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Nun war es soweit. Die kleine Gruppe Innosdiener stand auf den Tempelvorplatz und überprüfte nocheinmal die Ausrüstung. Viel Zeit würde ins Land streichen bis Lopadas wieder nach Vengard zurückkehren würde. Er hatte jetzt schon irgendwie das Verlangen einfach hier zu bleiben und die Bücher Bücher sein zu lassen. Doch wusste er, dass der Orden auf die Bibliothek und damit auf die Vollzähligkeit der Bücher angewiesen war und er hatte Shaheen versprochen mit ihr zu gehen.
"Hast du die Liste mit den Büchern dabei?", fragte er seine Begleiterin, die als Anwort kurz nickte.
Der Priester schaute ebenfalls nocheinmal in seinem Rucksack nach, ob er alles dabei hatte, was er für eine solche Reise benötigte. Aber eigentlich konnte er es schlecht einschätzen, da er nicht wusste wie lange sie unterwegs sein würden. Wahrscheinlich mussten sie sowieso irgendwo irgendetwas besorgen, um die Reise fortsetzen zu können. Deswegen hatte der Barbier schweren Herzens auch etwas Gold aus seiner Truhe mitgenommen. Er mochte es überhaupt nicht, wenn seine Ersparnisse weniger wurden, aber es war immer noch besser als am Ende irgendwo zu verhungern.
Sein Gepäck war vollständig und alle anderen Vorbereitungen waren getroffen. Parlan und Gorax würden den Orden in seiner Abwesenheit sicherlich gut leiten. Wahrscheinlich waren, wenn der Schriftgelehrte wieder kam, die Novizen wesentlich diziplinierter als jetzt. Schließlich bekam er von Parlan oft gesagt, dass er die Niederrängigen nicht ordentlich erziehen würde.
"Wenn alles fertig ist, können wir ja losgehen.", sagte der Priester und setzte sich in Bewegung.
Die ersten Schritte waren noch schwer, doch als er die Pforte des Tempelviertels und kurz darauf das Stadttor hinter sich gelassen hatte, wurden die Schritte leichter, denn jetzt wurde ihm bewusst, dass er wirklich eine neue Reise angetreten hatte.
"Unser erstes Ziel ist das Kloster in Nordmar. Ich hoffe, dass wir gut durch Nordmar durchkommen, auch zu dieser Jahreszeit ist dieses Land nicht sehr einladend."
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Über den Dächern muss die Freiheit so grenzenlos sein. Stimmt, bis auf die weltliche Restriktion, welche selbst den beflügeltsten Ganoven immer wieder gen Erde zog. Und doch waren Candaals Sprünge von einer Anmutigkeit, welche daran zweifeln liess, dass sein Körper denselben Regeln der Natur unterworfen war wie jene der übrigen Gefangenen. Sofort hatte er eine Mauer erklommen und schon nachdem er sich auf das gegenüberliegende Häuserdach gehangelt hatte, war er ausserhalb der Sichtweite der rumwuselnden Gestalten gewesen. Seine Füsse trugen ihn über Holzdächer und Ziegel immer in Richtung des Meeres.
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Sich mit einem weißen Handtuch die blutigen Hände abwischend stapfte Grimbar in die Küche des Tempels und sah sich suchend um.
"Ich brauche mindestens einen der mir hilft. Es gibt frisches Fleisch und noch eine andere Aufgabe.", rief Grimbar und nach kurzem Umsehen aller Beteiligten wurden zwei Anwärter vorgeschoben. Zufrieden nahm der Novize sie mit und erklärte ihnen kurz die Aufgabe. Zu dritt standen sie um den blutigen Platz der Ausweidung.
"So, dieser Beutel mit den nützlichen Resten vom Tier muss zu Thara ben Nathan gebracht werden, das Fleisch muss alles in die Küche und auch sofort verarbeitet werden. Schließlich werdet ihr noch alles hier auf Hochglanz bringen, wie sieht das denn aus, im Viertel des Gottes einen so blutbesudelten Platz stehen zu lassen. Wir sind ja keine Orks. Also! Macht euch an die Arbeit.", meinte Grimbar und klopfte den beiden Jünglingen lachend auf die Schulter. Dann ließ er sie mit ihren Aufgaben allein und machte sich auf den Weg seinen zweiten Schüler zu treffen. Auch er würde heute seine Ausbildung beenden.
Es dauerte nicht lange und der Novize kam an dem Schützenplatz an, wo Thorwyn fleißig wie eh und je übte. Freudig unterbrach er den angehenden Soldaten.
"Für Innos, Thorwyn. Ich bin immer wieder erfreut dich so diszipliniert üben zu sehen."
"Vielen Dank, Meister.", antwortete der hagere Mann und unterbrach sein Training.
"Und ich denke du solltest genug geübt haben, um dich zu beweisen. Ich habe dir alles gezeigt was du wissen musst um dich mit Fug und Recht als Schützen zu bezeichnen. Und ich denke ebenfalls, dass du es schaffen wirst. Also hör zu.", begann Grimbar und erläuterte seinem Schüler die Aufgabe.
Glücklicherweise war der Übungsplatz fast wie leergefegt, sodass sie ganze drei Ziele zur Verfügung hatten. Die Aufgabe Thorwyns war es nun alle drei Ziele zu treffen. Und zwar zuerst aus kurzer, dann aus mittlerer und zuletzt aus für den Bogen maximaler Entfernung. Grimbar nahm ein paar Schritte Abstand und wartete gespannt auf die Leistung seines Schülers. Er war zuversichtlich, dass er trotz der verschiedenen Winkel, was neu für den Jungschützen war, treffen würde. Er hatte lang genug geübt.
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Nervös nickte Thorwyn zu den Anweisungen seines Lehrmeisters und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während er die Scheiben musterte, die Grimbar als Ziele ausgewählt hatte. Der Anwärter wusste, dass er inzwischen ein brauchbarer Schütze war, aber nichtsdestotrotz erfasste ihn einmal mehr große Nervosität angesichts der offiziell wirkenden und dadurch unbequemen Situation.
Er betrachtete seine rechte Hand, die an ihm herunterhing. Sie zitterte. Der Jäger schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Kein Grund zur Panik, er konnte es doch. Betont langsam ging er in Position und überprüfte noch einmal den Bogen und die Pfeile, die er verwenden wollte, während er versuchte, sich zu beruhigen. Eingehend betrachtete er die Ziele, spürte Grimbars prüfenden Blick auf sich ruhen. Am besten fing er mit dem am nächsten stehenden Ziel an. Er wischte sich noch einmal die schweißnasse Hand an der Hose ab und konzentrierte sich auf die Scheibe, versuchte, alles andere um ihn herum auszublenden.
Thorwyn hob den Bogen und legte den Pfeil an die Sehne, wie er es schon so oft getan hatte. Das Ziel erschien ihm so nahe … plötzlich ließ er los und ließ das Geschoss von der Sehne schnellen. Fast genau in der Mitte schlug der Pfeil ein und blieb zitternd stecken. Sofort fuhr der Anwärter fort, um sich nicht aus dem Rhythmus bringen zu lassen. Schon hatte er den zweiten Pfeil angelegt und zielte. Der Schuss auf diese Scheibe war schon eine wesentlich größere Herausforderung, aber dennoch zu bewältigen. Ruhig atmend wartete Thorwyn den richtigen Moment ab. Und schoss. Wieder war der Pfeil gut gezielt und der Jäger hörte den trockenen Ton des Aufschlags.
