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[Story]Der Prophet Beliars
Edit: Diese Story entstand im Rahmen des Wettbewerbs Schreim naoch Buchstohm.
So, ich hab eine Weile überlegt, ob ich trotz Zeitmangels teilnehmen soll, aber letztlich dachte ich mir, was soll's. Sollte es zu viel werden, kann ich ja jederzeit aussteigen.
Jetzt hoffe ich aber, dass das nicht passiert und ich auch nicht disqualifiziert werde, weil ich unter einem Spitz-, anstatt unter meinem richtigen Namen antrete 
1. Vorgabe:
Person A und Person B sehen sich nach langer Zeit mal wieder und führen ein Gespräch, in dem Person C vorkommt. Anschließend geschieht etwas Unerwartetes.
Und für alle, die sich die sicher gewaltige Spannung verderben lassen wollen, wer denn der zweite Gesprächspartner ist, hier die Personenliste:
„Herr…“
Der Angesprochene rührte sich nicht, ja gab kein Zeichen von sich, das darauf hindeutete, dass er überhaupt bemerkt hatte, dass dort in seinem Rücken am Eingang des Zeltes jemand erschienen war.
Natürlich wusste er, um wen es sich handelte. Sofort hatte er die Stimme erkannt. Gewiss brachte der Ankömmling wichtige Kunde und unabhängig davon wartete er schon seit Wochen ungeduldig auf diesen Diener, hatte er doch eine wichtige Aufgabe für ihn. Doch nichts in der Welt war wichtig genug, als dass er sich in seinem Gebet hätte stören lassen.
Erst als er das stumme Zwiegespräch mit seinem Gott beendet hatte, erhob er sich. Bedächtig, doch mit großen Schritten durchmaß er das Zelt, bis er den hölzernen Thron auf dessen Rückseite erreicht hatte.
Nun wandte er sich um und blickte den Mann, der dort mit demütig gesenktem Kopf am Eingang des Zeltes stand, an. Langsam ließ er sich auf seinem Thron nieder und griff mit der Hand nach dem daran lehnenden Wanderstab.
„Willkommen in Ishtar, Sinan.“
Der im Eingang Stehende hob den Kopf und trat zwei Schritte auf ihn zu. Auf die meisten hätte er mit den zwei krummen Klingen, dem purpurnen Turban und der Rüstung aus dem Leder der gefürchteten schwarzen Snapper wohl eindrucksvoll, ja bedrohlich gewirkt.
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Mannes auf dem Thron, so kurz, dass nicht einmal der Assassine es bemerkt haben konnte. Ja, die meisten. Doch er war mehr als die meisten.
„So sprich denn!“, forderte er seinen Diener auf.
„Ich habe getan, was Ihr von mir verlangt habt, Gebieter. Der Auftrag wurde zu Eurer vollsten Zufriedenheit ausgeführt.“
„Gut, gut. Ein weiterer Triumph für Beliar. Doch in den fünf Monden, die du weg warst, ist viel geschehen.“
„Ich habe es gesehen, Herr. Die Arbeiten gehen gut voran. Der alte Tempel von Ishtar wird schon bald zu einer würdigen Residenz…“
Lachend erhob sich der Mann auf dem Thron. „Du weißt so gut wie ich, dass ich mit meinem zuverlässigsten Assassinen nicht über Bauarbeiten zu plaudern gedenke.“
„Ihr habt eine neue Aufgabe, Herr?“
Der Meister des Assassinen war inzwischen zu einem niedrigen Tischchen herübergeschlendert und hatte sich dahinter niedergelassen. „Setz dich“, wies er seinen Diener nun an.
Dieser schien leicht überrascht, folgte der Aufforderung aber. Er wagte nicht, etwas zu sagen und beschränkte sich deshalb darauf, seinen Meister verstohlen zu mustern, während dieser sich nun Tee aus einer reich verzierten Porzellankanne eingoss. Das schlichte und doch edle Gewand war ebenso schwarz wie die Rüstung, die er selbst am Leibe trug. Es war weit geschnitten und vermochte es, den, wie er wusste, muskulösen Körper darunter gut zu verbergen. Das Gesicht seines Herren wurde geziert von einem kunstvoll gezwirbelten, schwarzen Bart und einer schmalen, krummen Nase. Schon diesen Bart – oder vielmehr die Art wie er geflochten war – hätten viele wohl als anmaßend empfunden. Die Sultane trugen solche Bärte, mitunter auch reiche Kaufmänner, doch für einem Mann dieses Standes geziemte sich dies nicht. Doch Sinans Gegenüber bewegte sich und sprach auch wie der Gebieter eines Weltreiches, ja, sein ganzes Gebaren glich einem solchen. Doch wahrscheinlich fühlte er sich auch bereits so. In jedem Falle gelang es ihm durch seine Bewegungen, sein Reden, sein ganzes selbstsicheres Auftreten, einen völlig übersehen zu lassen, dass sein Gesicht tatsächlich viel eher das eines Bauern war; mit groben Zügen und von der Sonne zwar gebräunter, für einen Sohn der Wüste aber viel zu heller Haut.
Das Geräusch des Porzellans, das wieder auf den Tisch gestellt wurde, ließ Sinan aufschrecken.
„Also, Sinan…“ Der Meister hob seine Tasse an die Lippen und nippte leicht an seinem Tee. Motive von den Südlichen Inseln zierten das Porzellan. „Wie viele Jahre predige ich nun schon das Wort des einzigen Gottes? Drei? Vier? Unsere Anhängerschaft ist groß und wir sind unserem Ziel immer näher gekommen, doch noch haben wir nichts erreicht. Ich bin mehr als nur ein Prophet, Sinan. Und einem Wanderprediger – und sei er noch so mächtig – ist es auf Dauer nicht möglich, alle zum wahren Glauben zu führen; erst recht nicht, wenn er, anstatt wandernd und predigend durch die Lande zu ziehen, mit einer Gruppe von einigen hundert Menschen in einer abgelegenen und verfallenen Tempelruine lebt.“
„Wie gedenkt Ihr, diesen Zustand zu ändern, Herr?“, fragte Sinan mit leicht zusammengezogenen Brauen.
„Die Städte dieser Wüste werden noch immer von den dekadenten Sultanen regiert, jenen traurigen Gestalten, die an den Enden einstmals gewiss stolzer Linien stehen. Und diese Narren haben nichts besseres zu tun, als sich um Macht zu streiten, ohne zu merken, dass sie ohnehin keine besitzen, sondern ihre Wesire, Konkubinen und Eunuchen ihre Reiche führen. Derweil erstarkt im Norden ein neues Reich. Und dieses Reich ist unserem ärgsten Feind verschrieben, Sinan.“
„Gewiss, Herr. Auch ich hörte von jenem Mann, der sich selbst den Erwählten Innos’ nennt, und von dem Reich, das er im grünen Norden errichtet.“
Sinans Herr nickte versonnen, während er wieder an seinem Tee nippte. „Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er versucht, unser Land zu unterwerfen. Und Sinan, es wird ihm gelingen. Nicht einmal die großen Sultanate von Bakaresh und Mora Sul sind mächtig genug, sich gegen ganz Myrtana zu behaupten. Was Varant jetzt braucht, ist Einigkeit. Die Jahrhunderte der Spaltung und der Kämpfe müssen enden. Wollen wir überleben, wollen wir uns in der Welt behaupten, so brauchen wir eine geeinte Nation. Geeint als Land, doch auch geeint im Glauben. Verstehst du, Sinan? Deshalb kann keiner der Sultane diesem Land eine Zukunft geben. Selbst wenn ihm die Eroberung der anderen Sultanate gelänge, blieben doch die verschiedenen Religionen mit ihren albernen Streitigkeiten und den Lügen, die die Köpfe der Menschen vernebeln. Deshalb braucht dieses Land mich. Deshalb braucht es keinen Sultan, sondern einen Kalifen.“
„Herr, wie wollt ihr das erreichen, noch dazu in so kurzer Zeit?“
„Oh, ein Land zu einen ist einfacher, als du glaubst, mein lieber Sinan.“ Der Schwarzgewandete legte seine Hand auf den Wanderstab neben ihm. „Vor allem, wenn man einen Gott an seiner Seite hat. Doch dafür brauche ich euch, meine Assassinen. Deshalb habe ich euch persönlich ausgebildet.“
„Was soll ich tun, Meister?“
„Wer steht dem Entstehen des varantinischen Kalifats deiner Meinung nach am meisten im Wege?“
„Der Sultan von Bakaresh, Herr?“
Der Meister nickte zufrieden. „Ganz recht. Ich kenne ihn. Er ist ein dekadenter Narr. Ein Trottel, der sich in seinem Reichtum suhlt. Nein, Bayezid selbst ist keine Gefahr. Aber er ist entstammt der Dynastie der Mehmedanen, die schon einmal fast ganz Varant einten und denen es vor Jahrhunderten sogar beinahe gelang, Vengard einzunehmen. Diese Familie ist ein Symbol und solange sie existiert wird niemand anderes den Thron von Varant für sich beanspruchen können.“
Sinan riss die Augen auf. „Ihr wollt den Sultan und seine Familie töten?“
„Ja. Nur so können wir den Weg zu unserem Kalifat ebnen. Außerdem steht dann das größte und mächtigste der Sultanate ohne Oberhaupt dar.“
„Dann ist dies die Aufgabe, die Ihr für mich habt? Dann soll ich Sultan Bayezid also töten?“
Der Meister führte die Tasse wieder an seine Lippen. Er lächelte kaum merklich, als er sprach: „Ich benötige für mein Vorhaben einen zuverlässigen Mann. Ich muss nicht nur auf seine Fähigkeiten vertrauen können, sondern auch auf seine Loyalität. Ich muss sicher sein, dass er Beliar und seinem Propheten treu ergeben ist und weder fremden Lehren, noch dem Golde Gehör schenkt.“
Kurz zögerte Sinan. Wusste er…? Nein, unmöglich. Er konnte nichts ahnen. Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Blitzschnell ließ er einen Dolch aus seinem Ärmel fahren, warf sich nach vorne und rammte seinem gegenüber die Waffe in den Bauch.
Der Schwarzgewandete lachte und stellte seine Tasse langsam ab. „Du enttäuschst mich, Sinan“, sagte er. Er erhob sich langsam und griff nach seinem Stab. „Nicht etwa, weil du mich verrätst – das war abzusehen. Aber etwas mehr Raffinesse hätte ich doch von dir erwartet. Und dass du eine solch schlechte Meinung von mir zu haben scheinst, schmerzt mich ebenfalls. Glaubst du wirklich, ich, der mächtigste Magier dieser Welt, der Erwählte und Prophet Beliars, ich, Zuben, wäre nicht in der Lage, mich gegen solch lächerliche Angriffe zu schützen? Adanos und seine Anhänger mögen unsere Feinde sein, doch ich wäre dumm, meine Feinde nicht zu studieren. Und ich muss zugeben, die Magie der Trugbilder ist eine vortreffliche Ergänzung zu der meines Herren.“
Zuben wandte sich um und kehrte dem noch immer wie gelähmten Assassinen den Rücken zu. Er seufzte. „Ach, es scheint wirklich schwer, für diesen Auftrag geeignete Männer zu finden. Der gute Hassan hat beinahe genauso reagiert wie du.“
Er wandte sich wieder um. „Nun, wenn du vorhast, es noch einmal zu versuchen – ich erwarte dich in der Tempelhalle im Innern des Berges. Solltest du für ein direktes Kräftemessen jedoch zu feige sein, wäre dies der richtige Moment für eine Flucht. Und keine Angst, ich werde dich nicht verfolgen lassen. Ich habe zu wenig Männer, um sie für solche Späße zu opfern und die nächste Wasserstelle ist mehr als sieben Tagäsmärsche entfernt. Solltest du es schaffen, dich bis dorthin durchzuschlagen, ohne als Futter für die Schakale zu enden, würde mich das derart beeindrucken, dass ich bereit wäre, dein Leben zu verschonen.“
Geändert von Jünger des Xardas (06.05.2013 um 23:00 Uhr)
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2. Vorgabe:
Das unerwartete Ereignis hat für Person B lebensbedrohliche Folgen. Person A trifft auf Person C, die mit Gegenstand A gerade ihrer Arbeit nachgeht.
Gelbliches, zähflüssiges Blut floss aus der Wunde und über seine Hände, als Sinan seine Klinge tief in den Bauch des Insekts rammte.
Mit einem Kreischen brach der Sandcrawler zusammen und verendete vor den Füßen des Assassinen. Wenige Sekunden später lag auch diese inmitten des heißen Sandes. Er hatte keine Kraft mehr. Den pochenden Schmerz an seinem Bein, dort wo die Zange des Crawlers ihn gepackt hatte, nahm er kaum noch wahr. In ihm drehte sich alles. Kurz glaubte er, brechen zu müssen, doch da war nichts, was er hätte erbrechen können.
Über ihm, fern und teilnahmslos und dennoch unbarmherzig, thronte die Sonne am Himmel. Dort war Innos und blickte aus seinem goldenen Antlitz auf ihn herab. Doch Innos kannte keine Gnade. So wenig, wie er Zuben dafür verbrannte, dass dieser seinem dunklen Bruder folgte, so wenig würde er sein Antlitz nun vor ihm, Sinan, verhüllen, nur weil dieser versucht hatte, Zuben zu töten.
Zuben. In diesem Augenblick glaubte Sinan, zu verstehen, weshalb der Magier sich Beliar zugewandt hatte. Wie konnte man in dieser Wüste überhaupt anderes tun als dem Gott der Nacht und der Finsternis zu huldigen, der den kühlen Schatten brachte? Oder aber man diente Adanos, dem Gott des Wassers, dem Gott des Lebens. Doch wie hatte auch nur ein einziger Mensch jemals auf die Idee kommen können, inmitten dieses Meeres aus Sand ausgerechnet den sengenden Fluch anzurufen, der alles Leben hier verbrannte?
Sinan tastete an seinem Gürtel herum. Der Schmerz in seinem Bein wurde nun stärker. Irgendwo musste er noch einen Heiltrank haben, mit dem er sich würde Linderung verschaffen können.
Und tatsächlich stießen seine Finger im nächsten Moment auf ein kleines Fläschchen, welches direkt neben einem leeren Wasserschlauch an seinem Gürtel hing. Mit fahrigen Fingern nestelte Sinan erst an der Lederschnur, die das Fläschchen hielt, dann an dem Korken, der es verschloss, herum.
Im nächsten Moment flog der Korken davon. Das Fläschchen rutschte zwischen den Fingern des Assassinen hindurch, der diese kaum noch unter Kontrolle hatte. Dann landete es im heißen Sand und der kostbare rote Saft versickerte zwischen den braunen Körnern. Entsetzt versuchte der Assassine, mit den Händen etwas von der wertvollen Flüssigkeit zu retten, doch es war ein vergeblicher Versuch. Einzig ein winziger Rest war in der Flasche verblieben. Kaum mehr als zwei Tropfen. Gierig trank er diesen Rest, doch seinem Schmerz vermochte dieser keine Linderung zu verschaffen. Die Wunde schloss sich nicht und auch der Durst war lange nicht gelöscht.
