weiter als Wald. Sie schienen sich ganz am Rand des Dorfes zu befinden.
„Das ist unsere Chance!“, zischte Grimward leise und stieg ohne Mühen durch die kleine Öffnung und landete auf dem Boden. Ihm folgten die beiden Schatzjäger. Sie beförderten zunächst den Priester nach draußen, dann kletterten auch sie aus dem Haus und landeten beide leichtfüßig auf der Erde. Als letztes zwängte sich Dansard mühsam durch die Öffnung, kam aber ebenfalls erfolgreich draußen an.
„Weiter!“, setzte Grimward seine Anweisungen fort.
Er nahm ein wenig Anlauf, sprang in einem Satz über den Bach und winkte hetzend seinen Begleitern zu. Harlek und Navarro traten rasch ins Wasser und überquerten gefolgt von Dansard den Wasserstrom. Ohne danach weiter zu zögern begaben sich die Vier mitsamt ihres Gefangenen ins Dickicht und verschwanden in der Dunkelheit.
Geändert von Dansard (11.06.2008 um 22:43 Uhr)
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