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Die Berührung der Wellen schlagenden Substanz des Portals fühlte sich an, als durchdringe man flüssigen Stahl, der jedoch auf sonderbare Weise eiskalt zu seien schien. Eben noch konnte KARhaBs die verschwommenen Spiegelungen des Raumes hinter ihm erkennen, dann war auch sein Kopf im Portal verschwunden. Ethea, die nun allein im Fackelerhellten Raum stand und ein wenig verunsichert zu der sonderbaren Pforte schaute, durch die der Hohe Schwarzmagier soeben entschwunden war, zögerte noch einen Moment. Doch als wenige Augenblicke später sämtliche Fackeln des Saals erloschen, schritt sie zügig auf das nun leicht purpurn und verheißungsvoll schimmernde Portal zu. Mit zarter und zurückhaltender Geste strich sie über die Oberfläche des wie Wasseranmutenden Stoffes. Ihre Finger wurden verschluckt von der Substanz und sie spürte einen Widerstand, als sie jene zurückziehen wollte. Schließlich schloss sie die Augen und tat einen weiteren Schritt, bis auch sie gänzlich durch das Portal getreten war.
Ein starker Wind wehte dem Barden entgegen und die Umgebung war von einer undefinierbaren Temperatur erfüllt. Wie Nebelschwaden wirkte die Atmosphäre, das Bild verschwamm vor den Augen und man konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Er konnte seine eigenen Schritte nicht spüren, es schien als hätte er gänzliches Gespür für seinen Körper verloren. Dennoch konnte er einen Widerstand registrieren, der möglicherweise von dem immerwährend konstanten Wind hervorgerufen wurde. Er blickte sich um, zu allen Seiten und in die Richtung, aus der er gekommen sein musste, doch alles wirkte seltsam gleich.
Ein grau bildete den verschwimmenden Hintergrund des Blickfeldes, hier und da mochte man Formen erkennen können, die von dunstig weißer Substanz gebildet wurden.
KARhaBs schritt ein Stück entlang des Weges, den er zu sehen glaubte, als sich der Nebel lichtete und eine Gestalt auftauchte. Nachtschwarzes Haar umwehte das Haupt und trat mit der flatternden Robe in Konkurrenz, die in Wellen den zarten Leib umspielte. Die Gestalt schien zu entschwinden, als würde sie fort getragen. Sie schrie, rief um Hilfe, doch KARhaBs konnte keinen Laut vernehmen, ebenso, wie er seit seiner Ankunft hier nichts hören konnte. Er kämpfe gegen den Wind und kam der jungen Frau immer näher, er streckte seine Hand der ihren entgegen, rang mit den Kräften die ihn umgaben, doch erreichte sie schließlich.
Als die beiden Hände sich berührten wurde es schlagartig hell, fast blendend hell und der Wind ließ nach. Ein saftiges grün erfüllte die Umgebung, über sich konnte der Barde einen tiefblauen Himmel erkennen. Vogelsang war zu hören, ein kleines Weidenwäldchen war nur wenige Schritte von ihnen entfernt auszumachen. Voller Verwunderung besah sich KARhaBs die junge Frau, deren Hand er soeben noch gehalten hatte. Es war Ethea. Er konnte sich an alles erinnern, was soeben geschehen war, doch während seines Aufenthaltes in dieser seltsam grauen, windigen Sphäre, hätte er sich selbst nicht erkannt, wenn er einen Spiegel vorgehalten bekommen hätte. Die Zeit war es, die gefehlt hatte, in der Dimension zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.
“Wir sind angekommen, Ethea. Wir sind in der Vergangenheit…“
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Doch Ethea hörte nicht. Sie war bereits völlig versunken in einer Welt, die sie mit eiskalten Armen in Empfang nahm. Der Schleier um den Pfad, den sie vor ihrem Auge erblickte, hatte sich innerhalb weniger Sekunden völlig verdichtet. Währenddessen hatte sich jedoch ein anderer Pfad, nämlich der vor ihrem inneren Auge aufgetan, dem sie nun weiter folgte, in der Hoffnung auf ihm zu einem Ende zu gelangen.
Sie sah KARhaBs nicht mehr, der kurz vor ihr durch den metallischen Schimmer des Portals in diese fremde Ebene getreten war, doch schaffte sie es trotz allem seine sanften Hände zu ergreifen und ihn mit festem Händedruck ihre Gefühle und Ängste wissen zu lassen. Noch konnte sie mit diesen Bildern in ihrem verwirrten Kopf nichts anfangen. Personen, Orte, die ihr gänzlich unbekannt waren, doch alles lieferte irgendwie auch einen schlüssigen Zusammenhang. Sie fühlte sich an ihren Schultern ergriffen, doch mochte die äußerliche Kraft ihre Starre nicht bekämpfen. Der stetige Wind setzte wieder ein und durchbrach die bedrückende Stille, welche die beiden unfreiwilligen Protagonisten dieses meisterhaften Schauspiels umfing.
Die leicht ramponierte Kutsche bewegte sich langsam aber stetig den recht steilen Hang hinauf, an dessen Spitze, auf einem erhobenen Hügel das Schloss der Zsans thronte. Allmählich verebbte das Traben der Pferde im seichten Wind, der das alte doch prächtige Gemäuer zu dieser frühen Stunde in einen ruhigen Schlaf wiegte.
„Wir sind da“, verlautbarte der Kutschier das bereits Offensichtliche und öffnete die knarrende Tür zur Kabine, sodass sein Fahrgast von der Umarmung der Nacht empfangen werden konnte. Der Alchemist war gerade dabei gewesen, sich seine Pfeife zu stopfen, als überraschenderweise das Gefährt nach einer sehr langen Reise endlich zum Stehen kam. Schließlich stieg er mit einem kurzen Satz aus dem leicht über dem Boden erhobenen Wagen, um sich erst dann mit einem Streichholz seine Pfeife zu entzünden. Derweil ließ der Fahrer des Coupés die Bergbremse greifen und die Kutsche ein Stück zurück rollen, sodass der Metallhaken des Stabes, der hinter dem Wagen hinterhergeschleift worden war, sich im festen Boden vergraben konnte. Die beiden Zugtiere hatten nun die Möglichkeit sich auszuruhen, während der Kutschier den Alchemisten noch zu den gewaltigen Schlosstoren geleitete.
„Wie viel bekommt Ihr?“, fragte er mürrisch und Blickte in die Augen des Fahrers, die ausschauten, als hätten sie die ganze Zeit schon auf diese Frage gewartet. Erst etwas zögerlich, dann jedoch von bestimmter Überzeugung, entgegnete dieser schließlich in selbstsicherem Ton, das, was er unverschämterweise verlangte:
„1000.“
Der Alchemist staunte nicht schlecht und zog seine Augenbrauen hoch, wobei er innerlich grübelte, ob er denn überhaupt so viel Gold bei sich hatte.
„Lassen sie sich von der Baronin auszahlen. Ich wurde von ihr persönlich hier her bestellt, soll sie also auch für die Umkosten meiner schnellen Reise aufkommen.“ Nach kurzer Überlegung schien der Fahrer auf seinen Vorschlag eingehen zu wollen. Vermutlich nur aus dem Grund, dass er bei der Baronin glaubte, noch mehr Gold einheimsen zu können.
Der Alchemist betätigte den überdimensionalen Türklopfer, der von einem detailliert verzierten Drachenkopf geschmückt war und tat gleichzeitig, während er auf eine Reaktion wartete, einen letzten Zug aus seiner Pfeife, ehe er sie säuberte und zurück in seine Tasche gleiten ließ.
Einige Momente später öffnete sich das große Tor zu einem kleinen Spalt und man sah einen misstrauisch dreinblickenden Diener durch die Öffnung lugen.
„Ihr wünscht?“ Der Mann musterte genauestens die beiden nächtlichen Gäste, die zu dieser unmenschlichen Stunde um Einlass baten. Verständlich, wenn man bedachte, zu welcher Zeit sie die Dienste des Mannes erwarteten.
„Ich komme auf Geheiß der Baronin Ethea von Zsan“, erwiderte der Alchemist knapp und verständlich. „Und dieser Mann hier möchte gerne von selbiger ausgezahlt werden.“
Von dem einen auf den anderen Moment schienen sich die abweisenden Blicke des Dieners ein wenig zu lichten und plötzlich stahl sich ein höfliches gleichermaßen freundlich gestimmtes Lächeln auf sein junges aber dennoch erfahren wirkendes Gesicht.
„Ahh, verzeiht meine Manieren. Normalerweise rechnet man zu dieser Stunde nicht mit Gästen. Aber Ihr hattet sicher eine lange Reise hinter euch, wenn ich das richtig sehe. Ihr seid der Schneider, nach dem die Baronin verlangt hatte?“
Trotz seiner Verwunderung verzog der Alchemist keine Miene, die seine Auftraggeberin verraten könnte. Wenn man wusste, was für eine Bitte sie an den freiberuflichen Professor gestellt hatte, war diese Lüge über sein Amt auch nicht weiter verwunderlich.
„Ganz richtig“, bestätigte er schelmisch.
„Sehr gut, dann werde ich euren Begleiter gleich auf eines der Gästezimmer geleiten, ehe die Baronin ihn am nächsten Morgen auszahlen kann.“
Der Diener öffnete endlich das große, mit Runen und königlichen Abbildern geprägte Tor und geleitete die beiden überraschend aufgetauchten Gäste in den Eingangssaal, von dem in drei der Himmelsrichtungen lange Gänge ausgingen. Golden schimmernde Verzierungen, mit Motiven der bekannten Gottheiten, wo das Auge nur hinsah, verwiesen auf diese Gänge sowie auf die zwei großen Treppen, deren Stufen aus blank poliertem Marmorgestein in die oberen Etagen des prachtvollen Anwesens führten.
Ein anderer Diener kam ihnen in vornehmen Schritten aus einem dieser Gänge entgegen geeilt und wandte sich zugleich an den Kutschier, der alsbald auf sein Gemach für die Nacht geleitet wurde. Noch bevor die beiden hinter der nächsten Biegung des Weges verschwunden waren, richtete sich derjenige, der ihm Einlass gewährt hatte, wieder an den Alchemisten.
„Wenn Ihr es wünscht, kann ich Euch ein wenig durch das Anwesen führen, zumindest in die Bereiche, die für unsere Gäste zugänglich sind. Sehen wir es als kleine Entschädigung für die anfangs bereiteten Unannehmlichkeiten.“ Der Diener konnte sich keinen Ärger mit der Baronin erlauben, war diese ohnehin doch sehr leicht zu reizen und hatte in den letzten Tagen schon mehrere seiner Kollegen entlassen.
Der Alchemist nickte zustimmend und folgte dem zurückblickenden Führer in den östlichen der drei Gänge, in dem, wie in den anderen beiden auch, roter Samtteppich ausgelegt war, der an den Seiten in schwarzen Umschlägen endete. Die Kronleuchter, die in regelmäßigen, kurzen Abständen an der hohen Decke angebracht waren, mussten aus fast reinem Gold bestehen, so wertvoll funkelten sie auf die Besucher herab.
„Sie leuchten die ganze Nacht“, erklärte der Diener, der die bewundernden Blicke des Gastes zu den goldenen Gestellen offensichtlich bemerkt hatte.
An einer Weggabelung nahmen sie den linken der beiden Gänge, wobei der andere merkwürdigerweise nicht, wie es der Mann zuvor angedeutet hatte, die ganze Nacht beleuchtet wurde. Sie erreichten schließlich einen großen Saal, in dem riesige Tischreihen in U-Form aufgestellt wurden. Stoffe aus rotem Samt, wie sie auch auf dem Boden ausgelegt waren, bedeckten die durchsichtigen Glastische, in denen sich das Licht der Kronleuchter spiegelte und fast blendend zu ihnen herüber blitzte.
„Hier pflegen die Gäste zu speisen. Begebt Euch ab Morgengrauen einfach hierher, bis zum Mittag bleiben die Tische stets gedeckt. Falls Ihr den Weg nicht finden solltet, bittet einfach einen der Diener, die sich überall im Anwesen aufhalten, Euch zum Speisesaal zu weisen.“
„Essen hier auch die Fürsten?“, hinterfragte der Alchemist beiläufig.
„Selbstverständlich nicht“, entgegnete der Diener, dessen Erscheinungsbild äußerst gepflegt war. „Die Fürsten pflegen in einem gesonderten Bereich ihr Mahl zu nehmen, welcher allerdings nicht zugänglich ist.“
Wortlos schritten die beiden weiter, wobei die Augen des Alchemisten immer wieder an den Ornamenten hängen blieben, die so zahlreich das Gemäuer zierten. Genau so hatte er sich das Leben des Adels vorgestellt. Nein, all das hier übertraf seine Vorstellungen sogar bei weitem. Ohne dass es dem Gast jedoch bewusst wurde, gelangten sie nach ein paar weiteren Abzweigungen wieder in den Gang, der in den Eingangsbereich führte. Der nördliche der drei Wege war nun der, den sie als nächstes betraten.
„Wir schreiten soeben zum Ballsaal. An Pracht und architektonischer Finesse sollte er im ganzen westlichen Königreich nicht zu übertreffen sein.“ Der Mann vor ihm machte eine vielsagende Geste und öffnete schließlich mit einem Schüssel die große Tür, die sie noch von dem Saal trennte. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er dem Licht entgegen zu treten, das sich augenblicklich in dem weiten Gang ausbreitete. Abertausende von Kronleuchtern setzten den Ballsaal strahlend in Szene. Der Boden war so glatt und blank poliert, dass er sämtliche Einrichtung spiegelte und das Licht von der Decke in alle Richtungen zurück warf. Der Alchemist war fasziniert von diesem Anblick. Das war wahrlich eine Pracht ohnegleichen, befand er und machte einige Schritte in den Raum hinein, nachdem sich seine Augen endlich an das gleißende Licht gewöhnt hatten.
„Sind die Kronleuchter erst einmal gelöscht, dauert es einen ganzen Tag, sie wieder zu entzünden.“ Ein Lächeln über das Erstaunen des vermeintlichen Schneiders huschte über die Lippen des Bediensteten. „Morgen soll ein königlicher Ball stattfinden, daher die helle Beleuchtung. Ich nehme an, Ihr sollt bis morgen das Kleid der verehrten Baronin schneidern? Sie hat einen sehr ausgewählten Geschmack.“ Der Angestellte erlaubte sich einen unaufdringlichen Kommentar über die Allüren der Adligen, was der Fremde jedoch ignorierte. „Gewiss“, erwiderte dieser trocken und trat bereits vor dem Diener zurück in den Gang.
„Wo werde ich nächtigen können?“
„Oh ja, folgt mir einfach.“ Der Mann verließ ebenso wie der Gast den großen und prächtigen Ballsaal, der in einem ungewöhnlichen Achteck konstruiert war. Danach schloss er die Tür mit einem Klicken des Schlüssels hinter sich und eilte in zügigem Tempo den Gang entlang, zurück zur Eingangshalle.
Wie zu erwarten ging es nun den westlichen Weg entlang, in dem auch der Fahrer der Kutsche letztlich verschwunden war. Einige Gemälde erhaschten dort seine Aufmerksamkeit. Die meisten zeigten die Angehörigen der Königsfamilie, zumeist jedoch waren Bilder einer wunderschönen Frau zu sehen, die in allen möglichen Szenen dem Maler ein bezauberndes Lächeln zuwarf. Der Alchemist hatte schon von der außergewöhnlichen Schönheit seiner Auftraggeberin gehört, hatte sich aber nie eine solch atemberaubende Erscheinung erträumen lassen.
„Ist dies die Baronin?“, fragte er den Diener, der würdevoll, wie es sich für einen Bediensteten des Adels gehörte, auf die Zimmer der Gäste zuschritt.
Überrascht wandte sich der Mann um und folgte mit seinen Augen der Hand, die auf eines der zahlreichen Gemälde an der Wand deutete. Trotz allem verneinte er jedoch kopfschüttelnd, was den Alchemisten erstaunte.