Kraftlos fiel sein Kopf in den Sand zurück. Es war vorbei. Das Tal des Todes – nicht umsonst nannte man diesen Teil der Wüste so. Zuben hatte den perfekten Platz für seine Residenz gewählt. Keine Armee würde die Feste von Ishtar auch nur erreichen können, ohne zuvor zu verdursten und für die, die dort lebten und ihm diente, war sie gleichsam ein Gefängnis, aus dem zu fliehen den sicheren Tod bedeutete.
Ein Brummen ertönte. Im nächsten Moment sah Sinan entsetzt, wie ein großer, krummer Stachel in leuchtendem rot vor seinem Gesicht auftauchte. Mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, getrieben von dem letzten Rest Überlebenswillen, der noch in ihm steckte, rollte er sich zur Seite und warf seinen Dolch nach dem angreifenden Tier. Zuckend und brummend fiel es zu Boden, rollte die Düne hinab und verendete an ihrem Fuß.
Doch Sinan hob den Kopf. Eine Blutfliege? Das konnte nur eines bedeuten!
Er versuchte, aufzustehen, doch ein jäher Schmerz in seinem Bein ließ ihn abermals zusammenbrechen. Also kroch er, versuchte sich, mithilfe seiner Arme die Düne hinaufzuschleppen. Der Sand rann zwischen seinen Fingern hindurch. Es war unmöglich, irgendwo halt zu finden. Die Körner drangen in seine Augen, seinen Mund. Die Sonne brannte unbarmherzig auf seinen Rücken hinab.
Doch dann hatte er es geschafft, dann hatte er die Spitze des Berges aus Sand erreicht, dann sah er sie: Palmen, Büsche, Gras und Wasser, endlich Wasser!
Er war gerettet.
„All diese Edikte, Proklamationen und Erlasse! Und sie alle bedürfen einer Unterschrift oder eines Siegels. Aber das Leben darf nicht nur aus Vergnügungen bestehen. Innos lehrt uns, dass wir fleißig sein und arbeiten sollen!“ Lächelnd presste Bayezid I. aus dem Hause Mehmed, Sultan von Bakaresh und Emir von Ben Sala, seinen Siegelring in das heiße Wachs. „Entrichtet eurem Herren meine Grüße. Mögen die Beziehungen zwischen dem Sultanat von Bakaresh und dem Emirat von Braga wieder aufblühen“, sagte er und überreichte dem Mann, der vor ihm stand, das versiegelte Pergament.
„Das werden sie, oh größter der Sultane Varants. Meines Herren Vater, Emir Faisal, war ein Narr, sich Euch zum Feind zu machen. Doch seid gewiss, dass Emir Selim nicht gedenkt, den selben Fehler zu begehen. Die Union Bakareshs und Bragas wird beiden neuen Reichtum und große Macht bescheren. Bakaresh kontrolliert den Myrtat, Braga den Pass – gemeinsam werden sie den gesamten Handel mit den nördlichen Reichen kontrollieren und selbst Mora Sul übertrumpfen.“
Der Sultan nickte abwesend. „Gewiss, gewiss“, sagte er und wedelte dabei mit seiner Hand durch die Luft als wolle er eine Fliege verscheuchen.
Zuben lächelte. Sein Plan würde aufgehen. Den neuen Emir von Braga hatte er vollständig in seiner Hand. Selim III. war lediglich der vierte Sohn der achten Nebenfrau Emir Faisals gewesen. Allein ihm, Zuben, hatte er den Thron von Braga zu verdanken. Dass er nicht mehr als eine Marionette war und seinen Titel schon bald mitsamt seinem Leben verlieren würde, ahnte er nicht einmal. Ja, im Augenblick wussten selbst die Anhänger Zubens, die in der Tempelruine von Ishtar versammelt waren oder im Untergrund der varantinischen Städte lebten, nicht dass ihr Prophet bereits uneingeschränkt über das Emirat von Braga herrschte.
Doch Braga war nur ein Anfang und Zuben hatte sein eigentliches Ziel nicht aus den Augen verloren. Doch die Mehmedanendynastie würde er nicht durch ein simples Attentat auf Sultan Bayezid stürzen. Gewiss, er hätte mit einem einzigen Zauber alle Menschen in diesem Raum töten können, aber hier war etwas mehr Feingefühl vonnöten.
Er warf einen weiteren Blick auf den Sultan, der sich dort inmitten zahlloser bunter Kissen in seinem Reichtum suhlte. Er hatte sich kaum verändert. Ein wenig zugenommen hatte er, Haar und Bart waren ein wenig grauer geworden, doch im Ganzen sah er noch genauso aus, wie ihn Zuben in Erinnerung hatte.
Glücklicherweise würde Bayezid ihn dagegen nicht wiedererkennen. Wahrscheinlich hätte er dies nicht einmal getan, wenn Zuben noch ebenso ausgesehen hätte wie bei ihrer letzten Begegnung, doch dies tat er nicht. Es waren vielleicht zehn Jahre vergangen, doch Zuben wirkte eher als seien es dreißig gewesen. Und der Zauber, den er auf sich gelegt hatte, um sich vor den Blicken der Bewohner des Palastes zu verbergen, tat sein Übriges dazu. Es war ein Spruch, den er, wie so viele, selbst entwickelt hatte und auf den er ganz besonders stolz war. Natürlich machte er ihn nicht einfach unsichtbar – derartiges gab es nur in Märchen. In der Realität nutzten Schwarzmagier für gewöhnlich den Nebel, wenn sie nicht gesehen werden wollten. Dieser war Zuben jedoch, wie viele andere konventionelle Zauber, schon immer zu plump gewesen. Zwar verbarg er einen vor unerwünschten Blicken, doch war er dabei alles andere als unauffällig. Zubens eigener Spruch dagegen vermochte es, die Menschen von ihm abzulenken, sie das Interesse an ihm verlieren zu lassen. Jeder in diesem Raum sah ihn, doch keiner der Anwesenden nahm ihn wirklich wahr, keiner fragte sich, um wen es sich bei diesem Mann handelte, der dort lächelnd neben einer Säule am Eingang des Saals stand. Und die wenigen, die mit einem stärkeren Geist gesegnet waren, waren letztlich ebenfalls dem Zauber verfallen und hatten sich mit der Erklärung begnügt, dass Zuben zum Gefolge des Abgesandten des neuen Emirs von Braga gehörte.
Ja, er war sehr zufrieden mit sich. Alles verlief nach Plan und sowohl seine Magie als auch seine Intrigen wirkten genau, wie sie sollten. Nun jedoch wandte er sich zum Gehen. Er hatte sich vergewissert, dass sein Plan aufging und damit getan, weshalb er hergekommen war. Und er wusste, dass es in diesem Palast auch Personen gab, die weniger anfällig für seine Magie sein würden und die wesentlich gefährlicher waren als diese närrische Marionette, die sich Sultan schimpfte.
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3. Vorgabe:
Person B beschließt Person C zur Rede zu stellen. Die Situation spitzt sich zu.
Sinan blickte aus dem Fenster. Die Sonne versank gerade hinter den Ruinen des Alten Volks, die die Stadt Braga umgaben und die Fundamente ihrer Häuser bildeten.
Unten auf dem Platz predigte ein Schwarzmagier. Zubens Anhängerschaft war in den letzten Jahren gewachsen wie ein Krebsgeschwür und hatte sich in ganz Varant verbreitet. Und noch immer gab es für die neue Sekte regen Zuwachs. Für die meisten war sie auch nicht mehr als das: Eine Sekte, eine Gruppe von Verrückten und Nekrophilen, die sich dem Gott des Todes verschrieben hatten. Und Varant war schon immer ein in religiöser Hinsicht sehr tolerantes Land gewesen. Doch mittlerweile hatten sich die Dinge geändert. In jeder größeren Stadt war es unmöglich geworden, den Basar zu betreten, ohne auf einen der Schwarzmagier zu stoßen, die in Zubens Auftrag Beliars Lehren verbreiteten und neue Mitglieder um sich scharten. Einige kleinere Dörfer hatten sie angeblich sogar schon in ihrer Hand.
Es war kein Zufall, dass Zuben nicht mehr selbst predigend durch das Land zog, wie er es noch vor etwa vier Jahren getan hatte, als er einfach aus dem Nichts erschienen war und begonnen hatte, die Lehren Beliars zu verbreiten. Zuben war vorsichtig und mittlerweile waren zu viele wichtige Persönlichkeiten auf ihn und seine Bewegung aufmerksam geworden. Und so hatte er sich mit seinen treuesten Anhängern – geleitet von einer Vison, wie er gesagt hatte – in den Westen der Wüste begeben, jenes Land, das völlig frei von Städten war und das das Volk nur als „das Land der Nomaden“ kannte. Und dort, jenseits des Tals des Todes hatte er einen verfallenen Tempel des Alten Volks gefunden. Dort hatten Zubens Anhänger mit dem Bau einer Festung begonnen, die dereinst das Zentrum des Reiches ihres Kalifen darstellen sollte. Dies wussten jedoch nur die wenigsten. Und die meisten von ihnen hatten Ishtar seit ihrer Ankunft nicht mehr verlassen. Nur die treuesten seiner Schwarzmagier schickte Zuben aus, neue Anhänger zu suchen und nur die besten seiner Assassinen entsandte er, um seine Feinde zu eliminieren.
Doch die Mächtigen der Wüste waren zu spät auf die Gefahr aufmerksam geworden, die von diesem Emporkömmling ausging. Längst war Zubens Bewegung in Varant zu einer neuen Macht geworden. Längst hatte sich der neue Glaube in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Und langsam bröckelte der Widerstand. War Emir Faisal von Braga noch mehr als misstrauisch gewesen, als die ersten Prediger sein Land betreten hatten, sprachen die Schwarzmagier nun unter seinem Sohn Selim öffentlich auf den großen Plätzen.
Es klopfte.
Sinan wandte seinen Blick vom Fenster und ging auf die Tür seines kleinen Zimmers zu. Davor stand, im Schatten einer Mauer, eine Person in einem dunklen Umhang mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Sofort glitt sie geschmeidig an ihm vorbei ins Innere des Raumes.
Rasch schloss Sinan die Tür wieder und drehte sich lächelnd herum. „Sei mir gegrüßt, Habiba Fadwa bint Nahid-Suleika al Afya.“
Die Gestalt, die nun inmitten des Raumes stand, schnaubte verächtlich. Sie zog ihre Kapuze vom Kopf, wobei ihr Wellen langen, schwarzen Haares über Schultern und Rücken fielen. „Lass den förmlichen Blödsinn, dafür bin ich nicht in Stimmung.“
„Oh, also kein Vorspiel heute, Habiba?“, fragte Sinan mit schiefem Grinsen.
Die Frau wirbelte herum und funkelte ihn wütend an. „Drei Monate, Sinan, drei verdammte Monate!“
„Der Weg nach Ishtar und zurück dauert eben seine Zeit, vor allem, wenn man letzteren ohne Kamel beschreiten muss.“
„Es ist mir völlig egal, ob du auf einem Kamel oder einem Esel geritten bist. Meinetwegen bist du den Weg auch gekrochen, aber als wir unsere Abmachung trafen, war nie davon die Rede, dass ich drei Monate in Braga würde warten müssen!“
„Ach komm. Gut, das hier ist nicht Mora Sul, aber“ – Sinan legte eine Hand auf ihre Wange und fuhr mit dem Daumen über ihre vollen, roten Lippen – „du scheinst doch auch hier genug Schminke für dein hübsches Gesicht gefunden zu haben. Und so übel ist Braga doch gar nicht.“
Fauchend wie eine Katze schlug die Frau Sinans Hand weg. „Sag mal, kommst du dir irgendwie witzig vor? Falls du glaubst, mich auf die Art besänftigen zu können, lass dir gesagt sein, dass du eher das Gegenteil bewirkst.“
Sinan seufzte. „Es tut mir leid, Fadwa. Ich hätte auch nicht damit gerechnet, so lange zu brauchen.“
Einen Moment schaute sie ihm stumm ins Gesicht, dann entspannten sich ihre Züge wieder und sie drehte ihm den Rücken zu. Sinan beobachtete, wie ihre Hände zu der Kordel glitten, die ihren Umhang über dem Hals zusammenhielt. Im nächsten Moment glitt er auch schon langsam ihren Rücken hinab und flog dann in hohem Bogen auf das Fensterbrett. Der Assassine zog scharf die Luft ein. Fadwa hatte es schon immer verstanden, sich aufreizend zu kleiden, doch ihr Anblick würde wohl nie seine Wirkung auf ihn verlieren. Gebannt wanderten seine Augen über die gebräunte Haut ihrer nackten Schultern, folgten dem Verlauf ihrer Wirbelsäule, glitten über den schmalen Streifen Stoff, der ihren Rücken kaum verhüllte und blieben schließlich an der Wölbung hängen, über der ihre Hose begann.
Langsam drehte Fadwa sich wieder herum. „Also, was ist? Ist er tot?“
Sinan senkte den Kopf, wandte den Blick von ihren Augen.
„Sag nicht, dass…“
„Ich… habe ihn unterschätzt.“
„Unterschätzt?“, fragte sie mit hoher Stimme.
„Ja, unterschätzt! Und glaube mir, dir wäre es nicht anders ergangen. Zuben ist ein mächtiger Magier, mächtiger als du es dir vorstellen kannst.“
„Papperlapapp, mächtiger Magier“ Fadwa begann, unruhig auf- und abzugehen. Fasziniert beobachtete Sinan den sanften Schwung ihrer Hüfte. „Verdammt, ich hatte dich zuverlässiger in Erinnerung! Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich mitgekommen und hätte mich niemals darauf eingelassen, hier einfach auf dich zu warten.“
„Du musstest aus gutem Grund hierbleiben. Dich hätten sie sofort entlarvt, du gehörst nicht zu seinen Anhängern. Ich habe mich ihm dagegen schon vor Jahren zum Schein angeschlossen.“
Fadwa schnaubte. „Und was hat es dir gebracht? Sinan, ich war bisher der Meinung du seiest einer der besten. Es ist nicht meine Art, einfach zu warten, bis andere alles erledigen. Ich nehme die Dinge gerne selbst in die Hand, das weißt du. Dass ich mich auf dich verlassen habe, war ein Kompliment an dich und deine Fähigkeiten. Und nun enttäuschst du mich.“
Sinans Blick ruhte nun auf dem Grübchen zwischen ihren Schlüsselbeinen und wanderte langsam hinab zu dem Ansatz ihrer Brüste, über die sich rote Seide spannte.