Sofort nahm er das nächste Geschoss zur Hand, versuchte, nicht über die große Entfernung nachzudenken, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er brauchte jetzt absolute Konzentration. Schnell ließ er seine Gedanken ein wenig abschweifen, während er den Pfeil ausrichtete, dachte über andere Dinge nach. Das Brot war gut gewesen heute morgen … ob es am nächsten Tag noch mehr davon geben würde? Vielleicht konnte er … Die Sehne schnellte zurück und der Pfeil sauste durch die Luft. Er musste eine weite Strecke zurücklegen, bis zur äußersten Reichweite des Bogens. In Sekundenschnelle überbrückte das Geschoss die Distanz, näherte sich dem Ziel – und traf. Zwischen der Mitte und dem Rand der Scheibe schlug der Pfeil ein, mit weit weniger Schwung als seine Vorgänger, doch stark genug, um noch steckenzubleiben.
Erleichtert schickte Thorwyn ein Stoßgebet zu Innos und wandte sich zu Grimbar um. Er schwitzte am ganzen Körper vor Aufregung, aber irgendwie hatte er es geschafft.
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Schnell, sauber und treffsicher. Eine schöne Leistung hatte Thorwyn erbracht, alle Schüsse saßen. Mit einem zufriedenen aber keinesfalls überraschten Grinsen applaudierte er seinem nun Ex-Schüler. Er hatte es geschafft sich alles zu behalten und genug geübt, er konnte ihn nun guten Gewissens in die Schützenregimenter des Königs entlassen, denn sein Pfeil würde zumindest den Freund verfehlen. In der Schlacht war dies schon einmal ein Vorteil.
"Nicht schlecht, Thorwyn, nicht schlecht. Du hast nun alles gelernt, dass heißt mein Weg endet hier. Ich freue mich, dich kennen gelernt zu haben und würde mich auch freuen, dich weiterhin zu kennen. Also nutze deine neuen Fähigkeit, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Und mach mir keine Schande.", meinte Grimbar und reichte dem sichtlich erleichterten Schützen die Hand.
"Solltest du jemals noch etwas über die Kunst des Bogenschießen wissen wollen oder auch andere Probleme haben, ich werde immer ein offenes Ohr für dich haben. Und falls du dir jemals überlegst selbst einen Bogen oder Zubehör zu kaufen kann ich dir auch jemanden empfehlen. Ansonsten trennen sich hier unsere Wege. Für Innos, Thorwyn und machs gut."
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Grinsend drückte Thorwyn dem Hünen die Hand und versuchte, ihm zuzuhören, während innerliche Jubelrufe seinen Kopf füllten.
„… Und falls du dir jemals überlegst selbst einen Bogen oder Zubehör zu kaufen …“
Das konnte in der Tat nützlich sein. Vorerst konnte er wohl den Bogen aus der Waffenkammer verwenden, aber der hatte nicht die beste Qualität. Dasselbe galt für die Pfeile, für die er nicht einmal einen Köcher hatte.
„Der Bogenbauer … Wo finde ich ihn?“, fragte der Anwärter daher schnell, bevor Grimbar sich auf den Weg machte, und bekam den Weg ins Hafenviertel gewiesen. Thara ben Nathan hieß der Mann, an den er sich wenden sollte. Dankbar nickte Thorwyn und verabschiedete sich. „Vielen Dank für alles. Ich … Ich hoffe auch, wir, ähm, wir sehen uns wieder. Bei Gelegenheit,“ brachte er unsicher heraus.
Nach diesen Worten eilte sein Lehrmeister davon und der Jäger atmete tief durch. Mit dieser bestandenen Prüfung war er schon ein gutes Stück weitergekommen – auch wenn er nicht wusste, welchem Ziel er sich überhaupt näherte. Er betrachtete den sich verdunkelnden Himmel. Die Tage wurden länger, aber dennoch war es schon spät und Thorwyn beschloss, sich für heute auszuruhen. Weiterem Training konnte er sich wieder am nächsten Tag widmen, und auch die Bekanntschaft mit dem Bogenbauer hatte keine Eile. Also lenkte er seine Schritte hin zu seiner Unterkunft, dabei zufrieden vor sich hin summend.
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Dem Glatzkopf wurde es erst jetzt bewusst: Er war nun das dritte Mal in seinem Leben aus einem Gefängnis ausgebrochen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schüttelte er den Kopf. Einst schwor er sich, den Dieb und die ganzen anderen korrupten Tuereien hinter sich zu lassen. Jedoch schien es ganz einfach in seinem Leben so fundiert worden zu sein. Er würde nie den korrupten Glatzkopf in sich besiegen. Im Grunde wollte er dies auch gar nicht mehr sondern seinen Nutzen daraus ziehen.
Der Gardist erreichte eine Nebengasse, in der er sich zunächst von der Gewandung mit dem Symbol der Stadtwache herunter zog. Diese warf er bei nächster Gelegenheit über eine Wäscheleine, die zwischen zwei Häuser in einer kurzen Nische gespannt war. Den Helm feuerte er über einen Zaun. Während er sich auf den Weg zum Armutsviertel machte, zog er das Kurzschwert der Wache aus dem Keller des Gefängnisses von Vengard. Ihm war es stets wichtig, eine vernünftige Klinge bei sich zu tragen. Wenn er eine stahl, musste sie in der Verfassung sein, die seinen Wünschen entsprach.
Und diese schaute ganz und gar nicht gut aus. Die Klinge wurde ungleichmäßig geschliffen, und er spürte ungefähr hundert Gramm zu viel Gewicht im Griff. Diese Tatsache würde jeden Kampf sehr unbequem machen.
Gerade erreichte Rethus eine gesuchte Gasse, da stach er das Schwert in die Holzfassade eines verlassenen Hauses. Und schon drei Häuser weiter hielt er an, um sein richtiges Schwert aufzusuchen. Wie es sich herausstellte, lag es auch tatsächlich noch dort, wo er es hingeworfen hatte: Hinter ein paar Kisten in einer Häusernische. Man musste stets auf alles vorbereitet sein. Schnell schob er die gute Klinge zurück an ihre Stelle. Schon fühlte sich die eigene Sicherheit viel besser an.
Apropos Sicherheit, wenn sich die Stadtwachen sein Gesicht gemerkt hatten, wäre dies von größtem Schaden für Rethus. Schließlich waren die Männer, die ihn im Gefängnis bewachten, auch nur die Männer, die im Kampf neben ihm stehen würden. Seltsamer Gedanke…
…
Moment… er war nicht allein in der unbewohnten Gasse. Sein Kriegerherz pochte alarmierend. Ein metallisches Geräusch, das die Luft zerschnitt, erklang unmittelbar hinter ihm. Seine komplette Aufmerksamkeit auf diesen Angriff gerichtet, zog er blitzschnell sein Langschwert und parierte das Schwert seines Attentäters. Durch eine zügige Kreisbewegung entwaffnete er den Typen schnell. Dann hielt er sein Langschwert unter die Nase des halbvermummten Mannes, der sofort seine Arme hob.
„Was haben wir denn da?“ bemerkte Rethus mit seiner tiefen Stimme. „Einen Mörder?“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Och, nicht doch. Für wen arbeitest du?“
„Glaub… glaub… glaubst du, ich würde dir das verraten“, stammelte der Fremde mit tiefer Angst in den Augen.
„Wenn ich dich dafür am Leben lasse schon“, meinte der Glatzkopf.
„Du würdest es eh nicht tun…“
„Bist du Kopfgeldjäger?“
„...nein, ich bin unwichtig…“
„Bist du Söldner, Assassine?“
„…du würdest mich töten, wenn du wüsstest, für wen ich arbeite.“
„Dann ist es doch egal. Nenn mir den Namen und ich töte dich. Nenn ihn mir nicht, dann töte ich dich auch.“
„Dann nenne ich den Namen nicht.“
Rethus grinste. „Wie kann dir der Typ im Tod noch wichtig sein? Komm schon, solltest du ihn mir nicht sagen, wird dein Tod sehr schmerzhaft. Ich fange mit dem rechten Ohr an.“ Der Glatzkopf fuhr über jenes Ohr. „Dann deine Nase.“ Langsam bewegte sich die Schwertspitze quer übers Gesicht des Mannes. „Und ein Auge.“ Er hielt zwischen den beiden angsterfüllten Kugeln.