„Nein, nein. Das ist die Gemahlin seiner Hoheit Feonrars. Leider“, und dabei betrübte sich die Miene des Angestellten sichtlich, „ist die werte Fürstin Laryarla erst vor wenigen Tagen an einer unheilbaren Lungenerkrankung verstorben. Das Volk und das Königshaus trauern noch immer, obgleich schon fieberhaft nach einem Ersatz für sie gesucht wird. Schließlich soll der Fürst in wenigen Wochen schon den Thron besteigen.“
Ein wenig enttäuscht nahm der Fremde die Erklärung seines Gegenübers hin und folgte eben diesem über weitere perfekt ausgelegte Samtteppiche, deren Falten man anscheinend Tag für Tag aufs Neue glatt strich.
Kaum später waren sie schon am Gästebereich angelangt, woraufhin der Diener dem Gast sein Zimmer zeigte. Es war groß und geräumig, eigentlich wahrer Luxus für jemanden, der aus der Stadt angereist war; und das, obwohl die Zimmer eigentlich nur für Gäste vorgesehen waren. Er hatte sogar ein Gemach mit Fenster, durch das der Mond fahl hereinschien und die wertvolle Einrichtung, bestehend aus Wandschränken, Stühlen und Spiegeln in ein recht düsteres Licht tauchte. Wie es dagegen bei den Fürsten selbst aussah, mochte er sich gar nicht ausmalen.
„Ich werde der Baronin von Eurer Ankunft berichten. Sie wird vermutlich so schnell es geht nach Euch schicken lassen. Vielleicht schon in der Frühe.“
Er nickte einverstanden und seine leicht genervten Blicke ließen den Mann schließlich wissen, dass er zu gehen hatte. Als sich endlich die Tür zu seinem Zimmer schloss, ließ der Alchemist sich auf das weiche Bett fallen, dessen Decken und Kissen scheinbar mit weichsten Daunen gefüllt waren. Mit einem Griff in seine Tasche, versicherte er sich, dass er auch seine Phiole noch bei sich hatte. Das kleine Gefäß funkelte grünlich im Licht, ehe es wieder vorsichtig in seiner Manteltasche verschwand. Er glaubte nicht, dass diese Nacht besonders lang für ihn werden würde, weshalb er beschloss, sich gleich zu Bett zu begeben.
„Das Schloss. Meine Heimat“, murmelte Ethea und langsam füllten sich ihre Augen wieder mit einem dennoch ausdruckslosem Glanz. Die Blässe stand ihr ins Gesicht geschrieben. Der Atem der Witwe ging flach und stieg in kleinen Wölkchen in die Lüfte, wo er sich mit dem Dunst vereinte. KARhaBs wirkte erschrocken, doch die Worte, die über seine Lippen gingen, erreichten die Adlige erst spät und dabei äußerst unverständlich. „Wir müssen weiter“, hauchte sie und befreite sich von den Händen des Barden, die noch immer auf ihren Schultern ruhten. Aber wohin?
Geändert von Ethea (25.06.2006 um 10:20 Uhr)
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Eine Wirkliche Entscheidung der beiden gab es nicht, denn irgendetwas trieb sie einfach vorwärts. Sie hatten sich wie kleine Kinder an den Händen gefasst und schritten durch die nicht mehr windigen Nebellande. Die Bilder und Töne, ja die Vergangenheit, die sie beide soeben miterlebt hatten, war entschwunden, die Tür zu jenem Ort hatte sich ebenso mysteriös geschlossen, wie sie aufgestoßen wurde. Nun konnte KARhaBs wieder klar denken, er erkannte Ethea, wie sie neben ihm lief und auch sie schien ihn zu erkennen. Ihr Gesicht war blass und man mochte es beiden fast anmerken, dass sie sich unwohl fühlten, wie sie Hand in Hand durch diese sonderbaren Lande gingen. Der hohe Schwarzmagier wollte sich nicht so recht mit sich einig werden, was er von dem eben gesehen zu halten hatte, was dies zu bedeuten hatte. Doch noch ehe er den Gedanken beenden konnte, hatte er das Gefühl tief und schnell zu fallen. Dunkelheit umgab ihn, bis er wieder Licht erkannte und auf festem Boden stand. Ethea war noch immer an seiner Seite und gemeinsam fanden sie sich vor der Tür einer kleinen Blockhütte wieder, bei deren Anblick dem Barden ein eiskalter Schauer über den Rücken ging…
Die Sonne stand tief am Firmament und ließ die weit entfernt ziehenden Wolken orange glühen. Es hätte ein Abend vor oder nach einer Schlacht sein können, denn bald würde das orange ein blutiges rot werden. Der Schatten des alten knorrigen Apfelbaumes, den einst der Urgroßvater hier gepflanzt hatte, war lang und unheimlich, als wolle er sowohl fort vom Stamm des Gewächses, als auch nach allem und jedem greifen in dessen Reichweite seine gabeligen äste waren. Die Luft war eine Mischung aus einem aufdringlichen lau und einem dezenten heiß, nur gelegentlich ergriff eine sanfte Briese die nicht mehr ganz so üppigen Blätter des Baumes.
Ein Knabe kauerte am Fuße des jenen, das Haupt mit dem lockigen, halblangen und strohblonden Haar gesenkt und die Hände zwischen den Knien gefaltet. Seine Kleidung war einfach, von sandfarbenem Leinen war sein Hemd, die Hose von ausgeblichenem Schwarz.
Dann und wann mochte man ein Aufblitzen im Blickfeld des Jünglings erkennen, wenn eine Träne sein Auge verließ und glänzend vom letzten Sonnenlicht auf die wilden Rosen fiel, die er dort abgelegt hatte. Von dunklem rot war ihre Farbe, so satt, wie es nur selten der Fall war. Der Knabe mochte dies Scharlach, dies blutig rote Scharlach. Wie so vieles, an das man sich erinnert, ist es nicht das schönste Bild dessen, auf das man sich besinnt wenn man an etwas oder jemand Vergangenen denk, nicht das Portrait der Liebsten, oder das warme Lächeln einer Mutter. Es sind andere, in unseren Augen unwichtige Momente, die so fest sich im Gedächtnis verankern. Und so liebte der Knabe die Farbe von Blut, denn er hatte seine Mutter geliebt und Blut war das letzte, was er von ihr gesehen und an das er sich am stärksten erinnerte.
Bedachte Schritte näherten sich dem Trauernden und kurz vor dem Grabe, mit dem kleinen Granitstein an der Stirnseite, hielten sie inne. Der Schatten des Mannes verschmolz mit dem des knorrigen Baumes und erschuf ein dämonisches Bild, gerade so als wolle er höhnend über den Kauernden lachen. Eine starke, aber sanfte Hand spürte der Jüngling auf der Schulter und er wusste, dass es Zeit war zu gehen. Eine letzte Träne benetzte ein seidiges, blutrotes Blütenblatt, zerplatze auf ihm und stob in vielen kleinen funkelnden Tröpfchen zu allen Seiten. Der Knabe erhob sich, langsam und gequält. Eine Hilfe beim Aufstehen, wehrte er schwach, aber bestimmt ab, doch als er stand, musste ihn der Vater dennoch stützen, auf dass der Jüngling nicht fiel.
Weich waren ihm die Knie, denn Stunde um Stunde hatte er am Grabe seiner Mutter zugebracht, während der Vater auf seine Weise trauerte. Sie sprachen nicht viel, aßen noch weniger, doch waren beide für einander da. Freilich der Ohm mehr denn der Knabe, doch auch der Jüngling schien auf seine Art trösten zu können. Vielleicht reichte dafür seine bloße Existenz.
Als sie dem Apfelbaum den Rücken zugewandt hatten und beide auf die kleine Hütte zuschreitend, ihre Schatten besahen, schien es, als hätten jene sich gegen den knorrigen Dämon verschworen, der zuvor noch höhnisch wirken mochte, nun aber besiegt schien, ob der Bande von Vater und Sohn, im Angesicht des Verlustes.
Kein Laut entrang sich der Kehle beider, doch als sie fast die Holztür erreicht hatten, legte der Vater dem Knaben erneut die Hand auf die Schulter und drückte sie fest. Nun weinte auch er…
Als sich die beiden hohen Schwarzmagier wieder wie durch Zauberhand in den weißen Gefilden befanden, war KARhaBs nicht in der Lage etwas zu sagen. Tränen standen ihm in den Augen, auch wenn er nicht zulassen würde, dass sie hervorbrachen.
Er vermied es, den Blick auf Ethea zu richten und bedeutete ihr nur weiter zu gehen, zu welch schrecklichem Ort auch immer ihr Schicksal sie führen mochte…
Geändert von KARhaBs (25.06.2006 um 22:26 Uhr)
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Seit der Reise durch das metallisch schimmernde Portal war es wohl das erste Mal, dass Ethea klaren Verstandes war. Alles hatte sie mit angesehen. Zwar darunter nur das Wenigste wirklich verstanden, doch trotzdem hatte die rührende Szenerie selbst von der steinernen Fassade des Weibsbildes Besitz ergriffen, was sich in Trauer auf ihrem Gesicht abzeichnete. Jedoch bemerkte sie die abweisenden Blicke des Magus, der nicht gewillt war, seine Schwäche zu offenbaren und sich von der Witwe trösten zu lassen – noch nicht, denn die Zukunft mochte noch zeigen, was aus der Vergangenheit ans Licht geführt wurde. Und vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Zirkelanhänger nicht länger in der Lage waren, die Maske ihres eigenen Schutzes aufrecht zu erhalten. Schon jetzt sah Ethea die erschreckenden Bilder vor ihrem inneren Auge aufsteigen. Selbst die fröhlich anmutenden Gräser, die durch die Nebelschwaden zu ihnen hinaufragten, mochten ihr diese Ängste nicht nehmen.
Allerdings sollte das saftige Grün der Wiesen nicht lange währen. Schon Momente später mochte man seinen Augen nicht mehr trauen, als sich das natürliche Gewächs zu einer blutdurchtränkten Lache wandelte, welche dunkelrot trübe durch den nebelhaften Schleier schien. Die Freiheit, von der die beiden Schwarzmagier bisher noch umgeben waren, verengte sich mit jedem Schritt, den sie in das Nichts taten. Es war ihr, als bewegten sich massive Steinmauern mit raschen Tempo auf sie zu und drohten dabei, die beiden in ihrer Mitte zu begraben. Schnell wurde das Licht leuchtender und fokussierter, während sich langsam inmitten des Nebels eine reich verzierte Tür vor ihren Augen manifestierte.
Das lebendig wirkende Antlitz ihres Begleiters war nun in eine sanfte Röte getaucht, die offensichtlich von Kerzen- oder Fackelschein herrühren musste. Ethea schaute dem Barden in die schwach glänzenden Augen, deren Blau durch das warme rote Licht stark kontrastiert wurde. Wieder nahm sie seine Hand, woraufhin sie mit behutsamen und vorsichtigen Schritten sich der inzwischen massiven Tür näherten. Kurz bevor die Witwe jedoch ihre in dem Schein der Kronleuchter leicht verschwimmende Hand an die Klinke legen konnte, schwank die Tür, welche sie eben noch zu öffnen suchte, von ganz alleine auf. Das helle Licht blendete die Edeldame, sodass sie wohl oder übel ihre Augen schließen musste, um sich vor dem starken Licht zu schützen, das sich beinahe anfühlte, als wäre es gerade dabei, ihre Iris zu verbrennen.
Erst als sie langsam wieder ihre Augen öffnen konnte, warf sie einen flüchtigen doch versichernden Blick zu KARhaBs. Jedoch war es nicht länger dieselbe Person, die nun neben ihr stand. Sein Gesicht, seine Gestalt, sein Auftreten, sein Lächeln und sein Charme. Alles hatte sich verändert, dennoch schien es die Adlige in keiner Weise zu überraschen. Verträumt blickte sie auf das schulterlange, schwarz wallende Haar, wanderte an den markanten Wangenknochen entlang, versteinernd trafen sie die dunklen Augen, die sie zugleich zerschmelzen ließen. Dort stand die Liebe ihres Lebens, die mit verzaubernden Blicken zu ihr herabschaute. Dort stand er, der einst von ihr gegangen war und damit ihr Leben völlig neugeordnet hatte, doch das Merkwürdige daran stand auf einem ganz anderem Blatt geschrieben: Es schien für sie völlig normal zu sein, dass dieser Mann nun wieder an ihrer Seite stand und zusammen mit ihr, Hand in Hand durch das große Tor trat, das sie mit gleißendem Licht in Empfang nahm.
Die versammelte Menschenmasse klatschte, als Freiherr Shakar und an seiner Seite die wunderschöne Baronin Ethea in den Ballsaal eintraten. Die Kleider der Frauen, die Anzüge der Männer, alles wirkte perfekt, ebenso wie die Beleuchtung, die mit schier Hunderten von Kronleuchtern, Kerzen und Fackeln an jeder der acht Ecken des Saals glänzte. Ein Prunk, wie er nur bei wahrhaftigem Adel zu finden sein konnte, strahlte den beiden Hauptaktären dieses wundersamen Spiels entgegen. Eine lange Gasse bahnte sich derweil durch die Menschenmenge, die sich überrascht zu den jüngst eintreffenden Gästen umwendete und nun das Paar in ihrer Mitte durchschreiten sehen wollte. Wohlhabend zogen Shakar und seine Gemahlin durch eben jene Gasse, wo auf der anderen Seite der heutige Veranstalter dieses Balls auf sie wartete. Ein gequältes Lächeln zierte das Antlitz des Mannes, der den beiden sehr wohl bekannt war – der Thronfolger, Fürst Feonrar erwartete sie am Ende des Weges, um mit ihnen den Beginn des Balls einleiten zu können. Einen Anlass gab es, soweit Ethea es bekannt war, nicht, doch hatte wohl jeder hier die leichte Vorahnung, dass seine Durchlaucht aus einem ganz bestimmten Grund diese Feierlichkeit veranlasst hatte.
Ethea warf ihrem Mann ein verliebtes Lächeln zu, kurz bevor sie beide den Gastgeber nach Augenblicken, die in kürzester Zeit vergangen sein mussten, erreichten und er sie erfreut in Empfang nahm. Natürlich war ihm die Spur von Trauer deutlich anzumerken, wie ins Gesicht geschrieben stand sie ihm doch, nun da Laryarla entgültig verstorben war und Feonrar derzeit ohne Frau an seiner Seite diese Feierlichkeiten bestreiten musste. In diesem Moment erschien der Adligen die Idee, in einer derartigen Situation einen solchen Ball zu veranstalten, doch sehr merkwürdig. Trotzdem blieben ihre Gesichtszüge ausdruckslos, als der Fürst sich vor ihr leicht verbeugte und ihre Hand nahm, um sie mit einem zärtlichen Kuss zu beschenken. Seine Lippen fühlten sich trocken an, dennoch spürte die Adlige leichte Erregung in sich aufsteigen; nach Außen hin völlig normal und womöglich wusste nur sie selbst, wie es in Wahrheit um diesen Kuss bestellt war.
Feonrar wendete sich nun an ihren Mann, indem er ihm, weder überschäumend freundlich, noch trauernd abweisend, die Hand reichte und ihm dabei mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen zunickte. „Shakar. Schön, dass ihr gekommen seid.“
„Wie geht es dir?“, hinterfragte dieser besorgt, was man an seinen trüben Augen ablesen konnte.
„Mach dir um mich keine Sorgen. Es sieht schlimmer aus als es in Wahrheit ist.“ Forsch wies der Thronfolger die Zuneigung seines Bruders ab und wendete sich gleichsam den in dem hell erleuchteten Saal versammelten Menschen zu. Ethea hatte sich eine brüderliche Beziehung zuweilen anders vorgestellt, doch in diesem Falle schien die Haltung des Thronfolgers vermutlich verständlich, hatte er doch erst vor wenigen Tagen seine geliebte Frau verloren. Dass jemand ohne Frau den Thron nicht besteigen konnte, darüber wagte im Moment keiner in seiner Anwesenheit zu sprechen, trotzdem war das Thema unter dem Volk in aller Munde, vielmehr wahrscheinlich noch als der Tod der Fürstin, die nur unter Sterbehilfe ihres Mannes endlich ihre Ruhe gefunden hatte.