„Kannst du bitte aufhören, zu gaffen? Wir haben gerade wirklich wichtigere Sorgen.“
Ertappt wandte der Assassine seinen Blick ab. „Du hast ja Recht. Ich gebe zu, das war nicht die beste aller Aktionen.“
„In der Tat. Was soll ich Abdül jetzt sagen? Dass ich die Sache jemandem überlassen habe, der von den Mehmedanen angeworben wurde und der es vergeigt hat?“
Sinan musste unwillkürlich schmunzeln. Niemand außer ihr hätte die Dreistigkeit besessen, den Sultan von Mora Sul bei einem Spitznahmen zu nennen. „Sag Abdülhamecid einfach die Wahrheit: Dass Zuben sich gut versteckt und noch dazu ein verdammt mächtiger Magier ist.“
„Oh, sicher. Ich kann auch einfach in eine Grube voller Sandcrawler springen…“ Sie seufzte. „Es ist viel zu spät. Diese närrischen Sultane und Emire hätten die Gefahr früher erkennen und uns auf diesen Sohn einer Schlange ansetzen sollen, als er noch auf den Marktplätzen kleiner Dörfer gepredigt hat, während Hühner um seine Füße herumwuselten.“
Sinan nickte gedankenverloren. „Die mächtigen dieses Landes sind halt nur ungern bereit, zu glauben, dass ein einfacher Magier, der aus dem Nichts erscheint, binnen weniger Jahre genug Macht ansammeln kann, um ihnen gefährlich zu werden. Sie konzentrieren sich viel zu sehr auf die Ränkespiele, die in ihren Harems ablaufen und sind blind für Bedrohungen von außen.“
„Blind oder längst in seiner Hand. Mir schmeckt es nicht, so lange in Braga herumzusitzen, während wenige Straßen weiter ein Emir regiert, der Zuben die Füße küsst.“
„Das sind nur Gerüchte“, warf Sinan ein, doch Fadwa lachte nur.
„Willst du mich kränken, indem du mir unterstellst, falsch informiert zu sein? Du weißt, wenn ich es sage, dann stimmt es.“
„Aber dann…“ Sinan biss sich auf die Unterlippe. „Was sollen wir jetzt tun?“
„Ein zweiter Versuch dürfte in jedem Fall vergebens sein. Zuben wird sich vorbereitet haben – wenn er überhaupt noch in Ishtar ist. Nein, die Mächtigen dieses Landes müssen langsam einmal erkennen, was außerhalb ihrer Paläste vor sich geht und gemeinsam gegen Zuben vorgehen. Ich werde mit Abdül sprechen. Er war der erste, der die Gefahr erkannte. Er ist der einzige, der klug genug ist, Zubens Anhänger in seinem Reich zu verfolgen und hinzurichten.“
„Nichts hat er erkannt“, widersprach Sinan. „Der Sultan von Mora Sul ist der einzige, der eine Gefahr sieht, ja, aber er schätzt sie viel zu gering ein. Er begnügt sich damit, Zubens Anhänger zu verfolgen und dich auf ihn anzusetzen. Den Großteil seiner Kraft verschwendet aber auch er auf das übliche Machtgeplänkel. Er plant einen Krieg gegen Bakaresh. Ein Krieg, jetzt! Im Norden erstarkt ein neues, geeintes Myrtana und hier in der Wüste sammelt ein wahnsinniger Schwarzmagier Anhänger um sich und versucht, sich zum Kalifen aufzuschwingen und Abdülhamecid hat nichts besseres zu tun, als einen Krieg zwischen den beiden mächtigsten Sultanaten vom Zaun zu brechen.“
„Und dennoch ist er derjenige, der am ehesten etwas unternehmen wird.“
„Dann wünsche ich dir viel Glück, du wirst es brauchen.“
Sie lächelte. „Danke. Und du? Was gedenkst du zu tun?“
„Nun…“, er legte den Kopf schief. „Verschiedenes.“ Sinans Blick wanderte über Fadwas Gesicht. Er begutachtete ihre ebenmäßigen Züge, die großen, dunklen Augen mit den langen Wimpern, die weiche Haut ihrer Wangen, den roten, noch immer lächelnden Mund. In einer plötzlichen Bewegung riss er sie an sich, presste seine Lippen auf ihre und küsste sie fordernd und verlangend. Seine Hände glitten ihren Rücken hinab und an ihrem Gürtel vorbei unter den Stoff ihrer Hose.
Als ihre Lippen sich voneinander lösten, grinste sie ihn an und in ihren Augen brannte ein Feuer, das er nur allzu gut kannte. „Das war nicht gerade, woran ich dachte, als ich fragte, was du zu tun gedenkst.“ Geschickt entwandt sie sich seinem Griff. Rückwärtslaufend, den flammenden Blick auf ihn gerichtet, durchquerte sie langsam den Raum, bis sie einen einfachen Tisch an dessen Rückwand erreichte. Mit einer achtlosen Handbewegung befreite sie die Tischplatte von allem, was darauf gelegen hatte. Dann setzte sie sich auf ihre Kante und öffnete die Schenkel.
„Aber es war das erste, was mir in den Sinn kam, Habiba. Und es ist das erste, was ich vorhabe.“ Mit wenigen Schritten durchmaß Sinan den Raum. Zwischen ihren Beinen blieb er stehen und umfasste ihre Hüfte. „Aber um deine Neugier zu befriedigen: Ich werde nach Bakaresh gehen und Bayezid von dem Ausgang meiner Mission unterrichten.“
Fadwa kicherte, während Sinan begann, ihren Hals zu küssen. „Es war wohl kaum Bayezid, der dich anheuerte…“
„Und dennoch sollte er von den Ereignissen erfahren“, entgegnete Sinan und warf den Stoff, der Fadwas Brüste verhüllt hatte, achtlos zu Boden.
„Verschwendete Zeit. Erfahren sollten davon jene, die in Varant die Macht besitzen, nicht jene, die auf den Thronen sitzen“, meinte diese, während sie mit geübtem Griff den Gürtel des Assassinen öffnete.
Sinan strich mit der Linken über Fadwas Brust. Nur mit den Fingerspitzen berührte er ihre Haut. Sie war warm, weich, ohne jeden Makel. Er umkreiste ihre Brustwarze, die sich unter seiner Berührung aufrichtete und zog mit der anderen Hand ihre Hose hinunter. „Gerade in diesen Zeiten wäre es vielleicht nicht verkehrt, wenn dies einmal ein und dieselben Personen wären.“
Fadwa lachte. „Ganz wie du meinst. Wenn du mich fragst, wird es wenig bringen, Bayezid von Zuben zu erzählen – ich bezweifle, dass er diesen Namen überhaupt je gehört hat. Und von einem Tag auf den anderen wird er auch nicht zu einem fähigen Herrscher, nur weil du es so von ihm willst. Aber tu, was du nicht lassen kannst.“ Sie schlang die Beine um Sinans Körper und zog ihn so zu sich heran. Ein Stöhnen entwich ihrem Mund, als er in sie eindrang. „Und jetzt lass uns aufhören, über Politik zu reden.“
Ein blaues Licht blitzte auf und erhellte für wenige Sekunden den bräunlichen Putz an den Häuserwänden in der ansonsten stockfinsteren Gasse. Eine Ratte huschte aufgescheucht in ein kleines Loch.
Dann war es wieder dunkel.
Eine Gestalt stand dort, wo das Licht gewesen war, gehüllt in einen schwarzen Umhang, das Gesicht hinter einer Kapuze verborgen. In ihrer Hand hielt sie einen knorrigen Wanderstab. „Beliar mit dir“, sagte sie leise.
Eine zweite Gestalt trat aus dem Schatten hervor und verbeugte sich. „Beliar mit Euch, Herr.“
„Berichte!“, befahl die erste Gestalt.
„Das Volk ist unruhig. Seit Ardea sich dem neuen myrtanischen Reich angeschlossen hat, ist seine Macht gewachsen. Bakaresh konnte seine Vormachtstellung an der Myrtatmündung nicht halten und erhält nun keine Zölle mehr von den Schiffen, die nach Trelis fahren. Es sind die einfachen Menschen, die darunter zu leiden haben.“
„Gut, gut. Wer hätte gedacht, dass unser ärgster Feind uns unseren Weg ebnet? Was ist mit dem drohenden Krieg?“
„Das Gerücht verbreitet sich schnell in der Stadt und die Menschen fürchten sich. Mora Sul besitzt seit der Thronbesteigung Abdülhamecids die schlagkräftigste Armee Varants.“
„Hervorragend. Dieser Krieg ist Bayezids Schuld. Er ist ein Narr, der nichts vom Regieren versteht und den Sultan von Mora Sul zu dem drohenden Angriff verleitet hat. Und er ist unfähig, ihn abzuwenden und sein Volk zu schützen. Sorge dafür, dass dies ist, was die Bürger des Sultanats glauben. Und… verteilt noch etwas von dem Gold, das uns Emir Selim zur Verfügung gestellt hat, an die Armen. Die Menschen sollen wissen, wer an Stelle ihres Sultans für sie sorgt.“
„Wie Ihr wünscht, Herr.“ Der Assassine verbeugte sich und drehte sich dann herum. Er musste nur wenige Schritte gehen, dann verschmolz er schon wieder vollständig mit der Dunkelheit.
Der Zurückgebliebene hob nun seinen Stab. Ein weiteres Mal leuchtete blaues Licht auf, dann war er verschwunden.
Geändert von Jünger des Xardas (06.05.2013 um 23:03 Uhr)
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4. Vorgabe:
Rückblende: Die Personen A und B werden unter eigenartigen Umständen voneinander getrennt. Gegenstand B spielt dabei eine nicht unwichtige Rolle. Person D bekommt einen Auftritt.
Schläfrig öffnete Sinan die Augen. Für einen Moment blickte er gedankenverloren an die Decke seines Zimmers, dann wandte er den Kopf zur Seite. Doch das Bett neben ihm war leer. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen richtete er sich auf und sah sich um. Das Lächeln wurde breiter, als er seine Erwartung bestätigt sah.
Kopfschüttelnd schlug er die Decke zur Seite, stieg aus dem Bett und machte sich daran, seine Kleider vom Boden aufzusammeln. Es war eine fürchterliche Angewohnheit Fadwas, am nächsten Morgen in aller Frühe, während er noch schlief, ohne ein Wort zu verschwinden. Aber er hatte sich nach all der Zeit daran gewöhnt. Würde sie morgens in seinen Armen liegen bleiben, bis er erwachte, vielleicht sogar noch darüber hinaus, hatte sie einmal gesagt, würde sie sich fühlen, als seien sie ein Liebespaar. Und dies, das wusste er, wäre ihr mehr als unangenehm gewesen.
Zudem waren ihre Treffen meist geschäftlicher, selten zufälliger doch nie privater Natur, weshalb sie es für Gewöhnlich recht eilig hatte. Auch jetzt war dies vermutlich der Fall. Sinan war sich sicher, dass Fadwa längst auf dem Rücken eines Kamels saß und gen Mora Sul ritt.
Mora Sul. Dort hatten sie sich damals kennengelernt. Wie lange mochte das jetzt her sein? Gewiss sechs Jahre. Vielleicht auch länger. Er dachte immer gerne an jene Geschichte zurück. Damals war er noch furchtbar jung gewesen. Ein reicher Kaufmann hatte ihn angeheuert. Der Kaufmann hatte den richtigen Leuten die richtige Summe Gold gezahlt und so davon Wind bekommen, dass ein Konkurrent einen Attentäter auf ihn angesetzt hatte. Den Namen dieses Konkurrenten hatte er nicht in Erfahrung bringen können, dafür jedoch den Aufenthaltsort des Attentäters. Sinan war die Aufgabe zugefallen, diesen zu eliminieren.
Der Assassine schmunzelte. Er hatte nicht schlecht gestaunt, als er erkannt hatte, dass es sich bei dem Attentäter um eine Frau handelte. Noch überraschter war er gewesen, als er hatte feststellen müssen, dass diese Frau ihm kämpferisch durchaus ebenbürtig war. Zwar hatte er den Reichweitenvorteil auf seiner Seite gehabt, doch war sie wesentlich gelenkiger gewesen und hatte dies so ausgeglichen.
Nach einem langen Kampf war sie ihm schließlich entkommen.
Dem Kaufmann hatte er sich später als Leibwächter angeboten. Und tatsächlich hatte er wenige Tage später ein Attentat Fadwas auf ihn vereitelt. Nach einem weiteren langen Kampf hatten sich die beiden auf ein Unentschieden geeinigt, Fadwa hatte ihn auf das Zimmer eingeladen, das sie damals in einer kleinen Herberge bewohnt hatte, und dort hatten sie sich dann näher kennengelernt – er hatte den Reichweitenvorteil gehabt, sie ihre Gelenkigkeit.
Lächelnd gürtete Sinan sich seine Schwerter um und verließ dann das Haus. Auch er selbst musste nun langsam aufbrechen. Der Weg nach Bakaresh war lang und er wollte die Stadt so schnell wie möglich erreichen.
Auf dem großen Platz von Braga herrschte bereits geschäftiges Treiben. Ein Sklavenhändler pries lautstark seine Ware an, einige Meter weiter feilschte ein Händler mit einem offensichtlich myrtanischen Kaufmann und direkt vor dem Assassinen trieb ein Nomade zwei Kamele durch die Menschenmenge. Kurz überlegte er, dann kam Sinan zu dem Schluss, dass er allein wesentlich schneller wäre als in Begleitung einer Karawane.
Und so lief er kurzerhand auf den Nomaden zu und fragte ihn, ob er eines der Kamele haben könne. Nach kurzem Feilschen saß Sinan schließlich auf dem Rücken des Wüstenschiffs und ritt zwischen den Ruinen vor dem Stadttor Bragas hindurch in Richtung der Minenstadt Ben Erai.
Seine Gedanken schweiften wieder ab zu Fadwa und allem, was sie mittlerweile gemeinsam erlebt hatten. Interessantweise war es derselbe Kaufmann, durch den er Fadwa kennengelernt hatte, dem er auch seine erste Begegnung mit Zuben verdankte.
Sinan erinnerte sich noch als sei es gestern gewesen…
„Ihr habt mich rufen lassen, Süleyman ibn Nazad-Malik ibn Fadlan ibn Hurcan al Muaham?“
„Ah, Sinan, endlich!“ Mit ausgebreiteten Armen, als wolle er ihn umarmen, kam der Kaufmann auf den Assassinen zu. Der etwas rundliche Leib war in feine Stoffe gehüllt, deren Elefantenmuster darauf schließen ließen, dass sie von den Südlichen Inseln stammten. Auf dem Kopf des Händlers saß dagegen ein blaugrüner Turban.