„Ne… Nein, ich sage nicht…“
Rethus fuhr mit der Schwertspitze über die Wange des Mannes, sodass er leicht dort einen Schnitt einfuhr. Blut floss die Wange hinab. „Ach komm schon. Schlimmer als einer aus Al Shedim oder ein Ork kann es schlecht sein. Mit Ortega würde ich es übrigens auch aufnehmen.“
Der Typ zuckte zusammen.
„Aha, scheinbar habe ich dich entlarvt.“ Der Glatzkopf lächelte sein finsterstes Grinsen. „Wo ist er?“
„Ich weiß es nicht. Aber du kannst seinen Standort durch die Rebellen erfahren.“
„Di e Rebellen?“ Moment, er meinte doch nicht… „Nun gut, du hast Recht. Dass du für diesen Räuber arbeitest, ist tatsächlich ein Grund, dich umzubringen.“
„Nein… Nein!“ wimmerte der Bandit. „Männer!“
Wie aus dem Nichts kamen plötzlich einige Männer aus der Richtung, wo Rethus hergekommen war, angerannt. Der Gardist erschrak kurz. Doch dann stieß er die komplette Klinge in den Brustkorb seines Gegenübers.
Sofort packte er das Schwert zurück in den Gürtel und jagte durch die Gasse. Den Ausweg aus dieser schwierigen Situation kannte er zum Glück: Der Hafen. Nur zwei Biegungen würden ihm vor dem Wasser trenne. Danach galt es nur noch, einfach Richtung Südosten schwimmen, um dort irgendwann eine kleine Insel oder später dann die Küste zu erreichen…
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Noch einmal drehte Thorwyn die Hasenfelle in seinen Händen hin und her und betrachtete sie kritisch von allen Seiten. Sie hatten nicht alle die beste Qualität – als er das eine abgezogen hatte, war sein Messer gerade recht stumpf gewesen – waren aber durchweg zu gebrauchen. Er nahm das Bündel in die eine Hand, einen Pfeil in die andere, und machte sich auf den Weg ins Hafenviertel.
Für einen neuen Bogen würde sein Geld jetzt kaum reichen, und sein derzeitiger hatte ja immerhin auch gereicht, um Grimbars Prüfung zu bestehen, aber zumindest einen Köcher wollte er sich besorgen. Zur Zeit verfügte der Anwärter nur über ein loses Bündel Pfeile, was ziemlich unpraktisch war, wenn man auf dem Schießplatz übte oder in der Wildnis unterwegs war, um zu jagen. Also lenkte er seine Schritte aus der Burg hinaus auf den Markt und von dort aus nach Süden, wo, wie sein alter Lehrmeister erzählt hatte, Thara ben Nathan seine Bognerei haben sollte.
Diese war auch nicht schwer zu finden, gut zu erkennen an dem hölzernen Schild, das auf die Straße hinauszeigte und einen Bogen zeigte. Das Gebäude schien jüngeren Baudatums zu sein, das Holz sah noch frisch aus und im Gegensatz zu anderen Häusern in der Nähe wies es auch keinerlei Beschädigungen auf – sonst häufig Nachwirkungen der Flutwelle, die immer noch hier und da sichtbar waren, besonders im Hafenviertel.
Vorsichtig trat Thorwyn ein und sah sich um. Es war niemand zu sehen, aber da der Laden nicht verschlossen war, sollte eigentlich jemand da sein. Absichtlich laut auftretend ging er weiter in den Raum hinein und wartete, unschlüssig ob er sich noch irgendwie bemerkbar machen sollte.
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Thara hörte jemanden in seinem Verkaufsraum auftreten. Er blickte aus seiner Werkstatt und sah einen jungen Mann eine Robe eines Anwärters, der in seinem Verkaufsraum stand. Er hatte einen Bündel Hasenfelle bei sich, die ihm doch etwas mitgenommen, aber brauchbar aussahen.
"Guten Morgen, junger Anwärter!", sprach Thara und trat aus dem kleinen Nebenraum, in dem er arbeitete, "Was darf es für dich sein?"
Einem kurzen Gespräch stellte sich heraus, dass er lediglich einen neuen Köcher für seine Fälle haben wollte.
"Damit seid ihr hier bei mir als Bogner genau richtig. Soll ich euch den Köcher aus euren Hasenfellen machen oder bevorzugt ihr einen aus neuen Fellen?", fragte der Wüstensohn seinen Kunden.
"Sollten sie dazu zu Gebrauchen sein, dann macht ihn bitte aus meinen Fellen.", antwortete ihm der Anwärter.
"Das sollte weiter kein Problem sein, auch wenn dies nicht die besten Hasenfelle sind. Wenn ihr mir den Rest der Hasselfelle überlasst, werde ich euch aus diesen einen haltbaren Köcher schneidern.", bot der Bogner seinem Kunden an.
Der Anwärter, der Thorwyn hieß, wie Thara erfuhr, willigte in sein Angebot ein und übergab ihm die Hasenfelle. Während Thorwyn im Eingangsbereich wartete machte sich der Bogenbauer daran, die Hasenfelle zu einem brauchbaren Köcher zu verarbeiten.
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Er hatte sie einfach allein gelassen. Nicht, dass sie es nicht auch ohne ihn schaffen könnten. Mit ihrer Jahrzehntelangen Erfahrung stellte es ein Kinderspiel da, das sie mit Leichtigkeit meistern würden. Obwohl Gorax bestimmt schon wieder um die Weinvorräten herum schwänzelte. Ein alter Tunichtgut, der lieber aufpassen sollte, dass ihm nicht mal wieder sein Schlüssel für die Vorratskammern abhanden käme.
Doch eigentlich mochte Parlan seinen Ordensbruder. So wie man eben einen Ordensbruder gut leiden kann. Schließlich lebten sie bereits viele Jahre Seite an Seite und hatten schon die seltsamsten Dinge miteinander überstanden. Auch wenn all die Neuankömmlinge der letzten Jahren offenbar viel mehr in viel kürzerer Zeit erlebten. Nun, solange innerhalb der Klostergrenzen oder heutzutage natürlich der Tempelgrenzen alles seine Ordnung hatte und die Arbeit nicht liegen blieb, war für Parlan eigentlich alles in bester Ordnung. Jetzt wo Lopadas weg war, redete ihm zumindest niemand mehr in die Arbeit rein. Außer vielleicht Gorax. Aber den hat er auch schon früher geschafft; ganz ohne diesen Friedensstifter.
Da die meisten Novizen bereits ihren täglichen Aufgaben nachgingen, gab es für Parlan im Moment allerdings nur wenig zu tun. Wie es seine Art war, inspizierte er jeden Winkel des Viertels. Seine Augen waren überall und ihm entging einfach nichts. Würde irgendwo ein Novize faul in der Ecke liegen; er wüsste es. In all den Jahren hatte der Feuermagier einen sechsten Sinn dafür entwickelt und es war nötig, denn immer wieder versuchte sich jemand zu drücken.
Für den Augenblick schien jedoch alles seinen Lauf zu nehmen, weshalb sich Parlan einfach mal die Sonne auf den Pelz scheinen ließ. Mit einer Hand strich er sich durch das schneeweiße Haar. Vielleicht sollte ich Neoras fragen, ob er etwas gegen Haarausfall zusammenbrauen kann, ging dem Feuermagier durch den Kopf. Er bog um die Ecke und kam in die Gasse, an welche das Lazarett angrenzte. Mal gucken, ob die auch den Vorratsraum hinten links aufgeräumt haben, sagte er sich, denn der lag ein wenig versteckt und wurde ausgesprochen gern von den Novizen übersehen. Als sich Parlan zum Haupteingang des Lazaretts begab, fielen ihm plötzlich einige Fässer auf. Normalerweise nicht weiter von Bedeutung, wenn sie nicht gerade auf dem Dach des Lazaretts gestanden hätten. Er grübelte bereits, ob sich da ein paar Novizen einen dummen Scherz erlaubt hätten, als plötzlich etwas zischend durch die Luft eierte. Kurz bevor es zwischen den Fässern verschwand, konnte Parlan noch einen rundlichen Gegenstand erkennen. Seine Augen waren zwar nicht mehr so gut, wie noch vor zwanzig Jahren, aber den folgenden Knall konnte er nicht überhören.