„Mögen nun also die Festlichkeiten beginnen und erst am Morgen ihr Ende finden“, sprach er nun lauter sowie energievoller an die erwartungsvoll blickende Masse gerichtet, wobei er seine Arme feierlich von sich gestreckt hatte, um den entscheidenden Moment ein wenig ehrenvoller zu zelebrieren.
Die schmale Gasse, die sich zunächst zwischen den Gästen aufgetan hatte, verschwand nun allmählich unter den Wirren der Menschen, die entweder zum großzügig errichteten Buffet eilten oder aber darauf warteten, dass die Diener mit ihren Tabletts zufällig bei ihnen vorbeikämen, um ihnen einen der köstlichen Weine zu reichen.
Von einem mittelhohen Podest aus, das in einer der Ecken des Ballsaals errichtet worden war, ertönte plötzlich eine kunstvoll gespielte Violine, die in sanften Klängen alle Anwesenden in scheinbare Trance versetzte. Die Baronin sah den Bogen des Spielenden langsam und gefühlvoll über den Steg des Instruments streichen, ergriff instinktiv abermals die starke Hand ihres Mannes und führte ihn den Treppenabsatz hinab, um sich dort unter das bereits in Schunkeln versetzte Auditorium zu mischen. Nach einigen Sekunden verendete das lang gespielte Legato der Violine in einem Vibrato, das auf einen jähen Höhepunkt ansetzte. Vorsorglich legte Shakar seine Hand an die Hüfte der Baronin, die ihm daraufhin ein keckes Grinsen zuspielte. Sie trug ein schwarz glänzendes Kleid mit einer kurzen Schleppe. Dunkelrote, rosenartige Stickmuster durchbrachen die geschmackvolle Schwärze ihres Gewandes und zogen sich von der Brust, bis weit über den Rock hinab, der in glänzenden Schlaufen endete. Das aus Tarlatan und Seide bestehende Ballkleid war sicherlich das schönste unter den Abendkleidern. Kein Wunder also, dass wie immer die Blicke fast nur an Ethea hafteten, vor allem jetzt, da nach dem Tod der Fürstin, sie ganz eindeutig die Schönste des Adelshauses der Zsans war.
Plötzlich schwang der Spieler in ein entzückendes Flageolett um und nur wenig später setzten einige hell klingende Flöten ein, die eine schwungvolle Melodie in das Stück brachten. Die Paare fanden sich schnell wieder zusammen, ließen sogar Wein und Essen stehen, um diesen Moment für einen ersten Tanz auszukosten. Auch Ethea und Shakar waren bereits der Musik verfallen, wenngleich der Abend erst so kurz war. Dennoch fielen immer wieder ihre verwegenen Blicke nicht etwa zu dem Mann, der sie mit festen Händen sachte in seinen Armen wiegte, sondern zu einem anderen, zurückgelassenen Mann. Die Augenspiele waren unverkennbar, doch trafen sie sich stets nur dann, wenn Shakar seinem Bruder seinen Rücken zugewendet hatte. Feonrar stand dort nicht gerade einsam an einer entlegenen Seite des Saals und wurde dabei von einigen schönen Frauen umgarnt, die ihre Chance bei dem nun freien Fürsten witterten. Immer wieder wurde er von den dreisten Damen zum Tanz gebeten, doch wahrhaftig galt sein Interesse nur einer einzigen; und diese genoss es in jenem Moment, den sich nach ihr Sehnenden innerlich bluten zu lassen.
Vielleicht sollte sein Wunsch schon bald erfüllt werden, jetzt jedoch klammerte sich die Adlige noch enger an den Mann, der ihren umschlungenen Tanz zu den warmen und harmonischen Klängen des kleinen Orchesters führte. Schelmisch und starr zugleich blickte sie über die Schulter Shakars in die lebendige Masse hinein. Auch sie witterte ihre Chance.
Wieder schloss die Schwarzhaarige ihre Augen und drehte mit ihren Fingern verträumt in dem lockigen Haar ihres Tanzpartners. Zu ihrer Überraschung jedoch strahlte es golden, als sie ihre glänzenden Augen wieder öffnete, fast so wie eben zuvor der prunkvolle Ballsaal. Nun befand sie sich zu ihrem Erschüttern wieder in dieser Zwischenwelt. In dem Nichts, das sie wie durch ein bodenloses Loch fallen ließ. In dem Nichts, das sie mit unsäglichem Wind und gliederbetäubender Kälte von ihrem Begleiter zu trennen versuchte. Seine Augen verrieten, dass KARhaBs die letzten Momente wahrlich genossen haben musste. Ethea selbst befand sich dagegen in einem Für und Wider. Konnte nicht sagen, ob es sie erfreute, ihrem einstigen Geliebten so nahe und doch zugleich so fern gewesen zu sein. Die Vergangenheit war fort, die Gegenwart war wieder bei ihr, auch wenn sie nicht minder schön war, betrübte sich das Antlitz der Adligen ein wenig. Innerlich ahnte sie schon, was noch vor ihr liegen sollte.
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KARhaBs nahm die Kälte, die über sie hereinbrach, mit sarkastischer Gelassenheit auf. Der Genuss des Tanzes war noch in ihm, doch die Gedanken Etheas, die er erfahren hatte, betrübten ihn. Das Gefühl, dass er zuweilen verspürte, war eines, das er kannte. Er litt ein wenig mit Shakar, den er selbst gerade verkörpert hatte. Es war die Solidarität mit all den hintergangenen Männern und wenn sie auch im Geiste nur betrogen wurden. Diese Solidarität, diese Mitgefühl, erwuchs freilich nur aus der eignen Erfahrung, doch derer hatte der Barde für seine Begriffe zur Genüge gemacht. Im Zwiespalt stand er dennoch, als Ethea ihm mit zartester Hand das Haar liebkoste. In ihren Fängen war er, oder zumindest gewesen, so wie Shakar einst. Doch wollte KARhaBs der hohen Schwarzmagierin auch kein unrecht tun, schließlich kannte er nur einen Teil der verworrenen Geschichte ihrer Vergangenheit. Aber wie so oft die Rationalität nicht über den verträumten Geist zu siegen vermag, sehnte sich der Barde nach einer Feder und einem Pergament, nach einem Glas Wein und der Ruhe, seine Sehnsucht und den bittersüßen Schmerz in Worte zu kleiden und ihn für immer dort zu verbergen, bis dann und wann das Auge darauf fällt und die Zellentür zum Gefängnis des Gefühls einen Spalt öffnet, um ein wenig von ihm zu kosten.
“War er der Ärmste unter den Reichen, oder der Reichste unter den Armen, Ethea? Es betrübt mich zuweilen, dass das Leben mich glauben macht, dass nur das Blut einer Frau die Wahrheit spricht.“
Der Wind wurde kälter und trieb die Schwaden des Nebels schneller voran und an den beiden Beliardienern vorbei.
KARhaBs zog Ethea ein wenig näher zu sich heran und legte ihr die linke Hand auf den Rücken. Zögernd ließ es die hohe Schwarzmagierin zu, senkte aber schließlich das Haupt an die Brust des Barden.
“Die Vergangenheit ist schrecklich und wundervoll zugleich. Wir leben für sie, denn sie bestimmt uns, oder nicht? Sonderbar mag dies klingen, doch für mich ergibt dies einen Sinn…“
Den letzten Satz schien er nur zu denken und nicht wirklich auszusprechen. Vielleicht aber hatte er ihn leis’ gemurmelt und Ethea hatte ihn doch vernommen, den Bass in seiner Brust mehr gespürt denn wahrlich gehört. Es war ein magischer Moment, in dem die beiden dort inmitten eines Ortes standen, der nicht im Fluss der Zeit lag. Beide waren noch in Gedanken bei dem Erlebten, doch waren sie auch im Hier und Jetzt, obschon es doch keine Zeit gab, an dem Ort, den sie aufgesucht hatten, oder zu dem sie gesandt wurden, aus einem Grund, den sie beide noch erfahren mochten…
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Ihr Innerstes wütete noch immer, selbst als Ethea schon mit dem Kopf auf der Brust des Schwarzmagiers lag und somit den Anschein erweckte, sich von den soeben gesehenen Bildern erholen zu müssen. Doch es war etwas ganz anderes, das in ihrem Kopf rumorte. Etwas, bei dem sie sich nicht im Klaren darüber war, ob und wie sie es zu deuten hatte.
»...dass nur das Blut einer Frau die Wahrheit spricht«
Wie hatte sie das nun zu verstehen? Konnte sie sich doch nicht daran erinnern, den Barden in den letzten Wochen wissentlich belogen zu haben, so wie sie bei sonst keinem anderen zögern würde, dies zu tun. Und was sollte die Frage des Blutes? Meinte er damit ihr Adelsgeschlecht? Wohl kaum, denn auf welche Weise sollte dies schon die Wahrheit sprechen? Ethea wusste bestens aus ihrer Vergangenheit, dass die feinen Herren und Damen keine Mühen scheuten, ihre widerlichen Pläne in die Tat umzusetzen. So auch sie nicht, und sie befürchtete schon, dass diese Szenen ihrer Vergehen bald ans Licht stoßen würden. Seit damals hatte sie sich nicht wirklich verändert, doch war es manchmal besser, alte Geschichten ruhen zu lassen, selbst wenn diese noch so interessant erschienen. Die Witwe mochte sich nicht ausmalen, wie der Barde in seiner jünglichen Naivität, auf die Geschehnisse reagieren würde, auf denen der Lauf der Zeit einen so schönen Schleier hinterlassen hatte. Vielleicht unterschätzte sie ihn auch, wusste er die Vorurteile, die sein junges und reines Gesicht den Menschen bot, doch mit ungewöhnlich geistiger Reife zu überspielen.
In ihren wirren Gedanken versunken, hatte sie das Gemurmel ihres einzigen Begleiters nicht verstehen können. Jedoch fragte sie auch nicht weiter danach, da wahrscheinlich jedes weitere Wort des Jünglings nur noch größeren Unmut in ihr zollen würde. Und Ethea bezweifelte nicht, dass auch er wusste, wie wichtig ihr Zusammenhalt nun war, solange sie sich gemeinsam in dieser Zwischenebene aufhielten - aus der zu entkommen kein einziger Fluchtweg in Sichtweite war und man stattdessen eher unweigerlich den Schmerz der Zeit vor Augen gehalten bekam.
Sachte erhob Ethea ihren Kopf wieder von der Brust des Mannes und blickte unnahbar in die Ferne, die durch die dichten Nebelschaden in allen Richtungen verhüllt wurde. Einmal atmete sie noch tief durch, um sich des belastenden schweren Atems zu entledigen, bevor sie ihr eigenes Wort an den Barden richten würde.
»Die Geschehnisse machen mich zu dem, was ich heute bin. Willst du mich nun akzeptieren, so wirst du auch meine Vergangenheit gutheißen müssen.«
Das Bild, das der Barde von den Frauen hatte, schien kein gutes zu sein, wenn er doch behauptete, dass die Frauen es mit der Wahrheit nicht so eng sehen würden. Dennoch trafen die Blicke der Adligen ihren Begleiter nun mit ausdrucksloser Kälte. Innerlich wollte sie ihn mehr denn je für diesen bissigen Kommentar strafen, doch die Vernunft sagte ihr, dass es wohlwahr besser für sie wäre, dem Weg ins unendlich scheinende Nichts einfach weiter zu folgen.
»Ich stehe noch immer zu dem, was ich tue oder getan habe«, fügte sie kalt, noch kälter als die eisige Luft, die sie umgab, hinzu und begann damit wieder den weiteren Weg zu bestreiten.
Der dichte Nebel ließ einfach nicht ab, als die beiden Schwarzmagier sich durch die öde Prärie kämpften, in der Hoffnung, irgendwann zu einem Ziel zu gelangen. Worauf hatte sie sich nur eingelassen, dachte sich die Adlige, die mit schweren Schritten versuchte, gegen den starken Wind anzukommen, der seltsamerweise aus allen Richtungen auf sie einströmte, um sie an ihrem kleinen Fleckchen zu fesseln. Verzweiflung stieg in ihr auf. Wieder ergriff sie KARhaBs Hand, der sie aus ihrem unsichtbaren Gefängnis befreite und sie weiter auf den Weg brachte, den ihnen wohl nur ihre Intuition aufzeigte.
Die beiden arbeiteten sich wortlos voran, als die Luft urplötzlich stickig wurde und sich in den Lungen der Frau festsetzte. Der bislang ruhige Atem der Schwarzmagierin verendete in einem rauen Hecheln und Keuchen, das beinahe so klang, als hätte sich ein Sieb in ihrer Kehle festgesetzt. Wie in einer Einenge fasste sie sich an die Brust, um vielleicht durch den Druck ihrer Hand die Atemwege befreien zu können, doch vergebens. Einen Augenblick später sah man deutlich, wie sich ungewünschte Fratzen in der Luft abzeichneten und ihnen die Dichte des Nebels an den jeweiligen Stellen ein räumliches Antlitz bescherte. Ethea traute ihren Augen nicht, als sie endlich eines dieser Gesichter, welche die Dimensionsgeister in dem Dunst abzeichneten, erkennen konnte. Die Missgestalten schienen sie zu umzingeln, wobei die deutlichste unter ihnen, das Antlitz ihres alten Mannes, ihr mit gequältem Ausdruck entgegenstrahlte. Der Wind, der sie stets hindernd umgab, verkörperte nun die rauschenden Stimmen, die die Visagen von sich gaben. Unheimlich echoend, war es der Schwarzhaarigen so gut wie unmöglich irgendetwas aus den undeutlichen Lauten zu verstehen. Dennoch kam sie nicht umhin, die Streiche spielenden Nebel so schnell es ging loswerden zu wollen. Hastig griff sie nach ihrer Schattenflammenrune, fasste jedoch zu ihrer völligen Überraschung ins Leere.
»Wo... meine Runen?«, keuchte sie und warf einen schutzlosen Blick auf ihre leeren Hände, auf ihren Körper, um sich zu versichern, was man ihr genommen hatte und was ihr noch geblieben war. Zu ihrer Erschütterung musste sie ebenfalls feststellen, dass auch ihr Kampfstab nicht mehr in ihren Händen ruhte. Seltsam, dass ihr die fehlende Last erst jetzt auffiel, da die Waffe nunmehr endlich gebraucht wurde.
Stattdessen schlug sie jetzt mit dem Arm nach dem spottenden Antlitz des toten Barons, verwischte für einen Moment den Nebel und die Gestalt, die er bildete, doch augenblicklich bildete sich das Wesen von neuem und traf die Adlige erneut mit schaurigem Gelächter.
Ihre hilflosen Blicke flüchteten kurz darauf zu KARhaBs, als wollten sie ihn fragen, was sie nun zu tun hatten, um aus dieser Hölle zu entkommen. Was dieser dagegen vor sich sehen konnte, oder ob er überhaupt irgendetwas der vermeintlichen Gefahr vor sich sah, wusste sie nicht.
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Auch der Hohe Schwarzmagier konnte die vielen Stimmen hören, die wild und laut durcheinander sprachen. Er sah den toten Baron, seine Mutter und weitere Gesichter aus alter Zeit, viele, die er schon vergessen zu haben glaubte.