„Sinan!“, wiederholte Süleyman und legte dem Assassinen in einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter. „Komm, komm, ich möchte dich mit jemandem bekannt machen!“
Stirnrunzelnd ließ Sinan sich durch das prächtige Haus des Kaufmannes führen und warf dabei verstohlene Blicke auf dessen Gesicht. Ein breites Lächeln war hinter dem weißen Bart zu erkennen, der Süleyman bis auf die Brust reichte, doch Sinan ließ sich nicht so leicht täuschen. Der Händler war nicht durch Freundlichkeit zu einem der reichsten und einflussreichsten Kaufherren Mora Suls geworden und der Assassine wusste, dass hinter der Fassade des gutmütigen und leicht einfältigen alten Mannes ein knallharter Geschäftsmann steckte.
Im imposanten Garten des Hauses, nahe einem Brunnen, stand ein Tisch, an dem ein junger Mann saß. Er erhob sich, als der Hausherr gemeinsam mit Sinan den Garten betrat und verbeugte sich leicht vor Letzterem. „Friede mit dir.“
Auch Sinan senkte leicht das Haupt. „Frieden mit dir.“
„Wenn ich vorstellen darf“ – Süleyman drückte Sinan mit sanfter Gewalt auf einen der Hocker am Tisch hinab, während der andere Mann sich selbstständig wieder auf seinem Platz niederließ – „dies hier ist Zuben. Und“ – nun wandte der Händler sich an seinen ersten Gast – „von Sinan erzählte ich ja bereits.“
Zuben nickte lächelnd. „Es ist mir eine Freude.“
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, entgegnete Sinan.
Der Kaufmann hatte sich unterdessen ebenfalls niedergelassen und klatschte nun in die Hände. Beinahe sofort kam eine Sklavin mit einem Tablett in ihrer Hand aus dem Haus. Eine ausgesprochen hübsche Sklavin, wie Sinan feststellte. Zuben, bemerkte er, als sie ihren Tisch erreicht hatte, schien jedoch weniger von ihr angetan zu sein. Tatsächlich würdigte er sie keines Blickes, sondern nahm nur stumm die Tasse Tee entgegen, die sie ihm reichte.
Sinan wandte seinen Blick widerwillig von der Sklavin und richtete ihn stattdessen auf den Kaufmann. „Sagt, Süleyman“ – er nippte an seiner Tasse – „was verschafft mir die Ehre, abermals Gast in Eurem Hause zu sein, was ist es für ein Geschäft, dass Ihr mir anzubieten habt – denn ich bezweifle, dass Ihr mich nur der Freundschaft Willen zu Euch eingeladen habt, so großartig Ihr auch als Gastgeber sein mögt.“
Süleyman lachte „Du schmeichelst mir. Aber natürlich liegst du richtig. Es gibt da tatsächlich ein Geschäft, an dem du interessiert sein könntest. Ich bin in diesem Falle jedoch nur der Mittler. Zuben hier ist es, der einen guten Kämpfer sucht. Vielleicht sollte auch er erklären, worum es geht.“
Sinan wandte den Blick fragend dem anderen Gast zu. Dieser stellte lächelnd seine Tee vor sich auf den Tisch, bevor er zu sprechen begann. „Nun, du musst wissen, ich bin ein Mann mit vielseitigen Interessen. Unter anderem beschäftigen mich alte Schriften und Artefakte.“
„So?“ Der Assassine zog die Brauen hoch. „Du siehst nicht aus wie ein Gelehrter.“
Zuben lachte. „Oh, ich bin auch noch mehr als das. Aber wie dem auch sei. Unser beider Freund Süleyman war so freundlich, mir die Gelder für eine Expedition zu geben. Allerdings suche ich noch ein paar fähige Männer mit vielseitigen Talenten.“
„Ich bin geschmeichelt. Doch verzeih, aber ich pflege für gewöhnlich nur Aufträge anzunehmen, über deren Ziel ich Bescheid weiß. Was genau ist das für eine Expedition?“
„Wir suchen ein Artefakt des Alten Volkes, von dem ich gelesen habe. Es ist ein wertvolles Relikt von großer magischer und religiöser Bedeutung, für das sich sicherlich einige Käufer finden ließen. Diese Expedition würde sich für alle Beteiligten mehr als lohnen. Süleyman erhält selbstverständlich den Großteil des Gewinns, schließlich geht er ein großes Risiko durch meine Finanzierung ein. Doch sei dir gewiss, dass auch du mehr als genug erhalten würdest.“
„Du hast es geschafft mein Interesse zu wecken. Nur, weshalb brauchst du einen Kämpfer?“
„Der Weg wird weit und beschwerlich werden und wir werden einfache Arbeiter bei uns haben, die beschützt werden müssen. Was wir suchen, ist weit im Norden verborgen, außerhalb der Wüste. Und es könnte durch Fallen geschützt sein.“
Sinan lehnte sich leicht zurück. „Das erhöht den Preis.“
„Oh…“ – Zubens Lippen kräuselten sich – „glaube mir, deine Belohnung wird angemessen sein und dein Vorstellungsvermögen weit übersteigen.“
Kurz überlegte der Assassine, dann nickte er. „Also gut, ich schließe mich dieser ominösen Expedition an.“
„Wunderbar!“ Süleyman klatschte erfreut in die Hände. „Ich wusste doch, dass man sich auf dich verlassen kann und du ein gutes Geschäft erkennst, wenn man es dir anbietet.“
Vor Sinan lag das weite Dünenmeer der varantinischen Wüste. Das Ruinenfeld, das Braga umgab, hatte er hinter sich gelassen. Nun würde er dem Verlauf des Gebirges folgen, das linkerhand aufragte und das Innland von der Küste des Myrtat trennte.
Nachdenklich blickte er auf den schroffen, bräunlichen Fels. Es war alles anders gekommen damals…
Weiße Gischt spritzte in sein Gesicht, als die Welle tosend über dem Boot zusammenbrach.
Kurz taumelte er und hielt sich an der Reling fest, dann fuhr er wieder mit dem verzweifelten Versuch fort, das Wasser mit den Händen aus dem Boot zu schöpfen. Um ihn herum brüllten die Männer gegen den Sturm an, ohne jedoch das Heulen des Windes übertönen zu können. Eine weitere Welle schob sich unter das Boot, hob es in die Luft und warf es dann direkt in die nächste sich auftürmende Wand aus nächtlich schwarzem Wasser.
Plötzlich wurde das Segel mit lautem Krachen losgerissen. Einer der Männer, der eben noch versucht hatte, es festzuzurren, wurde über Bord geworfen. Sofort stürzte Sinan an den Rand des Bootes, doch es war bereits zu spät. Er sah nur noch die wild umherrudernden Arme des Ertrinkenden, dann brach eine Welle über ihm zusammen und die Hilferufe erstarben. Im nächsten Moment drohte eine weitere Woge, das Boot umzuwerfen, und der Assassine hatte alle Mühe, nicht selbst über die Reling zu fallen und seinem Kameraden zu folgen.
Wieder schlug ihm Wasser ins Gesicht. Sinan blickte an dem Segel, das vor seiner Nase unkontrolliert hin- und herpeitschte, vorbei zum Bug des Bootes. Dort stand das einzige Mitglied der Besatzung, das völlig gelassen, ja den Sturm gar nicht zu bemerken schien.
„ZUBEN!“, schrie Sinan. „WIR WERDEN ALLE AUF DEM GRUND DES MEERES ENDEN!“
Der Assassine glaubte, ein Lachen zu hören, das über den Lärm des Sturms hinweggetragen wurde. „Auch Adanos’ Macht ist begrenzt! Er wird mich nicht in sein Reich reißen!“
Sinan fluchte. Zuben war ihm schon lange nicht mehr geheuer und während der letzten Monate war er mehr und mehr zu der Ansicht gelangt, dass dieser Mann schlichtweg wahnsinnig war. Doch selbst er konnte in diesem Sturm doch nicht einfach so herumstehen.
Aber das tat er gar nicht. Als eine mächtige Woge drohte, über dem Bug zusammenzubrechen, hob er den knorrigen Stab in seiner Hand und die Welle teilte sich und verschonte das Boot. Sinan traute seinen Augen nicht. Doch schon im nächsten Moment zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich: Getragen von einer weiteren Welle kamen sie der Felswand vor ihnen immer näher.
„AN DIE RUDER!“, hörte er jemanden über den Sturm hinwegbrüllen.
„NEIN!“, schrie Zuben mit einem Mal. Und dann glaubte Sinan ein leises „wir sind am Ziel“ zu hören. Im nächsten Moment hoben sich die Wassermassen am Heck bedrohlich in die Höhe und warfen ihr kleines Boot direkt auf die Klippen der myrtanischen Steilküste zu. Sinan wurde von den Füßen gerissen. Sein Kopf schlug hart gegen die hölzerne Reling, dann schlug ihm Wasser mitten ins Gesicht. Um ihn herum erklangen Schreie. Er hörte, wie der Mast brach. Etwas traf ihn hart an der Schulter.
Dann war es vorbei.
Sinan lag in einer Pfütze, die sich in ihrem Boot angesammelt hatte. Er spürte, wie das Wasser langsam in seine Kleider eindrang und von dem dunklen Stoff gierig aufgesaugt wurde. Um ihn herum herrschte Totenstille. Nur ganz fern glaubte er noch, den tosenden Sturm zu hören.
Langsam hob der Assassine den Kopf. Sie waren in einer Art Höhle, einer Grotte. Er erblickte lediglich vier weitere Männer. Die anderen lagen inzwischen wahrscheinlich bereits tief am Grund des Myrtanischen Meeres.
„Kommt!“
Sinan drehte den Kopf herum und strich sich dabei das durchnässte Haar aus dem Gesicht, das an seiner Wange klebte. Zuben stand am Ufer, direkt neben dem Boot. Er stützte sich auf seinen Stab und machte den Eindruck eines Mannes, der gerade zufällig vorbeigekommen war. Nichts deutete darauf hin, dass er ebenso wie sie soeben nur knapp einem mächtigen Sturm entronnen war. Ja, bei genauerem Hinsehen stellte Sinan fest, dass Zubens Kleider völlig trocken waren und nicht ein Tropfen Wasser an seiner Haut hing.
Langsam rappelten sie sich auf und stiegen an Land. Sinan blickte sich nun genauer um. Die Grotte schien recht groß, doch relativ niedrig. Der Eingang war nicht mehr als ein schmaler Tunnel. Er war überrascht, dass sie überhaupt hindurchgekommen waren, vor allem bei diesem Wellengang.
„Wir sind nicht die ersten Menschen hier“, stellte einer der Männer, ein breitschultriger Südländer mit starkem Akzent, fest.
Als er den Boden betrachtete, auf dem sie standen, merkte Sinan, dass er Recht hatte. Der schwarze Stein war fast unnatürlich glatt. Selbst von Menschen behauener Stein war selten so eben.
„Nein“, sagte Zuben und wandte sich langsam ab. „Aber wir werden die letzten sein.“
Während sie noch verwirrte Blicke wechselten, setzte sich ihr Führer schon in Bewegung und betrat einen schmalen Gang, der tiefer in den Berg hineinführte. Spätestens beim Anblick dieses Ganges verflogen alle Zweifel. Menschen hatten diesen Ort geschaffen.
Sie waren keine fünf Meter gelaufen, da blieb Zuben stehen. Der Gang endete in einer Sackgasse.
„Und was nun?“, fragte ein Mann direkt hinter Sinan.
„Ruhe!“, fuhr Zuben ihn an. Er hob die Hand und fuhr damit langsam über den glatten Stein. „Es muss hier irgendwo…“ Er stoppte mitten in der Bewegung. Seine Hand ruhte auf einem schmalen Schlitz in der Wand. Er schloss für einen Moment die Augen und murmelte unverständliche Worte. Als er sie wieder öffnete, waren feine, rote Linien über dem Schlitz erschienen, die fremdartige Runen bildeten.
Gebannt sah Sinan zu, wie Zuben die uralten Schriftzeichen entzifferte. Dann deutet ihr Führer plötzlich auf den Mann, der ihm am nächsten stand und befahl mit kalter Stimme: „Komm her!“ Der Mann folgte der Aufforderung. Es war ein schmächtiger Kerl mit spärlichem Haar. Yusuf war sein Name, zumindest glaubte Sinan das.
„Das Fleisch ist der Schlüssel“, sagte Zuben. „Dies ist es, was hier geschrieben steht.“ In einer plötzlichen Bewegung packte er den Arm des Mannes mit festem Griff und ehe dieser wusste, wie ihm geschah, hatte Zuben schon seine Hand in den Schlitz geschoben.
Ein Klicken war zu hören und dann hallten die markerschütternden Schmerzensschreie ihres Gefährten von den Wänden wider. Mit blankem Entsetzen im Gesicht riss Yusuf seinen Arm zurück und taumelte nach hinten. Sinan wandte angewidert den Kopf ab, als er dort, wo eben noch eine Hand gewesen war, einen blutigen Stumpf erkannte. Yusuf, der noch immer schreiend auf seine Wunde blickte, stieß mit dem Rücken nun gegen einen ihrer Kameraden, der sich mit Ekel im Gesicht an die Wand presste. Dann stolperte Yusuf und fiel zu Boden.
„Der Tribut ist bezahlt. Das Fleisch war der Schlüssel“, ertönte Zubens Stimme. Sinan hob den Blick und erkannte, dass die Wand verschwunden war. „Weiter!“, befahl ihr Anführer nun, ohne Notiz von dem schreienden Mann zu nehmen, dessen Blut inzwischen den makellosen Boden tränkte.
„Du kannst ihn doch nicht einfach zurücklassen!“, rief einer der Kämpfer.
„Wir müssen alle Opfer bringen“, entgegnete Zuben kalt. „Und nun kommt.“ Es lag etwas in seiner Stimme, das Sinan klarmachte, dass Zuben keinen Widerspruch duldete. Dennoch zögerte er.
„Nein… nein…“, hörte er jemanden neben sich murmeln, dann drehte sich einer der Männer herum und rannte davon. Im nächsten Moment ertönte ein Schrei aus der Dunkelheit am Ende des Ganges.
„Narr“, sagte Zuben leise. „Es gibt kein Zurück mehr.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging weiter.
Langsam setzte Sinan sich in Bewegung. Er kämpfte gegen einen Brechreiz und die Versuchung, schreiend davonzurennen, doch sagte ihm etwas, dass es keinen anderen Weg gab. Den beiden übrigen schien es ähnlich zu gehen. Erst als sie den Gang verlassen hatten und in einer niedrigen Halle standen, bemerkte Sinan, dass Yusuf nicht mehr schrie. Wahrscheinlich hatte er das Bewusstsein verloren. Vielleicht war er aber auch schon tot.