Jetzt passierten allerdings so viele Dinge zugleich, dass Parlan nicht wusste wie ihm geschah. Dieses fliegende Ding musste explodiert sein und das inmitten der Fässer, die wiederum mit einem ohrenbetäubenden Knall sofort zerbarsten. Offenbar hatten sie unter so großem Druck gestanden, dass schon eine kleine Explosion ausgereicht hatte, um ihnen den Rest zu geben. Im nächsten Augenblick spürte Parlan wie eine widerwärtig zähe Masse sein Gesicht traf. Mit viel Mühe wischte er es sich ab und sah wie es schwarz an seinen Händen klebte - und auch alles um ihn herum mit Klecksen davon beschmiert war. Doch das war im Moment sein geringstes Problem.
Parlan gingen die Augen über als er sah, wie das Lazarett in Flammen aufging. Schneller als er Donnerwetter sagen konnte, breitete sich das Feuer über das Dach aus und tropfte buchstäblich an den Wänden herab. Denn das Lazarett selbst war im wahrsten Sinne des Wortes mit dem klebrigen, schwarzen Zeug übertüncht.
»FEUER! FEUER! DAS LAZARETT BRENNT!«, brüllte der alte Feuermagier. Was immer in den Fässern gewesen war, es brannte wie Zunder und die Flammen fraßen das Haus in Windeseile. Kaum hatte Parlan gerufen, stürzten bereits die ersten Menschen aus dem Lazarett heraus und andere aus den restlichen Ecken des Tempelviertels heran. Eine Rauchsäule stieg hoch über dem großen Haus auf und jeder war bemüht, die Flammen zu löschen. Doch Wasser und Magie halfen nicht mehr, als bereits das gesamte Lazarett lichterloh in Flammen stand. Jetzt galt es nur noch, alle zu retten, die sich im Inneren dieser Feuerhölle befanden. Der richtige Zeitpunkt für wagemutige Helden, um sich vor der Welt zu beweisen.
Françoise
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Alles lief bestens. Thorwyn war sich nicht ganz sicher gewesen, ob die Felle reichen würden, doch der Bogner schien keine Bedenken zu haben und hatte sich gleich an die Arbeit gemacht, um die Hasenfelle zu einem Köcher zu verarbeiten, sich dabei an der Länge des von dem Anwärter mitgebrachten Pfeils orientierend. Zufrieden sah der Jäger sich im Laden um und betrachtete durch die Fenster die Straße, während er seinen Gedanken nachhing und schon seinen ersten Jagdausflug mit dem Bogen plante.
Der Frühling hielt Einzug in Myrtana, in Zukunft würde wohl wieder mehr Wild in den Wäldern zu finden sein. Zwar ließen sich Spuren im Schnee wesentlich leichter verfolgen, aber mittlerweile kannte sich Thorwyn in der Umgebung gut genug aus, um auch so Tiere ausfindig machen zu können. Durch die Eroberung Kap Duns hatte sich außerdem das Herrschaftsgebiet König Rhobars ausgedehnt, so dass man nun nicht mehr so viel Angst vor den Orks zu haben brauchte – alles deutete auf gute Bedingungen für einen angehenden Jäger hin.
Aus seinen Gedanken gerissen wurde der Anwärter von Thara, der seine Arbeit abgeschlossen hatte und sie Thorwyn präsentierte. „Vielen Dank“, murmelte er, als er den Köcher entgegennahm, und befühlte das Endergebnis. Der Köcher schien stabil zu sein und war sowohl lang als auch geräumig genug, um seine Pfeile aufzunehmen. „Danke“, wiederholte er. „Und, ähm, auf Wiedersehen. Vielleicht … schaue ich ja noch mal vorbei.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg in die Burg. Vielleicht blieb ihm heute noch genug Zeit, um eine Fährte aufzunehmen und zu verfolgen.
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Schnell rannte eine Gruppe Novizen mit Wassereimern zu dem brennenden Lazaretts. Obwohl sie schon viele Male diesen Weg gelaufen sind und trotzdem wurde das Feuer nicht kleiner, sondern fraß sich immer mehr in den Mauern fest. Selbst einige Magier versuchten das Feuer einzudämmen, da es aber so schnell ausgebrochen war, dass extrem schwierig war dieses wieder einzudämmen.
"Wir müssen darein, es sind sicherlich noch Verletzte drin!", rief einer der Novizen zu seinen Brüdern.
Einige zögerten noch, aber andere stellte sich ihm sofort zur Seite.
"Los gehts.", rief er.
Die Gruppe lief durch die brennende Tür und verteilte sich in den Fluren. Jeder Novize durchsuchte eine der Kammern, um eventuelle Verletzte zu finden. Immer wieder fielen Teile des Lazarettes in den Flur und machte die Suche nach Opfern schwieriger. Dennoch ließen sich die Niederrängigen nicht davon abbringen. Der Wille zu helfen war stark genug, um selbst der Hitze der Flammen zu widerstehen.
Mit einem kräftigen Tritt öffnete einer der Novizen eine Krankenkammer, die geklemmt hatte. Dahinter fand er zwei Patienten, die bewusstlos in ihrem Betten lagen. Schnell rannte er zu diesen und überprüfte die Vitalzeichen. Die beiden schienen noch zu leben, doch würde er es nicht schaffen beide auf einmal zu retten. Schnell entschied er sich für einen der Patienten und hoffte, dass er schnell genug war, um den anderen auch noch zu retten.
Nicht sehr vorsichtig zog der Novize den Patienten aus dem Bett und durch das Zimmer. Als er an der Tür angekommen war, stürmte ein anderer Novize durch den Flur, der am Anfang noch gezögert hatte.
"Einer liegt noch in dem Raum.", rief der Retter hustend.
Unter der glühenden Hitze zog der Novize den Bewusstlosen durch die Flure ins Freie hinaus. Dort begann er sofort damit den Patienten frische Luft in die Lungen zu pusten, da dieser viel Rauch eingeatmet hatte. Kurz darauf kam auch der andere aus dem brennenden Haus.
Ein großer Teil des Lazarettes stürzte mit einem lauten Krachen zusammen und Funken wurden in die Luft gesprüht. Die Hitze breitete sich auch in der Umgebung unerträglich aus. Das Wasser verdampfte sofort als es aus den Eimern gekippt wurde. Hilflos musste der Orden mitanschauen, wie die Krankenquartiere abbrannten.
Lopadas
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„Feuer! Feuer!“, schallte der laute Ruf aus vielen Kehlen durch das Tempelviertel. „Feuer! Das Lazarett brennt!“ Sofort sprang Ribas von seinem Bett auf; das Buch, das er grade eben noch gelesen hatte, fiel ungeachtet zu Boden. Wie konnte das Lazarett Feuer fangen?, fragte er sich, während er aus seiner Tür auf die Straße hastete und dann in Richtung der Krankenstation spurtete. Tatsächlich konnte man schon von weitem eine große Rauchsäule sehen, die in den blauen Himmel stieg und orangen glänzte im malerische Sonnenuntergang im Westen. Es war ein herrlicher Frühlingstag gewesen, den Ribas größtenteils mit dem Studium der Magie an der frischen Luft verbracht hatte. Und jetzt das! Er bog um eine Ecke und sah die Katastrophe vor sich: lichterloh stand das Gebäude in Flammen, das Feuer zog sich an allen Wänden lang und ragte bis hoch in den Himmel. Es war dem Novizen ein Rätsel, wie sich das Feuer so schnell hatte ausbreiten können, ehe es entdeckt worden war. Aber er verwarf diese Gedanken schnell; jetzt ging es erstmal darum, den Schaden so gut wie möglich einzudämmen: gefragt war Geistesgegenwart statt träumendem Nachdenken.