Ein Schmerz erfüllte seinen Kopf, ließ seine Nasenhöhlen vibrieren und kribbeln. Seine Augen tränten und er sehnte sich nach Ruhe. Eine innere Erschöpftheit, ein Zwang zu resignieren wollte Besitz von ihm ergreifen, ihn auf den Boden zerren, auf dass er dort selbst zu einem der schreienden Geister würde. Doch soweit wollte er es nicht kommen lassen. Er packte Ethea an der linken Hand und zog sie mit sich. Sie rannten, so schnell sie ihre Füße gegen den Wind und durch die nebeligen Landen trugen, direkt durch die stöhnenden und verachtenden Geisterwesen hindurch. Sie liefen, doch kamen sie nicht sonderlich schnell voran, fast mochte man meinen, sie blieben an Ort und Stelle, wo doch alles so seltsam gleich anmutete in den zeitlosen Ebenen.
Mit jedem Schritt den sie taten wurden sie erschöpfter und so mussten sie schließlich einen Moment verschnaufen. Ihre Ausdauer schien die gleiche wie auf Khorinis zu sein, doch dieser Ort hatte andere Ansprüche. Sie sahen sich um, sich versichernd, dass sie weit genug von den Dämonischen Wesen entfernt waren, doch als sie sich wieder nach vorn wandten konnten sie beide es sehen:
Vor ihnen im Nebel zeichnete sich eindeutig ein kleines Blockhaus ab, eben ein solches, wie es damals KARhaBs und seine Eltern bewohnt hatte. Langsam öffnete sich die Vordertür, im Takt mit den wabernden Rändern des in Nebel gehüllten Hauses.
Die offene Tür gewährte nun Einblick in die Hütte und deren Innenraum nahm Farbe an. Unregelmäßig summte darin.
Wie in Trance, oder von einem Zauber in Bann gezogen schritten Ethea und der Barde näher, um zu sehen, was dort ihrer harrte.
Von den sich kreuzenden Balken, die das Dach hielten, verlief strammes Sein bis fast zum Boden der Hütte. Am ende des Seils konnte man schwarzes Fell erkennen und man mochte dort ein schlafendes Tier vermuten. Doch nun erkannten sie, dass eine Falltür, wahrscheinlich zu einem kleinen Keller führend, offen stand und dass das Seil zu ihr führte. Ein fürchterlicher Gestank stieg von dem dunklen Lock im Boden auf und nun konnten sie das unregelmäßige Summen unzähligen Fliegen zuordnen, die teils auf dem schwarzen Fell krochen oder in dessen Nähe umher flogen. Ethea, die nur eine Rolle zu spielen schien, statt wirklich nach eigenem Willen zu handeln, nahm eine Fackel von der Wand und warf sie brennend in das Kellerloch. Sie fiel nicht weit, da dieser Vorratsbereich nicht sonderlich tief war, doch was sie erhellte war grausam. Das schwarze Fell war das Haupthaar eines Mannes, dessen verwesendes Gesicht im Schein der flackernden Fackel noch Furchterregender Anmutete. Das Seil der Dachbalken endete an seinem Hals. Die Kleidung des Mannes waren Lumpen, durchlöchert von Getier, das sich schon Teils an dem Toten gelabt hatte.
Plötzlich fing ein zerfetztes Hosenbein des Erhängten Feuer, das schnell auf den gesamten Körper übergriff. Schon standen die Haare in Flammen, bald das Seil und schließlich auch der Dachstuhl. In der Hitze der Flammen und dem rotorangenen Licht verbrannte der Tote langsam. Seine Gesichtszüge wurden noch ausgemergelter, noch fürchterlicher, doch KARhaBs konnte schon nicht mehr hinsehen. Erfahren zu müssen, dass sich der eigene Vater das Leben nahm und hernach auch noch, wie er verbrannte war fast schrecklicher, als der Tod seiner Mutter. Doch dies nun noch einmal erleben zu müssen, sieben Jahre später, war eine noch grausamere Prüfung seiner Belastbarkeit.
Die Nebel verdichteten sich und von der Hütte war keine Spur mehr zu erblicken, auch die schreienden Geister waren verschwunden. KARhaBs sank gequält in die kalten Bodennebel auf die Knie und nur das längere Haar, das sein Gesicht vollends verdeckte und die noch immer anmutige Robe, unterschieden ihn von dem Knaben von einst, der an dem Grab seiner Mutter geweint hatte…
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Der Anblick des Toten war grauenhaft. Und obwohl Ethea scheinbar nur in Teilen anwesend war, hatte sie dennoch jede einzelne Fliege, jedes einzelne Loch in den dreckigen Kleidern, jeden verbliebenen Hautfetzen auf dem Schädel des Mannes sehen können, der sich ganz offensichtlich selbst das Leben auf grausamste Weise genommen hatte. Nicht einmal seinen Sohn hatte er vor diesem Anblick verschont, ja bei seinem eigenen Tod nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es wohl dem blonden Knaben in den Jahren darauf ergehen würde. Mit Erschütterung stellte Ethea fest, dass es wahrlich noch grausamere Menschen in dieser Welt gab als sie selbst, denn nicht einmal sie hätte es fertig gebracht, ihr eigen Fleisch und Blut auf solch niederträchtige Weise zu verletzen.
Nicht überraschend sank der sonst so erhabene und fast unerschütterliche Barde trauernd auf die Knie und weinte. Sie hörte nur das Winseln des Blonden, ein Winseln, an dem sie sich im Falle ihrer Feinde immer ergötzt hatte. Und nun, da der Mann, an dessen Seite sie unzählige Stunden schon verbracht hatte, selbst sich dieser Tränen entledigte, verspürte auch sie einen Deut von Kummer, dem sie jedoch nichts entgegen zu setzen hatte.
Ethea behielt es sich vor, sich zu bücken und den Schwarzmagier aus nächster Nähe zu trösten. Stattdessen verhaarte sie starr direkt neben ihm und streichelte ihm sanft das Haupt, nur um ihm zu zeigen, dass jemand bei ihm war, der ihm noch zur Seite stehen würde. Mit der Berührung ihrer Hand wurde sein Weinen noch lauter. Laute, die die Adern der Adligen erfrieren ließen.
Ihr Gesichtsausdruck verblieb kühl, als sie meinte sich selbst ausruhen zu müssen. Mit weit von sich gestreckten Armen legte Ethea sich ins weiche Gras, genau dort, wo noch wenige Momente zuvor diese seltsame Blockhütte gestanden hatte, das Verhängnis für die steinerne und stets fröhliche Fassade des Barden. Kurze Zeit später schon schien sie in einen ewigen Schlaf zu fallen.
Die Lichtstrahlen der Morgensonne fielen hell durch die zahlreichen Fenster des großen Schlafzimmers, das sich die Baronin Ethea mit ihrem Mann teilte. Jedoch war eben dieser schon in den frühen Morgenstunden zur Jagd aufgebrochen und hatte seine Gemahlin alleine in dem samtweichen Bett zurückgelassen. Jedes Mal, wenn er vor seiner Frau erwachte, erhob er sich aus den weißen Federn und ließ die Adlige selenruhig in ihren Träumen verweilen.
Nun saß sie also alleine an dem langen doch dürftig gedeckten Tisch. Obwohl sie hellwach war, versank sie abermals in ihren Träumen und verschwendete kaum einen Gedanken, wie es Shakar in der Wildnis nun wohl ergehen mochte. Sorgen brauchte sie sich schließlich nicht, wusste sie doch genau, wie gut ihr Gemahl sich auf das Jagen zu Pferd verstand.
Ihr Blickfeld schärfte sich wieder, als sie ihre Zofe auf sich zuschreiten sah, in den Händen ein Tablett, auf dem verschiedenste Köstlichkeiten lagen.
»Euer Frühstück, Frau Baronin«, erklärte die Dienerin höflich, als sie das Tablett vor der Nase ihrer Herrin abstellte. »Eine Morgensuppe mit Kartoffeln, angerührt mit Milch. Dazu zwei Scheiben Brot. Möchtet Ihr einen Wein dazu?«, fragte sie zuvorkommenderweise, obgleich beide von ihnen wussten, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Doch war es die Pflicht der Zofe, ihrer Herrin stets höflich und ehrerbietend gegenüber zu sein, und das tat sie dennoch mit völliger Hingabe.
»Vielen Dank, Felice. Das genügt.« Ethea versuchte ebenso freundlich zu verbleiben. »Du darfst sich nun setzen.«
»Sehr wohl«, entgegnete diese und ließ sich auf einem der seitlich liegenden Stühle nieder. Sie wagte es gar nicht erst, sich vor Kopf der Baronin zu setzen, empfand dies die Schwarzhaarige vermutlich noch als törichte Beleidigung gegenüber dem Baron.
»Bauernfraß«, sprach die Adlige in Gedanken ihr Frühstück verfluchend und tauchte den silbern glänzenden Edelstahllöffel in die dickflüssige Kartoffelsuppe.
Die Minuten vergangen wortlos, bis es gleichmäßig und laut an der Tür ihres Zimmers pochte. Ohne aufgefordert werden zu müssen, erhob sich die Zofe und trat zur Tür, welche sie genau so weit öffnete, dass sie sehen konnte, wer auf der anderen Seite wartete.
»Ja bitte?«, ertönte es verwundert aus Richtung der Tür, als Ethea selbst gerade ihre Suppe zuende gelöffelt hatte. »Ich bin der Schneider, den die ehrenwerte Baronin gewünscht hatte.«
Wortlos wendete Felice sich ab und stattdessen der Adligen zu, um ihr von dem Antreffen des Fremden zu berichten.
»Es steht jemand für Euch vor der Tür. Er meint er sei der Schneider.« Die Mürrische Miene der Schwarzhaarigen hellte sich auf, als sie von dieser wahrlich guten Nachricht hörte. Zugleich schob sie das Tablett beiseite und richtete sich aus ihrem Stuhl auf.
»Du darfst gehen, Felice, lass ihn ein«, entgegnete Ethea hocherfreut und bedeutete ihrer lästigen Zofe, aus ihren Augen zu verschwinden, denn dies war durchaus eine Angelegenheit, die sie nur mit dem Mann zu besprechen hatte, der ganz offensichtlich eine sehr weite Strecke gereist war, nur um dem Wunsch der Dame zu folgen.
Das Klicken der schließenden Tür ertönte, als die Zofe das Gemach der Baronin verließ, um im Speisesaal des Erdgeschosses selbst zu speisen. Innerlich witterte sie einen Verdacht, schließlich gab es gerade hier in den westlichen Provinzen exzellente Schneider, die sich einzig und allein dem Hof verschrieben hatten. Warum also forderte die Adlige nun jemand anderen? Es war jedoch nicht an ihr, die Rechtschaffenheit ihrer Herrin infrage zu stellen. Ihre Aufgabe war es sie zu bedienen und ihr stets eine treue Untergebene zu sein, selbst wenn sie dies nur widerwillig tun sollte.
Ethea hatte sich indes wieder hingesetzt und während sie den Alchemisten mit einem Kopfnicken empfing, bedeutete sie ihm zugleich mit einer geschmeidigen Handbewegung, sich auf dem Stuhl ihr gegenüber niederzulassen. Der Beauftragte wendete seinen Kopf zu Boden und äußerte damit eine leichte Verbeugung, ehe er tat wie ihm geheißen und sich ob solch hoher Gesellschaft, so vornehm wie nur möglich, zu ihr an den Tisch setzte.
»Ihr seid schneller da als ich es erwartet hatte. Nun denn, habt Ihr, worum ich Euch in meinem Brief gebeten hatte?«
Der unscheinbare Mann, den sie als Schneider ausgegeben hatte, nickte. »Die schnelle Reise hat mich Einiges kosten lassen“, entgegnete er unterschwellig und kramte dabei in seiner Tasche herum.
»Man hat mir bereits davon berichtet. Der Kutschier ist bezahlt. Aber ich hoffe doch, dass ihr Diskretion gewahrt habt. Falls nicht, werde ich von weiterer Zusammenarbeit absehen müssen.« Die Blicke der Baronin wurden um einiges strenger. »Also?«
»Danach wird sich ehrenwerte Baronin sowieso nicht mehr hier sehen lassen können«, dachte der Mann sarkastisch, verbarg diesen Gedanken jedoch auch in seiner Mimik und zog darauf augenblicklich eine grün schimmernde Phiole hervor, nicht viel größer als dass sie nicht in jede noch so kleine Tasche passen würde. Langsam wiegte er die gefährlich anmutende Mixtur in seinen Händen, wobei die klare Flüssigkeit in dem Behälter ungehalten von der einen auf die andere Seite schwappte. Ethea wollte bereits die Hand nach dem Objekt der Begierde ausstrecken, als der Alchemist geschwind die Phiole wieder zurückzog. Seine Blicke hatten etwas Mahnendes an sich. Obgleich er sich im Königshaus befand und gar eine Audienz der Baronin erhalten hatte, schien er keinen Respekt zollen zu wollen. Ihm war seine Lage durchaus bewusst und begann sie nun zu ihrem Unmut bis in jeden noch so kleinen Winkel auszunutzen. »Nur wenige Tropfen genügen«, ergänzte er überflüssigerweise, was mit einem ungeduldigen Nicken der Baronin beantwortet wurde. Gleichzeitig wurden seine Augen trügerischer und schienen einen Anflug von List nicht zu verbergen.
»Ich verlange das Doppelte.«
Die Adlige rollte mit den Augen und seufzte hörbar auf, als sie diese freudige Botschaft vernahm, die sie schon zuvor hätte erahnen können. Ungestüm erhob sie sich von ihrem Stuhl und machte einige Schritte durch ihr Gemach, um auf diese Weise mit ihrem Ärger und der wachsenden Nervosität fertig zu werden. Ein paar Sekunden stand sie mit dem Rücken zu dem Beauftragten, sodass sie dessen finsteres Lächeln nur erahnen konnte. Nach einigen Momenten des fieberhaften Überlegens ergriff die Schwarzhaarige schließlich das kleine Kästchen, das bereits unter ihrem Bett bereitstand und stellte es dem Alchemisten vor die Nase. Die Juwelen der verstorbenen Laryarla. In einem günstigen Moment hatte sie es geschafft, die Schätze aus dem Zimmer der Fürstin zu entwenden, um damit den Alchemisten auszahlen zu können.
»Das hatten wir bereits abgemacht. Wo bleibt der Rest?«, sprach er zunächst zögerlich, als er die Schatulle mit den prachtvollen Edelsteinen öffnete, dann jedoch von fordernder Bestimmtheit. Wieder seufzte die Adlige auf und griff sich an das wertvolle Amulett, das ihren Hals schmückte: Ein Geschenk ihres Mannes, am Tage ihrer Hochzeit - bald würde sie es ohnehin nicht mehr brauchen. Dennoch widerwillig händigte sie dem Fremden letztlich, im Tausch gegen die verlangte Mixtur, auch dieses Schmuckstück aus.
»Sehr schön«, entfuhr es dem Korrupten und ein breites Lächeln trat auf seine Lippen. Etheas Antlitz verfinsterte sich dagegen zunehmend. Sie war niedergeschlagen, ihre Ziele nur für einen gewaltig hohen Preis erreichen zu können, und sie ahnte schon, dass dies noch lange nicht das Letzte gewesen sein sollte, was sie zu entrichten hatte ...
Im nächsten Augenblick war sie gerade dabei KARhaBs das schwarze Amulett entgegen zu strecken, das an keinem einzigen Flecken glänzte, da es die wenigen Lichtstrahlen dieses Ortes aufsaugte, anstatt sie zu reflektieren. Verlegenheit machte sich langsam in der Witwe breit und beschämt zog sie die Kette, samt des schwarzen Juwels, wieder zurück, um es sich wenig später wieder um den in geschmeidigen Linien verlaufenden Hals zu binden.
Sie war sich inzwischen sicher, dass diese Reise die Beziehung zwischen ihr und KARhaBs auf eine harte Probe stellen würde. Würde er es wagen, noch mit einem Menschen zu verweilen, der derartig grausam, hinterlistig und verlogen sein konnte? Der in der Lage war, alles zu tun, was einem Menschen überhaupt möglich war, nur um damit seinen eigenen, lächerlichen Zielen einen Schritt näher zu kommen? Ethea bezweifelte dies. Und es würde nur eine Frage der Zeit sein, ehe auch die letzten Bilder ihrer hässlichen Vergangenheit ans Licht kämen und zusammen endlich ein logisches Ganzes bilden würden.