Mit einem Mal wurde die Halle von einer Reihe von Fackeln erhellt, die an den Wänden hingen und sich wie von Geisterhand entzündet hatten. Doch der Assassine wünschte sich in diesem Moment, es wäre dunkel geblieben, angesichts dessen, was er sah: Sie waren umringt von einer Gruppe von Skeletten in fremdartigen Rüstungen, sicher zwei Dutzend. Natürlich hatte er schon davon gehört: Untote; seelenlose, zu neuem Leben erweckte Leiber und Gerippe. Doch bisher hatte er sie für ein simples Schauermärchen gehalten.
Zuben behielt seine Gelassenheit jedoch bei. Er trat einen Schritt vor und hob seinen Stab. „Euere Schuld ist beglichen!“, donnerte er. „Viele Jahrhunderte habt ihr eurem Herrn treu gedient, doch nun endet eure Knechtschaft. Ihr seid aus den Diensten eures Gebieters entlassen!“
Sinan konnte es nicht fassen, traute seinen Augen nicht doch als Zubens letztes Wort verhallte, fielen die Skelette in sich zusammen, frei von ihrem untoten Leben und nicht mehr als gewöhnliche Gerippe.
„Das… das geht doch nicht mit rechten Dingen zu“, hörte Sinan eine Stimme neben sich. Dann brüllte sein Nebenmann Zuben plötzlich an: „Was bist du? Was für eine widernatürliche Magie ist das?“
Ein leises Lachen erklang. „Was ich bin? Du fürchtest, ich sei kein Mensch? Vielleicht ein Dämon? Nein, ich bin nur ein Diener meines Herrn.“
„Du bist tot", sagte der Mann neben Sinan leise. Dann riss er plötzlich ein Messer vom Gürtel und stürmte schreiend auf Zuben zu. Ein Licht blitzte auf und der Mann sackte leblos, doch ohne jede sichtbare Verletzung zusammen.
„Zeige dich!“, rief Zuben als sei nichts geschehen. Und als hätte sie nur auf diesen Befehl gewartet, erschien eine Kreatur inmitten des Raumes, wie Sinan sie nie zuvor gesehen hatte.
Der Körper des Wesens war mit dunklem, zottigem Fell beharrt. Flügel wie die einer Fledermaus ragten aus seinen mächtigen Schultern und der gehörnte Kopf war lang und geschuppt wie der einer Echse, mit großen, gewundenen Hörnern und einer stolzen Löwenmähne.
„Der letzte Wächter beugt vor keinem das Haupt, als vor der siegreichen Klinge“, rezitierte Zuben und richtete seine Worte dann direkt an Sinan und den Südländer, der als einziger anderer übriggeblieben war. „Nun tut, weshalb ich euch mit mir Nahm: kämpft!“
Als hätte diese Aufforderung ihm gegolten, stürmte der Dämon brüllend auf sie zu. Doch Sinan konnte nicht kämpfen, ja er war außerstande, sich zu bewegen. Bis vor wenigen Stunden war dies noch eine einfache Suche nach einem alten Artefakt gewesen, leicht verdientes Gold, weiter nichts. Und nun? Er konnte noch immer nicht glauben, was hier geschah. All dies kam ihm so surreal vor. Es konnte, nein durfte, sich nur um einen Traum handeln. Doch insgeheim wusste er, dass es keiner war.
Noch immer unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, sah er dem Dämon wie in Trance dabei zu, wie dieser den Südländer mit den mächtigen Pranken in Fetzen riss. Doch der Tod seines letzten Mitstreiters riss Sinan endlich aus seiner Starre. Noch immer kämpfte er gegen das schwindelnde Gefühl an, das ihn zu übermannen drohte, doch zwang er sich nun, Ekel und Grauen für den Moment zu vergessen und rief sich innerlich zur Ordnung. Er musste nun Kämpfen, wenn er leben wollte, und für einen Kampf gegen diese Kreatur Beliars brauchte er seine volle Konzentration.
An das, was danach geschehen war, erinnerte sich Sinan nur noch schemenhaft. Schreiend war er auf den Dämon zugestürmt, der seine Krallen in jenem Moment in den Körper des Südländers geschlagen hatte. Der Assassine wusste nur noch, wie er seine Klinge tief im Rücken der Kreatur versenkt hatte. Und dann war da dieser brennende Schmerz gewesen, als das sterbende Ungetüm ihm die Krallen in einem letzten, verzweifelten Versuch, ihn mit in den Tod zu reißen, tief in den Bauch gerammt hatte. Er erinnerte sich noch, wie er durch den Raum getaumelt war und zugesehen hatte, wie sich sein Blut über den Boden ergoss. Und dann war dort plötzlich ein gleißendes Licht gewesen. Das letzte, was er gesehen hatte, bevor der Schmerz ihn endgültig übermannt hatte, war ein große Kristall gewesen, der inmitten des Raumes erschienen war, und Zuben, der davor niedergekniet war.
Dann hatte das Licht den ganzen Raum ausgefüllt und ihm die Sicht genommen, bevor er gänzlich die Besinnung verloren hatte. Bis heute konnte er nicht ganz sagen, wie er es geschafft hatte, diesen Wahnsinn zu überleben. Irgendwann – nach wenigen Minute oder vielen Stunden, er konnte es nicht sagen – war er wieder aufgewacht. Von Zuben oder dem Kristall hatte jede Spur gefehlt, doch das war ihm in diesem Moment auch ganz recht gewesen. Er hatte seinen gesamten Vorrat an Heiltränken aufgebraucht, sich zu ihrem Boot geschleppt und hatte die Grotte verlassen. Im nahen Ardea hatte er sich einige Wochen ausgeruht, bevor ihn dann ein Fischer nach Bakaresh übergesetzt hatte.
Damals hatte Sinan versucht, das Erlebte schnellstmöglich zu verdrängen. Er hatte erwartet und gehofft, Zuben nie mehr wiederzusehen. Doch er hatte sich getäuscht. Und als er kurz darauf das erste Mal gehört hatte, dass ein Mann namens Zuben durch die Wüste zog und behauptete, von Beliar erwählt zu sein, war ihm, wohl vor allen anderen, klar gewesen, dass dieser Mann aufgehalten werden musste. Dennoch hatte er lange gezögert, sich ihm zu stellen. Zu tief hatten sich die schrecklichen Erlebnisse in seine Erinnerungen gebrannt. Zudem hatte er geglaubt, Zuben würde ihn sofort wieder erkennen. Doch dem war nicht so gewesen. Zumindest hatte es den Anschein gemacht. Heute war Sinan sich nicht mehr sicher, ob Zuben nicht sofort gewusst hatte, wer er war und was er plante. Aber das war im Grunde einerlei.
Der Assassine wischte sich mit der Hand den Schweiß aus der Stirn und nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch. Nun hatte er es schon wieder getan, hatte an jenen furchtbaren Tag zurückgedacht, dessen Geschehnisse ihn wohl nie mehr loslassen und bis ans Ende seiner Tage in seinen Träumen verfolgen würden.
Geändert von Jünger des Xardas (06.05.2013 um 23:03 Uhr)
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5. Vorgabe:
Zwischen den Personen A und C kommt es zu einer Romanze. Als Person D auftaucht, bricht das reine Chaos aus.
Ungeduldig klatschte der Sultan von Bakaresh in die fleischigen Hände. Eilig trat eine der Sklavinnen auf ihren Herrn zu und blieb zwischen diesem und Zuben, der auf einem der zahlreichen Kissen saß, stehen.
„Sing für uns!“, wies der Sultan sie an.
Zuben verdrehte die Augen. Die Sklavinnen singen lassen, die Sklavinnen tanzen lassen, Sklavinnen erlesene Speisen bringen lassen… Es drohte ein Krieg mit Mora Sul und dieser Tölpel hatte nichts besseres zu tun, als sich an der Stimme dieser Sklavin zu erfreuen. Aber genau dies war auch der Grund, weshalb jemand dieser Dekadenz ein Ende bereiten musste. Und dieser jemand würde er sein.
Gelangweilt lauschte er dem Text des Liedes, der von den großen Taten Mehmeds, des Begründers von Bayezids Linie, kündete, als sich mit einem Male jemand neben ihm niederließ. Zuben hob den Kopf und senkte ihn sofort wieder. „Herrin…“
Die Frau lachte – ein hohes und kaltes Lachen, das so gar nicht zu ihrem bezaubernden Gesicht passen wollte. „Eine derartige Unterwürfigkeit ist doch nicht vonnöten.“
Zuben runzelte die Stirn. Wenn Scheherazade, des Sultans zweite Frau, sich neben einem einfachen Gefolgsmann eines Abgesandten niederließ und dabei auch noch auf die Etikette verzichtete, konnte dies nichts Gutes verheißen. Er kannte diese Frau zu gut und wusste, dass ihre Tücke der einer Schlange in nichts nachstand.
Scheherazade hatte ihren Blick nachdenklich auf die Sklavin gerichtet, die dort zwischen Zuben und Bayezid stand und ihr Lied vortrug. „Ein hinreißendes Lied, nicht wahr?“, fragte sie mit gefährlich süßer Stimme.
„Wenn man Gefallen an historischen Romanzen findet, gewiss.“
Wieder lachte Scheherazade. Zuben verabscheute dieses Lachen. Tatsächlich fühlte er sich allgemein eher unwohl in der Gegenwart von Frauen. Meist mied er das schöne Geschlecht, doch am Hofe des Sultans gestaltete sich dies etwas schwerer als in der abgelegenen Ruine von Ishtar. Es war nicht etwa so, dass er sich stattdessen zu Männern hingezogen fühlte. Zuben hatte nicht immer so empfunden und durchaus schon mit einer Frau das Lager geteilt, doch dies war Jahre her. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn an jene weltlichen Freuden erinnerten, denen er dereinst den Rücken gekehrt hatte, vielleicht war es auch der Tatsache geschuldet, dass es ihm schwerer fiel, Frauen zu manipulieren und mit seinen Zaubern zu täuschen. Wirklich darüber nachgedacht hatte er nie. Er tat es auch jetzt nicht.
„Nun“ – die Frau des Sultans wandte ihm den Kopf zu – „halten wir uns nicht mit Geplänkel auf und sprechen wir frei. In diesem Raum sind zu viele Leute, als dass uns jemand zuhören würde und die meisten verstehen ohnehin zu wenig von Politik. Außerdem bin ich zu überrascht, den großen Zuben am Hofe von Bakaresh zu sehen.“
Er hätte es wissen müssen. Nicht umsonst hatte er versucht, diesem verschlagenen Weib so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen. Doch ihm war von Anfang an klar gewesen, dass dies nicht ewig funktionieren würde und so hatte er sich auf diesen Moment gut vorbereitet. Er würde sich keine Blöße vor ihr geben und gleich wie selbstsicher sie in diesem Moment auftreten mochte, würde sie sich bald schon wundern.
„Ich fühle mich geschmeichelt, dass Ihr meine Anwesenheit zur Kenntnis nehmt, Sultana“, sagte er ruhig.
Scheherazade schlug lächelnd die Augen zu ihm auf. „Ihr gebt mir einen Titel, den ich nicht trage.“
„Viele von uns tragen Titel, die sie nicht verdienen“, entgegnete Zuben mit Blick auf den Sultan. „Andere dagegen verdienen Titel, die sie nicht tragen. Ihr wolltet, dass wir offen sprechen. Dies habe ich getan.“
„Und Ihr? Welche Titel meint Ihr zu verdienen, die Ihr nicht tragt? „Zuben, Sultan von Bakaresh“?“
Er lachte. „Habt Ihr deshalb diesen Narren angeheuert, um mich in meinem eigenen Palast zu töten? Weil Ihr fürchtet, ich könnte nach dem Titel Eures Mannes streben?“
„Ich heuerte ihn an, weil ich klug genug bin, die Zeichen zu deuten und weil ich jedes Unheil vom Hause meines Herrn abzuwenden suche.“
Wieder konnte Zuben sich ein Lachen nicht verkneifen. „Ist es dies, was Ihr unter „offen sprechen“ versteht? Das Haus Eures Herrn? Nun, wie dem auch sei. Ihr unterschätzt mich. Verständlich, denn Ihr kennt mich nicht, wohingegen ich Euch sehr gut kenne. Ihr seid eine kluge Frau, zweifellos, doch Euer Fehler, der Euch letztlich zu Fall bringen wird, ist, dass Ihr mich zu lange unterschätzt habt. Ihr unterschätzt mich, wenn Ihr einen einfachen Attentäter auf mich ansetzt und Ihr unterschätzt mich, wenn Ihr ernsthaft glaubt, alles, was ich wollte wäre der Titel des Sultans von Bakaresh.“
„Sultan von Bakaresh, Sultan von Mora Sul, Sultan von Varant – ich bin mir sicher, Euch würden all diese Titel gefallen.“
„Ihr irrt“, erwiderte er mit einem milden Lächeln. „Meinen Glückwunsch übrigens“, wechselte er mit einem Blick auf einen vielleicht zehnjährigen Jungen, der an der Seite des Sultans saß, abrupt das Thema. „Euer Sohn Orhan ist groß geworden. Und er hat Euer edles Antlitz geerbt. Ein wahrhaft würdiger Anwärter auf den Thron von Bakaresh.“ Er machte eine kurze Pause, um dann anzufügen: „es wäre zu schade, wenn er nicht mehr dazu käme, ihn zu besteigen…“
„Wagt es nicht, mir zu drohen“, zischte die Frau des Sultans nun gefährlich.
„Ihr unterschätzt mich noch immer. Und wenn Ihr erkennt, wird es bereits viel zu spät sein.“
„Herr!“
Zuben wandte den Kopf. Einer der Eunuchen war eingetreten und verbeugte sich nun vor Bayezid.
„Sultan Abdülhamecid von Mora Sul entsendet einen Boten.“
Hilfesuchend blickte Bayezid zu seiner Frau, die sich in einer gebieterischen Geste von den Kissen erhob und mit wallenden Gewändern durch den Raum schritt. „Bereitet ihm einen gebührenden Empfang!“, befahl sie.
Zubens Lippen kräuselten sich. Für eindrucksvolle Auftritte hatte sie ein Gespür. Langsam erhob auch er sich. Es wurde Zeit, den nächsten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen…
Sinan hatte alle Mühe, sich durch die Menschenmassen zu kämpfen, die sich am Rand von Bakareshs Hauptstraße tummelten. Eine große Karawane, die in die Stadt einzog, war kein seltener Anblick, doch diese brachte einen Boten Abdülhamecids von Mora Sul mit sich. Die Menschen hofften wohl, dass der drohende Krieg noch abgewendet werden konnte. Sinan ging es da ähnlich. Doch es schien unmöglich, die feste Wand aus Menschenleibern zu durchdringen und einen Blick auf die Karawane des Abgesandten zu erhaschen. Stattdessen beschloss der Assassine, sich schnellstmöglich zum Palast zu begeben. Dort würde er den Boten vermutlich ohnehin wiedersehen. Außerdem war dies sein eigentliches Ziel gewesen und nur durch Zufall war er fast zeitgleich in die Stadt eingeritten wie die Gesandtschaft aus Mora Sul.