Der Südländer blickte sich grade nach einem Eimer um, um wie seine Brüder zu versuchen mit Wasser das Feuer einzudämmen, als plötzlich jemand rief, dass noch Verletzte in der Station seien. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wenn in dieser Feuerhölle tatsächlich noch kranke Menschen lagen, dann musste sie sie rausholen, komme was wolle. Sofort stellte er sich zu den Freiwilligen, die hineingehen und nach Überlebenden suchen wollten. Bevor sie durch die eh schon abgebrannte Tür liefen, zog Ribas seine Kapuze tief ins Gesicht und hob einen Teil seiner Robe schützend vor Mund und Gesicht, um möglichst wenig von dem Rauch einzuatmen. Denn dieser war äußerst schädlich, das wusste er aus Erfahrung; früher in den engen Gassen von Bakaresh hatte es oft gebrannt. Sie rannten jetzt den langen Flur entlang, wobei sie in jedes Zimmer zu ihren Seiten schauten, ob noch Verletzte darin lagen. Ribas überlies das seinen Brüdern und sprintete weiter, die Treppe hoch, und noch eine Treppe hoch, um im Dachgeschoss zu schauen: ihm war klar, dass sie sich von oben nach unten arbeiten mussten, weil sie oben am wenigsten Zeit hätten, bis alle Wege versperrt wären. Im ersten Stock angekommen zögerte er. Die Treppe hatte es übel erwischt, das Geländer war komplett weggebrochen und auch einige Stufen hatten bereits Feuer gefangen; manche waren bereits so verkohlt, dass sie es bestimmt nicht mehr lange machen würden.
Plötzlich hörte er einen Schrei. Er zuckte zusammen. Er wusste nicht, von wo dieser Schrei gekommen war: von unten? Oder vielleicht doch ein Kranker auf dem Dachgeschoss, der verzeifelt nach Hilfe schrie? Er musste er riskieren. Die Treppe brannte immer mehr und so musste er hochsprinten, um sich nicht zu verbrennen. Eine Stufe, noch eine Stufe, KRACH!
Fast oben angekommen war eine Stufe unter seinen Füßen weggebrochen und hatte noch ein paar der unteren mitgerissen. Nur mit einem Sprung hatte der Novize es geschafft, nicht auch selber hinunter zu stürzen; sein Oberkörper hing jetzt auf der obersten Stufe der Treppe, die noch nicht abgebrochen war. Noch völlig geschockt zog er sich mühsam nach oben, stieß die Tür auf und rollte sich in das Dachgeschoss, wo er einen Moment erschöpft liegen blieb. „Was für eine Scheiße“, war das passendste, was ihm in diesem Moment durch den Kopf schoss und was seine Lage auch nur annähernd beschreiben konnte. Er lag auf dem Boden eines brennenden Dachgeschosses, die Treppe hinunter war weggebrochen und es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis der ganze Dachboden ihr folgen würde. Er saß in der Falle.
Er richtete sich grade langsam auf, als er über sich ein Knacken hörte. Er blickte nach oben und das keinen Moment zu früh; er sah, wie ein großes Stück von einem schweren Dachbalken einen großen Riss bekommen hatte. Noch einen Knacken. Der Riss wurde größer. Jetzt wuchs er unaufhaltsam, das Holzstück bog sich schon ein bisschen Richtung Boden. Wieder reagierte Ribas mit einer Geistesgegenwart, die er sich selber nicht zugetraut hätte und rollte sich zur Seite. KRACH!
Genau dort, wo er vor Sekunden noch gelegen hatte, war das abgebrochene Stück des Dachbalkens eingeschlagen, und es war so schwer, dass es das mitgenommene Holz mühelos durchbrochen hatte; ein riesiges Loch klaffte jetzt in dem Boden, der mehr und mehr Feuer fing.
Schweiß lief ihm die Stirn runter; ob aus Angst oder wegen der Hitze konnte er nicht sagen, aber es war auch egal. Wenn ihm nicht bald etwas einfallen würde, würde er sterben. Auf diesem Dachboden. Mitten in Vengard. Das konnte er nicht. Das durfte er nicht. Entsetzen stand ihm im Gesicht und er begann panisch zu werden, er krabbelte rückwärts. Auf einmal stieß er gegen einen dünnen Pfeiler. Wenn ich schon sterbe, dann wenigstens stolz im Stehen und nicht wie ein Tier auf dem Boden, dachte er sich und wollte sich an dem Pfeiler hochziehen. Dann brach der Boden unter seinen Füßen weg. Mit aller Kraft schaffte er es gerade so sich an dem Pfeiler festzuhalten, im letzten Moment noch schlossen sich die Finger seiner linken Hand stark genug um das Holz, um seinen Sturz abzufangen. Doch jetzt baumelte er hierüber einem Abgrund, gehalten nur von der Kraft seiner rechten Hand. Und lange würde diese Kraft nicht mehr reichen.
Ribas da Cunha schaute nach unten. Unter ihm brannte eine Feuerhölle wie er sie noch nie gesehen hatte: das ganze Stockwerk stand in hohen Flammen. Wenn er fallen würde, würde er sterben. Aber um sich hochzuziehen, reichte seine Kraft nicht mehr. Tränen der Verzweiflung rannen seine Wangen herunter. Er schaute wieder nach oben. Und was er da sah, gab ihm den Rest.
Der Holzbalken, an den er sich so verzweifelt klammerte, fing an zu brennen. Er ganz langsam an der Spitze, dann fraßen sich die Flammen immer weiter, bis sie seine Hand erreichten. Er schrie wie am Spieß, er verlor jeglichen Orientierungssinn, ihm wurde schwindelig vor Schmerzen, er warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann war der Schmerz vorbei.
„Bin ich tot?“, fragte er sich in Gedanken. Langsam öffnete er die Augen. Und er hing noch immer an dem Pfeiler, in dem brennenden Lazarett, wie ein aufgespießtes Schwein über dem Lagerfeuer, bereit gut durchgeröstet zu werden. Und noch immer brannte der Pfeiler samt seiner Hand. Aber er spürte den Schmerz nicht mehr. Langsam erwachte sein Verstand wieder. Wieso spürte er den Schmerz nicht mehr, wenn seine Hand doch noch immer brannte? Er sah genauer hin. Der goldene Ring an seinem Finger spiegelte die Flammen. Und der Rubin, der in den Ring eingelassen war, leuchtete auf einmal in einem blutroten Ton auf. Er schien die Flammen zu verschlingen. Ja, tatsächlich, die Flammen wurden nach und nach in den Ring gezogen, weg von seinen schwarzen verkohlten Fingern. Sie verschwanden einfach so in dem Rubin.
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Magie! Wenn er dann nicht sicherlich abgestürzt wäre, hätte er sich am liebsten mit der Faust ins Gesicht geschlagen. (Nicht mit der verkohlten, mit der er sich festhielt, sondern natürlich mit der freien, unverbrannten; Anm. d. Ribas)
Er war so ein Idiot. Aber er würde später noch Zeit haben sich selbst zu ohrfeigen. Hoffentlich.
Sofort begann er sich zu konzentrieren, etwas, das ihm in dieser Umgebung, halbtot an einem Pfeiler hängend, nicht grade einfach viel. Aber er hatte diesen Zauber schon ein paar Mal geschafft: er würde es auch jetzt schaffen. Sein Herz begann wieder das altbekannte Gefühl der Magie durch seinen Körper strömen zu lassen; ihm wurde noch wärmer, als ihm ohnehin schon war.