Die Prophezeiung hatte recht behalten: Nicht nur die Prüfungen, die den beiden hohen Schwarzmagiern auferlegt worden waren, hatten es in sich. Es galt auch noch diese eine, die beiden Kastellbewohner verbindende Prüfung zu bewältigen. Ohne Zusammenhalt würden sie auch ihre eigenen Aufgaben nicht bestehen.
Mit traurigen Blicken bedachte sie den dichten Nebel, der sich wie eine undurchdringliche Wand um die beiden Antikörper dieser Zwischenebene zog. Doch es war eine andere Art von Trauer, als die, welche KARhaBs soeben übermannt hatte. Eher unbewusster Natur.
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KARhaBs hatte sehr wohl alles gesehen, alles erfahren. In dieser Dimension gab es keine Verschleierung, nur die nackte Wahrheit, die keine Rüstung, keine Waffe außer sich selbst brauchte, um zu schmerzen, zu erfreuen, zu schaden…
Des Barden Tränen waren getrocknet während der Vision, er war diesmal der vermeintliche Schneider gewesen, den Baronin von Zsan angefordert hatte. Konnte dies die Ethea sein, die er kannte? Sie war eitel, Teils zickig, grausam zu Fremden, schadenfroh und vieles mehr, doch mit solcher Kälte hätte KARhaBs niemals gerechnet.
Es würde noch eine lange Zeit dauern, obschon es diese physikalische Größe in dieser Zwischenwelt nicht gab, um all die Eindrücke zu verarbeiten. Doch was auch noch kommen mochte, ihnen ward eine Bürde auferlegt, die sie nun zu tragen hatten. Sie mussten sich dem stellen, was ihrer harrte und würden sie dies nicht in vollkommenem Zusammenhalt tun, so wäre ihre Fahrt zum scheitern verurteilt.
“Ich sehe, dass es dich betrübt. Sehe, dass dir etwas schwer auf der Seele lastet.“ sagte der Barde mit nun wieder festerer Stimme. “Du bist verflucht, Ethea, ist es nicht so? Ich glaube dir nicht, dass du keine Reue kennst, genauso wenig, wie ich glaube, dass tief in dir ein herzensguter Engel steckt. Vielleicht magst du denken, dass es nicht wichtig ist, was ich glaube, doch bin ich anderer Meinung. Wir müssen einander vertrauen können, um diese Aufgabe zu lösen, unsere Bestimmung zu erfüllen. Doch wäre es falsch zu glauben, dass allein dieser Grund unser Vertrauen verlangt. Wenn wir dies denken, sind wir ebenso verloren.“
Die hohe Schwarzmagierin hatte nur gelegentlich und in fast schüchterner, ihr ganz und gar fremden Manier zu KARhaBs geblickt. Die meiste Zeit sah sie in die nebeligen, wahrscheinlich unendlichen Weiten der Zeitlosigkeit. Ein Beobachter, der alles erlebte gesehen hätte, seit die beiden durch das Portal schritten, mochte fast mitleid mit den beiden haben. Allein die Visionen zu ertragen oder aber, in Etheas Fall, das schreckliche Ende jener fast absehen zu können, ging beinahe über alles Menschen ertragbare, doch einher auch noch den Konflikt zwischen einander zu lösen, dass konnte man niemandem zumuten. Welche Macht ersann solch Prüfung, legte solch schwere Bürden auf, unter denen die Rücken der Tragenden nicht nur bogen, sondern auch knackten, anbrachen und sicher nicht selten gänzlich zertrümmert wurden?
Zaghaft suchte sich die sanfte Hand der Adligen den Weg zu jener des Barden. Ihre Finger fühlten sich kalt an, doch in Anbetracht der absoluten Einsamkeit an diesem trostlosen Ort gaben sie KARhaBs Hoffnung. Er drehte seinen Kopf zu der schwarzhaarigen Schönheit, die ihrerseits ihn anblickte. Ihre Augen und auch die des Barden schienen mehr zu sagen, als jedes Wort es gekonnt hätte. Und in Schweigen gehüllt, mit wehendem Haar und flatternden Roben richteten sie ihren Blick nach vorn und schritten Hand in Hand noch tiefer in die nebeligen Lande.
Was genau ein Beobachter in Etheas Augen gesehen haben mochte, als ihr Blick den des Barden trafen, wusste KARhaBs nicht zu sagen, doch was er sah, war ihm überdeutlich: „Gemeinsam“, hatten ihre Augen gesagt, „gemeinsam“.
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Ethea hatte die Veränderung in ihrem Körper, ihrem Geist sehr wohl gemerkt. Mit den Bildern, ihrer so grausamen und kaltblütigen Vergangenheit, stieg auch heute diese einstige Boshaftigkeit erneut in der Adligen empor. Zeitweise glaubte sie diese fast abgelegt zu haben, doch nun entfachte jene alte Tugend in ihr wie ein alles fressendes Feuer, das nach einem kleinen Halm geschnappt hatte, um dadurch neue Größe zu erlangen. Sie spürte die Resignation über die alten Bilder in sich wachsen, begegnete ihrer Vergangenheit mit Zorn und erinnerte sich daran, was für ein Monster sie einst gewesen. Natürlich nur innerlich, nach Außen hatte sie stets die liebevolle, wunderschöne Baronin an der Seite ihres Gemahls gespielt. Eine Rolle, die ihr sehr gut stand, wie sie fand und die sie noch heute auf ihrem Antlitz trug. Doch zu ihrem Erstaunen hatte sich inzwischen ihr Geist an das äußere Bild, das man von ihr erlangte, angepasst. Nun entwickelte sich allmählich dieses Bild zurück, zu dem, was es mal war. Ein Schritt, den sie im Moment nicht aufzuhalten wusste, geschweige denn, dass sie es überhaupt versuchte oder gar wollte.
Die hohe Schwarzmagierin wusste nicht zu sagen, welcher Aspekt an dieser Reise nun die wahre Prüfung darstellen sollte. Doch hatte sie wohlwahr festgestellt, dass es durchaus mehrere Ansätze gab, den Zweck dieser Traumebene zu deuten. Ob es der Mut war, sich den Bildern aus vergangenen Zeiten zu stellen, und dem jeweils anderen dabei sein tiefstes Inneres zu offenbaren; oder aber, ob es der Zusammenhalt war, der zwischen den beiden Magiern existieren musste, damit ein Überleben in dieser fremden Welt möglich war. Vielleicht war für sie die wahre Prüfung, dass sie dieser aufkeimenden Kälte und Gefühllosigkeit standhaft blieb. Sie wusste es nicht. Ja, sie wusste nicht einmal, ob es ihr überhaupt wert war, diese sagenumwobene Prüfung zu bestehen, die KARhaBS Träume ihnen prophezeit hatten. Wenn es so weiter ginge, könnte ihr der Barde ohnehin bald gestohlen bleiben, denn wer wollte schon ein Biest, ein Monster an seiner Seite wissen?
Seine Worte klangen zwar optimistisch, doch auch dieser Optimismus in dem Schwarzmagier würde bald erloschen sein, und dann gäbe es ebenfalls für ihn keinen Antrieb mehr, außer das Verschwinden aus dieser Hölle, die sie mit Geistern, Bildern und qualvollen Wahrheiten folterte.
Ethea belächelte das gesagte nur, genau wie sie es früher getan hatte, wenn Shakar ihr eines seiner vielen Komplimente gemacht hatte. Wenn sie mal wieder eines dieser schmuckvollen Kästchen hatte öffnen dürfen, in dem ein funkelnder Edelstein oder aber auch ein reich verzierter Ring zu finden war. Sie hatte keine Ahnung, wann sie aufgehört hatte ihren Mann zu lieben, doch muss es ungefähr dann gewesen sein, als sich die Witwe von Neid und Habgier getrieben, in ihr Leben als Baronin eingelebt hatte und es als Selbstverständlich ansah, dass das Schicksal es gut mit ihr gemeint hatte.
Erst in ihren Tagen im Kastell hatte sie so etwas wie Reue verspürt. Diese war nun verschwunden und an ihrer statt der Zorn über sich selbst gekommen. Der herzensgute Engel, von dem KARhaBs sprach, schien soeben erloschen zu sein.
Und so setzte sie wieder diese Fassade auf, als sie mit ihren strahlenden blauen Augen den Barden voller neuer Hoffnung anblickte und ihm damit, in der Gewissheit, dass er es sicher verstand, »gemeinsam« zusprach - ohne dabei auch nur ein Wort über ihre Lippen gleiten zu lassen.
Hand in Hand gehend, war es wieder diese Intuition, die sie auf den nebeligen Pfad brachte, der die ganze Zeit für sie vorgesehen war. Ihr Pessimismus blieb unerschüttert, doch wollte sie nicht ein weiteres Mal, für Zeit, die ihr beinahe ewig erschien, stillschweigen wahren. Sie wollte mit dem Barden darüber reden, was sie in den letzten Stunden, Tagen oder Wochen gesehen hatten, bevor die beiden Schwarzmagier erneut von irgendwelchen lästigen Geistern oder Visionen heimgesucht werden würden.
»Glaubst du, wir finden einen Weg hier raus?«, hinterfragte die Adlige, deren Worte durch die unheimliche Stille dieser Zwischenebene hallten. Dem Barden konnte man deutlich ansehen, dass er diese Frage mit seinem üblichen Optimismus zu beantworten versuchte. Dementsprechend zögerlich erhob er wieder das Wort. Doch die Schwarzhaarige hatte ihm nicht lange Zeit gegeben und unterbrach ihn bereits, bevor er überhaupt die Möglichkeit hatte, eine Antwort zu geben.
»Was mich noch mehr interessiert: Was für eine Meinung hast du nun von mir?«
Nun brach entgültig das Schweigen zwischen den beiden Dienern Beliars ein. Es war wohl eine dieser Fragen, die von allen Männern gehasst wurden, dennoch scheute Ethea es keineswegs, sie zu stellen. Schließlich gehörte zu einem »gemeinsam« ebenfalls, dass man sich gegenseitig vertraute und einander die Wahrheit sagte. Und wenn sie schon bei Wahrheiten über ihre Vergangenheiten waren, dann könnte auch KARhaBs gleich damit anfangen, die Tatsachen auszusprechen.
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Es war windstill geworden, als beide hohen Schwarzmagier stehen blieben, nicht wärmer, aber wenigstens fauchte der Wind nicht mehr sein eiskaltes Lied. KARhaBs musste eine Weile über die Frage Etheas nachdenken, denn eine so offene und direkte Frage wollte gut oder besser „korrekt“ beantwortet sein. Er sah an ihr vorbei, in die trüben Schwaden hinein, die noch immer vorüber zogen.
“Wir haben gemeinsam schon viele Gefahren überlebt, wir haben nicht nur einmal dem Tode ins Auge gesehen. Wir sind Blutgeweihte, gestorbenen unter einer Decke aus gefrorenem Blut, wiedergeboren in den Hallen des Magus. Dies zumindest mochte ein guter Aspekt der Aleafahrt gewesen sein. Wir sind sogar zu Hohen Schwarzmagiern geworden und sind wahre Begünstigte des Dunklen. Wir haben aufopferungsvoll zueinander gestanden und Treue und Standhaftigkeit bewiesen.
Und nun aber zu deiner Frage. Ich will mich nicht mehr scheuen die Dinge direkt auszusprechen, du befragtest mich nach dir, nicht nach mir selbst. Du warst standhaft, treu, aufopfernd. Du hattest Mitleid. Du hast einen Giftmischer bezahlt, mindestens im Geiste mit deinem Gefährten gebrochen, verraten, gelogen, wenn nicht gar gemordet. Du bist verflucht.
Doch du hast anderes, erstgenanntes getan, bewiesen, dass nicht nur das durch und durch Böse in dir steckt. Wir dienen dem düstersten aller Herren, wer glaubt nicht, dass wir, die Diener Beliars, die schrecklichsten und bösesten aller Menschen sind?
Uns steht ein gewisses Maß an Schwarzbeseeltheit zu, will ich meinen. Nichtsdestotrotz haben auch wir nur Menschenseelen, hast du nur eine Menschenseele. Du hast mir bewiesen, dass du gut sein kannst, gut bist. Ich halte viel von dir Ethea, wenn ich mich auch oft von dir habe blenden lassen. Ich muss zugeben, dass du undurchschaubar bist und doch oft so berechenbar. Du bist ein Mysterium. Ein Rätsel, dessen Lösung ich niemals finden werde, doch das ich allein schon um des rätselns Willen lieben gelernt habe…“
Nach diesen Worten des Barden wurde es wieder still. Nach einer langen Pause jedoch, begann KARhaBs erneut zu sprechen:
“Wir sind alle Spielbälle der hohen Mächte und unsere Glieder sind an Fäden befestigt, die von ihnen beherrscht werden. Doch hier und da begeht auch die größte Macht ihre Fehler und wir können uns ein Stück weit selbst in eine gewisse Richtung lenken, bis dass die Schnüre wieder stramm gezogen werden. Doch diese kurze Zeit reicht manches Mal aus, um neue Hoffnung zu schöpfen und sich selbst in einer neuen Losung zu taufen. Wir haben immer eine Wahl, Ethea.“
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Kaum dass KARhaBs zuende gesprochen und Ethea über seine Antwort sinnierte, brach die Stille wieder ein, durchsetzt von den fauchenden Winden, die ihnen erschreckende Botschaften überbringen wollten. Der Schwarzmagier hatte sich mit einer eher diplomatischen Aussage aus der Schlinge gezogen, die ihm die zugegebenermaßen sehr direkte Frage der Frau bot. Er hatte ihr die vergangenen Erlebnisse schmackhaft gemacht. Aufgezählt, was sie alles gemeinsam durchgestanden hatten. Hatte ihre guten und ihre schlechten Seiten beleuchtet, sie auf die Goldwaage gelegt und schließlich beschwichtigt dadurch, dass eine Schwarzmagierin stets eine dunkle Seele besitzen durfte. Doch Ethea hatte festgestellt, dass es unfair von ihr war, ihm schon jetzt diese Frage gestellt zu haben, da er erst den Anfang allen Übels mitangesehen hatte und somit kaum in der Lage war, sich eine differenzierte Meinung zu bilden.
»Welche Entscheidung nun tatsächlich die beste für uns ist, scheint man uns jedoch nicht wissen lassen zu wollen«, setzte sie schließlich die Worte des Barden pessimistisch fort. Bereute sie eigentlich ihre vergangenen Taten? Sie hatte es vor einigen Monaten noch bedauert, doch nun schien diese Frage vollends schwieriger zu beantworten. Mit ausdrucksloser Mimik bedachte die Adlige ihren Begleiter eines letzten Blickes, ehe sie sich wieder abwandte und dem Nebel entgegen schritt.
Vor den beiden Magiern tat sich alsbald ein ramponierter Stall auf, der ausschaute als würde er jeden Moment auch nur bei der kleinsten Bewegung in sich zusammen fallen. Vorsichtig näherten sie sich dem Holzbau und erspähten durch den Nebel in seinem Inneren, scheinbar wie durch einen Zufall, zwei prachtvolle Pferde, eines gescheckt, das andere weiß, die in keinem Vergleich zu ihrer Behausung standen. Sie schienen herrenlos, trotzdem waren sie an den morschen Balken festgebunden und schienen sich nicht gegen ihre Fesseln wehren zu wollen.