Doch mittlerweile strömten immer mehr Menschen auf die Hauptstraße zu und von dieser wegzukommen wurde ebenso schwierig, wie sich ihr weiter zu nähern. Schubsend und rempelnd kämpfte sich Sinan auf eine schmale Gasse zu, durch die er hoffte, eine weniger belebte Straße zu erreichen.
„He!“, schimpfte eine Frau, der er den Ellenbogen unbeabsichtigt in die Rippen gebohrt hatte. Sinan hatte es kaum wahrgenommen und war einfach weitergelaufen. Nun jedoch packte sie ihn am Arm und zog ihn herum. Überrascht riss Sinan die Augen auf, als er das schiefe Grinsen unter der Kapuze erkannte. „Ich dachte, du würdest dich etwas mehr freuen, mich zu sehen.“
„Und ich dachte, du wärst in Mora Sul.“
„Lange Geschichte.“
Sie hatten sich an den Menschen vorbeigeschoben, die allesamt in die entgegengesetzte Richtung drängten, und die schmale, verlassene Gasse erreicht.
„Ich bin mit der Karawane hierher gekommen“, erklärte Fadwa und zog sich die Kapuze vom Kopf. „Wusstest du, dass Abdüls Bote ein gemeinsamer Bekannter ist?“
„Bisher nicht.“ Sinans Lippen kräuselten sich, als er sich mit vor der Brust verschränkten Armen an eine Häuserwand lehnte. „Aber ich kann mir schon denken, wer. Bist du mit ihm gereist?“
„Mehr oder weniger. Der Karawane konnte ich mich ja schlecht einfach anschließen.“
„Oh ich bin mir sicher, mit dir würde jeder gerne reisen.“
„Was deshalb noch lange nicht auf Gegenseitigkeit beruhen muss“, entgegnete sie, grinste dabei aber.
„Und warum warst du nicht beim Sultan?“
„Das hätte wenig Sinn gehabt. Ich hätte nur erklären müssen, weshalb Zuben noch nicht tot ist. Was ich erreichen wollte, nämlich, dass er sich das mit dem Krieg noch einmal überlegt, ist doch anscheinend auch so eingetreten. Und jetzt ist wesentlich interessanter, was sich hier abspielt.“
Sinan nickte. „Ja. Der Ausgang dieser Verhandlungen wird wahrscheinlich entscheiden, ob es zu einem Krieg kommt oder nicht.“
„Nicht zu vergessen dein toller Plan, mit dem Sultan zu reden.“
„Du hältst immer noch nicht viel davon, was?“
„Ich denke nach wie vor, dass wir nicht die Zeit haben, einem alten Trottel, der sich sein Leben lang nur den Wanst vollgeschlagen hat, klar zu machen, dass er der Sultan von Bakaresh ist. Wenn ich ehrlich bin, würde es mich überraschen, wenn er überhaupt jemals von Zuben gehört hätte. Nein, wir sollten Scheherazade aufsuchen. Schließlich war sie es auch, die dich auf ihn ansetzte, oder etwa nicht?“
„Was nichts daran ändert, dass ich dieses hinterlistige Weibsstück nicht leiden kann.“
Fadwa kicherte. „Dabei hat sie doch so ein hübsches Gesicht. Das müsste dir doch gefallen.“
„Ihr Gesicht ist auch nicht das, was mich an ihr stört. Aber komm, gehen wir zum Palast.“
Fadwa nickte. Während sie sich in Bewegung setzten, fragte sie: „Was ist es dann? Passt dir der Gedanke nicht, dass es eine Frau ist, die dieses Reich kontrolliert?“
„Aber Habiba, was denkst du nur von mir?“ Sinan lachte. „Sie ist ganz einfach eine Schlange.“
„Und Bayezid ist ein Esel.“
„Siehst du? Auf einem Esel kann man reiten, eine Schlange beißt dir bestenfalls ins Bein…“
Mit einem Mal stellte Sinan fest, dass das Gemurmel der Menge angeschwollen war und nun wütende Rufe zu ihnen herüberhallten. Als sie dann um eine Ecke in eine breitere Straße bogen, lief eine kleine Gruppe aufgebrachter Menschen an ihnen vorbei.
„Hey!“ Fadwa, die ebenfalls etwas bemerkt zu haben schien, packte einen von ihnen an der Schulter. „Was ist los?“
„Was los ist?“, fragte der Mann wütend. „Mora Sul rüstet sich für den Krieg, um uns wie Vieh zu schlachten, unsere Frauen zu schänden und unsere Kinder zu verschleppen und unser Sultan empfängt Mora Suls Boten wie den eines Verbündeten!“
„Schließt euch uns an!“, rief ein anderer, der kurz neben ihnen stehen geblieben war. „Wenn unser Sultan nicht fähig oder willens ist, sein Volk zu schützen, verdient er es nicht länger, über uns zu herrschen!“
„Und wer sollte das eurer Meinung nach dann?“, fragte Sinan mit zusammengezogenen Brauen.
„Der Mann, der den Menschen die Augen öffnet und der uns beschützt: Zuben!“
„Los kommt!“, rief ein dritter vom Ende der Straße. „Dieser Sohn einer räudigen Hündin hat den Palast beinahe erreicht.“
Die beiden Männer folgten dem Ruf ihres Kameraden und rannten wortlos davon.
Sinan und Fadwa blickten sich an. Im nächsten Moment rannten auch sie.
Mit bebenden Lippen stand Scheherazade, die zweite Frau Bayezids I. von Bakaresh an der Brüstung des großen Turmes ihres Palastes und blickte auf die Menschenmenge hinab. Die Worte, die sie riefen, ließen wenig Spielraum für Deutungen. Das Volk war wütend. Und es war klar, weshalb.
„Ihr scheint Euer Volk nicht unter Kontrolle zu haben!“
Langsam wandte Scheherazade sich herum. „Ich habe Euch erwartet, Süleyman.“
„Und ich bin gekommen, um mit Eurem Mann zu sprechen.“
„Ihr werdet mit mir Vorlieb nehmen müssen.“
Der rundliche Kaufmann blickte Scheherazade ruhig an. Wenn es eines gab, was er nicht leiden konnte, so waren es Mätressen und Konkubinen, die sich anmaßten, für ihre Männer zu sprechen. Noch mehr verachtete er lediglich jene Männer, die sich tatsächlich von dieser Art von Frauen einspinnen ließen, die ihrer Schönheit und ihren gespaltenen Zungen verfielen. Und er war froh, dass sein Sultan nicht zu diesen Männern zählte. Gewiss, Abdülhamecid von Mora Sul mochte auch nicht zu den weitsichtigsten Herrschern zählen und auch er hatte in der Realität weniger Macht als auf dem Papier – niemand wusste dies besser als er, einer der Männer, die in Mora Sul das Sagen hatten – doch immerhin versuchte sein Sultan noch, seinem Stand und seinem Hause gerecht zu werden, anstatt einer Frau, die noch nicht einmal seine erste war und auch keiner großen Familie entstammte, die Herrschaft zu überlassen.
„Ich wurde entsandt, um mit Eurem Gemahl zu verhandeln, nicht mit Euch. Mein Sultan ist nicht an einem Krieg interessiert. Aber einen Frieden wird er nur mit einem Gleichrangigen aushandeln.“
Scheherazade lachte laut auf. „Nicht an einem Krieg interessiert? Weshalb sammelt er dann seine Truppen? Ich kann mich an keine Provokation seitens Bakaresh erinnern.“
„Ein Bündnis mit einem Feind zu schließen, und ein solcher ist Braga, kommt einer Provokation nun einmal sehr nahe. Aber es muss keinen Krieg geben. Sultan Abdülhamecid ist bereit, seine Truppen zurückzuziehen, wenn Euer Herr sich als vernünftig erweist.“
„Und was würdet Ihr als vernünftig betrachten? Das Abtreten von Länderein?“
„Ihr befindet Euch nicht in der Position, so mit mir zu sprechen, Konkubine! Die Armeen Mora Suls übertreffen die Stärke derer Bakareshs bei weitem. Ihr wäret töricht, einen Krieg zu riskieren.“
„Im Moment seid Ihr es, der Törichtes tut. Ihr habt Euch in die Höhle des Löwen begeben.“
Die Augen des Händlers verengten sich. „Ihr wollt mir drohen?“
Lachend schüttelte Scheherazade den Kopf. „Das habe ich nicht nötig. Andere tun es für mich. Hört Ihr nicht die Rufe der Menschen dort unten? Sie wollen Euren Kopf. Ihr sagtet, ich hätte das Volk nicht unter Kontrolle und Ihr habt Recht. Ich werde sie nicht aufhalten können. Und Euer Krieg ist der Grund für ihre Unzufriedenheit. Ihn zu beenden, bevor er beginnt, ist unsere einzige Möglichkeit, sie zu besänftigen und damit Euer Leben zu retten.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln. „Und nun kommen wir zu meinen Forderungen…“
Erschrocken riss der alte Händler die Augen auf, doch Scheherazade erkannte sofort, dass seine Angst nicht ihr galt. Seinem Blick folgend entdeckte sie eine Gruppe von vier bewaffneten Männern, die aus dem Inneren des Palastes auf sie zugestürmt kamen und dabei ihre Säbel über den Köpfen schwangen.
Als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet, zog Fadwa ihre Waffe und löste sich aus dem Schatten.
Eilig schritt Sinan durch die Gänge des Palastes. Es war nicht schwer gewesen, einen Weg nach drinnen zu finden. Vor allem jetzt, da die meisten Wachen vor den Toren versuchten, die Menge im Zaum zu halten, waren die Gänge beinahe völlig leer.
Dennoch musste er sich beeilen. Zuben war irgendwo hier, dessen war er sich sicher. Fadwa hielt noch immer nichts davon, den Sultan aufzusuchen und so hatten sie sich getrennt. Wahrscheinlich war es besser so. Bayezid oder Scheherazade, einer musste handeln und einer würde auch ganz sicher ihren Schutz brauchen.
Der Assassine schob den Vorhang beiseite, der den Eingang zu den Gemächern des Sultans verdeckte und trat ein. Überrascht blickte Bayezid, der auf einem Lager aus Leopardenfellen saß und seine Hand in einer Schale Datteln versenkt hatte, auf. Die Entschlossenheit, mit der Sinan eben noch sein Ziel verfolgt hatte, war augenblicklich verflogen. Vielleicht war dies hier tatsächlich reine Zeitverschwendung. Der Mann vor ihm wirkte wie das verhätschelte Kind reicher Eltern und nicht wie der Nachfahr des legendären Mehmed. Und nun, da die anfängliche Überraschung der Angst wich, öffnete dieser Narr auch noch den Mund und begann, nach seinen Wachen zu schreien.
„Es wird niemand kommen“, sagte Sinan ruhig und ging ein paar Schritte auf den Sultan zu. „Sie alle sind dort draußen und versuchen, die Menschen davon abzuhalten, Euren Palast zu stürmen. Und mir solltet Ihr besser zuhören, anstatt Euch vor mir zu fürchten. Diese Leute da draußen“ – Sinan wies auf das Fenster – „wurden aufgestachelt von Zuben.“
„Z… Zuben?“, fragte der Sultan verwirrt.
„Ja, ein Wahnsinniger, den Ihr zu lange ignoriert habt, ebenso wie die anderen Herrscher dieses Landes. Und wenn Ihr jetzt nichts gegen Ihn unternehmt, wird er diese Stadt an sich reißen. Und nicht nur diese. Die Menschen dort draußen sind wütend, weil man ihnen gesagt hat, dass Ihr unfähig seid und Euch nicht um Ihr Schicksal schert. Sie sind wütend, weil sie glauben, dass Ihr Eure Untertanen in einen Krieg mit Mora Sul zwingt. Aber noch könnt Ihr sie besänftigen, indem Ihr diesen Krieg von ihnen abwendet. Ihr müsst mit dem Boten Mora Suls sprechen. Wenn Sultan Abdülhamecid sieht, dass Ihr nicht so schwach seid, wie er denkt, wird ihn das zögern lassen. Und dass er einen Boten schickt, zeigt, dass er bereit ist, zu verhandeln.“
„Sultan Abdülhamecid ist tot.“
Blitzschnell fuhr Sinan herum und zog dabei seine Klinge.
Zuben blickte ihn anerkennend an. „Du hast es also tatsächlich durch das Tal des Todes geschafft.“
„Das ist nur ein Trick“, sagte Sinan. „Der Sultan kann nicht tot sein.“
„So? Und weshalb?“
„Er hat einen Boten hierher geschickt.“
„Woraus du folgern kannst, dass er zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass er mittlerweile einem meiner Getreuen zum Opfer gefallen ist. Mora Sul ist ohne Herrscher und Bakaresh wird dies auch bald sein. Hörst du es?“ Zuben nickte zum Fenster. Erst jetzt nahm Sinan wahr, dass der Lärm angeschwollen war. Kampfeslärm. „Sie stürmen den Palast. Und ich bin ihr Erretter aus der Not, der ein neues Zeitalter in diesem Land einläuten wird.“
„Und jetzt? Hat jetzt mein letztes Stündlein geschlagen?“, fragte Sinan mit lauernder Stimme und hob drohend seine Waffe.
„Ich sagte, wenn du das Tal des Todes überlebst, ist dir dein Leben geschenkt. Dein Problem ist, dass du mich für böse hältst, für einen machtgierigen Verrückten, der dieses Land unterjochen will. Stattdessen bringe ich den Menschen Erlösung und Wahrheit. Ich bin nicht das Böse, ich bin das Gute! Und ich pflege zu meinem Wort zu stehen: Dein Leben ist dir geschenkt – vorrausgesetzt, du bist klug genug, dich mir nicht in den Weg zu stellen. Und nun“ – langsam hob Zuben seinen Stab und richtete dessen Spitze auf Sinans Brust – „tritt beiseite!“
Geändert von Jünger des Xardas (13.05.2013 um 22:19 Uhr)
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Vorgabe 6:
Es geht ordentlich zur Sache. Person C kommt durch Person B ums Leben - unter Zuhilfenahme von Gegenstand A, der aber zerstört wird.
Grimmig starrten sich die beiden Männer in die Augen, die Waffen auf die Brust des jeweils anderen gerichtet. Keiner schien bereit, dem Blick des anderen nachzugeben.
Nach, wie er glaubte, vielen Minuten, senkte Sinan jedoch geschlagen seine Waffe und seinen Kopf und trat beiseite. Triumphierend lächelnd und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt Zuben auf Bayezid zu. Mit einem Mal riss Sinan seine Klinge empor und ließ sie auf den Rücken des Schwarzmagiers hinabsausen.