Dann verteilte er diese Magie in seinem ganzen Körper. Jeden Winkel ließ er von ihr durchströmen, und es fiel ihm viel leichter als sonst, leichter als unter normalen Bedingungen; vielleicht war es der unbändige Lebenswille, der ihm diese Kraft gab. Oder Innos selbst hatte entschieden, dass die Zeit von Ribas da Cunha noch nicht abgelaufen war. Was auch immer es war, sein Körper pulsierte nur so vor Magie. Dann konzentrierte Ribas sich auf den Zauber. Sein Körper begann in einem blauen schimmrigen Licht zu leuchte: die Luft um ihn herum flackerte und auch sein Körper tat das: es war als würden die Grenzen der Physik, die Grenzen des Raumes aufgehoben. Als ob der Ort gleich aufhören würde zu existieren. Der Körper des Novizen fühlte sich immer leichter und leichter an, als würde er angezogen werden von einem anderen Ort. Während er sich so konzentrierte, merkte er gar nicht, wie seine schwarze, verkohlte Hand, mit der er sich noch immer an den Pfeiler klammerte, langsam immer weiter abrutschte.
Er war so weit. Er konnte den Zauber wirken. Verzweifelt dachte er so stark wie er konnte an den Tempelvorplatz. Dann stürzte das ganze Haus in sich zusammen; die Stützpfeiler vom Dach brachen allesamt weg und stürzten gen Boden und das brennende, in Stücke gerissene Dach selbst, stürzte hinterher. Im gleichen Moment rutschte Ribas Hand endgültig von dem Pfeiler ab und er stürzte in die Tiefe, er stürzte den Flammen entgegen. Aber er würde niemals aufschlagen.
Denn kurz bevor er die Flammen erreichte, entlud sich das blauweiße Licht, das ihn umgab, in einem Blitz und war im Bruchteil einer Sekunde verschwunden: und der Körper, den dieses Licht eben noch umschlossen hatte, war es ebenfalls.
Der Südländer wurde währenddessen durch einen Tunnel aus grellem blauen Licht gezogen und musste sich anstrengen, die Augen nicht zusammen zu kneifen. Immer wieder dachte er verkrampft an den Tempelvorplatz. Er wusste nicht, ob er bereits eine ganze Stunde, eine Woche, einen Monat oder viele Jahre flog, denn in diesem Tunnel schien die Zeit anders zu verlaufen. Oder überhaupt nicht zu laufen. War er vielleicht doch nur eine Sekunde geflogen? Egal wie lange es gedauert hatte, auf einmal wurde der Tunnel immer enger und enger, zog sich weiter zusammen, bis das Licht, das die Grenzen darstellte, Ribas berührte. In diesem Moment gab es einen weiteren Blitz und auf einmal lag er, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Boden vor dem Tempel, nur einige Meter vor der großen Tür. In der Ferne hörte er ein lautes Krachen. Das Lazarett war eingestürzt. „Also war es nichtmal eine Sekunde“, dachte er noch zufrieden, ehe ihm vor Erschöpfung die Augen zufielen.
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»Was für ein unglaubliches Chaos!«, platzte es aus Corristos Mund hervor, als er sich dem Trümmern des Lazaretts gegenüber sah. Und nicht anders hätten es seine Ordensbrüder beschrieben. Denn ein Chaos war es tatsächlich. Das Wie und Warum zu klären stand erst mal hinten an. Auch wenn sich jeder einzelne von ihnen brennend für die Hintergründe interessierte. Brennend; kein besonders glücklich gewählter Begriff in solch einer Lage. Doch dank des Eingreifens vieler helfender Hände, kam niemand bei diesem Inferno ums Leben. Zumindest hatte das erste Abzählen zu diesem erleichternden Ergebnis geführt. Vor Verbrennungen hatten sich allerdings nicht alle schützen können, die den Flammen zu nahe kamen. Im Anbetracht der wesentlich endgültigeren Alternative sollten die Brandwunden jedoch zu verkraften sein.
Jetzt, wo offenbar niemand mehr in unmittelbarer Gefahr schwebte, stellte sich die große Ernüchterung ein. Vom Lazarett blieb nicht mehr als ein riesiger Haufen Schutt und Asche übrig. Das Feuer hatte ganze Arbeit geleistet. Und das ausgerechnet jetzt, wo sie mehr als genug damit zu tun hatten, die Verletzten des Feldzugs nach Kap Dun zu versorgen. Wie gut, dass ein Teil von ihnen in Kap Dun blieb und dort verarztet wird, ging dem Priester durch den Kopf. Eine größere Schwemme von Verletzten, wenn gerade das einzige Lazarett der Stadt in Trümmern lag, konnten sie wirklich nicht gebraucht, geschweige denn verkraften.
Dennoch mussten jetzt weitere Schritte eingeleitet werden. Die aus den Flammen geretteten Verletzten und Kranken konnten nicht unter freiem Himmel genesen. Man müsste sie umquartieren. Doch fragte sich wohin? Die Priester des hohen Rates überlegten gemeinsam, um eine Lösung zu finden. Und kurzerhand entschlossen sie sich dazu, einen Teil der Novizen aus ihren Kammern auszuquartieren. Sie würden mit anderen Novizen und auch mit Adlati zusammenrücken. Zumindest bis eine dauerhafte Lösung des Problems gefunden wurde. Der Rat übertrug Parlan die Aufgabe, den Novizen die Nachricht zu überbringen. Im Umgang mit den niederen Rängen hatte er schon oftmals ein Talent bewiesen. Auch wenn ihn das vielleicht bei dem ein oder anderen Novizen etwas unbeliebt machte. Im Augenblick war aber nicht die Zeit für so was. Es war ein Notfall und da musste jeder helfen. Und wenn es hieß, dass sie dafür ein wenig enger zusammenrücken mussten, dann war es eben so.
Françoise
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„Feuer!“, schallte es durch die Straßen. Verwirrt hob Thorwyn den zuvor auf die vor ihm liegende Straße gerichteten Blick und sah sich um. Menschen deuteten in Richtung des Tempelviertels, über dem sich eine dichte Rauchwolke erhob. Dem Anwärter lief ein Schauer über den Rücken. Blieb diese Stadt denn nie von Katastrophen verschont? Fieberhaft dachte er nach. Was sollte er tun? Hilfe holen? Die Rauchwolke war vermutlich auf Meilen im Umkreis zu sehen, es war ein Wunder, dass er sie erst jetzt bemerkt hatte. Also lieber selbst etwas tun, wenn es ihm möglich war. Im Laufschritt setzte er sich in Bewegung, um sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Vielleicht konnte er irgendwie helfen, und wenn er nur Wasser in einer Eimerkette weitergab.
Immer mehr Leute waren auf der Straße unterwegs, je näher er dem Tempelviertel kam, niemand kontrollierte die Menschenmassen am Eingang auf Waffen. Thorwyn schlüpfte hindurch und sah sich um. Eben wollte er den Tempelvorplatz überqueren, als es einen hellen Lichtblitz gab. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, seinen Ursprung ausfindig zu machen, meinte, eine Gestalt zusammenbrechen zu sehen. Im nächsten Moment gab es einen unheimlichen Lärm, als irgendwo ein Gebäude zusammenstürzte – vermutlich verschlungen von den Flammen.
Vorsichtig trat der Jäger näher an die auf dem Boden liegende Person heran. Und erbleichte. Es war Ribas, der bewusstlos, vielleicht tot war. Seine linke Hand war stark verbrannt und auch sein restlicher Körper und seine Kleidung trugen deutliche Spuren eines Feuers, als wäre er gerade von einem Scheiterhaufen gesprungen.