Ethea und KARhaBs warfen einander beratende Blicke zu und begannen schließlich, die engen Seile loszubinden und sich auf den Rücken der Pferde zu schwingen. Die Schwarzhaarige hatte das Reiten, das sie in ihrer Heimat so genossen hatte, sehr vermisst, bekam man doch so selten auf der Insel Khorinis Pferde zu Gesicht. Ethea hatte sich über den Steigbügel in den Damensitz begeben, auf den sie sich noch aus alten Zeiten sehr gut verstand und ließ dabei beide Beine auf der linken Seite des Pferdes, sodass sie fast seitlich auf dessen Rücken saß. Im gemächlichen Trab ritten sie nun dem Nebel davon, der sich tatsächlich schon bald lichtete. Was er preisgab waren die bereits bekannten saftigen Wiesen. Zudem erstreckten sich am Himmel kleine weiße Wölkchen, die zumeist das strahlende Blau nicht zu überdecken wussten. In der Ferne, ja es war ihnen möglich fast bis zum Horizont zu blicken, taten sich dagegen riesige Wälder auf, die vermutlich lauter Geheimnisse boten. »Waren sie endlich frei?«, fragte sich Ethea, der die neue Hoffnung in das sonst so finstere Gesicht geschrieben stand. Doch ihre Frage blieb wohl vorerst unbeantwortet.
Wie es sich herausstellte, ritten die beiden Schwarzmagier zwei Menschen entgegen, die sich in gemächlichem Schritt, ebenfalls zu Pferden, dem Wald näherten.
Ethea wollte rufen, um Hilfe schreien, oder einfach nur die beiden Fremden in dieser merkwürdigen Ebene begrüßen, doch war sie nicht in der Lage auch nur ein Wort über ihre trockenen Lippen gleiten zu lassen. Sie wollte den beiden Männern zuwinken, doch ihre Arme hielten sich wie versteinert an dem Sattel fest. KARhaBs sollte recht behalten – die Glieder der Menschen sind an seidenen Bändern befestigt und sie sind nichts weiter als Spielbälle höherer Mächte. Wie konnte sie nur so ignorant sein, um zu glauben, dass sie tatsächlich diese Zwischenebene bereits verlassen hatten?
Erst als sich die Pferde näherten, war es Ethea schließlich möglich, die reitenden Gestalten genauer zu mustern. Einer von ihnen hatte langes schwarzes Haar, das an den Schultern einige Locken schlug. Der kräftige Rücken und der schöne Bogen über den Schultern verriet, dass es sich bei ihm, genauso wie bei dem anderen um Männer handeln musste. Sein Begleiter trug dagegen einen gepflegten Kurzhaarschnitt. Die Witwe ahnte bereits, was kommen mochte, und obwohl es sich scheinbar abermals um Szenen aus ihrer Vergangenheit handelte, schien ihr davon nichts bekannt zu sein. Nicht umsonst spielte sie dieses Mal lediglich die Rolle des Beobachters, während sie und KARhaBs zuvor immer eine der Hauptfiguren selbst übernommen hatten.
Ihre Augen wanderten bedächtig zu dem Barden hinüber, der mit ausdruckslosem Antlitz alles in sich aufzunehmen schien. Bald schon erhaschte jedoch das Gespräch der beiden Gestalten ihre Aufmerksamkeit, welches immer deutlicher an ihre Ohren drang, nun da Ethea und KARhaBs fast gänzlich auf ihre Vordermänner aufgeschlossen hatten.
»Schön, dass du doch noch Zeit gefunden hast.« Wie erwartet handelte es sich um die Stimme des Fürsten Feonrars, der höchstwahrscheinlich mit seinem, ihm wie aus dem Gesicht geschnittenen Bruder nun den gemeinsamen Jagdausflug bestritt. Ethea konnte von dieser Begegnung nichts wissen, da sie zur gleichen Zeit ihren eigenen, niederen Machenschaften gefolgt war.
»Ich kann mir schon vorstellen, was Ethea sagen wird, wenn sie alleine in ihrem Bett aufwacht«, lachte Shakar und auch Feonrar rang sich trotz seiner großen Trauer und dem schlechten Gewissen, das ihn zeitweise plagte, ein leichtes Lächeln ab.
»Ich liebe sie über alles, aber mein Bruder hat in diesen Zeiten wohl Priorität.« Sein Blick wurde wieder ernster und kaum später griff der Baron nach seinem Bogen. »Schau da. Ich glaube, da hinten rührt sich was«, erklärte er und deutete mit der Hand auf eine verborgene Stelle am Waldrand. Scheinbar ein kleines Loch, der Eingang zu einem Erdbau, der von vertrocknetem Espenlaub bedeckt war. Die Kälte war gerade im Begriff zu schwinden, jetzt da die Sonne am Horizont hervortrat. Genau die richtige Zeit, um zu jagen, denn die Tiere kamen nun aus ihren Bauten und Unterschlüpfen hervorgekrochen, um frisches Sonnenlicht zu schnuppern. Und wenngleich sie das Fleisch nicht benötigten, so war es doch ein gelungener Zeitvertreib für den Adel, außerdem machten sich einige Trophäen an den Wänden des Treppenhauses immer gut.
Shakar zog einen Pfeil aus seinem Köcher und visierte das Getier an, das sich im Unterholz regte. »Ein Fuchs«, flüsterte er, doch sein Bruder schien ihn längst nicht mehr wahrzunehmen. Er war bereits versunken in seinem Selbstkummer, einer Mischung aus Reue für das, was er seinem Bruder antat, nur um sich selbst ein wenig abzulenken. Aber auch Trauer, die er noch immer für seine Frau empfand. Genauso wie die Angst, die ihn beschlich, wenn er daran dachte, dass man ihn seines Thrones berauben könnte. Er überlegte stets, ob er Shakar von seiner Affäre beichten sollte, doch war ihm seine letzten Endes noch gute Beziehung zu seinem Bruder immens wichtig, als dass er sie so leicht aufs Spiel setzen konnte.
Der Pfeil zischte von der Sehne und landete krachend in einem nahestehenden Baum. Das Rascheln wurde urplötzlich lauter und hektischer, ehe es in den Tiefen des Waldes verebbte.
»Scheinbar bin ich schon eingerostet«, lachte der Schütze wieder und schaute sich weiter nach Beute um, die er erlegen konnte. Die Trauer im Gesicht seines Bruders betrübte ihn jedoch auch selbst und so kam es, dass er ebenso schnell seinen Bogen wieder zurücksteckte, wie er noch gezogen war.
Shakar ließ sein Pferd wieder näher an den Thronfolger heranschreiten. Von den beiden Schwarzmagiern, die sich kaum abseits befanden, dort der Szenerie folgten und nun eigentlich in seinem direkten Sichtfeld sein sollten, nahm er scheinbar gar keine Notiz, so als wären sie überhaupt nicht anwesend.
»Es ist doch nicht deine Schuld«, gestand Shakar ihm auf verständnisvolle Weise und klopfte ihm auf die Schulter. Erst als der Braunhaarige sich selbst zwang, seine betrübte Miene ein wenig aufzuhellen, lösten sich die Blicke seines Bruders von ihm wieder und in gewisser Weise fiel dem Fürsten damit ein schwerer Stein vom Herzen. Zunächst verblieben sie abermals wortlos und erst als Shakar mit seinem Pferd wieder kehrt in Richtung Wald machte, begann Feonrar etwas Unverständliches zu murmeln. Undeutlich genug, sodass sein Bruder nichts davon mitbekommen sollte.
»Wenn du nur wüsstest.«
Er seufzte einmal auf und drückte kurz darauf leicht die Hacken seiner Schuhe in die Seiten des pechschwarzen Reittieres und wies es damit an, dem anderen Pferd in den Wald hinein zu folgen.
Die Reittiere der beiden Kastellbewohner zogen es stattdessen vor, ohne dass es ihren Reitern möglich wäre, dies zu beeinflussen, sich wieder vom schattigen Wald zu entfernen und einen anderen, ungewissen Weg einzuschlagen. Ihr Tempo war hoch und Ethea musste angestrengt damit kämpfen, in ihrer ungünstigen Haltung nicht vom Sattel zu fallen. Irgendwann hatte sich auch schließlich unbemerkt der Nebel wieder verdichtet und ebenso wie zuvor, waren nun die beiden Fremden in dieser Welt scheinbar ausweglos gefangen.
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Die Nebel wurden dichter und dichter. Selbst das Gras unter ihnen konnten sie nur für wenige Augenblicke sehen, wenn ihre Pferde mit den Hufen den Nebel verdrängten und so eine kleine Lücke in der weißen Sphäre bildeten.
Es schien noch kälter zu werden, obschon der Wind nur mäßig bis gar nicht wehte. Aus den Nüstern ihrer Pferde drang Unterstützung für die Schwaden in der Luft. Trotz der schlechten Sicht ritten sie weiter, nun in seichtem Trab. Bis sich vor ihnen ein grauer Steinblock vom dunstigen Hintergrund abschälte. Es handelte sich um ein kleines Steingebäude von gut zwei Metern Höhe. Es hatte ein Spitzdach, jedoch keines im eigentlichen Sinne, da der Winkel des jenen mindestens 160 Grad betrug. Jede Seite des Hauses war von zwei schlichten Säulen gesäumt, ihrer insgesamt vier an der Zahl. Nur wenige, aber dafür umso rätselhaftere und höllisch anmutende Verzierungen waren direkt unter dem Dach angebracht. Wie kleine Wasserspeier sahen sie aus. Endlich wur4de klar, um was es sich bei diesem Bau handeln musste: Es war der Eingang zu einer Krypta. Rings um sie konnten sie nun verschwommen Grabsteine erkennen und die eben noch so trockene Luft wurde feucht und roch modrig. Sumpflichter entzündeten sich in einiger Entfernung und ließen die Pferde unruhig werden.
Geschwind eilte das Pferd durch die neblige Nacht, der große Wallach raste nur so über die Ebene. Der ganze Stolz der Familie hatte vom frischen Quellwasser und dem Gras gelebt, das noch saftig und grün im Tal gewachsen war. Er war stark und geschmeidig und bei jedem Schritt spannten sich eindrucksvoll seine Muskeln. Schwarzgekuttet klammerte sich eine Gestalt um den Hals des Sattellosen Pferdes, die Kapuze war ihr über den Kopf hinabgerutscht und übergab das lange blonde Haar flatternd dem Wind. Das Ziel des Recken, der dort ritt war nicht klar, er wollte nur weg von den schrecklichen Landen, in denen zuerst seine Mutter einen blutigen Tod und auch der Vater den seinen gefunden hatte. Die Hauptstadt war weit entfernt und jeder, dem der Barde auf seinen Reisen im letzten Jahr begegnet war, hatte ihm abgeraten diese Fahrt anzutreten. Seit die Orks an den Grenzen wüteten hätten sich Banditen in den Provinzen und Regionen breit gemacht, so sagten die Leute. Doch Räuber hatte es schon früher gegeben und dem von Wut und Trauer zerfressenen Jüngling wäre es das Liebste gewesen, wenn er einen dieser Banditen in die Hände bekommen hätte. Noch während ob dieser und resultierender Gedanken eine Träne dem Flatternden _Haar von Auge aus folgte und in der tiefschwarzen Nacht verschwand, erklang ein Geräusch von reißendem Seil, das gespannt gewesen sein musste. Der Wallach strauchelte nicht erst, sondern der hohen Geschwindigkeit wegen, mit der er davongeeilt war, stürzte er direkt nach vorn auf den Kopf. Der Jüngling wurde abgeworfen und blieb nach schlitterndem Aufprall regungslos liegen. Dem Pferd hatte die Falle das Genick gebrochen.
Als die Welt für den Recken wieder Farbe annahm, sah er sich mit schmerzenden Gliedern einer Krypta gegenüber, umringt von vier übel riechenden Männern.
»Seht, wer erwacht ist! Du bist dreckig für einen von ihnen! Doch euer Gold ist nicht schmutzig und es stinkt bei weitem nicht so wie du, erbärmlicher Wurm! Wer bist du, ein Cousin? Der Bruder, geheim gehalten um den Feinden den dritten Thronfolger nicht zu offenbaren?« Der Mann, der gesprochen hatte, zog ein langes Messer aus der Scheide, die an seinem Gürtel hing, an dem sich noch allerhand anderes Werkzeug befand. Sogar ein Bündel Dietriche konnte der Jüngling erkennen.
Ohne zu zetern, oder ihn antworten zu lassen, schnitt der Wegelagerer einen langen Schlitz in die Kutte des Gefangenen und bohrte die unerwartet stark geschärfte Klinge in die helle Haut des Gefesselten. Dunkles Blut drang aus der Wunde und ein markerschütternden Schrei entrang sich der kehle des blonden Recken, als der Peiniger die Klinge im Leib seines Opfer einmal um sich selbst drehte.
»Wo ist der verdammte Geheimgang in Schloss, du Wurm? Ich lasse deine bepisste Leiche vor die Füße deiner hurenden Cousine bringen, Bürschchen, wenn du nicht redest! Ich will das Gold der Zsans und zwar bald!«
Die weiteren Augenblicke nahm der Leidende nur noch verschwommen wahr. Der Schmerz wurde immer unerträglicher, bis er zu einem Pulsieren wurde, das im Rhythmus seines schwächer werdenden Herzschlages auftrat. Langsam schlossen sich die Lider des Blonden, bis er auf die Seite sank…
Der Recke verschwand, löste sich langsam auf und auch die Krypta war nichts weiter al ein Schatten im sich lichtenden Nebel.
“ich hatte es vergessen… ich hatte es alles vergessen, Ethea. Wie konnte ich dies nur aus meinem Geiste verbannen?“
Fassungslos stieg KARhaBs ab und eilte hinüber zu der Stelle, wo eben noch der blonde Jüngling gelegen hatte und dem Tode nur zu geweiht schien…
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Ethea konnte einfach nicht glauben, was sie da soeben gehört und gesehen hatte. Dritter Thronfolger? Geld der Zsans? Ihrer Familie? Was hatte das bloß zu bedeuten? Mit einem durchdringlichen Blick musterte die hohe Schwarzmagierin ihren Gefährten, der von seinem Pferd abgesprungen war, um an den Ort des Geschehens zu eilen. Was hatte er mit dieser Sache zu schaffen? Ethea wusste nichts von einem dritten Thronfolger. War KARhaBs etwa früher ein Dieb gewesen, der sich an den Reichtümern ihrer Familie vergriffen hatte und dafür schließlich zur Rechenschaft gezogen wurde? Die Adlige wusste nicht, wie sie darüber fühlen oder denken sollte. Die Bilder aus der Vergangenheit des Blondschopfes waren für sie noch immer viel zu unvollständig, um einen klaren Zusammenhang zu ergeben. Der Nebel schien sie zu allem Überfluss auch noch daran zu hindern, klare Gedanken zu fassen. Noch schlimmer, sie bemerkte nur beiläufig, wie sich langsam Schwärze vor ihren Augen abtat und sie den Halt zu verlieren drohte. Dennoch hielt sich ihr Körper womöglich von ganz alleine aufrecht auf dem Reittier, ohne stattdessen unsanft auf dem von dichten Rauchschwaden überzogenen Boden zu landen.
Das Kerzenlicht flackerte leicht, als die Zofe Felice den zweiten Gang des gemeinsamen Abendmahls der Baronin Ethea und ihres Gemahls Shakar an den Tisch stellte. Der Truchsess hatte sich heute auf Anweisung der Schwarzhaarigen besonders große Mühe gemacht und ein Menü aus mehreren Gängen hergezaubert, das sowohl leichte als auch herzhafte Kost darbot. Dazu schenkte die Dienerin einen wunderbaren Rotwein ein, den sie ihnen neben die gourmetartig gefüllten Teller stellte.
»Wunderbar«, bedankte sich der Freiherr mit einem bezaubernden Lächeln und schickte damit die Zofe weg, durchaus freundlicher als es Ethea selbst je getan hatte.
Die Tür des Zimmers schloss sich wieder, sodass nun lediglich die warm leuchtenden Kerzen auf dem Tisch den großen Raum in ein romantisches Abendlicht tauchten. Es war einer dieser Abende, an denen man all seine Sorgen vergessen konnte und die Liebe fast wie am ersten Tag in neuer Kraft entflammte. Und doch wusste sie bereits genau, dass es ihr letztes gemeinsames Essen sein würde.
