Banner im Wind

Eine vermeintlich menschliche, lichte Schlange von schemenhaften Gestalten bahnte sich im Takt unhörbarer und zugleich doch ohrenbetäubender Peitschenknalle einen Weg durch dichten Wald. Das dichte Blätterdach, welches von den unterschiedlichsten Bäumen zusammengesetzt war, vermochte nur an wenigen Stellen, hier und da, die wärmenden, erhellenden Sonnenstrahlen hindurch auf die zum Boden gesenkten, noch immer in Schatten gesäumten Häupter unzähliger, aus unsichtbarer Hand angetriebener, nun auszumachender Männer, treten. Die Kühle spendenden, Verstohlenheit heuchelnden Schatten des Waldes, welche nahezu jedem Jüngling, gar jeder Magd und gar jedem fremdem Wanderer ein mulmiges Gefühl in die Magengegend zauberte, hatten zumindest für Augenblicke, Lidschläge und Sekunden, die dem rastlos wirkenden, ausgemergelten, sich durch den Wald über einen einfachen Waldweg schlängelnden Tross’ wie marternde, quälende Ewigkeiten erschienen, jedwede Schrecklichkeit, jedwede Mystik genommen. Ein kräftiger, winzige salzige Partikel auf den rauen, teilweise aufgeplatzten Lippen hinterlassender Wind versuchte schon seit Minuten, nein Stunden sein Glück im Sturm auf die massiven, standhaften, die verschiedensten Witterungen überstehenden Baumstämme. Ein einigermaßen starkes, die Geräuschkulisse der Umgebung, neben trist erscheinendem Gesang einiger Singvögel sowie Rascheln des ein oder anderen Strauches, erfüllendes Rauschen der satt-grünen Blätter erfüllte somit die Ohren der unzähligen, aus den Schatten des Waldes in die Helligkeit der strahlenden Küste tretenden Männer.
An ihrer Spitze ein blonder, von ungepflegtem Stoppelbart geprägter, großgewachsener Mann, den Kopf als einer unter wenigen auf das blaue Meer, den winzigen, als Horizont auszumachenden Streifen, der den ebenso blauen, von mehreren Wolken bedeckten Himmel, zu trennen vermochte, gerichtet. Am Leib ein zerfetzter, an den Schößen zerissener Waffenrock, dem man nur mit Mühe ein rot-weißes Schachbrettmuster zuzuordnen vermochte, in der Hand, zur Linken geschultert, ein ebenso verschlissenes wie verdrecktes Banner, welches von der starken Brise kaum beeindruckt, wie die Männer niedergeschlagen schien, im Gesicht und auf den anderen, offenliegenden Hautpartien, flächendeckende Schürfwunden sowie Kratzer, hässliche Schnittwunden, tief-blaue Blutergüsse, im allgemeinen unschöne Anzeichen von Gewaltanwendung. Und über alle dem? Blut. Wenn sich die zähe, dunkelrote Flüssigkeit nicht in vermeintlich warmen Strömen aus Einschlägen oder Wunden über unbeeindruckte Arme, Beine oder gar das Gesicht ergoss, dann benetzte es bereits, zu einer harten, kratzenden Kruste verkommen, die von Schmutz und Dreck bedeckte, von Funkenschlag mit Rissen versehene, fahle Haut. Auch Waffenrock, Scheide und Stiefel befleckt mit dem, zu nüchterner Sterblichkeit verdammenden, Blut zeugten von nicht nur einem, vermeintlich ehemaligem Besitzer – Der rote, in hoffnungslosem Schritt entlang der majestätischen Klippen der Küsten einhergehende Tross, untergraben in angeborenem marschierendem Schritt, geschlagen und vernichtet, in Schuld und Versagen, Verderben und nicht erfüllten Erwartungen, in Knechtschaft getränkt. Schlaff hingen die Glieder, überschattet von sattem Rot, an den Seiten, sofern jene überhaupt noch, Grausamkeit oder einfach nur Feldscheren zum Opfer gefallen, vorhanden waren. Über Stirn, um Oberarm oder Oberschenkel dünne, von Eiter oder der anderen bekannten Flüssigkeit durchwirkte Bandagen, hinkende, teilweise sogar noch unverbundene Beine und aufgeschlitzte, in den Darmtrakt unweigerlich Einblicke gewährende, Bauchdecken – Dinge, die von Schmerzen, von Qualen ... von einem verlorenen Scharmützel, einem verlorenen Krieg erzählten.