Mit einer Geschwindigkeit, die Sinan nie für möglich gehalten hätte, wirbelte dieser herum und parierte den Schlag mit seinem Stab. Zuben lächelte. „Das war eine äußerst dumm Idee.“
Blitzschnell wirbelte der Magier seinen Stab herum, schlug Sinans Schwert beiseite und rammte ihm die untere Ende des Stabes in den Magen.
Geblendet vor Schmerz sank der Assassine auf die Knie, wobei die Waffe aus seinen Fingern glitt. Er wollte danach greifen, doch mit einem Schlenker seiner Hand ließ Zuben sie in die Luft steigen und gegen die Wand auf der anderen Seite des Raumes fliegen. Langsam kippte der Assassine nach vorn. Wie in Trance streckte er die Hände aus und fing seinen Sturz so ab. Keuchend starrte er auf den glatten, weißen Stein unter ihm. Es war ihm, als hätte er seinen Körper verlassen und sähe sich nun selbst vom Platz eines unbeteiligten Zuschauers aus. Selbst den Schmerz nahm er nur noch von fern wahr, wie durch einen Schleier.
Seine Augen fanden ein kleines Tischchen direkt vor ihm. Eine Schale mit Obst lag darauf und ebenso ein Messer. Es war kurz, gedacht nur dafür, eine Frucht von ihrer Schale zu befreien und nicht, die Haut eines Menschen zu durchdringen und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Doch es war seine einzige Chance.
Während sein Blick langsam verschwamm, streckte Sinan die Hand aus. Unbeholfen tastete er auf dem Tisch herum, bis sich seine Hand um einem metallenen Gegenstand schloss. Im nächsten Moment wurde sein Körper von einer Welle magischer Energie erfasst, die ihn gegen die Wand schleuderte. Wieder krümmte er sich vor Schmerz. Der Schleier war verschwunden, er war wieder ganz er selbst, doch mehr denn je wünschte er, dass genau dies nicht der Fall wäre. Als Zuben abermals seinen Stab hob, hielt Sinan schützend die Hand vor den Körper. Es war ein Reflex, mehr nicht. Er wusste, dass es ihm gegen den tödlichen Fluch des Schwarzmagiers nicht helfen würde.
Doch er sollte sich irren.
Wie an einem magischen Schild prallte der Zauber von ihm ab. Überrascht starrte Sinan auf seine Hand und das, was er darin hielt. Es war nicht das Messer, es war ein Ring mit den Insignien des Hauses Mehmed. Er musste ebenfalls auf dem Tisch gelegen haben. Konnte es sein, dass dieser Siegelring über magische Kräfte verfügte?
Sinan hatte wenig Zeit, nachzudenken, denn schon stürmte Zuben auf ihn zu, den Stab in der einen, Sinans Klinge in der anderen Hand. Der Assassine fühlte sich unfähig, aufzustehen und so hielt er nur die Hand mit dem Ring in die Höhe und hoffte verzweifelt darauf, dass dieser ihn schützen würde. Und tatsächlich schoss ein greller Lichtblitz aus dem Siegel. Mühelos, fast beiläufig, wehrte Zuben diesen ab. „Diese Lächerlichen Spielerein werden dir auch nicht helfen“, sagte er. „Meiner Macht bist du nicht gewachsen.“
Sinan schloss für einen Moment die Augen. Er durfte jetzt nicht aufgeben! Er musste sich zusammenreißen! Während Zuben auf ihn zukam, sammelte er seine Kräfte. Den Schmerz versuchte er zu ignorieren. Dann sprang er mit einem Mal auf die Beine, hechtete zur Seite und entging so einem Zauber seines Widersachers. Seine Hand schloss sich so fest um den Ring, dass dieser sich in sein Fleisch bohrte. Mit aller Kraft konzentrierte er sich nur auf ihn. Dann zersprang der Ring mit einem lauten Knall in tausend Teile und sandte eine Welle magischen Lichts aus, die sich in alle Richtungen ausbreitete. Sinan schrie auf, als der Ring in seiner Hand explodierte und stürzte zu Boden. Der Schmerz war unbeschreiblich und für einen Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass es einfach vorbei wäre.
Dann verließ ihn die letzte Kraft und Schwärze umfing ihn.
Mit zufriedenem Lächeln betrachtete Zuben die Szenerie. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Die Möbel waren umgeworfen, der seidene Baldachin, unter dem der Sultan gesessen hatte, heruntergerissen. Zudem lagen eine Vielzahl von Kissen und Datteln verstreut auf dem Boden herum.
Langsam schritt Zuben auf den Sultan zu, kniete sich neben diesem hin, ergriff seinen Arm und fühlte den Puls. Sein Lächeln wurde noch etwas breiter und belustigt schaute er zu Sinan herüber. Welch ein Narr. Zugegeben, Zuben war im ersten Moment leicht erstaunt gewesen. Er hatte im Siegelring des Hauses Mehmed kein magisches Artefakt erwartet. Doch letztlich war es nicht mehr als eine amüsante Überraschung gewesen. Er trug den Stab des Ewigen Wanderers bei sich, eines der göttlichen Artefakte. Derartige Taschenspielertricks konnten ihm nichts anhaben. Und Sinan hatte letztlich nur den Sultan getötet. Zuben wusste aus eigener Erfahrung, dass Menschen, die von Magie nichts verstanden, besser nicht mit ihr herumspielten, da dies nur in den seltensten Fällen glimpflich endete.
In diesem Falle hatte Sinan Zuben jedoch die Arbeit abgenommen. Nicht einmal er, der Prophet Beliars, hätte sich träumen lassen, dass er sich die Hände nicht würde schmutzig machen müssen und dass ausgerechnet dieser verräterische Narr ihm alle Arbeit abnehmen würde.
Ohne den Assassinen noch eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ Zuben die Gemächer des toten Sultans hinter sich. Alles verlief nach Plan. Nun gab es nur noch einen Nachkommen des legendären Mehmed, nur noch einen rechtmäßigen Thronfolger Bakareshs. Mit Prinz Orhans Tod würde das bisherige Machtgefüge endgültig zusammenbrechen. Diese Schlange Scheherazade würde ihre Macht einbüßen. Sie selbst entstammte einem unbedeutenden Hause und besaß keinerlei Legitimation, über das Sultanat von Bakaresh zu herrschen. Sie wäre ab diesem Zeitpunkt keine Gefahr mehr. Natürlich würde sie dennoch sterben. Zuben wollte seine eigenen Pläne nicht durch Hochmut ruinieren, für den er die meisten seiner Feinde so sehr verachtete. Nein, er würde gründlich vorgehen. Deshalb hatte er auch dafür gesorgt, dass die zweite Frau des Sultans nicht davonkam. In diesem Moment lag ihr hübscher Körper wahrscheinlich bereits leblos auf dem kalten Stein eines der vielen Gänge.
Und dann, nach der endgültigen Auslöschung der Mehmedanendynastie würde er selbst die Herrschaft übernehmen. Das Volk würde ihn als Befreier feiern. Und danach? Zuben wusste, dass die Wesire in Mora Sul den Tod ihres Sultans noch geheim hielten, doch dies würde nun ein Ende haben. Es würde ein leichtes sein, die politische Krise und das Chaos in Mora Sul zu seinen Gunsten zu nutzen. Ein rascher, unkomplizierter Machtwechsel, bei dem auf größere Kämpfe verzichtet würde, das sah sein Plan vor.
Als Herrscher von Bakaresh und Mora Sul und mit Braga auf seiner Seite würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich ihm die übrigen Emirate zu unterwerfen würden. Und schon in einem Monat würde die Wüste endlich geeint sein und er den Titel des Kalifen tragen.
Zuben trat ins Freie. Für einen Moment blieb er stehen. In einem langen Zug sog er die kühle, salzige Abendluft ein, die vom Meer herüberwehte. Unten tobte noch immer der Lärm. Und wenn ihn seine Ohren nicht täuschten, wütete der Mob mittlerweile auch im Palast. Es wurde Zeit, zu den Menschen zu sprechen und sie zu besänftigen.
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Vorgabe 7:
Gegenstand B taucht auf und gibt den Ereignissen eine ungeahnte Wende. Die Konflikte der beteiligten Personen entladen sich in einer ergreifend emotionalen Szene, die in die Literaturgeschichte eingehen wird.
„Sinan!“ Eine Ohrfeige riss den Assassinen aus seiner Ohnmacht.
Blinzelnd blickte er in das Gesicht über ihm, dessen dunkle Augen ihm unter sorgenvoll zusammengezogenen Brauen entgegenstarrten. Im nächsten Moment fühlte er eine Flasche an seinen Lippen. „Trink.“
Ohne weiter nachzudenken, begann der Assassinen, die Flüssigkeit hinunterzuschlucken, die aus der Flasche und über seine Lippen lief. Er kannte diesen leicht süßlichen Geschmack, der ihn immer ein wenig an den von Blut erinnerte: Ein Heiltrank.
„Geht es?“
Sinan hob wieder den Blick zu dem Gesicht über ihm. Das schwarze Haar, von dem es eingerahmt wurde, hing zu ihm hinunter und kitzelten seine Wange. „Ging mir schon besser“, sagte er matt. Dann setzte er, mehr zu sich selbst als zu Fadwa, hinzu: „Meine Hand…“ Er hob den rechten Arm, um sich die Verletzung näher ansehen zu können, doch Fadwa hielt ihn sanft zurück.
„Das willst du nicht sehen“, sagte sie mit leiser Stimme.
Er schaute dennoch hin und erschrak, als er anstelle einer Hand nur ein Stück verkohltes Fleisch erblickte, dem zwei Finger fehlten.
„Hat dieser Sohn einer räudigen Hyäne nun auch noch den Sultan ermordet?“, hörte Sinan jemanden neben sich.
„Nicht ganz“, sagte er leise. Fadwa blickte ihn verwirrt an, doch er bedeutete ihr mit einem Kopfschütteln, dass sie nicht fragen sollte.
„Bakaresh ist am Ende“, ertönte nun wieder die zweite Stimme. Sinan hörte Schritte, die auf ihn zukamen. „Schnell, wir müssen fliehen! Helft mir hier heraus und es soll euer Schaden nicht sein! Sultan Abdülhamecid wird…“
„Abdülhamecid ist tot“, entgegnete Sinan und richtete sich stöhnend auf, wobei er Fadwa, die versuchte, ihn wieder zu Boden zu drücken, mit dem gesunden Arm sanft beiseite schob.
„Tot?!“ Entgeistert starrte Süleyman ihn an. „Nein! Er kann nicht tot sein!“
„Aber er ist es.“ Sinan blickte sich um. „Wo ist Scheherazade?“
„Ich konnte sie nicht mehr retten“, erklärte Fadwa. „Drei Männer zugleich griffen mich an. Ich konnte Süleyman beschützen, aber…“
„Schon gut.“ Sinan legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Wir hatten gehofft, der Sultan sei wenigstens noch am Leben…“
„Aber er ist es nicht!“, fuhr Süleyman sie an. „Das Haus der Mehmedanen ist nun nichts mehr als ein Eintrag in den Geschichtsbüchern.“
„Nein, das stimmt nicht!“, widersprach Sinan, dem mit einem Mal etwas eingefallen war. „Was ist mit Prinz Orhan?“
„Zuben wird auch ihn längst getötet haben.“
„Aber was, wenn nicht?“, fragte Fadwa. „Wir könnten ihn retten und nach Mora Sul bringen. Und wenn Ihr Euren Einfluss bei den Wesiren nutzt, wird das Sultanat unverzüglich seine Truppen nach Bakaresh entsenden.“
„Wir sind schneller ohne den Jungen. Er ist ohnehin nur ein Kind. Was soll er uns nützen?“
„Er ist ein Symbol“, sagte Sinan. „Der letzte der Mehmedanen. Solange er lebt, hat Zuben nicht gewonnen. Und hinter ihn werden sich die Bürger, die Zuben nicht folgen, eher stellen als hinter die Krieger Mora Suls.“
Der Kaufmann fuhr sich unruhig durch den Bart. „Also gut, ihr habt Recht. Suchen wir dieses Kind und beten zu den Göttern, dass es noch lebt – und dass wir noch leben, wenn dieser Tag zuende geht.“
Sanft, fast zärtlich, strich Zuben über die Oberfläche des Kristalls. So viele Jahre war es nun her, dass er ihn in seinen Besitz gebracht hatte, und noch immer faszinierte er ihn. Doch nun war die Zeit gekommen, da er ihn nicht mehr würde verstecken müssen.
Noch einmal ließ er seinen Blick über den mächtigen Felsvorsprung schweifen, der hier über dem Palast des Sultans thronte und der den Wachen als Aussichtsplattform gedient hatte. Ja, dies war der ideale Ort für den neuen Tempel, den er seinem Gott errichten würde. Hier, wo er jetzt stand, würde eine Halle stehen, größer als die legendäre Eingangshalle des Sultansplastes von Mora Sul. Und an ihrem Ende würde sich eine Statue des dunklen Gottes erheben. Es war der perfekte Ort. Zuben hatte alles genau ausgemessen, jede noch so kleine magische Strömung in dieser Gegend mit seinem Stab erspürt. Und dort, wo die Statue stehen würde, liefen sie alle zusammen. Es war ein Knotenpunkt der Energieflüsse, die die gesamte Welt durchzogen. Wahrscheinlich war es die mächtigste Schnittstelle magischer Energien südlich der Höhle der Erleuchtung in Nordmar. Und bei Beliar, diese Statue würde jene, die die Lichtbeter Innos dort in den verschneiten Bergen errichtet hatten, bei weitem übertreffen! Dieser Kristall aber würde zu Füßen der Statue stehen, als Gegenstück zur Ewigen Flamme, als irdische Quelle von Beliars Macht.
Zuben griff nach seinem Stab. Er fühlte, wie dieser zitterte, angesichts des Kristalls. Es war nicht weiter verwunderlich. Die beiden größten Geschenke, die Beliar seinen Dienern je gemacht hatte, waren sich in diesem Moment vermutlich näher als jemals zuvor in ihrer langen Geschichte.
Langsam wandte er sich um und schritt auf das Kind zu, das reglos an der Brüstung stand, während seine schwarzen Locken leicht im Wind wehten. Es schien gelähmt vor Angst, unfähig, sich zu bewegen.
„Es hat etwas Ironisches, weißt du?“ Nachdenklich blieb er neben dem Jungen stehen und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. „Scheherazade hat deinen Halbbruder umbringen lassen, den Sohn der ersten Frau deines Vaters, wusstest du das? Und wie die Mutter deines Bruders muss auch sie den Tod ihres Sohnes nicht mehr erleben. Weißt du, deine Mutter hat damals…“
„Weg von ihm!“
Zuben wirbelte herum, seinen Stab bereit zum Angriff. Als er die drei Gestalten sah, die dort am Ende der langen Treppe standen, die zu der Aussichtsplattform hinaufführte, ließ er ihn jedoch wieder sinken.