Ethea tupfte sich mit einem weißen Tuch die von der warmen Vorsuppe feuchten Lippen ab und schob schließlich den zweiten Gang näher an sich heran.
»Wie war euer Ausflug?«, fragte sie belanglos, um die Stille, nur unterbrochen von dem knisternden Kaminfeuer, ein wenig zu mindern.
»Es war schön. Die Waldluft hat mir gut getan«, Shakar stach mit der silbernen Gabel in das Filet, um die Zähigkeit zu testen, »leider musste ich meine einzige Trophäe meinem Bruder überlassen. Sei’s drum. Ihm geht’s im Moment nicht besonders gut und kann eine Bestätigung gebrauchen.« Ethea hatte die ganze Zeit zugehört, jedoch nur geistesabwesend genickt, als ihr Mann geendet hatte. In Gedanken verweilte sie an dem Weinglas, in dem der Alkohol kaum merklich hin- und herschwappte. Wie würde sie Shakar überlisten können?
Die Frage sollte sich schneller beantwortet haben als zunächst erwartet: »Entschuldige mich kurz.« Der Baron erhob sich, um seine Notdurft zu verrichten.
Ethea lächelte ihren Mann finster an und wartete, bis er vollends das Zimmer verlassen hatte, um nun unentdeckt den Inhalt der Phiole in das Glas schütten zu können. Rasch eilte sie hinüber zu ihrem Bett, unter dem sie das kleine Behältnis versteckt hatte und ging wiederum zur anderen Seite des langen Tisches, an dessen Kopfseite ihres Mannes Glas stand. Schnell drehte sie den fest verschlossenen Deckel der Phiole auf und schüttete genau drei Tropfen in den blutroten Wein, um die Flüssigkeit wegen der starken Färbung nicht erkennbar werden zu lassen. Sie hoffte nur, dass diese wenigen Tropfen auch genügen würden. Das hatte ihr jedenfalls der Alchemist bestätigt, doch sicher wissen konnte es wohl auch er nicht. Wer wusste, wie widerstandsfähig der Körper ihres Gatten letztlich war?
Ethea vernahm ein Geräusch aus dem Flur, blickte sich hektisch um und ließ das Gefäß rasch in ihrer geschlossenen Faust verschwinden, ehe sie sich wieder auf ihren Stuhl begab. Noch während sich die Tür nach Innen öffnete, landete die Phiole in der Not in ihrem Ausschnitt. Ethea griff wieder nach dem Tuch, um ihre kurzweilige Panik zu verbergen und außerdem zu vertuschen, dass sie nicht die ganze Zeit brav auf ihrem Stuhl gesessen hatte. Ein nichtsahnendes Grinsen empfing sie von dem Mann, der zur Türe hineinschritt und sich wieder an den Tisch begab, nicht ohne ihr zuvor einen zärtlichen Kuss zu geben. Ein wenig erleichtert legte Ethea das Tuch wieder neben ihren Teller, woraufhin sich die Ungeduld in ihr breit machte. Jedoch sollte sie noch einen Moment warten, bevor sie ihren Gemahl zum Anstoßen bewegen würde.
»Wir sollten auf das Wohl deines Bruders trinken«. Schlug Ethea kurze Zeit später mit scheinheilig funkelnden Augen vor. Shakar wirkte ob dieses Zugeständnisses überrascht, jedoch zugleich auch erfreut, dass seine Frau eine so schöne Idee hatte. »Das sollten wir. Du hast mal wieder recht.«
Wieder brachte der Baron seiner Frau ein anerkennendes Lächeln entgegen, bei der ein jeder vermutlich seinem schlechten Gewissen nachgeben würde, doch nicht so Ethea. Noch entschlossener als zuvor erhob sie das Weinglas, um einen Toast auszubringen.
»Auf Feonrar«, verlautbarte sie.
»Auf meinen Bruder.« Die beiden Adligen deuteten mit ihren Gläsern eine Bewegung an, als würden sie miteinander anstoßen wollen. Die Entfernung war jedoch zu groß, als dass es ihnen tatsächlich möglich wäre. Erwartungsvoll wanderten die hell leuchtenden Augen der Baronin zu den wohlgeformten Lippen ihres Mannes, und beobachteten, wie diese langsam und genießend an den goldenen Glasrand ansetzten.
»Lass es dir schmecken, Gemahl«, ließ sie finstere Gedanken sprechen, wagte es jedoch nicht, dies dem Baron hörbar zu entgegnen. Diesen Spaß würde sie einzig und allein mit sich selbst teilen.
Erneut schrak Ethea aus ihren Gedanken auf und spürte einen gewissen Druck in der Nähe ihres Brustkorbes. Verwundert setzte die Adlige zum Abstieg an, wobei sie allmählich wieder klaren Verstand erlangte. Unten angekommen, ließ die Adlige ihre Augen an sich hinabwandern und ihre schockierende Vermutung bestätigte sich: Kurzerhand wendete sie sich von dem Überraschten KARhaBs ab und fuhr sich dann mit der Hand in den Ausschnitt, um ein Gefäß mit grünlich schimmernder Flüssigkeit ans Licht zu bringen. Aufmerksam wog sie die Phiole in ihrer Hand, hielt sie sich noch einmal versichernd in kurzer Entfernung vor die Augen. Und tatsächlich – es handelte sich um das Gift auf ihrem Traum. Nun lag es plötzlich in ihren Händen und sie bemerkte wie KARhaBs entgeisterte Blicke über ihre Schulter warf.
Sie hatte das Gefühl, niemals einen Weg aus diesem Albtraum finden zu können.
»Was hat das alles zu bedeuten? Wer bist du wirklich?«, kam sie ohne Umschweife zum Punkt und stellte ihren Begleiter zur Rede. Doch ein seltsames Gefühl sagte ihr schon jetzt, dass auch er keine Antwort auf diese Frage wusste.
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Kniend dachte der Barde über die aufgeregt gesprochenen Fragen nach. Er hatte so vieles aus seiner Vergangenheit vergessen, es zu verdrängen vermocht, was er nicht im Geiste behalten wollte - oder konnte. Ethea war aufgebracht, sie schämte sich wohl einerseits für ihr Werk und andererseits wollte sie nun endlich erfahren, was es mit KARhaBs und dem Namen Zsan auf sich hatte. Sie selbst kannte kein anderes der früheren Familienmitglieder.
Noch eine ganze blieb der Hohe Schwarzmagier stumm. Dann jedoch begann er langsam und mit Bedacht zu Sprechen.
“Schon als Knabe habe ich mich nach dem Tode meiner Mutter immer wieder gefragt, warum sie getötet wurde. Sie war eine einfache, aber stolze Frau, die sich nicht vor Arbeit scheute und selbst am Waschzuber noch Majestätisch ausgesehen hatte.
Es dauerte eine lange Zeit bis mir bewusst wurde, dass es nur zwei Möglichkeiten gegen konnte, warum man sie so grausam abgeschlachtet hatte. Entweder ihre Schwester war die Schuldige, oder die Banditen, die auch mich fast töteten.
Erst im Fieberwahn der Wunde, erkannte ich beide Möglichkeiten. Ich kannte das Geschlecht der Zsans von Erzählungen, ihre Boten ritten dann und wann durch die Landen. Hin und wieder machten auch mein Vater oder meine Mutter eine Bemerkung über jene Zsans. Doch genau in dem Moment, wo sie die Klinge des Wegelagerers in meine Seite bohrte und er zu fragen begann, verstand ich: Meine Mutter war die Schwester Feonrars Mutter. Ich war des Thronfolgers Cousin. Wie genau sich die Familie voneinander entfernt hatte, weiß ich nicht, doch im Zusammenhang aller gefallenen Bemerkungen und Stichpunkte, die ich hatte, musste es so sein. Meine Eltern waren nie gut auf diesen Adel zu sprechen gewesen, aber auf eine andere Art und Weise, als die anderen Jägerfamilien und Bauern, die in Blockhütten, fernab allen Luxus lebten. Ich habe meine Cousins niemals kennen gelernt…“
Nachdem KARhaBs zu ende gesprochen hatte, wurde es wieder still. Nur der Wind fauchte und wurde wieder stärker.
In Gedanken hing der Barde noch in der Vergangenheit, denn er hatte Ethea nicht alles gesagt, was es zu berichten gegeben hätte.
Er entdeckte Plötzlich ein verborgenes Tal in seinem Geiste, einen Ort, den er vor vielen Jahren verlassen und jegliche Verbindung dorthin abgebrochen hatte. Diese Erinnerungen schlummerten in diesem Tal, als würden sie nur auf den richtigen Moment warten, da sie einen nichts Ahnenden Wanderer mit ihren Sirenengleichen Stimmen zu ihnen locken könnten.
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Die Worte des Barden warfen mehr Fragen auf als sie beantworten konnten. Während Ethea all jene wirr durch den Kopf schossen, hatten sich ihre Pferde bereits wieder in den tiefen des Nebels verirrt; waren entweder auch nur eine Einbildung der beiden hohen Schwarzmagier gewesen, oder hatten schnell das Weite gesucht um diese buchstäbliche Last auf ihren Schultern nicht mehr tragen zu müssen.
»Was kann jemanden dazu bewegen, Luxus und Macht aufzugeben und gegen ein Leben in einer Blockhütte einzutauschen?« Ethea schien die Beweggründe der Eltern des Blondschopfes nicht zu verstehen und auch er wusste wohl keine Antwort auf die Frage seiner Begleiterin.
Man hatte im Königshaus der Zsans nie irgendwelche Worte über abtrünnige Familienmitglieder verloren. Wie sehr jedoch eben diese von dem Adelsgeschlecht verleugnet wurden, um die eigene Erhabenheit zumindest in der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten, wurde ihr erst jetzt bewusst. Anscheinend verhielt sich dies jedoch auch auf anderer Seite. Warum sonst hatte KARhaBs all die Jahre nichts von seiner adligen Abstammung wissen können? Ethea konnte sich gut vorstellen, nicht stolz darauf zu sein, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, den Zsans anzugehören. Es war eine Familie, die untereinander oftmals mit tiefgreifenden Streitigkeiten, Intrigen, Vorwürfen und vor allem Neid zu kämpfen hatte. Ethea kannte diese Familie selbst nur als Geschlecht ohne Zusammenhalt, genau deshalb hatte sie sich womöglich so gut in ihre Reihen eingefügt. Nach außen hin versuchte man hingegen stets die Überlegenheit zu wahren. Was sollte auch ein Königreich von seinem Herrscher denken, dem auf menschlicher Ebene nicht zu trauen war?
Vielleicht war dies die Erklärung dafür, dass sich einige andere, wie auch die Mutter des Schwarzmagiers, von ihrer Familie abgegrenzt hatten. Ob das Adelshaus nach dem großen Desaster, das nicht gerade wenig von Etheas Intrigen herrührte, überhaupt noch bestand, konnte sie dagegen nicht sagen. Aus Dummheit hatte sie damals einen Fehler begannen. Auch ohne irgendwelche Hindernisse zu beseitigen, hätte sie den Thron an der Seite ihres Gemahls besteigen können, doch die Ungeduld hatte sie letztlich blind gemacht.
Sie hatte ein Spiel um alles oder nichts gespielt, hatte es letzten Endes verloren und das Schicksal hatte sich ihr wie zu erwarten nicht erbarmt. Nun war sie wieder hier, an der Seite eines Mannes, der ihr noch näher stand als sie es zunächst vermutet hatte. Man konnte fast sagen, dass sie bisher mit fast jedem Mann der Familie Feonrars angebandelt hatte. Zumindest mit allen, die sie selbst auch kennen gelernt hatte. Diese Familie schien einen gewaltigen Sympathiebonus auf sie auszuüben.
Jedoch war der heutigen Witwe nicht nach Scherzen zumute. Im Gegenteil, ihre Miene blieb finster, als sie sich all jenes in Erinnerung rief. Achtlos warf sie die Phiole in ihren Händen von sich, welche daraufhin irgendwo im Nebel versank. Sie war plötzlich leer gewesen und dies machte ihr schon jetzt deutlich, welche Bilder ihr als nächstes über den Weg laufen sollten. Es waren die Grausamsten bisher, jene, die sie stets aus eigener Scham zu verbergen gesucht hatte.
Kaum Augenblicke später spürte sie merklich wie sich ihr Körper schmerzend zusammenzog, der Bauch sich leicht nach innen wölbte und es ihr die Kehle zuschnürte. Diese Welt begann wahrlich unheimlich zu werden, gefährlicher je länger sich die beiden Schwarzmagier in ihr aufhielten. Nun waren die Schmerzen scheinbar nicht länger einzig geistiger Natur...
Panisch zog Ethea den Bauch ein so weit sie nur konnte, in der geringen Hoffnung, es würde ihr dazu verhelfen, unentdeckt zu bleiben.
»Herr Baron?« Eindringlich klopfte es an der Türe, begleitet von einer verunsicherten Stimme einer Frau, die scheinbar nach dem Rechten sehen wollte. »Geht es Euch gut?« Noch einmal klopfte es an der Tür, dieses Mal jedoch bedeutend lauter. Es musste diese lästige Zofe Felice sein, die sich das eine oder andere Mal unlängst als ein wenig zu neugierig für den Geschmack der Adligen hervorgehoben hatte.
Es sollte auch nur wenige Sekunden dauern, da sprang die Tür mit einem plötzlichen Ruck auf und begrub die Baronin zwischen sich und der Wand. Der Atem Etheas hatte inzwischen völlig ausgesetzt, um nicht ein einziges Anzeichen ihrer Anwesenheit zu offenbaren. Zwar konnte sie die Dienerin nicht mit eigenen Augen sehen, doch dafür sah sie längst vor ihrem inneren Auge ein klares Bild der Zofe, zu dem die hektischen gleichermaßen unsicheren Schritte der Frau beitrugen. Ethea sah bereits vor sich, wie Felice mit panischem Ausdruck im Gesicht nach einer Ursache für die gegebenen Umstände suchte. Sah sie entsetzt aufschreien und mit verständnislos funkelnden Augen die Mörderin vor sich betrachten. Sie betrachten, als wäre nicht die Zofe selbst, sondern ihre Herrin der letzte Abschaum, dem das Schloss der Zsans zuvor ein schönes Zuhause geboten hatte.
Ethea vernahm ein panisches Hecheln auf Seiten der Dienerin, das eine Spur von Entsetzen nicht verbergen konnte. »Was..?«, flüsterte sie fiepend. »Aber Herr Baron?!« Man hörte die Frau laut mit den Knien auf den Boden sinken, um sich zu dem Toten niederzubeugen. Sie war verblendet und konnte anscheinend nicht begreifen, dass der Bruder des Thronfolgers tatsächlich tot war, ohne ein Anzeichen, dass irgendjemand gewaltsam nachgeholfen haben musste. Er war nie krank gewesen, kann kaum aus Altersschwäche gestorben sein, dennoch zeigte sein gesamter Körper nicht einen einzigen Hinweis auf mutwillige Ermordung. Schlimmer noch: Shakar lag kerzengerade in direkter Mitte des breiten Bettes des Gemachs und blickte mir leeren, weit aufgerissenen Augen der kahlen Decke entgegen. Die Arme waren dicht an den Körper angezogen und die Hände dabei zusammengefaltet, als hätte der Tote kurz vor seinem Umkommen noch ein letztes, flehendes Gebet gesprochen. Das sonst so schöne Braun seiner Iris war hingegen einem erschreckenden Weiß gewichen und die Pupillen starrten glanzlos zu ihr herauf, als die Zofe das Antlitz näher in Betracht nahm. Sie spürte, dass sie würgen musste, als sie das grün unterlaufene Gesicht des Mannes musterte und sich bereits ein leicht fauler Gestank in ihre Nase schlich. Ruckartig richtete sie sich wieder auf, wollte nach draußen aus dem Zimmer eilen, um irgendwem von diesem Unglück zu berichten, doch kam sie nicht weit, da sie sich schon wenig später unweit von dem Bett erbrechen musste. Ethea, die am anderen Ende noch immer hinter der Tür versteckt stand, hatte lediglich hören können, was in ihrem Zimmer vor sich ging und die Geräusche bewirkten, dass sich eine Welle von Ekel auf ihrem schönen Gesicht abzeichnete. Angewidert nutzte sie jedoch den Lärm, den die Zofe verursachte, um selbst einmal tief durchzuatmen und neue Luft zu schnappen.