Zitternd beugte Thorwyn sich hinunter und untersuchte den vor ihm liegenden Körper. Schwach spürte er Ribas’ Atem auf seiner Haut und atmete kurz auf. Aber die Verbrennungen konnten gefährlich werden, er brauchte schnell einen Heiler. Mühsam zog der Anwärter ihn auf die Beine, legte den rechten Arm des Novizen um seinen Hals und packte seine Hand, um ihn aufrecht zu halten. „Wo ist nur das verdammte Lazarett?“, murmelte er, sich unter der Last gebeugt umblickend.
Schwer atmend schleppte er sich und Ribas die Straße entlang, kam dabei dem brennenden Gebäude näher. Plötzlich baute sich eine Gestalt vor ihm auf.
„Wo kommt ihr denn her? Egal, komm, leg ihn dorthin, der sieht schlimm aus …“
Der Jäger blinzelte überrascht. Ein Mann in dreckiger Kleidung und mit rußgeschwärztem Gesicht half ihm, den Novizen auf einem Feldbett abzulegen, das neben anderen mitten auf der Straße stand.
„Dass es ausgerechnet das Lazarett erwischen muss“, fluchte der Helfer. „Aber wird es schon schaffen … glaube ich.“
Kopfschüttelnd eilte er weiter, um sich um weitere Hilfsbedürftige zu kümmern, während Thorwyn ratlos herumstand und in die Flammen starrte, die den Holzhaufen, der einmal das Lazarett gewesen war, zu Asche werden ließen.
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Es war einer jener Tage die am besten schnell aus dem Gedächtnis verschwinden. Wealthow spürte jede einzelne faser seines Körpers. Jede noch so leichte Bewegung schmerzte. Ob die Kameraden das gleiche verspürten wollte er nicht wissen. Einfach nur noch aus den nassen Klamotten raus. Schweiß und Dreck vom Körper waschen. Eine wahre Wohltat das kalte Nass zu spüren. Wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis spüren an einem sonst beschissenen Tag.
Ein Tag mit dem allmorgendlichen Weckruf begann. Das Antreten in einer Reihe war die erste wirkliche Herausforderung. Wealthow mit seinen 1,85 wurde eine fragwürdige Ehre zu Teil.
Er und nur er musste an erster Stelle stehen und die Kameraden hatten sich in einer geraden Linie daneben aufzubauen. Dabei stellte sich ganz schnell heraus, welch geübtes Auge der Ausbilder besaß. Nach dem dritten Versuch zählte der Braunhaarige nicht mehr mit. Dieses ständige hin und her strapazierte seine Nerven. Zumal ihn bei all den versuchen nicht dir geringste Schuld an einer ungeraden Formation traf. Es gab einige Kameraden die mit Blindheit geschlagen waren oder einfach zu dämlich waren einen Befehl korrekt auszuführen.
Eigentlich hätte man darüber lachen können, aber dem war nicht so. Das kleinste Grinsen bedeutete, dass man seinen Kameraden nicht zu schätzen vermochte. Ein Fehler, wie Wealthow nur wenige Augenblicke später am eigenen Leib erfahren musste.
„Ihr werdet noch lernen was Kameradschaft ist. Ihr mögt zwar alle Einzelkämpfer sein, doch wenn ich mit euch fertig bin seid ihr eine eingeschworene Truppe“, donnerte es über den Kasernenhof.
Die Ansage war deutlich, dank seiner lauten Aussprache war es sicherlich in alle Gehörgänge gedrungen und im Schädel fest verankert. Leider blieb es nicht nur bei Worten, die Strafe folgte auf dem Fuße.
Ein jeder musste einen Kameraden Huckepack nehmen und einmal über den Hof stürmen. Wealthow bekam genau jeden Tölpel aufgeladen, dessen Dämlichkeit zum Lachen verleitet hatte. Allein bei seinem Äußeren begann Wealthows Mundwinkel zu zucken.
Seine zerzausten rötlichen Haare reichten dem Langen gerade mal zwei Hände unter seine Brust. Ein kleiner Kerl eben. Seine dicken Pausbacken übersät, wie der Rest des Gesichts mit Sommersprossen. Sein Schädel schien ohne Hals auf den Schultern zu sitzen. Was sich darunter befand, war der Grund worüber Wealthow schmunzeln musste. Seine dicken Backen zeigten es schon an, er war Fett. In eine Rüstung würde dieser Kerl nie und nimmer passen. Ein Fass würde jedoch um diese Rundungen passen.
Allein der Gedanke daran ließ den Braunhaarigen wieder ein lachen über die Lippen kommen. Der Ausbilder fand es nicht lustig, wie er lautstark mitteilte. Er hatte den Verdacht nicht ernst genommen zu werden.
„Euch wird das Lachen schon noch vergehen. Ihr werdet Laufen, bis ihr auf den Hof kotzt. Ich habe noch keinen gesehen der beim Kotzen lachen kann. Verstanden?!“
„Jaaaa Sir“, donnerte einstimmig aus zwanzig Kehlen.
Wealthow wurde schon bei den Gedanken daran den Dicken über den Hof zu schleppen schlecht. Viel schlimmer noch, nun war er selbst der Dämliche. Was er auch nur allzu deutlich zugezischt bekam.
Es war eine Lektion, in dessen Verlauf dem Braunhaarigen auf schmerzliche Weise eine ganz einfache Regel bewusst wurde. Tanzt einer aus der Reihe werden alle bestraft. Hier auf dem Hof der Kaserne vielleicht noch ein Spiel. Doch auf dem Schlachtfeld, Wealthow mochte gar nicht daran denken. Der Kamerad an deiner Seite könnte eines Tages dein Leben retten.
Doch es kam noch viel schlimmer, nicht für ihn oder seine Kameraden. Im angrenzenden Tempelviertel schlugen Flammen in den Himmel. Spärliche Informationen drangen an ihre Ohren, ein Brand im Lazarett. Ohne großartig über die Situation nachzudenken, stürmte die Truppe ihren Befehlshaber hinter her. Doch schienen sie zu spät zu kommen. Das Feuer wütete ohne gebändigt werden zu können. Schreie, fürchterlich Schmerzensschreie erfüllten das Meer aus Flammen und Rauch. Überall orientierungslose Verletzte. Ein trauriges Bild bot sich ihnen da. Man wollte helfen doch kam die Hilfe zu spät. Das Feuer hatte gesiegt, erbarmungslos fraßen sich die Flammen durch alles was sich ihnen in den Weg stellte. Sie taten alles Menschenmöglich die Verletzten aus der Gefahr zu retten. Licht und Schatten. Leid und Glück. Alles lag so dicht beieinander. Eben noch überwog die Freude einen Sohn Innos gerettet zu haben, barg man doch nur Augenblicke später einen Toten.
Sein Körper wollte nur noch ins Bett, wollte in den wohlverdienten Schlaf nach diesen Strapaze. Nur in seinem hohlen Schädel regt sich etwas. Wealthow grübelte. Sein Ansehen, wenn er jemals welches besessenen hatte, existierte so nicht mehr. Eine Antwort auf die Frage, dies wieder aus der Welt schaffen zu können, fand er aber nicht.
Doch in Anbetracht welches Leid die Flammen über Vengard brachten erschien das überhaupt nicht mehr wichtig.