„Seid ihr des Kämpfens nicht müde?“
„Wir werden nicht zulassen, dass du dieses Kind schlachtest, nur um deine Machtgelüste zu befriedigen!“, schrie die Frau an der Seite Sinans zornig.
Traurig schüttelte Zuben den Kopf. „Ihr begreift noch immer nicht. Machtgelüste? Glaubt ihr, ich tue dies, weil es mich nach Macht gelüstet? Nein, ich tue dies, weil einer es tun muss! Im Norden erhebt sich ein neues Reich, das von den Hängen der weißen Berge bis hin zu den Ufern des Myrtat reicht. Im Süden waren die Fürsten der Inseln klug genug, sich zur Ariabischen Liga zusammenzuschließen, was sie zur größten Handelsmacht dieser Welt werden ließ. Doch was ist mit Varant? Seit Generationen schon bekämpfen sich die Herrscher dieser Wüste gegenseitig. Die Welt ist im Wandel und Varant muss sich ebenfalls wandeln oder es wird untergehen. Ich bringe Einigkeit!“
„Du bringst Zerstörung, weiter nichts!“, widersprach Sinan.
„Narren!“, fauchte Zuben. „Nichts Neues kann entstehen ohne dass etwas altes Zerstört wird. Die Flut zerstörte die Städte der alten Varanter und auf ihren Ruinen wurden neue Städte erbaut, so auch Bakaresh. Die Nachfahren Mehmeds zerstörten die Mauern dieser Stadt und die Dynastie, die vor ihnen hier herrschte, und nun zerstöre ich das Haus Mehmed, um etwas noch viel Größeres zu erschaffen. Dies ist der Lauf der Dinge!
Schaut euch an, wie die Menschen dieser Wüste – dieser Welt! – leiden! Kümmerte dies Bayezid I.? Nein, er erfreute sich lieber an seinem Reichtum, an erlesenen Speisen, den schönen Künsten oder den Reizen der Sklavinnen! Kümmerte es Abdülhamecid IV.? Nein, ihm war nur an seinen Eroberungen, an der Ausweitung seiner Macht gelegen!“
„Und du würdest es anders machen?“ Die Frau lachte auf. „Abdülhamecid wollte Bakaresh, du willst Myrtana.“
Zuben nickte ruhig. „Ja, es wird einen Krieg geben zwischen dem Kalifen Varants und dem König von Myrtana, dies ist unausweichlich. Doch auch dieser Krieg wird einzig dem größeren Wohl dienen. Ich erwarte nicht, dass ihr dies begreift. Ihr seid ebenso eingehüllt von den Lügen derer, die Innos folgen, wie die meisten der Menschen. Ich aber habe die Gräueltaten gesehen, die die Anhänger Innos’ verüben, ich kenne ihr wahres Gesicht. Unter ihnen kann es keinen Frieden, keine Gerechtigkeit geben.“
„Und unter einem Mann, der Kinder allein aus Machtgier tötet, soll sich das ändern?“, fragte Sinan giftig.
„Ihr begreift noch immer nicht. Ich bin kein Monster und auch kein Schlächter. Wann immer möglich, versuche ich, Blutvergießen zu vermeiden. Doch Gerechtigkeit kann nicht geschaffen werden, ohne dass die Ungerechten sterben. Ihr seid Narren, wenn ihr glaubt, es würde mir Freude bereiten, ein Kind zu töten. Aber ich tue, was getan werden muss. Dieser Weg kann nicht beschritten werden, ohne dass es Opfer gibt. Es werden immer Späne fallen, wo gehobelt wird. Aber jeder wird selbst entscheiden, ob er stirbt oder lebt. Kniet nieder vor Beliar und seinem Propheten und euch soll kein Leid geschehen.“
Entgeistert schüttelte Sinan den Kopf. „Du BIST Wahnsinnig. Du musst dir nur einmal selbst zuhören. Jeder kann also Wählen? Was ist mit diesem Jungen? „Gerechtigkeit kann nicht geschaffen werden, ohne dass die Ungerechten sterben“ – ist dieses kleine Kind etwa einer von ihnen? Wenn ich die Wahl habe, ob ich sterbe oder dir folge, wähle ich lieber den Tod.“
Zuben hatte nichts anderes erwartet. Sein Gegner mochte ein Tor sein, doch er bewunderte seinen Mut und seinen Kampfeswillen: Selbst jetzt, da seine rechte Hand verstümmelt war, gab er nicht auf, sondern zog noch seine Waffe, wenngleich auch ihm klar sein musste, dass er nur wenig mit ihr würde ausrichten können.
Der Blick des Schwarzmagiers wanderte zu dem dicken Händler, der nun zögernd vortrat und dann auf die Knie fiel. „Ich neige mein Haupt vor Euch, Herr“, sagte er demütig, was ihm eine wüste Beschimpfung durch die Frau an Sinans Seite einbrachte.
Zuben lächelte. „Ich wusste, dass Ihr ein kluger Mann seid, Süleyman, der genug von Geschäften versteht, um zu erkennen, wo sich Gewinne und wo Verluste machen lassen. Und Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen, als Ihr damals meine Expedition finanziertet. Einen Dienst, dessen Größe Ihr selbst nicht erkennen könnt. Dafür sollt Ihr gebührend entlohnt werden. Doch zunächst entfernt Euch. Ich befahl, dass keiner meiner Diener mich hier stören soll und auch Ihr zählt nun zu diesen Dienern.“
„Jawohl, Gebieter!“ Eilig erhob der Kaufmann sich, als Fadwa plötzlich auf ihn zusprang, einen Dolch in der Hand.
Ein leichtes Zucken mit seinem Stab und der Dolch flog auf Zuben zu. „Wagt es nicht, die Hände wider meine Diener zu erheben! Und du, geh endlich!“
Eilig und mit noch immer vom Schreck gezeichnetem Gesicht verschwand Süleyman über die Treppe, die zum Palast hinabführte.
„Jetzt gibt es also nur noch uns drei, Zuben!“ Sinan lächelte.
Auch Zubens Lippen kräuselten sich. „Dies werde ich nun ändern.“ Mit diesen Worten hob er seinen Stab. Er hatte genug. Viel zu lange schon hatte dieser störrische Kerl seine Zeit in Anspruch genommen. Nun würde er es schnell zuende bringen. Vor ihm lagen noch wichtigere Dinge.
Ein Blitz aus seinem Stab verfehlte Sinan knapp und sprengte eine der Zinnen in die Luft. Zuben spürte, wie das Holz in seiner Hand bedrohlich zitterte. Er musste sich vorsehen. In der Nähe des Kristalls durfte er es mit seiner Magie nicht übertreiben. Plötzlich nahm er eine Bewegung im Augenwinkel wahr und wandte ruckartig den Kopf. Der Prinz hatte die Gunst der Stunde genutzt und war losgerannt. Eine einfache Bewegung seiner Hand ließ das Kind jedoch zu Boden stürzen, wobei es versuchte, sich an dem großen Kristall abzustützen.
Entsetzt riss Zuben die Augen auf. Er hatte den Kristall berührt! Wer eines der beiden heiligen Artefakte berührte, dem konnte das andere nichts mehr anhaben. Doch sofort fing der Schwarzmagier sich wieder. Es bedeutete nichts. Er würde den Prinzen eben ohne seinen Stab umbringen müssen. Mit einer knappen Handbewegung warf er auch die anstürmende Fadwa von den Füßen, dann richtete er den Stab wieder auf das Kind. Er würde es festhalten und am Wegrennen hindern. Dann würde er sich rasch um diese beiden Narren kümmern, die es anscheinend so sehr danach verlangte, den Tod zu finden.
Als Zuben seinen Zauber aussprach, half Sinan dem Jungen gerade auf die Beine. Mit der gesunden Hand riss der Assassine den Prinzen zur Seite. Ein violettes Licht blitzte auf, als der Zauber den Kristall traf. Zu spät erkannte Zuben, was geschah.
Im nächsten Moment war er unfähig, sich zu bewegen, gefesselt durch den eigenen, zurückgeworfenen Fluch. Geistesgegenwärtig begann er sofort, innerlich die Formel für die Auflösung des Banns zu rezitieren und seine Kräfte zu bündeln. Doch er wusste, dass es zu lange dauern würde.
Und tatsächlich konnte er nur tatenlos zusehen, wie Sinan der Frau aufhalf, das Kind auf den Arm nahmen und sie gemeinsam von der Aussichtsplattform flohen.
Als sein magisches Gefängnis dann endlich unter seinen stummen Beschwörungen zerbarst, rannte er ihnen hinterher. Am Beginn der langen Treppe, die zum Palast hinabführte, hielt er inne. Sie waren nicht mehr zu sehen. Dann rannte er abermals, wenngleich er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte.
Nachdenklich betrachtete Sinan seine zerstörte Hand. Er hatte keinen Zweifel, sie würde nicht verheilen.
Eine zweite, wesentlich zartere Hand schloss sich sanft um seine und er spürte die Wärme eines Körpers, der sich an seinen presste.
„Er schläft“, sagte Fadwa, das Gesicht auf den kleinen See gerichtet.
Sinan nickte nur. Auch er schaute auf die spiegelglatte Oberfläche des Wassers, das dort vor ihnen lag, ebenso so schwarz wie der Nachthimmel selbst. Sie befanden sich in einer kleinen, verlassenen Oase vor Bakaresh. Hier waren sie sicher – vorerst.
„Was nun?“, fragte Fadwa nach einer Weile. Sinan fiel auf, dass sie noch immer seine Hand hielt.
„Nun? Nun hat Zuben gewonnen. Die Bewohner Bakareshs feiern ihn als ihren Befreier. Nach Abdülhamecids Tod und mit Süleymans Einfluss wird es ihm leicht fallen, Mora Sul an sich zu reißen. Und dann wird er die Emire unter seine Herrschaft zwingen oder vernichten.“
„Das meinte ich nicht und das weißt du.“
Sinan zuckte mit den Schultern. „Ich werde ihn mit mir nehmen. Es findet sich sicher eine Familie, die ihn aufnimmt.“
„Sinan, Zuben wird in spätestens einem Monat ganz Varant kontrollieren. Und er wird alles daran setzen, dieses Kind in die Finger zu bekommen. Es in irgendeinem Dorf abzusetzen, wäre sein Todesurteil.“
„Dann geben wir es eben dem nächsten Nomadenklan, der hier vorbeikommt“, sagte der Assassine unwirsch.
„Die Nomaden nehmen nicht einfach irgendwelche Waisenkinder auf. Sie würden ihn in der Wüste verhungern oder als Futter für die Sandcrawler enden lassen.“
Sinan wandte den Kopf und schaute in ihr Gesicht. Ausnahmsweise erregte ihn dieser Anblick nicht, löste nicht das Verlangen in ihm aus, ihr auf der Stelle die Kleider vom Leibe zu reißen. Stattdessen stellte er überrascht fest, wie schön sie war. Nicht einfach attraktiv, nein, tatsächlich schön.
Er seufzte. „Du hast ja Recht. Also gut, ich werde ihn erst mal mit mir nehmen, bis ich einen passenden Platz gefunden habe.“
Sie zog die Brauen hoch. Es war nicht das spöttische Erstaunen, das diese Geste sonst ausdrückte. Ein leichter Anflug von Bewunderung schwang in ihrer Miene mit. „Du willst ihn beschützen? Damit?“ Sie strich über seine Hand.
Sinan wusste, dass sie Recht hatte. Er würde nie mehr eine Waffe führen können. Aber er hatte keine Wahl. „Einer muss es tun“, entgegnete er und verspürte ein unangenehmes Kratzen im Hals. Er räusperte sich.
„Dann werde ich es tun.“
„Nein.“ Energisch schüttelte der Assassine den Kopf. „Das ist Unsinn, das weißt du.“
„Wieso ist es Unsinn? Dir ist es damals nicht gelungen, mich zu töten und allen anderen, die es bisher versuchten, auch nicht.“
„Ich zweifle nicht daran, dass du ihn beschützen kannst. Aber dieser Junge hat gerade seine Eltern verloren und – nimm es mir nicht übel – du bist kein Ersatz für sie.“
„Für einen dekadenten Esel und eine machtgierige Schlange? Ich bin nicht unbedingt die ideale Mutter, das mag sein, aber das ist dieses Kind gewohnt.“
Sinan schwieg. Eine Weile blickte er stumm in diese großen, fast schwarzen Augen. „Fadwa“, begann er dann. „Es kann nicht einfach darum gehen, den Jungen zu beschützen. Sicher, für den Kampf gegen Zuben wird er ein Symbol sein, aber wenn wir ihm nur deshalb helfen, zu überleben, sind wir nicht besser als Zuben. Er ist ein Mensch, nicht einfach ein politisches Mittel. Und ja, vielleicht ist er schlechte Eltern gewohnt, aber das darf keine Ausrede sein. Man muss nicht an jeder Gewohnheit festhalten.“
Fadwa senkte den Kopf und nickte. „Du hast ja Recht“, pflichtete sie ihm bei, ohne ihm in die Augen zu sehen. „Aber es wird schwer sein, gute Eltern für ihn zu finden, die ihn gleichzeitig schützen können. Und wenn Zuben ihn findet, hat er wenig davon, dass seine Eltern gut mit Kindern umgehen können.“
„Das stimmt.“ Einen Moment schwieg er, dann sagte er: „Dann müssen wir es eben versuchen. Er hat niemanden sonst. Wir können ihn angemessen schützen, den Rest können wir lernen. Auch der Umgang mit einem Kind ist etwas, dass man trainieren kann.“
„Wir?“, fragte Fadwa und hob den Kopf.
„Na ja.“ Sinan lächelte. „Meinst du nicht, zu zweit wird beides einfacher – auf das Kind aufpassen und sich um das Kind kümmern? Außerdem könnte ich etwas Hilfe durchaus gebrauchen.“ Mit einem Grinsen hob er seine Hand vor ihr Gesicht. „Ich bin grad nicht ganz in Form.“
Auch ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Also gut“, sagte sie nach kurzem Zögern. „Ich könnte mir schlimmeres vorstellen, als eine Weile mit dir durch das Land zu ziehen.“ Für einen Moment schaute sie ihm ins Gesicht, dann setzte sie hastig hinzu: „Aber nur damit das klar ist: Das heißt nicht, dass wir jetzt… Wir hüten dieses Kind und schlafen miteinander, aber das bedeutet nicht… Also du weißt schon.“
„Was immer du sagst, Habiba“, lachte Sinan und legte ihr eine Hand auf den Hinterkopf. Er genoss das Gefühl ihres Haars, das seine Finger umspielte. Sanft zog er sie zu sich heran und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Sie erwiderte ihn und schlang die Arme um seinen Hals. Langsam sanken sie zusammen in das weiche Gras. Und Sinan wusste, dass sie dieses Mal auch am kommenden Morgen noch bei ihm sein würde.
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