»Oh nein«, winselte die Dienerin, als sie sich aus ihrer gebeugten Haltung erhob und flehend zum Ausgang des Zimmers blickte. Die Tränen rannen ihr bereits in Bächen an den rosigen Wangen herab, ansonsten war ihr Gesicht aschfahl, beinahe als wäre sie selbst die Leiche, die sie soeben in Augenschein genommen hatte. Kurzerhand und ohne ihr Erbrochenes vorher wegzuwischen, stürmte sie schließlich aus dem Gemach.
Ethea nutze die Gunst des Momentes und eilte ebenfalls aus ihrer Deckung hervor, als die lästige Dienerin bereits verschwunden war. Mit einem herablassenden Blick bedachte sie ein letztes Mal ihren nun verstorbenen Mann, der sich zu ihrem Unmut als zäher erwiesen hatte als sie es zunächst angenommen hatte. Einige Stunden hatte er nur krank im Bett liegen können, doch das Gift wollte einfach nicht wirken. Die grüne Säure schaffte es einfach nicht, den Körper des Baronen gänzlich zu zerfressen. Letzten Endes hatte sie gar noch nachhelfen müssen und ihrem Mann einige weitere Tropfen der tödlichen Flüssigkeit eigens in den Mund geschüttet. Shakar hatte aus letzten Atemzügen geschrieen, so laut, wie es sein schwacher Körper und seine Kehle ihm nur möglich machten. Doch Ethea war die Stärkere gewesen und hatte ihm gegen seinen Willen das Gift eingeflößt. Momente später nur war sie jedoch vor Schrecken erstarrt, als sich zu ihrem Entsetzen auf dem Gesicht ihres Mannes ein befriedigt wirkender Ausdruck ausbreitete.
Der Schock steckte noch jetzt in ihr, als sie nun um die Ecke aus ihrem Gemach lugte, um sich zu vergewissern, dass der Weg zu Feonrar frei wäre. Sie war ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen und nun war es an der Zeit die Lorbeeren dafür einzuheimsen, die sie sich verdient hatte.
Ethea begann sich wieder zu beruhigen. Ihr Atem normalisierte sich und die Lungenflügel fühlten sich völlig befreit an. Die Schwarzmagierin interessierte sich jedoch inzwischen kaum noch für das, was die Vergangenheit ihr die ganze Zeit über vorhielt. Es war eben wie es doch so schön hieß, vergangen und nichts mehr daran zu ändern. KARhaBs dagegen war wie es sich noch herausgestellt hatte, sogar ein Teil dieser Geschehnisse und konnte sich somit nicht einfach aus der Schlinge ziehen.
»Das war wohl dein erster Cousin«, kommentierte die Adlige sarkastisch. »Ihr hättet euch sicher gut verstanden.« Ethea lächelte verlogen über ihre eigene Bosheit. Es gab nun keinen Anlass mehr, sich dafür zu schämen und das, was der Barde soeben gesehen hatte, hatte er wohl ohnehin längst vermuten können.
Es durstete sie unterdessen mehr zu erfahren, doch glaubte sie nicht daran, dass KARhaBs ihr dies bereitwillig erzählen würde. Entweder sie sähe es mit eigenen Augen oder sie müsste ihn weiter mit Fragen durchlöchern, über die sie schon jetzt fieberhaft nachdachte.
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“Nicht, dass ich deine feige Vorgehensweise auch nur einen Deut billigen würde, muss ich dennoch zugestehen, dass ich keinen der Zsans als meine Familienmitglieder ansehe. KARhaBs ist ein Name, der für mich eine Bedeutung trägt – “
Noch ehe der Barde zu Ende hatte sprechen können, zog ein Strudel ihre Geister erneut in die Vergangenheit.
»Nein, nicht dort hinein und macht nicht so laut! Wenn die Herrschaften bemerken, dass wir Nekromanten spielen, werden sie uns womöglich alle töten!«
»Das sind theatralische Worte für eine Köchin.« erwiderte ein Knecht auf die Anweisung seiner Vorgesetzten.
Mit leisem, aber unbeholfenem Schritt trugen drei junge Männer, angeführt von der Köchin, einen leblos scheinenden Körper in einen Abstellraum, unweit der Hauptküche in den unteren Gefilden des Schlosses Zsan. Die Steinwände waren hier unten rußiger und es herrschte eine rechte Gefängnisatmosphäre. Nur der gute Duft nach gebratenem Fleisch und Gewürzen minderte diesen Eindruck.
Man legte den Verletzten auf einen Holztisch, von dem alsbald die ersten Blutstropfen fielen.
»Er ist wirklich schwer verletzt. Wir hätten längst mehr Wachen rund um das Schloss aufstellen müssen, aber die Barone kümmert dies ja nicht.« Die Köchin war von der geschwätzigen Sorte, mit einem rundlichen Gesicht und einer gesunden Wangenfarbe. Sie war eine gutmütige Frau, anders wäre es auch nicht zu erklären gewesen, dass sie beim Kräutersammeln den entdeckten Verletzten mit auf Schloss hatte bringen lassen. Die hohen Herrschaften wünschten keine Fremden, noch dazu, wenn auf ihre Kosten deren Wundpflege bezahlt wurde. Doch um den Jüngling stand es schlecht, er verlor noch immer Blut und Medizin war teuer. »Einen letzten Heiltrank habe ich noch. Er müsste gut 50 Jahre alt sein mein Großvater hat ihn während des letzten Orkkrieges erworben, damals war er noch Soldat.
Als der Knecht das kostbare Gut herbeigeschafft hatte, verabreichte die Köchin dem Verletzten die Flüssigkeit. Der Blutstrom versiegte Augenblicklich und auch die Wunde schien sich zu schließen.
»Hat dein Großvater diese Mixtur dem Hofmagier persönlich abgenommen?« fragte ein anderer Knecht rhetorisch.
»Natürl -« wollte der Gefragte unnötiger Weise antworten, doch wurde er unterbrochen. Ein Stöhnen ging durch den Raum und der in schwarz Gekleidete Schützling öffnete die Augen.
»Zsan, ich kenne keine Zsan, lasst mich, lasst mich gehen, ich will nicht sterben, ich bin Barde, nicht von Adel! Ich kenne keine Gänge, weiß nicht um verstecktes Gold!«
Alsbald konnte der Knabe wieder einen klaren Gedanken fassen und sah seinen Rettern ins Gesicht. Er verstand schnell, was geschehen sein musste. »ich danke euch, für meine Rettung. Nur eine Bitte habe ich noch. Gebt mir nur ein Bett und Morgen will ich euch nicht weiter zur Last fallen, oder euch in Schwierigkeiten bringen.«
Die Schlossangestellten erfüllten ihm den Wunsch und die Köchin selbst schlief jene Nacht im Stroh.
Doch als alle anderen bereits eingeschlafen waren, öffneten sich lautlos die Augen des Barden und ein tückischen Blitzen war in ihnen zu sehen…
und plötzlich war wieder der Nebel um die beiden Hohen Schwarzmagier und hüllte sie ein, wie auch sie verhüllt waren in vergangene Intriegen und Zwielicht.
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Ethea schüttelte teils genervt, teils auch verwirrt den Kopf, um sich der störenden Bilder zu entsagen. Der Augenblick hätte unpassender nicht kommen können, indem er das recht aufgebrachte Gespräch zwischen den beiden hohen Schwarzmagiern unterbrochen hatte.
Und obwohl sie eine derartig abweisende Haltung des Barden hätte voraussehen müssen, regte es Aggressionen in ihr hervor, als feige beschimpft zu werden. War sie denn feige? Ihre Vorgehensweise war es wohl, nicht aber der Wille und die Tat an sich, denn mit ihrer Handlung war sie ein gewaltiges Risiko eingegangen, das sich letztlich zu ihrem Unmut auch gegen sie gewendet hatte.
Es hätte wohl nun auch der Barde sein müssen, der nach diesen Bildern zunächst als erstes seinen Satz beenden durfte, doch da dieser ohnehin bereits unterbrochen wurde, machte Ethea auch keine weiteren Anstalten, ihm gegenüber höflich zu bleiben und ihn ausreden zu lassen. Es kam nun wie es kommen musste, wie sie es stets in den vergangenen Tagen erahnt hatte. Der Zusammenhalt schwand und jetzt standen sie ihrem ersten Streit gegenüber. Das Beirrende daran jedoch war, dass die Schwarzmagierin es gar zu genießen schien.
»Jedem das Seine«, gab sie tonlos zurück. »Die Vorgehensweise mag feige sein, doch bin ich wohl in heutiger Gesellschaft mutig, zu meinen Taten zu stehen. Mir ist jedes Mittel recht. Wenn ich die Chance habe, warum sollte ich sie nicht ergreifen?«
Ihre Blicke musterten KARhaBs argwöhnisch, der eine skeptische als auch verständnislose Miene aufgesetzt hatte. Doch Ethea wagte es, noch einen Drauf zu setzen: »Alle Welt hält sich für edelmütig, loyal.. tugendhaft und ehrenvoll. Wenn dies wirklich so wäre, würden wir in einer perfekten Welt leben. Die Menschen hätten nicht länger die Probleme, die sie sich selbst stellten. Die Welt steht stets im Wettstreit und auch wenn es niemand zugeben mag, ist es doch an jedem selbst, diesen Kampf zu gewinnen. Und insgeheim erfreut sich doch jeder an dem Schaden eines anderen.« Ethea drohte abzukommen und holte noch einmal tief Luft.
»Die Menschen geben sich guten Herzens, doch sind sie in Wirklichkeit nicht anders als jene, die sie verabscheuen. Ich kann von mir behaupten, auf meine Weise ehrlich zu sein. Ich stehe zu meiner Vergangenheit«, setzte sie fort und hatte tatsächlich ohne es zu wollen, irgendwie den Faden verloren. Worum ging es eigentlich in dieser Diskussion?... Richtig.. Um die Feigheit...
»Was ist mir dir?«, fragte sie KARhaBs. »Sich bekennend von seiner Familie abzugrenzen, erscheint mir nicht weniger herzlos.
Und warum sind deine Eltern heute tot? Scheinbar hatten sie doch nicht so eine reine Weste, wie sie dich gerne glauben machen wollten. Was weißt du schon von deiner Mutter, so klein wie du damals warst? Vielleicht war sie ja ein ähnlich widerliches Miststück, wie ich es bin? Vielleicht war sie gar jemand, der sich für Geld verkaufte?«
Das schwache Lüftchen, das um ihre Nasen gestrichen war, formte sich schnell zu einer brisanten Windböe, die den beiden Magiern das Haupthaar zerzauste. Man spürte merklich, wie das Rauschen des Windes die Schwere der Situation, den Druck und die Vorwürfe dieses Momentes verstärkte und eine unerträgliche Last auf den beiden Kastellbewohnern hinterließ.
Ethea jedoch lächelte ein weiteres Mal, nachdem sie diesen Gegenschlag unternommen hatte. Zugegebenermaßen war ihre Reaktion auf die Worte ihres Begleiters deutlich überzogen, doch scherte sie sich keineswegs, das auszusprechen, was ihr ohnehin stets auf der Zunge gelegen hatte - und sei es nur, um den sonst so charmanten Barden ein wenig zu provozieren. Wie belastbar war er wirklich und wie weit würde sie gehen können?
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“Die Menschen glauben nicht, dass sie loyal sind und edelmütig. Sie denken nur nicht darüber nach. Sie fragen sich weder das eine, noch das andere. Und ich grenze mich von meiner Familie ab, weil ich sie nicht kannte. Meine wahre Familie sind meine Vorväter, alle samt trugen sie den gleichen Namen, den auch ich heute trage. Blut ist nur dann dicker als Wasser, wenn es eine Verbindung zwischen dem Blute gibt und nicht nur weil es aus den gleichen Bestandteilen besteht. Wer ist Vater? Der Erzeuger des Kindes, oder der, der es groß zieht? Was kümmert mich ein Cousin den ich nie kannte? Und was noch wichtiger ist: welche Rechenschaft sollte ich ablegen? Für ihren Tod kann ich nichts, daran trägst nur du die Schuld. Und meine Mutter wurde ermordet. Getötet von eben jenen die auch mich beinahe umgebracht hätten.
Wer glaubst du zu sein, um dir all dies herauszunehmen? Was gibt dir die Berechtigung? Wie kannst du eine Hohe Schwarzmagierin sein und doch ein so großes Defizit an Weisheit besitzen? Welche Schranke versperrte dir den Weg zu einem erfüllten Leben, zu einem vollkommenen ich? Welche Schule lehrte dich, dass Stärke bedeutet vernichtenden Gelüsten nachzugehen, statt ihrer zu entsagen?“
Die Worte des Barden waren aufrichtig und klangen betrübt. Für einen kurzen Moment hatte er daran gedacht seine Runen zu ziehen und einen offenen Kampf zu beginnen, doch er konnte sich selbst bezwingen und ermahnte sich seine eigentlichen Waffen zum Einsatz kommen zu lassen: seine Worte.
Erneut jedoch und noch bevor beide sich dessen im Klaren sein konnten, ereilte sie eine neue Vision- eine neue Szene aus der Vergangenheit.
Nachdem sich der Knabe lautlos von seinem Lager erhoben und sich die dunkle Kutte übergestreift hatte, verließ er den kleinen Raum in dem das Bett stand, das man ihm für diese Nacht gerichtet hatte. Es schmerzte ihn – fast mehr noch, als seine nicht gänzlich geheilte Wunde – dass er gerade die Menschen, die ihn gerettet hatten, ausnutzen musste. So leis’ wie er nur konnte schlich er durch die Küche und einen Treppenansatz hinauf, der ins Innere des Schlosses führen musste. Zwar suchten die Banditen nach einem geheimen Gang, der womöglich einen Weg zum Familiengold offenbarte und hatten eben diesen noch nicht gefunden; doch war es dennoch nicht ausgeschlossen, dass diverse Spitzel im Schloss umherwandelten. Man hatte ihn zum sterben zurückgelassen und wenn man ihn nun wieder lebendig antraf konnte dies zu Schwierigkeiten führen. Der Jüngling war verwirrt, er wollte nur weg von hier. Noch immer dachte er an die verwesende Leiche seines Vaters und den Gestank seines verbrennenden Fleisches.
Vor langer Zeit hatte er davon gehört, dass es eine Insel gab, die weit, weit im Meer lag. Khorinis war ihr Name und alle Gefangenen des Reiches wurden dorthin verbannt. Xardas führte die Magier an, die eine Kuppel schufen um die Gefangenen einzusperren, die dort Erz schürfen mussten. Nachdem der Knabe kurz nach dem Tode seiner Mutter eine Vision von dem
Untergang des Reiches hatte, wusste er, dass er auf dem Festland nicht mehr in Sicherheit war. Als auch ncoh sein Vater starb musste er fliehen. Und genau an dies erinnerte er sich nun, da er durch die verzierten Gänge schlich und in den Schatten seine Verbündeten suchte, die ihn letztlich in die Freiheit geleiten würden.
Die Vision begann bereits zu verblassen und KARhaBs und Ethea sahen die Bilder nur noch verschwommen. Das letzte, dass sie wahrnahmen war, wie der Knabe vor einer Truhe kauerte und in den klirrenden inneren jener nach etwas zu suchen schien…
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