Geändert von Wealthow (07.04.2010 um 00:26 Uhr)
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Lehrling
Theias rechte Hand umfasste angespannt die Armlehne des Möbelstücks, in dem sie saß, ihr Atem ging ruhig und regelmäßig, nur geringsfügig erkannte man ihre Aufregung. Sie zitterte kaum merklich und wirkte dennoch gefasst. Wenige Minuten zuvor war ein äußerst hitziges Gespräch mit ihrem Vater durch Türknallen beendet worden, eines von vielen in letzter Zeit. Nicht, dass es vorher noch nie solche Zeiten gegeben hätte, die hatte wohl jedes Kind mit seinen Eltern irgendwann einmal, doch Theias Beziehung zu ihrem Vater hatte sich in den letzten Tagen drastisch verschlechtert. Schon allein weil sie ein Mädchen war, hatte sie noch nie mit ihrem älteren Bruder gleichziehen können, was ihr Ansehen im Elternhaus betraf, und sie hatte sich nie dagegen gewehrt. Sie war machtlos und darum unterwürfig, hatte sich nie beschwert, hatte stumm getan, was man ihr gesagt hatte.
Mittlerweile hatte sich ihre Attitüde geändert. Aus dem devoten Mädchen war eine junge Frau geworden, die sehr wohl auf eigenen Füßen stehen konnte, deren Lebensziel es nicht weiter war, wie eine Küchenhilfe behandelt zu werden, nicht besser als die ungepflegten, bezahlten Arbeiter in und um ihr Haus und ihre Geschäfte. Sehr wohl verstand sie, was ihr Vater an ihr auszusetzen wusste, und auch dass er recht hatte. Sie würde keinen tüchtigen, jungen, am besten wohlhabenden Mann an ihre Familie binden, keinen arbeitsfähigen Schwiegersohn oder was auch immer sich ihre Eltern erhofften.
Aber es war genug. Wenn sie schon ein so unwichtiger Teil der Gemeinschaft war, wurde sie nicht länger gebraucht. Niemand würde sie zurückhalten, wenn sie ging. Niemand würde überhaupt in Betracht ziehen, dass sie es alleine zu etwas bringen konnte. Also würde sich niemand darum kümmern, was sie vorhatte. Sie stand auf und fuhr mit den Fingern schnell und suchend über die Kleidungsstücke, die sie auf dem Bett ausgebreitet hatte, zählte nach und als alles da war, verstaute sie die Kleider in einer Tasche.
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Neuling
Niemand würde sie zurückhalten, das war richtig. Niemand, weder der inzwischen senile Vater, dessen Haupt nur noch ein krauser, weißer Haarkranz zierte, noch ihre Mutter, die stets der Meinung des Vaters war, die alles tat und stets der Meinung war, die auch der Hausherr vertrat. Auch ihr Haar ist grau geworden, die Haut verfurcht von Falten des Alters und der Sorge. Vielleicht mochte sie sich um ihre Tochter sorgen, doch wenn es so war, behielt sie es gut für sich.
Niemand würde sie zurückhalten. Weder der Vater, noch die Mutter, genauso wenig der Bruder, der durch den Türrahmen sehen konnte, wie tastende Hände über Kleidung flitzte und sie so schnell zusammenpackte, als wäre es eine alltägliche Übung. Es war nicht schwer zu erkennen, was seine Schwester vorhatte, nicht nach den lauten Schreien, die durchs Haus geschallt waren, nach der angespannten Atmosphäre der letzten Tage. Und er verstand sie, warum sie wegwollte. Ewig eingesperrt in einem Käfig aus Fürsorge und Verachtung, nicht weg können vom herrschaftlichen Vater, das würde er ebenso wenig aushalten wie Theia. Doch – allein, wie sollte seine Schwester zurechtkommen?
Vermutlich hatte sie schon längst gehört, dass er dort stand, an dem Getrappel seiner Füße, am leisen Geräusch des Atems, dennoch klopfte er zaghaft an den Türrahmen ehe er vollends eintrat. Doch auch als er eingetreten war, wusste er nicht, was er sagen sollte. Er atmete schwer. Weg vom Elternhaus, ziemlich überstürzt, war es das, was er nun wollte? Aber er musste sich um Theia kümmern, und sie wollte weg. Ihr altes Leben aufgeben, ein Neues suchen...
„Ich begleite dich“ kam über seine Lippen, als er fast direkt neben seiner Schwester stand. „Soll ich ein wenig Essen aus dem Keller holen? Hast du ein Ziel?“
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Lehrling
Sie fuhr herum, stellte Erschrockenheit zur Schau, auch wenn sie ihren Bruder schon vor seinem Eintreten gehört und erkannt hatte. Amorphius war derjenige, der seit jeher zu ihr gehalten hatte. Nach einigen Jahren war sie zwar nicht mehr darauf angewiesen gewesen, von ihm herumgeführt zu werden, weil sie sich mit der Zeit ihre Umgebung eingeprägt hatte und ihr Gehör sich so verbessert hatte, dass sie es zur Orientierung nutzen konnte. Dennoch vermittelte die Anwesenheit ihres Bruders ein Gefühl von Geborgenheit, das niemand ersetzen konnte.
»Bist du dir sicher, dass du das willst?«
Ihre Stimme klang schärfer als gewollt. Sie sah keine Reaktionen auf ihre harsche Art im Gesicht ihres Bruders, wandt sich wieder ihrer Tasche zu. Die schmalen Finger strichen über den Stoff.
»Ein Ziel habe ich nicht. Wer hat denn schon ein Ziel, wenn er Hals über Kopf verschwinden will?«
Nach einer Pause, in der sie keine Antwort erhielt, fuhr sie fort.
»Überlege dir gut, was du tust. Nach mir wird keiner suchen, doch um dich wiederzufinden, darum würde man sich vielleicht bemühen. Du bist der einzige Sohn, Amorphius. Ich habe nichts zu befürchten, du schon, zumindest gefunden und wieder zurückgebracht zu werden. Du hast eine Zukunft, Geld, Frauen, Besitz, warum willst du deiner Schwester ins Unheil folgen?«
Sie ließ den Blick ihrer nutzlosen Augen durchs Zimmer wandern und starrte schließlich dort hin, wo sie sein Gesicht wusste. Er atmete schwerer als normal. Wippte ein wenig mit den Füßen. War es Unsicherheit?
»Ich hätte dich gerne bei mir«, schloss sie, selber unsicher und sich dessen bewusst, dass es besser für Amorphius wäre, hier zu bleiben.
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Neuling
„Theia.“ Leise, fast wimmernd sprach er zu seiner Schwester. „Ich kann dich nicht allein ziehen lassen, das darf und will ich nicht. Wenn du gehst, geh ich mit, das ist sicher. Es ist also ganz und gar deine Entscheidung, ob du gehst – ob wir gehen.“
Doch so leicht, wie die Worte über seine Lippen kamen war es für ihn nicht. Ein Blick durch das Zimmer zeigte ihn erstmals, wie viel Erinnerungen und Gefühle daran hingen, an dem ganzen Haus hingen. An seine Jugend, wie er mühsam, mit allen zehn Fingern gelernt hatte zu rechnen, die ersten krakeligen Buchstaben und später die ersten selbstgeschriebenen Rechnungen an die Kunden, die im kleinen Laden Stoffe und Leder gekauft haben, das sie selbst vorher von den Gerbern, Webern und Färber der Stadt erhalten hatten. Die Geborgenheit, die er in den ersten Jahren sehr intensiv, dann immer stärker abnehmen empfangen hatte, und doch war er stets geblieben, hatte immer seinem Vater geholfen, hatte stets in dem nicht gerade ärmlichen Haus gelebt, jenem zweistöckigen Fachwerkhaus, dessen Wände weiß verputzt waren, doch vom Dreck der Stadt immer gräulicher wurden, der verzierten Tür mit dem kupfernen Türklopfer in Form eines Stieres, den er in seiner Jugend so oft wild an die eicherne Tür gehämmert hatte, dass dort eine kleine Delle zu sehen war.
Noch so vieles Mehr kam in seine Erinnerung hoch, doch mit einem Mal gab er sich einen Ruck und sah die Notwendigkeit von Theias Vorhaben.
„Ich hol uns einen Rucksack und etwas zu essen, dann können wir gleich aufbrechen, wenn du das wirklich magst“
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