Während Wellen und Wogen schäumend gegen die Klippen brandeten und an deren Standfestigkeit zerschellten, erhob der Blondschopf, welcher den niedergeschlagenen Tross anzuführen schien, seinen Kopf, ließ seinen Blick aufmerksam, jedoch mit nichtssagendem Gesichtsausdruck über die Umgebung schweifen – einige Meeresvögel, welche sich nahe den Klippen eingenistet hatten, weit zur Linken der gerade eben verlassene, dunkle Wald, in einiger Entfernung Bauernhöfe ... Rauchsäulen in den Himmel entlassende, brennende Bauernhöfe. Ein leises, kaum zu vernehmendes, deutlich erschöpftes Seufzen war die einzige Reaktion, die der, vielleicht knapp dreißigjährige Mann, überhaupt hatte von sich geben können. Sein Mundraum war ausgetrocknet, sein Rachen und seine Lunge von tagelang vernommenem Rauch kratzig geworden, sein Magen vollkommen leer. Entbehrungen hatten die letzten Tage Marsch neben den üblichen Schmerzen, neben Vorwürfen und hoffnungslosen Gedanken geprägt, die ohnehin zermarterten Gemüter der verbliebenen Männer so weit zerrüttet, dass sie völlig fanatisiert oder verzweifelt im Dickicht der Vegetation verschwanden, sich vom Feind von Schmerzen und Qualen erlösen ließen. Erlösung? Erlösung war nur eine Vorstellung dessen, was sie, die grünhäutigen, pelzigen, stinkenden Feinde mit einem anzustellen vermochte, wenn man ihnen - aus welchen Gründen auch immer - in die Arme lief. Der einzige Grund, der ihn, den blonden, hünenhaften Mann nicht ebenso in Verzweiflung und Trauer abrutschen ließ wie manch anderer ... Er wollte sich, nach all dem, was er erlebt hatte, vor allem aber jene, die sehnsüchtig auf Ehemann, auf Vater oder auf Bruder warteten, nicht aufgeben, selbst wenn er keine Herzlichkeit, keine Familie mehr kannte. Rastlos, getrieben von einer Peitsche, von einem unsichtbaren, antreibenden Kriegsherren bahnten sich die Männer nach und nach einen Weg, vorbei an den niedergebrannten Bauernhöfen, an überfallenen Karren und ausgelöschten oder abgebrochenen Lagern, auf eine saftige, im klebrigen Tau des Morgens hell glänzende Erhebung, den Blick – wenn auch nur für einen Moment – nach vorne, auf die mächtigen, triumphierend scheinenden Schatten gerichtet.

Triumph? Nein, es war kein Triumph, kein Sieg, keine Erlösung von Schmerzen und Entbehrung. Was die müden, keinerlei Tränen mehr fassenden Augen der erschöpften, verwundeten, aufgelösten Einheit erblickten, war ein brennendes, belagertes Symbol von Freiheit und Trotz, von Widerstand und Menschheit, ein belagertes Vengard ... ein belagertes Vengard. Brennende Hütten, einstürzende Türme, unbesetzte Mauern, vermeintlich herauszuhörende, vor Angst kreischende Kinder, Frauen und Männer, Hass und Verderben – Krieg. Plötzlich, eine im Sonnenlicht unsäglich hell glänzende Perle, die ihre Bestimmung auf einem der blutverkrusteten Stiefel fand – eine letzte Tränen jenen Mannes, der das Banner der Menschen voll Zorn und Wut, Verzweiflung und Hass in den weichen, nachgebenden Untergrund bohrte, dem zerfetzten Stoff, umsäumt von der starken Brise des Meeres, die Fähigkeit zurückgab, im Wind zu flattern.

Zeit verging, Ewigkeiten blieben ...

Karger, von Kriegsmaschinerie geschliffener Stein, Rasseln von Ketten, Flehen und Jammern, Schatten von Orks, welche triumphierend über geknechtete Menschen, zu neuen unwirtlichen, unmenschlichen Arbeiten „anspornten“. Inmitten derer ein blonder, fast vollkommen entblößter Mann, den Kopf als einziger trotzend erhoben, auf eine Erhebung gerichtet, um ein – an dieser Stelle nicht existierendes – geflicktes, im Wind flackerndes Banner zu erblicken, Hoffnung zu schöpfen, Widerstand zu errichten und den Glauben an die Menschen bis zu dem Zeitpunkt zu wahren, an dem Familien abermals vereinsamen, Witwen, Waisen und traurige Geschwister nur zu einem Zweck aus der Asche eines ganzen Volkes geboren werden würden ... Sich aufzurichten und die Ketten der Knechtschaft zu sprengen ...

... wenn die Banner im Wind flackern.